Carl Ludwig Schleich
Das Ich und die Dämonien
Carl Ludwig Schleich

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Das »Ich«

Nichts ist uns rätselhafter als unser »Ich«. Dies Gefühl von uns selbst, das uns keine Erkenntnis, keine Methode enträtseln kann, dieses Strahlenbündel der tastbaren, beobachtbaren, realen, fühlbaren, genießbaren Persönlichkeit, die unser höchstes Erdenglück nach dem Ausspruch unsres größten Seelendiktators sein soll, was ist es? – In allen Sternen suchen wir's, im Schaum der Flut, im Wogen der Wiese und der Kornfelder, in der Seele der Geliebtesten und schließlich in uns selbst, ohne einen Faden seines rätselhaften Gewandes zu erhaschen, und enden mit einem dunklen Trostwort der Inder: »Du bist ich, und ich bin du!« Das gibt wohl eine Sicherheit des Empfindens, ein lösendes Gefühl, eine glaubensgemäße Ruhelage des Gemüts, wie es etwa Anzengruber seinem Einsamen in den Mund legt: »Es kann dir nix gescheh'n!« Aber – Erkenntnis? Wo bleibt dabei die polypenarmig zu Himmeln und Sternen gereckte, prometheisch fordernde Sehnsucht (»die Sucht zu sehn«), der gigantische Wille, die Zusammenhänge verstandesgemäß zu durchschauen, in denen eben meine Winzigkeit »Ich« verknüpft ist mit dem gewaltigen All, mit all dem andern, das in mir, über und außer mir ist! Keine Fährte, keine Spur! Hier versagt Wissenschaft noch gänzlich und der Glaube sogar prinzipiell, trotzdem die Zeiten doch wohl eben durch die nicht unfruchtbare Spatenarbeit der Wissenschaft vorüber sind, wo ein Symbol, ein Spruch der Sphinx, eine himmlische Zeile der Bergpredigt, ein schönes Priesterwort, eine Botschaft des Papstes uns ein für allemal beruhigt und einschlafen läßt mit der antititanischen Resignation des sogenannten gesunden Empfindens: Es wird wohl irgendein Wunder sein.

Des Menschen ganzes geistiges Gefüge drängt, seine Seele schreit nach Wissen und nicht nur nach Beruhigungsmitteln, wie ein Leidender, der um »Heilung fleht, und dem man Morphium reicht«! Man sehe sich die Millionen Arbeiter, die Nachsaat unsrer Kultur, an, man beobachte gut die Jugend, die unsre Erben werden müssen, man höre gut zu in allen Kreisen, vom Fürstentum hinab bis in die Bauernstube, was sie die Ärzte letzten Sinnes fragen in Stunden der Not, die Verwundeten, die Leidenden, alle die vor dieser Rätselschwelle stehen, so schmal wie einer letzten Scheidesonne Gruß, vorm Meeresstrand, vorm kleinen Bach, wo diesseits Leben, jenseits Tod bedeutet – was wollen sie wissen? Immer dasselbe: Wie oder was ist mein Ich?

Denn, sei man ein König im Geiste, sei man der Geringsten einer, in jedem muß das Wunder stecken, das eines Tages aus dem Paradiesesbaume des Unbewußten heraufzüngelt, wie die Fragezeichenschlange: Wer bist du? Woher, wohin? Der Dichter Heine hatte leicht zu sagen, daß ein Narr auf Antwort wartet. Er selbst war einer der wenigen, dem diese Narrenkappe gerade nicht zu Gesichte stand, aber einer, dessen anderes Ich ihn mit Dämonien trieb, über sein Heiligstes zu lachen – für ungeheuer Viele glüht diese Frage immer wieder auf, sowie auch nur eine Sekunde der Ruhe in der hastenden Fülle einer Menschheit von heute etwa, welche die Manie eines heiligen Krieges erfaßt hatte, gegeben ist und einbricht mit der eiskalten Lupe der Besinnung auf die Stellung des Einzelnen zur rasenden Gesamtheit. Vielleicht gerade heute mehr als je, wo der Gedanke des Staates so schwertgezogen gegen die Rechte der Individualität seine Dogmen predigt, wo jeder in das Ganze aufgehen soll und sei er ein himmelgeborener, seltener Keim und ein Riese der Persönlichkeit in dem Wald der Natur, der wie eine Schar von Wächtern über dem Berg der Heimat stand. Heute tritt vielleicht die Frage nach dem Ich noch heller in das Blickfeld der Betrachtung als je.

Hier soll nun beileibe nicht vom Rechte des »Ichs« gegen das »Über Ich« des Staates die Rede sein. Hier sollen so wenig politische wie soziale Fragen ihre Erledigung finden, sondern es soll gewagt werden, mitten in die Wogen sozialer Kämpfe die nachdenklichen Überlegungen und Resultate eines Forschers zu werfen, der gleich Kant nur zwei Wunder kennt: Den Sternenhimmel da droben und das Gewissen im »Ich«!

Von vornherein muß man betonen, daß die Analyse des Ichs, wie ich sie hier versuche, alles andere bezweckt, wie eine materialistische Studie. Sooft ich mich habe dagegen wehren müssen, daß ich ein Materialist sei, an dieser Stelle will ich es endgültig zu beweisen suchen, daß meine Fahnen kein Emblem tragen von der Endgültigkeit mechanischer Weltanschauungen, daß sie im Gegenteil entrollt sind in der Strahlensonne eines metaphysischen Glaubens an die Priorität des Seelenhaften in der Welt. Das kann den Forscher nicht hindern, die Realitäten so wahr wie sie sind zu nehmen, eben aus der Hand der Notwendigkeit, der Unabänderlichkeit, der Gesetzmäßigkeit, und gerade deshalb nicht abtuhbar mit Dogmen oder Philosophemen, aber es kann ihn auch nicht hindern, diese Welt voll von Offenbarungen zu sehen, die deshalb nicht wertloser sind, weil sie Mechanismen aufdecken. Jeder Dichter hat seine Methoden, je reicher desto besser, ein Beethoven hat seinen, im letzten analytischen Sinne mechanischen Stil, Gott hat sich durch Mechanismen und Mathematik offenbart. Er rechnet. Aber er rechnet wahrlich nicht nur. Warum soll es frevelhaft sein, der Mechanik des Weltalls, seinen Gesetzen in der Natur, dem Kreislauf des Lebens, dem Geheimnis der Zellen, der Architektur der Pflanzen, dem Symposion der Gedanken im Menschen mit ihren irdischen Bedingtheiten nachzuspüren! Ist man Materialist, wenn man beseligt hier und da den Sinn seiner kleinsten und gewaltigsten Maschinen zu begreifen sich bemüht? Und ist nicht jede Wissenschaft, rein und ohne Zweckgedanken, ohne den teuflischen Mitläufer des Nutzens oder des Unheils, das sie bis zur Vernichtungstechnik heraufbeschwören kann, nichts als ein einziger Hymnus auf ein Etwas über uns, in uns und durch uns Werdendes und sich Gestaltendes, wenn auch letzten Sinnes Unerkennbares? Ist die Wissenschaft nicht im letzten Sinne immer am Werke, die Wunder der Welt begreifbar zu machen ?

