Carl Ludwig Schleich
Das Ich und die Dämonien
Carl Ludwig Schleich

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Die Testamente der Vergangenheit

Kein Zweifel, daß der Pfad, auf dem unsere Persönlichkeit entwicklungsgemäß den Aufstieg genommen hat bis zur lebenüberschauenden Höhe des Ichs, plötzlich strichweise beleuchtet hineinblitzt in die Zonen unsres bewußten Alltagsweges. Eine Strebung nach ungewußten, aber doch wie vergessenen, tief verborgenen. Zielen bemächtigt sich der Stimmung zu unsrer eignen Verwunderung, welches das Ichgefühl beinahe mit vollem Stillstand seiner Schwingungen begleitet. Es ist, als suche man gleichsam verstruppte Seitenpfade zu dem eben aufleuchtenden heiligen Weg, den ein früheres Ich einst pilgerartig durchschritten. Eine dunkle Vorstellung überfällt uns plötzlich wie der Eintritt einer Sonnenfinsternis des Ichs, als wenn eine Dunkelwolke sich über den Mond schiebt und nun früher gewesenes Licht verschwommen und bleich in das Gefühl von uns hineingeistert. Viele glauben auch, plötzlich Situationen gegenüberzustehen, welche sie genau so schon einmal erlebt haben. Das meine ich nicht. Denn dieses Nocheinmalerleben ist, wie ich das schon in »Von der Seele« ausführlicher auseinandergesetzt habe, gleichsam eine optische Täuschung der Sinne. Unter irgendeinem, die Hemmungskraft des Blutes verringernden Ereignis (Gefäßkrämpfe, Nachwirkungen von Alkohol oder Nikotin, Verdauungsselbstgifte usw.) schließen sich die Ganglienkommunikationen so leicht, genau so schnell aneinander, wie das bei der Erinnerung (ausgeschleiften Bahnen der alten Lehre!) stets geschieht. Hier, bei dem wirklichen Erinnern, rieseln die Erlebnisströme automatisch ungehemmt. Nun schließt das Ich fälschlich aus einer plötzlich durch Gefäßkrampf erzeugten Schnelligkeit des Erfassens einer eben erst erlebten, wahrgenommenen Situation, daß das Beobachtete schon einmal genau so geschehen erlebt sein müsse, weil es sich auslöst wie bei den Funktionen des schon Erfahrenen. Diese Art Rückerinnerung und des Aufleuchtens der Vergangenheit ist also nur ein Schein, eine Täuschung, eine Art falscher Zeitperspektive, eine Verschiebung von Gegenwart und vorgespiegelter Vergangenheit. Anschlußschnelligkeit hat Vergangenheitseinschlag, Anschlußschwere erzwingt Problemstimmungen auf Zukünftiges, noch zu Erwartendes. Was ich unter den Strömungen des Unbewußten unterhalb der wogenden Akkorde der Gegenwartseinspannungen des Ichs verstehe, ist jenes eben nur halb und dunkel deutbare Gefühl: jetzt ist etwas in dir lebendig und wetterleuchtet, was dir teils nicht angehört und teils doch dein eigenstes ist. Es ist, als schwebe das Ich halb auf der wohlgegründeten Erde, halb quelle es urstromgleich aus dunklen Tiefen. Es sind eben keine deutlichen Erlebnisse, die wir staunend in uns hochsteigen fühlen wie ein flüchtiges Scheinwerferlicht, das zuckend über das Meer und den Strand von einem fernen Leuchtturm fällt oder einbricht in das Dunkel eines nächtlich schweigenden Waldes. Das sind die Testamente der Vergangenheit, die eine innere Stimme von ferne flüstert aus einem dunklen Saale, während wir am hellen Tage daran vorübergehen. Das sind jene Verankerungen, welche unsern geistigen Apparat verknüpfen mit den Aufstiegsdokumenten einer oft ferne, ferne liegenden Vorgeschichte unsres Menschentums. Das ist ein dunkles Wissen von Ereignissen, eine Kristallisation des einst von Vorfahren erlebten Begebens, wie es schließlich in jeder Zelle rhythmisch im Nukleinskelett aufgespeichert ist aus Millionen von Erfahrungen der belebten Eiweißsubstanz. Denn in ihren 227 000 Milliarden Molekülen kann alles filmbandartig fixiert bleiben, was eben einst Erlebnis war. Es sind Mechanismen und rhythmische Organisationen, eingestellte und eingefurchte Strommöglichkeiten wahrscheinlich genug bei dieser Unzahl kleinster Lebenspartikel, kleinster rhythmischer Runeneinschriften spezifisch hemmender Splitterchenprismen. So nur allein kann man eine dunkle Vorstellung davon haben, welcher Leistungen die einzelne Zelle bei der Wundheilung und Regeneration, bei der Instinktumstellung, bei der optischen Einstellung, beim Neuersatz wachsender Hornhaut- oder Linsenzellen mit mathematischer Genauigkeit fähig ist. Sie haben ihr Wissen von dem Nötigen durch rhythmischen Anprall der Ereignisse am Chromosom erlernt, diese Ereignisse haben ihre gleichsam instinktive Richtung ihres Willens erzwungen. Was für die einzelnen Zellen gilt, gilt auch für die durch Sympathikusfasern verbundenen Zellgruppen und Organe, und bisweilen in stillen Stunden, meist wo die Ganglienorgel nicht von den Händen der Gegenwart gespielt wird, wo Geisterhände phantastisch nur wie im scheuen tonlosen Tastenstreichen über Akkordfolgen dahinhuschen, taucht ein Vergangenheitsmotiv wie ein über die Wasserfläche emporschnellender Silberfisch ins Tageslicht. Wer jemals die zahlreichen Beispiele kennt, welche der geistreichste Zoologe Dr. Zell für die Erklärung von scheinbar unerklärlichen Tierhandlungen als Folgen weit zurückliegender Zweckhandlungen gegeben hat, wie z. B. für das Scharren der Pferde, das Wittern der Hunde und ihr unaufhörliches Spurenlassen an jeder Straßenecke, das Verbergen der Exkrementspuren bei denselben, «den Flug der Brieftauben usw. usw., der wird verstehen, was ich meine mit meiner Behauptung vom Bestand von Testamenten und Dokumenten der Vergangenheit auch in der Menschenbrust. Geben wir einige Beispiele dafür:

Wie soll man es sich erklären, daß die Idiosynkrasie gegen Personen und Gegenstände, dieser unbewußte Widerwillen gegen ganz schuldlose Dinge, zustande kommt? Was löst diesen Abscheu gegen bestimmte Speisen aus? Fragen wir uns einmal, warum wir das Fleisch eines so reinlichen Tieres wie das Pferd durchgehends nur mit Widerwillen genießen können? Dafür hat man bisher gar keine Erklärung gefunden. Aber sollte nicht hier eben die Vorfahrenzeit, in welcher der getreue Begleiter und Diener unserer Urväter, ihr Bewegungsmotor und Ackergehilfe noch innigst geliebt wurde von allen Zeltgenossen, nachwirken? Ihn zu töten, wäre Wahnsinn gewesen, ihn zu verzehren, ekelerregend. Bei diesem Gedanken hätte sich einem Steppenreiter innen alles umgekehrt, die Eingeweide hätten sich gewunden und versucht, den abscheulichen Gedanken rein physisch an die Luft zu befördern durch Brecherregungen. Sollte nun nicht bei uns allen solche Verschmelzung mit dem Lieblingswesen des Vorfahrenhaushaltes noch vorhanden sein, für welche Elektrizität, Benzin und Dampf längst die Liebesketten fortgeweht hat, welche unsre Stammesgenossen der Vorzeit mit der Seele eines zärtlich gestreichelten schönen Rosses eng verbunden haben? Eine Dame vom Lande erzählte mir vor kurzer Zeit, daß eines Sonntags die Mutter ihr triumphierend gesagt habe, heute gäbe es ein gebratenes Huhn, das sie in der Stadt erstanden, in unsern Zeiten eine Kostbarkeit. Die Tochter habe beim Mittagsmahl tüchtig zugelangt, plötzlich habe sie wohl infolge der Zähigkeit des Fleisches der Gedanke gepackt, Mutter werde doch nicht geschwindelt haben, das sei vielleicht ihr zärtlich geliebter Hahn, der der Not zum Opfer gefallen sei. Die Mutter gestand, daß dem so sei, und plötzlich war ihr ganzer Appetit dahin, unter Ekelempfindungen stand sie auf und hätte um keinen Preis der Welt noch einen Bissen vom gebratenen »Geheimrat«, des Hofes, wie sie den würdevoll Stolzierenden immer genannt habe, genießen können. Hier ist das als überrumpelndes Erlebnis ekelerregend, was aufleuchtend unsern Abscheu gegen den Genuß von Pferdefleich erzwingt, die testamentarische Verankerung von persönlicher Liebe an das zu verzehrende Lebewesen. Denn einen fremden Hahn hätte sich unsre Gewährsmännin gewiß gutschmecken lassen! Aber ist denn das freudige Händeklatschen eines Kindleins, seine aufleuchtenden Augen, sein jubelndes Beinestrampeln und das zitternde Vibrieren des ganzen Leibchens, sobald es zum erstenmal ein »Hottehüh« erblickt, etwas anderes? Wie flammt hier die Liebe zu etwas nie Gesehenem lodernd empor, was ist das anderes als eine jauchzende Rückerinnerung an die Kindheitszeit des Menschengeschlechts? Wissen, Wissendwerden ist ein Erinnern, sagt Sokrates. Das kommt einem in den Sinn, wenn man die Kindergeste beobachtet, wie sie alte Menschheitsgefühle plötzlich parat haben! Verhalten sie sich nicht genau so beim erstmaligen Anblick eines Lammes, einer Kuh, einer Ziege, eines großen Wachhundes, all diesen domestizierten Genossen unsrer Vorvölker, während in einem Kindlein ein Fuchs, ein Hase, ein Fisch keine so zärtlichen Stimmungen auslöst?