Wie, wenn nun in unsere Menschengehirne nichts wirklich Erkennbares, vom Mantel der Unnennbarkeiten hineinsprühte wie Lichtschnee, als feine Mechanismen, als die alleinig uns zugängliche Möglichkeit, zum Begreifen einer doch nicht fortzudisputierenden Schöpferkraft der Natur? – Es enthält also die mechanische Analyse der Gesetzmäßigkeiten des Denkens, aufgebaut auf ein Menschenalter von persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen, die, soweit ich sehe, meine mir eigentümliche Forschungsbahn vorzeichnen, so anspruchsvoll sie manchem erscheinen mögen, doch eigentlich einen bescheidenen Verzicht. Man sollte, wenn je wieder wirkliche Friedenszeiten blühn, einmal einen Kongreß zusammenrufen aller Denker aller Nationen, um sich über psychologische Begriffe ähnliche Normen zu schaffen, wie sie beispielsweise über Thermometer, Postzeichen, Briefmarken, Isothermen usw. usw. geschaffen sind! Der maß mit Zoll, jener mit Fuß, der mit Ellen, jener mit Fingergliedern, und endlich lag und liegt noch zu Paris die Norm des Meters, zwar auch inkonstant im Begriff der modernen Relativität A. Einsteins, aber doch als eine konventionelle Meßeinheit rings auf der Erde! Oh! könnte es mit Begriffen einst ähnlich werden. Wenn es aufhören würde, daß jeder, der denkt, sich unter Seele, Geist, Verstand, Vernunft, Gemüt, Herz usw. etwas andres vorstellt als der andre! Könnte man eine Norm finden, zu sagen, unter »Geist«, »Verstand« usw. verstehen wir, die internationale Gilde der Denker, von nun an dies oder das normativ Festgesetzte. Ganz gleich, was der einzelne unter jedem dieser Begriffe bis jetzt ersonnen hatte, wir wollen uns auf einem solchen internationalen Philosophenkongreß einigen und verpflichten, nur das allgemein Angenommene unter diesen Wörtern zu verstehen. Das wäre auch nur in nationaler Spracheinigung ein ungeheurer Gewinn. Ich habe immer bei dem Gebrauch dieser Worte das Gefühl gehabt, daß solch allgemeine Briefmarkenkonvention der Begriffe viele Diskussionen ungeheuer vereinfachen und segensreicher gestalten müßte. Wenn ich jetzt, ehe dieser »verbale Kongreß«Ich wüßte wohl, wen man zum Präsidenten dieses Kongresses ernennen müßte: Fritz Mauthner! getagt hat, die geistreichsten Leute miteinander diskutieren hörte, so lag mir jedesmal die Forderung auf den Lippen:

»Meine Herren! Sagen Sie mir erst, welchen Sinn, welche Vorstellung Sie mit Ihren Worten ›Vernunft‹, ›Seele‹, ›Geist‹ usw. verbinden?« Aber freilich, die Flut der Definitionen würde die Zeit verschlingen, ehe über diese Begriffe eine Einigung sich vollzöge. Und doch ist das entscheidend. Solange ein solcher Wortwertkongreß nicht da war, werden alle Philosophen auseinander und an sich vorbeireden, wie die Völker vorm Turm zu Babel, oder alle, die in fremden Zungen Pfingsträtsel sagten.

Da niemand bisher diesen vielleicht unausführbaren Gedanken angeregt hat, so will ich nicht unterlassen, in diesem Buche in aller Bewußtheit meiner Unmaßgeblichkeit gleichsam Vorschläge zu machen zur Entwirrung dieses sprachlichen Chaos und zur Verständigung über diese Wort-Wolken, welch letztere man ja auch trotz ihrer königlichen Variationsfähigkeit in Skiari, Kumuli, Strati usw. nicht ohne Beihilfe unsres größten Wolkenschauers Goethe zu »Urphänomenen« eingefangen hat. Es soll in der Tat der Sinn dieses Buches sein, allen diesen Dingen, dem »Geist«, der »Seele«, dem »Ich«, der »Vernunft«, dem »Gemüt« einen festumschriebenen Rahmen zu geben, und zwar nicht auf Grund einer ausgeklügelten Wortkunst (Terminologie), sondern auf Grund ganz bestimmter Anschauungen von Gehirnvorgängen, Nerventätigkeiten, Blutmischungen und Säftestörungen, die alle Konsequenzen bedeuten meiner bisher in drei Büchern niedergelegten Vorstellung von den Funktionen des Nervenapparates und seiner Stromquellen. Es ist ein reiches Feld, das unbeackert war, ehe ich meinen ersten Spatenstich wagte. Ich habe nicht gefragt, wie die Philosophen: was ist Humor?, sondern ich habe mir ein lebendig arbeitendes Gehirn, den ganzen wunderbaren Spieldosenmechanismus seiner leuchtenden Räderchen und glühenden kleinen Pyramiden und Zapfen, in normaler Aktion vorgestellt und habe nun zu erforschen gesucht, was in ihm geschieht und auf welcher Art Veranlassungen hin es den ganzen höchst komplizierten Mechanismus des Lachens am Atmungszentrum oft so blitzartig in Gang bringt – ich habe nicht gefragt: was ist Traum, Schlaf, Hysterie, Hypnose?, sondern habe kühn wie ein Ingenieur der königlichen elektrischen Zentrale des Gehirns mir vorzustellen versucht, in welchem Zustand sich wohl diese 1 ½ Milliarden im phosphorigen Glanze blinkenden Gangliensterne befinden, wenn sie dem objektiven Betrachter oder der Erinnerung ihre Rätsel in allen diesen Geisteszuständen verkünden. Ich habe, belehrt durch die grandiosen Hirnexperimente der Geschosse in dieser Verwundungsorgie des Krieges, gesehen, daß die Gehirnhälfte links ganz andre Störungen aufweist, als ihr Zwilling rechts – – und überall sah ich, daß unsre Psychologie auf eine ganz neue Basis gestellt werden müsse, sie, die bisher in der engen Bahn der simplen Assoziationen, Hemmungszentren und hier direkt unmöglichen Stoffwechseltheorien lief, und will nun versuchen, diese mechanischen Anschauungen zu verwerten zu einer physiologischen Analyse einer großen Reihe von Bewußtseinszuständen noch andrer, primärerer Art. Denn für mich ist es keine Frage, alle Psychologie und Psychiatrie kann nicht fortschreiten über ihre kümmerlichen Pfade, ehe nicht, wenn ich es nicht sein könnte oder dies Ziel verfehlte, ein besserer »Ingenieur des Gehirns« kommt, der allen unsern philosophischen, geistwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Grundbegriffen einen festen physiologischen Unterbau gibt.Es ist ja von ungeheurer Wichtigkeit für alle Erkenntnistheorie, festzustellen, ob es möglich ist, für die philosophischen, empirischen und spekulativen Normen, sagen wir einmal für die a-priori-Begriffe oder die Kategorien, physiologische, hirnmechanische Vorstellungen zu gewinnen und seien diese zunächst auch nur hypothetisch. Seit Vaihingers herrlichem Buche (Die Philosophie des »Als ob«) wissen wir erst, von welchem heuristischen und didaktischen Werte solche nutzenbringenden Fixionen sein können. Ehe ich nicht weiß, was das »Ich« ist, was es unterscheidet, beispielsweise vom »Bewußtsein« oder von meiner »Seele«, ehe ich nicht weiß, was im Gehirn vor sich geht, wenn es logisch oder humoristisch arbeitet, ehe ich nicht aufzeigen kann, wo die funktionelle Breite zwischen Unterbewußtsein und der des klaren bewußten Zustandes liegt und mit welchem Zellenmaterial beide arbeiten, ehe ich nicht für alle diese »begrifflichen« Dinge ein handgreifliches Geschehen, ein Schaltwerk in Aktion, einen Mechanismus in Feinbetrieb aufdecken kann, so lange kann jeder sich von diesen Dingen nicht viel weiterreichende Vorstellungen machen als ein Feuerländer vom Sternhimmel, jedenfalls jeder seine beliebigen; solange ist alles Gesagte Sage, Wort, das auf Wolken fährt, Nebel, die im Lichte schwinden. Aber die ganze Psychologie würde ein Knäuel von Irrtümern sein, wenn es nicht eben nach meiner Analyse andrerseits doch feststellbar wäre, daß das rechte Gehirn imstande ist, das linke zu beobachten, wie ich das im »Schaltwerk der Gedanken« ausgeführt habe, was erst die Möglichkeit einer Introspektion, einer Beobachtung unseres Selbst begründet, überhaupt die Psychologie in uns selbst möglich macht. Ich will eben den Nachweis führen gegen alle Materialisten-Empiriker, daß die Phantasie, diese königliche, allein die Menschheit zur Menschlichkeit gestaltende Gabe, es ermöglichte, durch rhythmisches Einfühlen in das Geschehen der Welt, subjektive Normen, Aussagen, Gesetze, Sätze zu finden, die wie Wegweiser, wie Leuchttürme strahlen über Öden und Meere einer dünen- und wogenhaft aufgehäuften, allzu langsam vorrückenden Empirie. Ja, es gibt geistige Infektionen, wie es körperliche gibt, die wie Brand und Feuer, wie Bazillen und Gifte entzünden; so gibt es auch etwas wie rhythmische Infektion, es gibt eine Zeugung von Gedanken, deren Kraft gerade oft die am meisten verfallen sind, die aus dem Dünkel ihrer Selbstsicherheit von Chemismus, Physik und Mathematik nicht eher zu befreien sind, als bis sie das Wunder dieser befruchteten, souveränen Transplantationen von Ideen in ihrem eignen Gehirne als einen vorhandenen Mechanismus begreifen! Bis sie nicht verstehen, daß alles auf Ideen steht, deren Macht gegenüber jedes einzelnen »Ich« so lange ein Sklave ist, als er nicht ihren Sinn begreift.

Ein kühnes Programm! Die Lösung liegt nicht bei mir, sondern den Ideen, die es mir aufgezwungen!

Und nun zurück zum »Ich«. Rücken wir dem größten Geheimnis der Welt nahe, dem kardinalen Wunder, daß eine Milliardenrepublik von Zellen, ein mikroskopischer Polypenstock, ein bilateral, d. h. zweiseitig symmetrischer, ortsveränderungsfähiger, gegliederter Leib, den man Menschen nennt, ein Bewußtsein seiner selbst, ein Gefühl seiner absoluten Einheit mit sich herumtragen kann und tatsächlich in sich dauernd mobil erhält. Begreifen wir allenfalls, daß dieses wandelnde, handelnde, kausalitätengierige Individuum Sinne zur Wahrnehmung hat, weil wir ja an Polypenstöcken (schwimmende Syphonophoren!) auch solche Arbeitsteilung der an einer Republik beteiligten, einzelnen Gruppen von Tierchen beobachten können; wie kommt aber solch ein Konvolut von ineinander, miteinander verketteter, mikroskopischer Gerinnsel zu einem Gemeingefühl seines Ganzen, als Einheit? Wenn es gelöst würde von diesem Banne der erzwungenen Mitarbeit am Sein und Leben solchen Individuums, so müßte dies zu einem unzählbaren, kribbelnden Ameisenhaufen lauter verschiedenartiger Zellwesen auseinanderstieben. Welch ein Zauberbann liegt über diesen 1500 Millionen Ganglienzellen plus den dazugehörigen Trillionen von Einzelzellen des Leibes, von denen noch viele Millionen in kleinen alabasternen Röhrchen den ganzen Palast des Lebens durchrauschen, und wieder Millionen aus diesen pulsenden Äderchen frei hinaustreten können in die Milliarden Maschen dieses Labyrinths, um wie eine selbständige Schutzmannschaft überall nach dem Rechten zu sehen! Wer einmal, ohne Anatom zu sein, eine solche Reise in das Innere eines Lebendigen mitmachen will, den lade ich ein zur Lektüre einer Märchenfahrt auf dem Rücken von ein paar Blutkörperchen, die ich in meinem Buche: »Es läuten die Glocken, Phantasien über den Sinn des Lebens«,Verlag Concordia, Berlin. à la Jules Verne veranstaltet habe. Wer hält dies alles in Reih und Glied, Kolonne an Kolonne, Organ an Organ, was treibt die Stromuhr des pulsierenden Herzens und die Ringwellen der Blutadern und schickt Befehl auf Befehl zur Aufmerksamkeit auf irgendwie beschädigte oder bedrohte Stellen durch einen der Haupttelegraphenmeister: Empfindung, Schmerz und Lust? Wer lugt da aus den großen Leuchtturmhöhlen der Augen, die zwar auch Strahlen senden können, aber viel mehr Licht einsaugen, hinaus in die Welt und dreht unaufhörlich die beiden, Licht, Farben und Schatten trinkenden, tastenden Scheinwerfer wie zwei selbständige Lebewesen von Kugelgestalt rings ins Leben, hinauf zu den Sternen und, man möchte sagen, mit entgegengesetzter Blickrichtung tief in uns hinein, tief bis zum Ich? Was schafft diese Bewußtseinseinheit, dieses unser selbstsicheres Gefühl von etwas Besonderem gegenüber allem andern? Ist es das »Ich« selbst? Keineswegs! Die Summe der Zellanimae kann nicht die Seele oder das »Ich« machen, denn wenn auch ein Summenstrom aller Animae denkbar wäre, so müßte doch ein Empfänger für ihn da sein. Eine Anima über der andern. Denn die Meldung zum Apparat, kann nicht der Apparat selbst sein. Es ist die Beobachtung von inneren Geschehnissen nur durch die Arbeitsteilung des Gehirns möglich. Mein Ich kann in meinem Leibe gar nichts schaffen, es hat mich, meine Augen und meine Sinne, nicht erschaffen, es kann nicht heilen, nicht ordnen, Millionen von Muskelfasern nicht einmal bewegen; mein Ich braut nicht die Wundersäfte des Leibes und kann kein Zellchen an ein anderes leimen, kann keinem Pulse steuern. Mein Ich hat manchen Willenseinfluß, aber keine plastische Bildner- oder Organisationskraft über meinen Leib.