Auf der andern Seite erhalten so viele rätselhaften Abneigungen, Abscheuempfindungen und Idiosynkrasien eine einleuchtende Deutung und Erklärung. Wenn z. B. erwachsene Frauen, welche doch einer Maus wie ein »Riesenbildnis« gegenüberstehen, vor solch einem an sich niedlichen kleinen Tierchen die Flucht ergreifen und sich auf Stühlen und Tischen in gesicherte Höhe begeben, so liegt dem vielleicht oder sogar bestimmt auch ein Urgefühl, eine testamentarische Erinnerung in diesem Sinne vor. Es gab eine Zeit, wo das Erscheinen der ersten Maus oder Ratte (bei diesen ist das Gruseln noch elementarer) den Untergang eines ganzen Dorfes, eines Städtchens bedeutete. Die Sage vom Rattenfänger klingt noch leise heraus aus dem verschütteten Tale der Gewesenheiten! Solch ein plötzlich vorbeihuschendes Nagetier war das Signal, daß Millionen solcher Wesen, die einfach alles auffraßen, Saat, Vorräte, Decken, Geschirre usw., im Anmarsch seien. Die Züge der Lemminge sind historisch völlig beglaubigt. Ja, ich gehe soweit, diesem Instinkte ein vollständiges Wissen um die Beziehung der Ratten und Mäuse zu menschenausrottenden Epidemien, namentlich der Pest im Mittelalter, zuzutrauen. Was heute erst die Wissenschaft festgestellt hat: Ratten sind Pestbazillenträger, wußten oder ahnten die Kinder der Vorzeit längst und übertrugen die resultierende Furcht und den Abscheu vor diesen Boten des Todes als Testamente auf die Erben all ihres geistigen Bestandes. Wer kann die Grausamkeit der Spanier gegen den Stier, wer ihr jauchzendes Vergnügen an den wüsten Tierquälereien bei den Stierkämpfen begreifen? Keine Nation kennt Ähnliches. Wirft nicht die Tatsache einiges Licht in das Dunkel dieses blutheißen Triebes, daß in der Granadagegend Höhlen gefunden sind, welche mit vielen Tausenden von Tierskeletten dieser Stierart gefüllt waren? Sei es, daß hier Erdbeben, tektonische Erdverschiebungen, Lawinen oder was sonst diesen Riesenherden ein Massengrab geschürft haben, es läßt sich begreifen, daß Stiere zu Zehntausenden vereint auf ihren Wanderzügen eine furchtbare Gefahr für jede Ansiedlung waren. Sie wurden gewiß zu Vernichtern Tausender von Heimatstätten. Was Wunder, wenn dem gebornen Spanier die Wut gegen die Bullen im Blute steckt, dieser Haß sich durch Generationen vererbt und sich in einer grausamen Sucht, solch Vieh zu quälen bis zum Verrecken, Luft macht. Wie diese Vererbung sich mechanistisch vollzieht – nämlich durch Rhythmisierung des Nukleins der Zellen durch den Rhythmus des Erlebnisses –, das soll an einer anderen Stelle auseinandergesetzt werden; hier genügt es, auf die Tatsache der Wandlung von Altvordernerlebnisse zum Instinkt der Ururenkel hinzuweisen. Erlebnisse können Instinkte aufheben, aber auch Instinkte schaffen, beides durch Stromumkehrungen in den Chromosomstrudeln. Das ist wohl der Kernpunkt aller Variation und Vererbung! Ist es dann weiter verwunderlich, wenn Sympathien und Antipathien ihren uns unbewußten Grund in Vorfahrenerlebnissen haben? Rassenhaß, Ausländerliebe, Franzosenschranzereien (Friedrich der Große!) mögen darin ihre Erklärung finden. Ein sehr witziger Junge von 12 Jahren sagte einmal, als ich äußerte, ich könne einen Klassengenossen nicht ausstehen, und ich wisse gar nicht, warum: »Vielleicht hat sein Ururgroßvater den deinen mal auf der Chaussee erschlagen!« Das war ein divinatorischer Witz, den ich deshalb reproduziere, weil sich in diesem Unsinn (oder ist es mehr?) das, was ich meine, sehr treffend ausprägt. Könnten wir die wahrhafte Geschichte all unserer Vorfahren nachlesen (jeder hat von Christi Geburt an etwa 12 000) wie unsre modern-psychologischen Romane mit all ihren superfeinen Seelenanalysen und Milieuübertreibungen, so wäre uns in dem Labyrinth unsrer Brust vielleicht das meiste absolut verständlich. Das meint wohl Hebbel in seinem schönen Gedicht »An ein schlafendes Kind« mit den tiefen Worten:

Könnt' ich in deine Träume sehen,
So wär' mir alles, alles klar!


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