Meine Zellmillionen lebten, arbeiteten harmonisch und standen schon im Verbande einer allseitig geschlossenen Einheit, als ich noch gar kein »Ich« besaß. Also wohl die Seele? In der Tat, bleiben wir einmal dabei: das Seelische hat sich den Leib gebaut, die Seele dirigiert seine Mechanismen, die Seele spricht durch die Apparate, die Seele offenbart, heilt, erhält mich. Aber mein Ich ist sie nicht, die Seele, sondern sie rinnt durch mein Ich, schaltet überall im ganzen Leibe an jeder Stelle. Wir werden auf diesen kitzlichsten Punkt: was ist die Seele? hier nicht weiter eingehen, wir wollen hier nur andeuten, daß also das »Ich« etwas ist, das sich von meiner Seele stark unterscheidet, zunächst also dadurch, daß sie immer im Leibe ist, gewiß auch im Vorbeginn meines Lebens, das sie schon vor der Geburt richtet, ordnet, vereinheitlicht, fesselt, bindet, verkettet alle diese Milliarden Apparate, die erst einmal ein »Ich« werden sollen! Einen Augenblick nachdenken – –! Das »Ich« ist also nicht da bei unsrer Geburt, es springt nicht hinein in das Gehirn mit den ersten Odemzügen der Luft, wie ein herbeigezauberter Wundervogel. Nicht das »Ich«, sondern die »Seele« hat in dem nach innen geborgenen Nest des mütterlichen Organismus den Zellverband zu allen diesen Möglichkeiten, zu atmen, zu gehen und schließlich zur einstigen Geburt des Ichs in der Seele des Kindes vorbereitet. Das Ich ist höchstens ein Teil, eine Kondensation, eine Verdichtung der Seele. Jedes Menschlein muß also sein Ich erst kennen und bilden lernen, es muß sein Ich »er«lernen, »er«leben, »er«fahren, es wird ihm nicht vorgestellt sogleich als ein kleiner, mitwachsender dämonisch-phantastischer Zwilling seines Leibes, sondern das Ich wächst erst in ihm nach der Geburt aus kleinen Reizmomenten heran bis zum ganz klaren, erhebenden Gefühl des: ich bin ich!

Welch eine himmlische Erleuchtung muß das gewesen sein! Hätte man ihn doch bewußt erleben können, den Aufgang dieser plötzlich im Seelenmeer emportauchenden Sonne, die mit einem Schlage Innen- und Außenwelt überstrahlt mit Tageshelle und von nun an uns nicht mehr verläßt, aber rhythmisch wie jene große Allmutter unseres Universums an jedem Abend im Schlafe wieder untergeht, nachleuchtend im Traum, um mit der Frühe wieder aufzuerstehen! Aber der Stern des »Ichs« glühte nicht plötzlich auf überm Morgenland der Kinderzeit, er mußte erst aus tausend kleinen Reizflämmchen, die glühend blieben, hervorgezündet werden. Ein jeder muß sich erst sein Ich erwerben, Ich muß mich erst erfahren haben, ehe es sich heranbildet zu diesem grandiosen Gefühl einer wahrhaft erhabenen Selbständigkeit dem ganzen brausenden, gigantischen Leben gegenüber. Wahrlich, diese Geburt meines Ich ist darum nicht weniger überwältigend, weil ein Ich so klein ist, gegenüber den Gebilden ewiger, körperlicher Formationen des Kosmos; gibt unser Ich uns nicht den Stolz und die Kraft und die bebenmachende Wucht der Idee, uns wie vollwertig denkend in das All einzufühlen? Hat es nicht zu titanenhaften Anklagen gegen diese ganze Weltordnung geführt? »Und dein nicht zu achten, wie ich!?« Und zu dem nicht minder stolzen:

Stünd' ich, Natur, vor dir ein Mann allein,
Da wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein!

Ein jeder muß, wenn er das werden will, was wir in einem späteren Bereich als Persönlichkeit zu besprechen die Absicht hegen, erst einmal von Jugend an so allein der Natur, aber der echten, wirklichen, nicht einem Horizont von vierstöckigen Häusern gegenüber und auf Schollen von Asphalt-, sondern auf dem Heimatboden und seiner weitfernen Umkränzung von Horizonten aller Art gestanden haben, um mit seinem Ich diese erstaunliche Sicherheit, die eben nahe an Trotz grenzt, in sich zu verankern, um ein Ich zu sein, nicht nur einer von den Vielen, sondern auch Einer!

Also erlernbar, erwerbbar, ein erst aus Gegebenem Herauswachsendes ist das Ich! Und andererseits? Verlieren wir nicht unser Ich oft lange vor unserem Tode? Es schläft uns ein, lange, ehe man unsern Leib im Staube schlafen läßt. Wir haben uns wieder vergessen, ehe noch die sonstige Gesamtharmonie unseres Polypenkonglomerats des Körpers irgendwie gestört zu sein braucht. »Ichlose« schlucken, verdauen, kauen, husten, tasten, wandeln (im Somnambulismus!), und fast jeder Greis wird ein des zu höchst erworbenen Vermögens auch wieder verlustig gehender, armer Zellautomat, hilflos, wie er vor der Geburt seines Bewußtseins von sich selber gewesen ist. Und doch ist trotz dieses Verlustes die zusammenhaltende Idee, sind ihre Regenerationskräfte, die Regulationen, die instinktiven und Reflexmechanismen auch ohne Ichbewußtsein voll am Werke. Wer hält diese Zellen nun nach dem »Ich«schwund noch diktatorisch zusammen? Was ist das, was die Wunder der Wundheilung, die Regenerationen und den Neubau verloren gegangener Teile trotz tiefen hypnotischen oder hysterischen Schlafes, wie das beobachtet ist – ich selbst sah eine Wunde bei einem vergifteten und durch zehn Tage bewußtlosen Studenten tadellos heilen –, einleitet und trotz der zeitweisen Austreibung des Ichs den ganzen Zauber der Kleinmechanismen und Heinzelmannarbeit zur Aufrechterhaltung des Gesamtplanes der Körperanlage genau so regelrecht erhält wie vorher, trotz der tragischen Flucht des Ichs? Ich erwähne das nur, um einen zweiten wichtigen Unterschied zwischen dem »Ich« und der sogenannten »Seele« zukonstatieren. Das »Ich« entflieht, aber ein Etwas bleibt, was Einheits-, Harmonie-, Reparierungs- und Konstruktionsideen von höchst zweckbewußtem Gehalt behält, trotzdem sein Hauptregister, die Egotrompete, tonlos ist. Dies Etwas, was wir einmal vorläufig die harmonisch-plastische Idee eines jeden Organismus nennen wollen, vulgär die Seele, war also vor dem Auftauchen des Ichs und blieb nach seinem Verlöschen.

Aber das Ich? Es hat etwas Wandelbares, Fluchtbereites, etwas sich selbst Entrinnendes, dieses Ich. Verläßt es uns doch im tiefsten Schlafe rhythmisch jede normale Nacht, kann ich es doch zwingen, in der Narkose zu verlöschen, wie ein Licht vorm Wind. Gehorcht es nicht dem Gifte von außen wie dem von innen, und wandelt nicht Freud oder Leid, Kummer, Krankheit, Gram, Sorge gänzlich mein Ich, dies Urgefühl, dies klare, reine Medium, mir selbst durchblickbar und gegenüberstellbar, genau wie die gläserne Riesin, die Luft, sich wandeln kann in dumpfe Trübe, träufelndes Grau und rieselnden Schnee?

Wo ist das »Ich« beim Nachtwandler, der mit automatischer Sicherheit und dem sich selbst überlassenen Spiel seiner Muskel-, Gelenk- und Sehnentätigkeit, mit völlig erhaltener Gleichgewichtssteuerung über Abgrundtiefen schreitet? Wenn gewarnt wird, den Nachtwandelnden nicht mit Namen zu rufen, so fußt diese Mahnung auf Erfahrung. »Weh' den Stimmen, die ihn riefen!« Eben die plötzliche Zurückforderung des Ich in den somnambulischen Leib ist gefährlich. Gott weiß, in welche Tiefen es sich verkrochen hat, vielleicht klein, wie die Direktorialzelle eines Riesenammonshorns, die mich immer an das Wunder eines Organisten vor einem ungeheuren Orgelwerk erinnert. Da sitzt in einer aus spiraligen Marmorzügen gewundenen Riesentrompete zu guter Letzt in einer kleinen Zelle ein Einsiedlerwesen, welches sich wie ein Anachoret in seinem eigenen Labyrinth verkrochen hat und doch das ganze Riesenwerk durch sein winziges Ich beherrscht. So geschrumpft, verkrochen, verschwunden erscheint auch das Ich im Körper des Nachtwandlers. Aber dieser kleine Eremit ist an keiner Stelle auffindbar, die kleine Höhle ist nicht entdeckbar, in die er sich verkriechen konnte.

Es ist also gefährlich, das »Ich« plötzlich anzurufen und wieder hineinzustürzen in eine Situation, die nicht langsam Schlag für Schlag, Zug für Zug, Reiz für Reiz auf das Ich vorbereitet ist, weil man den Wandler in Gefahren stürzt. Schnell und blitzartig orientiert sich also ein plötzlich erwachtes Ich nicht, was man gleichfalls deutlich an dem wirren, irrend-suchenden Blick der aus der Narkose Erwachenden beobachten kann, die, ohne Schutz anderer, gleichfalls Gefahr laufen würden, in irgendeiner Weise aus mangelnder Orientiertheit sich Schaden zuzufügen. Das Ich muß also, um seine ganze Bewußtheit, seine Ruhe und Einheit zu wahren, etwas von einer Kontinuität des Wachzustandes, von einer Kette von sich folgenden Erlebnissen behalten. Diese Unorientiertheit, dieses ängstlich hilflose Staunen befällt uns schon nach dem periodischen Auslöschen des Ich im tiefsten Schlaf beim Erwachen, wo wir auch schreckhaft unser Ichgefühl gleichsam wieder ankurbeln müssen durch Tasten, Umherstarren, Nachsinnen, Lauschen, Fragen: »Wo bin ich?«

Schon wenn wir mittels der Erinnerung an unsere Vergangenheit, jener Fähigkeit, die wir als ein gewolltes und gekonntes Neuaufleuchten aller der Ganglien bezeichnen müssen,»Vergangen«heit ist die Ich-heit, welche sich ver»laufen« hat, in die Irre »gegangen« ist; welche die Zeit verloren, fallen gelassen hat. Vergangenheit = Zeitverlust = verloren-»gegangene« Zeit. welche bei einem früheren, einmal gegenwärtigen Ereignis direkt in Flammenzeichen aufglühten, an unser Ich in solch einem rückwärts gelegenen Moment hinabzureichen versuchen, so schwebt schon um dies vergangene Ich ein Nebelschleier, eine verdunkelnde Wolke des Gewesenen herbei zwischen dem Jetzt-Ich und dem von damals. Das ist eine leise Andeutung davon, wie die Millionen Jahre meiner Vorfahren gleich mir ihre Erlebnisse hineinversetzt haben in die heiligen Schatzkammern ihrer geheimsten Erlebnisse, von denen sie uns dann, ihren Urenkeln, so geheimnisvolle Winke geben (s. Die Testamente der Vergangenheit!). Unser vergangenes Ich, der Versuch ihm nachzudenken, scheitert an der Vergeblichkeit, unser Ich aus verzückten Phasen zu rekonstruieren. Es ist eine Grenze der Erinnerungen da, wo eben noch kein volles Ich bestand, resp. wo es scheinbar, wie in Milliarden Fällen, so unbeteiligt war, daß wir keinerlei Erinnerungen an dennoch sicher Erlebtes mehr besitzen, was beweist, daß das Erinnern eine Sache des egoistischen Interesses ist und mit welchem Rechte Goethe das Gedächtnis als eine Sache des Herzens bezeichnete. Daß wir uns so schwer an Gefühltes, Getastetes erinnern können, hängt mit dem Doppelbau des Gehirns zusammen. Erinnern ist Sache der rückläufigen rechtsseitigen Phantasieströme, Fühlen aber Sache der realen Augenblickswahrnehmung, welche in der linken Gehirnhälfte ausgelöst wird. Darum können wir uns so schwer einen einmal oder selbst mehrere Male erduldeten Schmerz vorstellen und vergessen ihn so leicht, weil der Kurzschluß der Nerven und Ganglien ein Vorgang im realen Orgelregister ist, der in der Phantasiezone nicht imitiert werden kann. Zum vollen Aufleuchten des Strahlenwunders des Ich gehört das heilige Wunder des Augenblicks, und der Augenblick ist eben die Spanne Zeit, mit welcher in einer sogenannten Sekunde das Blut in den Gehirnapparat ein- und ausströmt und den also phasisch ungehemmten Sternenhimmel unsrer Ganglien für eine kurze, aber sich folgende Frist hell aufleuchtend frei gibt für die Wellen des sausenden Alls und des spinnenden Innenlebens. Der Moment, wo alle Bahnen ohne Bluthemmung frei sind für Reize jeder Art, dieser armselig winzige Tropfen vom Ozean der Ewigkeit, er ist im letzten Sinne allein » Gegenwart«. Wir werden gleich sehen, was dieser Gedanke, den wir uns recht klar machen müssen, für eine ungeheure Bedeutung für den Mechanismus des Ichgefühls gewinnt. Daß dieses Ichgefühl sonderbarer Modifikationen und Nuancen fähig ist, ja daß es sogar in ein anderes oder mehrere »Iche« zerspaltbar erscheint, das zu erörtern wird sich bei der Analyse der Dämonien erst dann hell beleuchten lassen, wenn wir über die Physiologie des Ichs uns ganz klare Vorstellungen gemacht haben werden. Hier will ich nur noch betonen, daß, da das Ich also von einem winzigen Halm vom Rasen der Ewigkeit, dem Augenblick, wie abgetrauft erscheint, d.h. der Augenblick mein Ich erst erzeugt, so kann natürlich von einer Ichvorstellung der Zukunft gar keine Rede sein, es sei denn, hier träte die mechanisch schwer begreifbare Möglichkeit des Hellsehens in Aktion, bei welcher mit der Clairvoyance der Ereignisse auch eine Vorstellung von meinem Verhalten ihnen gegenüber in die Erscheinung treten müßte.Mein Standpunkt zum Okkultismus und Spiritismus soll anderwärts erörtert werden. Genug, Fausts Sehnsuchtsschrei nach dem Verweilen des schönen Augenblicks muß ewig ungehört verhallen, denn bei seiner Erfüllung müßte das Ich – sterben.

Das Ich ist eine immer neuentzündete, aufzuckende Flamme, kein kontinuierlich glühendes, verharrendes Licht! Nur die sich stetig folgenden Phasen seiner Wiedergeburt täuschen uns ein Wachen im Ich, unserer Seele eine Kontinuität, ein gleichmäßiges Bestehen vor. Bis zu diesem Punkte mußten wir vordringen, gleichsam bis an das Urphänomen des Ichs, seine Entzündbarkeit am Augenblick, um hoffen zu können, dies unendlich kühne Unternehmen, einen Mechanismus des Ichs aufzudecken, mit einigem Erfolge zu wagen. – Das Ich ist an die Gegenwart gebunden, und da die Gegenwart von Sekunde zu Sekunde nur durch die Entflammung des Ichs in jedem Augenblick neu ersteht, so muß der Gang der Welt, der Strom der Zeit und unser Ich in irgendeiner Art Verkettung stehen.

Welcher Art ist diese? Das Gehirn – und von seinen geheimnisvollen Mechanismen, vom Spiel der Millionen Ganglienkugeln und ihrer sie umspinnenden Säfte her wollen wir ja die neuen Erkenntnisse ablesen – ist, das dürfte allgemein angenommen sein, ein Orientierungsapparat. Die von ihm auslaufenden tausende Polypenarme, die in die Außenwelt gestülpten Sinnestaster melden getreulich die Geschehnisse des Lebensumkreises und des Körperinnenkreises. Ein ungeheures Geflecht kleiner Marconi-Platten des Sympathikus, einer Art nervöser Zwischenstation zwischen Reizmöglichkeiten der Organe (vom Außenkosmos und Innenkosmos) und der Wahrnehmung im Gehirn, meldet dazu Millionen von allergeheimsten Vorgängen rhythmischer, dynamischer, elektrischer Natur, welche gar nicht bis ins Bewußtsein gelangen, aber doch auf den unbewußten Orientierungsapparat im Gehirn einen bisher viel zu wenig gewürdigten Einfluß ausüben. Ich kann mich hier mit einer ganz kurzen Skizze der allgemeinsten Hirnmechanik begnügen, weil im Verlaufe dieser Betrachtung dieses ganze wunderbare Leucht- und Spinnwerk geistiger Begebenheiten bis in die denkbar feinsten Details auszuarbeiten noch reichlich Gelegenheit ist.

Die Welt schickt also gleichsam durch eine ungeheure Anzahl allerkleinster, belebter Prismenindividuen unaufhörlich, pausenlos ihre verschiedenen und so zahlreichen, aufschäumenden Wellen eines in sich beharrenden Ozeans, das Reich des Äthers, des allgegenwärtigen und allmächtigen, zuckend hindurch. Innen- und Außenwelt sind dauernd am Werke, wie man sagt, unsere Empfindungszellen mit Licht-, Wärme-, elektrischen, Stoßwellen zu bombardieren, sie zu reizen, zu bewegen, sich an ihnen zu reiben, und diese an sich rein physikalisch-chemischen Wellen werden, wie man sagt, zu geistigem Empfinden »transformiert« und gelangen als solche umgebildete physische Qualitäten zu geistigem Gehalt. Wir werden noch sehen, daß hier ein grandioser Irrtum steckt, an dem die ganze Wissenschaft krankt, welcher noch dazu die Quelle des Faust-Duboisschen Pessimismus ist: »Und sehe, daß wir nichts wissen können!« Wir werden diesem Kernproblem, wie es denkbar sein soll, daß materielles Geschehen in etwas absolut Immaterielles, das Geistige, übergeht, nicht ausweichen, und hoffen viel von einer definitiven Beseitigung desselben;S. Gedankenmacht und Hysterie. Verlag Rowohlt, Berlin. für jetzt genügt der betonte Satz, den die Wissenschaft allgemein akzeptiert hat: »Die physisch-chemischen Reize werden im Zentralnervensystem und im Sympathikus umgesetzt zu geistigen Empfindungen.« Wenn Wahrnehmungen die Meldungen zur »Vernunft« oder »Seele« sind, die keinen erkennbaren Mechanismus haben, sondern metaphysische Gegebenheiten sein sollen, so ist unsere Anschauung ein Gewinn. Denn wollte man z. B. sagen: was nützt es, wenn man die Transformation im Anfang bei der Wahrnehmung zu leugnen sucht, um sie am Ende wieder beim Begriffe auf eine neue Form der Transformation in ein höheres Geistig-Seelisches herauskommen zu lassen, so dürfte dieser gewiß berechtigte Einwand doch außer acht lassen, erstens, daß eine so gewonnene Analyse doch viel lehrbarere, tiefere und spezialisierbare Einblicke in eine große Zahl von geistigen Funktionen (wie Logik, Hemmung, Traum, Dämonie, Schmerz, Lust, Persönlichkeit, »Ich«, Psychosen usw.) gestattet, und daß es nie fruchtlos sein kann, den Sprung ins Mystische möglichst weit hinauszuschieben, und zweitens, daß zu hoffen steht, daß auch diese letzte Planke noch durch zukünftige Entdeckungen und wissenschaftliche Erkenntnisse ein Sprungbrett werden kann in manche weiter vorgeschobene Reiche mechanischen Begreifens. Ist es so gänzlich ausgeschlossen, daß Strahlungsarten gefunden werden, welche modifizierter Äther sind, die sicher außer Elektronen auch manches andere mechanisch formieren? Wenn es gelänge, den Äther als ein unsichtbares Fadennetz von alles durchdringender Struktur mit Ziel, Willen und Geist behaftet zu erweisen, so sind der Aussichten gar viele, die es nicht fruchtlos machen, die mechanische Analyse so weit hinauszutreiben, wie nur irgend ohne Absurdität denkbar ist. Wollen doch selbst die Spiritisten nichts weiter, als ihre behaupteten okkulten Dinge irgendwie streng wissenschaftlich analysieren zu können. Doch nicht dies allein. Nach Ottomar Rosenbach erzeugen diese bewegten Wellen aller Art durch Reibung an den kleinsten elektrischen Ganglienkörpern molekulare kleinste elektroide Stromquellen für die Aufrechterhaltung der vielfach benötigten elektrischen Spannungen im Nervensystem. Also Transformatoren und Akkumulatoren sind unsere kleinen Wundersternchen der Ganglien, wir haben einen ganzen mikroskopischen Himmel davon, und wer einmal Gelegenheit hatte, das Aufleuchten der Alphastrahlen des Radiums im Mikroskop zu sehen, der kann sich wohl ein Bild machen, wie diese Sternlein immer aufs neue aufzucken, sprühen und Plätze wechseln; sonst reicht das Bild des Sternhimmels auch aus, nur daß der unsrige da drinnen hinter dem Schatzkasten des Schädels nicht mit einfach immer leuchtenden Flämmchen strahlt, sondern daß gleichsam von Sekunde zu Sekunde Millionen Sternenblitze wechselnde Wege weisen, die so aussehen mögen, wie eine mit kleinen Lichtbomben beschossene Milchstraße, die sich wie eine dahinrieselnde, funkenbesetzte kleine Eidechse kreuz und quer am Kleinhimmel unseres seelischen Apparates blitzschnell von dannen schiebt. Die Reizströme kommen zumeist von den Sinnenapparaten zum Gehirn, die aufgespeicherten Reserveströme wohl von allen überhaupt den Reizen zugänglichen gangliösen Apparaten. Solch eine schwebende, immer bereite, einer elektrizitätschwangeren Wolke vergleichbare Ladung, die blitzbereit zwischen den Ganglien aufgespeichert ist, muß unbedingt angenommen werden, und kein Geringerer als O. Rosenbach hat daraus allein die Möglichkeit eines Betriebes aus kleinsten molekularen Strömen im organischen Bereich zu erklären versucht. Wenn nicht eine solche Stromsprungbereitschaft, eine solche jederzeit entladungsfähige Stromakkumulation statthätte, wie in aller Welt will man erklären, daß es ja unbestreitbar innerhalb meines Willens gelegen ist, meine ganze verfügbare (!) Seelenkraft einmal in die Spinnstube der Phantasie, dann in die Prägungshalle des Wortes, sodann in die Hammerschmiedewerkstatt der Taten zu schicken und sie beliebig den Arbeitsplatz wechseln zu lassen?

Diese Art Wille ist für mich kein Problem mehr. Es ist eine zum mindesten psychologische Tatsache, daß ich den freien Willen habe zu sinnen, zu denken, zu sprechen, zu handeln. Ob die Art und der Inhalt dieser auf den drei Orgelregistern gespielten Musik mir völlig freisteht, ist eine Frage für sich; gewiß ist, daß ich völlig Herr bin darüber, wie ich irgendeine also immer vorhandene, aufgespeicherte, in jedem Augenblick mobilisierbare Stromkraft des Gehirns verwenden will. Nie kann ich alle drei Register zur gleichen Zeit ziehen, ich kann nicht denken, indem ich handle, und nicht handeln, indem ich spreche; der Strom kann nur zeitlich, phasisch, wenn auch in schnell folgenden Blitzen, im Denkregister, im Sprachregister, im Aktionsregister nacheinander, nie gleichzeitig, tätig sein. Es scheint nur so, daß wir weiter denken, indem wir sprechen. Jeder Redner weiß, daß er automatische Sprechpausen einschiebt, um weiterzudenken, sofern er improvisiert und nicht Gelerntes reproduziert. Er weiß es, daß er stellenweise somnambulisch redet, nur um Zeit zu gewinnen, Gedanken zu spinnen. Auch hier ist es die Stromeinschaltung der Reservekraft im Gehirn, welche wechselnd gezwungen wird, bald in dies, bald ins andere System den lebendigen Wechselstrom zu dirigieren.

Wer den feineren Mechanismus des Willens schon aus meinen früheren psychologischen Betrachtungen kennt – er ist gebunden an die Funktionen des Bendaschen Hirnmuskels –, weiß ja auch, daß uns zu dieser Willensverschiebung der intendierten Ströme Muskeln zur Verfügung stehen, welche den Strom zwar nicht direkt packen und dirigieren, aber ihm doch indirekt seinen Weg weisen nach den Gesetzen des geringsten Widerstandes durch Auf- und Zuklappen der Gespinstfensterchen der Neuroglia um die Zelllämpchen, die genau wie die blauen Gazeklappen über den elektrischen Lampen in unseren Eisenbahn-Schlafcoupés funktionieren. Nur, daß die Neurogliaklappen nicht ein glühendes Licht abdämpfen, sondern, vorgezogen, des Lämpchens Entzündbarkeit eben durch den fließenden Nerven-Kraftstrom mit seiner akkumulierten Reserve in andere Richtung zwingen, und daß die Dämpfung der Ganglienlämpchen durch die Blauklappen ein Aufleuchten hier unmöglich machen. Das blaue Neurogliafensterchen um jede Ganglienkugel auf oder zu, heißt eben: Leuchte! oder Bleibe dunkel! Es schaltet Strom ein – Strom aus. Da nun den eigentlichen Hemmungsprozeß dabei der Chemismus schafft, der das Blut und die Lymphe bewegt, so verstehen wir die ungeheure Beteiligung der Blutadern und durch sie der Blutsäfte am geistigen Geschehen mit einem Schlage und begreifen die sehr erhebliche Rolle, welche der alle Gefäße öffnende und schließende Nervus Sympathikus, der Innenstromdirektor, am Spinnrad geistigen Webens zu spielen befugt ist.

Nun machen wir einmal ein grandioses Ich-Experiment im größten Stile mit, das die Chirurgen, freilich nur allzusehr vom Zweck gefesselt, täglich ausüben, und von dem aus der Verfasser allein ausgegangen ist, um dem Mechanismus der »Seele« etwas mehr, als bisher geschah, abzulauschen. Wir wissen ja alle, daß die Narkose den Zweck hat, den Schmerz auszuschalten, und daß das, wenigstens auf dem Wege der Einatmung betäubender Substanzen, nicht ohne manch unwillkommene physische und psychische Nebenwirkungen geschehen kann. Zu diesen leider nicht vermeidbaren Übelständen gehört auch die zeitweise Ausschaltung des Ichs. Darum ist eben jede Narkose ein psychologisches Experiment allergrößten Ranges, weil sie Schritt für Schritt beobachtbar, den ganzen Kreis unserer seelischen Fähigkeiten alteriert und aufhebt: von der einfachen Empfindung über Orientierung, Denken, Begreifen, Schlaf, Traum, Phantasieren, Wahnvorstellungen, Bewußtsein, Ichgefühl, Schmerzempfindung, Reflexaufhebung, Muskelzentrenlähmung, bis tief hinab in die Zonen des Unterbewußten und seinem Betriebe, und schließlich bis an die Zentren von Lungen- und Herzsteuerung, und damit bis hart an die Grenze zur definitiven Lebenshemmung, dem Tode. Man sieht: eine Stufenfolge, aus welcher nach meinem Gesetz von der Evolution der Ganglienlager sich sogar das Alter der einzelnen Hirnfunktionen bestimmen läßt; denn je jünger eine entwicklungsgemäß erworbene Hirnfunktion ist, desto früher wird sie von den abwärts in die Hirntiefe eintauchenden Betäubungswogen erreicht; zuletzt kommen die vom Leben zuerst erkämpften Fähigkeiten heran. Daraus erschließe ich eben den Beginn des Nervenlebens mit dem Urvater Sympathikus, denn er beherrscht zuletzt Atmung und Herztätigkeit. Man sieht auch: in dieser Skala steht das Ichgefühl erst an zehnter Stelle. Was hat das zu bedeuten?

Bewußtsein ist das Innewerden des Ichgefühls, wobei die gereizte Zone des »Ichs« schon wieder den andern nicht beteiligten Ganglien als eine betrachtbare Licht-Spring-Quelle, als ein Objekt betastbar und vergleichbar unterliegt. Das heißt, es ist das Wort, das Symbol für einen inneren Vorgang. So ist es mit jedem psychologischen Geschehen. Ein Reiz fällt ein, er umfaßt bestimmte Ganglienerregungen. Diese Gruppe leuchtender Ganglien wird von anderen nicht damit beteiligten Gangliengruppen betrachtet, es erregt in ihnen sekundäre Phantasieströme, läßt des Betasteten Gebild vor allen Kategorien (Möglichkeit und Erfahrung) Parade abhalten und formt im Mentalteil des Gehirns einen Begriff, dessen innen gefühlte Einheit einen Strom auslöst zum Sprachzentrum, welches für dieses Gefühl, das innen entstand, ein adäquates Symbol durch Sprachbewegungen schafft. Man sagt »aus«, was innen geschah, man entladet die durch den Reiz gesetzte Akkumulation von Gruppen-Gehirnenergien durch die Tat des Wortes nach außen. Das ist der Kreislauf alles Geistigen. Umsatz von Empfindungen in Begriffe, dieser zu Motiven, von den Motiven Befreiung der Hirnspannung durch Handlung oder Aussage; auch das Schreiben ist solche Gehirnentladung. Sprache ist Geburt und Tat. Worte sind Symbole für den entsprechenden physiologischen Gehirnvorgang. Die Sprache beschreibt, was innen geschieht. Bewußtsein heißt das Gefühl vom Innewerden des Ich, von seiner inneren Umtastung. »Ich« ist das Sprachsymbol für das Gefühl, daß in bestimmten Zonen des Gehirns jede Sekunde eine Atmosphäre aufleuchtet, an welcher sich alle Außen- und Innenbewegungen entzünden. Jedes im Inneren markante, streifenweit aufleuchtende Lichtfeld, das innere blitzende Objekt wird vom »Ich« fixiert.

Geist ist materialisierte Seele, ist der dem Organismus (Apparat) offenbarte Gehalt der Seele. Ein Spiegel, der über seinen Meister etwas sagen kann. Bewußtsein ist die Beobachtung des Ichs, das Innewerden dessen, daß ich ein Ich bin. Das Ich ist kondensierte Seele. Das Ich ist die Brücke vom Geist zur Seele.

Nun, das Narkose-Experiment beweist, daß die Zone derjenigen Ganglien, welche das Ichgefühl auslösen, die eigentliche Zone des Ichempfindens, tiefer liegt als alle Wahrnehmungen, zu denen uns die Entwicklung nach dem Aufstieg der einzelnen Ganglienfähigkeiten geführt hat, d. h. tiefer als die Lager der höchsten Orientierungsfähigkeiten des Menschen, z. B. Raum und Zeit, Kausalität, der Vollzug der sogenannten Vernünftigen, des Logischen, des bewußten Phantasierens, unseres Künstlertums, unseres Religionsgefühls usw. Und zwar ganz räumlich genommen, wenn wir die allmählich in der Hirnrinde Platz greifende Tiefenwirkung in unserem Narkose-Experiment überhaupt anerkennen wollen. Das aber müssen wir schon, denn jeder Narkotisierte sagt, darüber befragt dasselbe aus. Ich habe es zudem oft genug bei meinen eigenen Selbstnarkosen, zum Teil zu psychologischen Studienzwecken oft genug bestätigt gefunden. Nach den Zuständen der Abwehr, des Widerwillens den nur der wache Wille Anderer mit Gewalt überwindet, fängt die Orientierungsfähigkeit in der direkten Umgebung an auszufallen, der Orts- und Zeitsinn wankt, dann mag man nicht mehr recht zu begreifen, was mit einem geschieht, das Denken fällt schwerer und schwerer, Ursache und Wirkung verschwimmen, »Begriffe« haften nicht mehr, es ist, als würde alles Wirkliche und Abstrakte langsam abgestellt, und als sähen die Augen ängstlich nach innen, um dort die Gründe des Ausfalls höchster Geistigkeit zu erwischen. Dann kommt wohl Schlaf, aber das Ich ist noch nicht fort, es wandelt im Traum, aber doch als Ich noch eigen flutende Wege; der Traum steigert sich sogar zur Halluzination, Phantasmen treten auf, Rasereien oft unter Aufspringen und attackierenden Bewegungen, Kampfhandlungen beginnen, und es rollen die Augen undirigierbar her und hin, dann endlich wird das Ich ausgelöscht wie ein Name von der Wandtafel, wie man eine Fackel erstickt im Sand, nachdem schon das, was man volles Bewußtsein nennt, lange geschwunden ist. Dann gibt der Anruf keine Reflexe mehr, der Augenreflex hört auf, aber jetzt noch kann Schmerzempfindung an dem Abwehrzucken bemerklich vorhanden sein. Ist auch dieses ertränkt in der lethargischen Dampfwelle, so ist der Moment da, von wo ab jede tiefere Betäubung ein Kunstfehler ist. Das Reich des Unterbewußtseins steht schon dicht an der Schwelle des Todes.Die Aufhebung des Bewußtseins, d. h. eben des Gefühls vom Ich, geschieht merkwürdigerweise (im Kriege!) nicht so sehr durch alle Gewalt, Schuß oder Zertrümmerung des eigentlichen Ganglienapparates; wir können eßlöffelweise Gehirnverluste beobachten ohne eine Tittelchenveränderung des Ichgefühls, wir sehen, daß zur Aufrechterhaltung des Bewußtseins des Ichs vielmehr die Blutverhältnisse und ihr Druck zu sorgen haben. Schon Gifte im Strom des Blutes verändern den augenblicklichen Bewußtseinszustand oft blitzschnell; Zyankali, Strychnin, maximale Dosen vieler anderer Gifte, schon der Kochsalzgehalt des Blutes modifiziert die Charakteristik der Augenblicksstimmung; Hormone treiben die flutenden Ganglienschwärme in bestimmte Richtungen; die innere Sekretion, Hirndrucksymptome, Gefäßschrumpf können Ohnmächten, Schock, Bewußtseinsminus erzeugen. Aber ein großer Hirndefekt noch lange nicht. Kann ich einen schlagenderen Beweis für die Betätigung der Neuroglia, des letzten Ausläufers des Blut- und Lymphsystems des Gehirns verlangen für meine Theorie, als die Experimentalpsychologie, die das wahnsinnig gepeitschte Eisen in jeder Form von Geschoß (verwandeltes in Unsegen zum Segen bestimmtes Gold!) in diesem Kriege betrieb? Das alles läßt nun manch Interessantes schließen: die langsam sich einsenkende Hemmung dringt also schrittweise in die Etagen unserer Geistigkeit wie ein Tiefenmesser! In umgekehrter Richtung, als sich die einzelnen Hirntätigkeiten entwicklungsgeschichtlich erwerben ließen, gehen sie hier verloren. Die letzten kommen zuerst heran. Das Ichgefühl steht zwischen Tastempfindung und Unterbewußtem, das Auge war eher als das Ohr fertig als Organ, das Tasten früher als beide usw., von denen für uns hier am wichtigsten ist die Stellung des Ichs: unterhalb der sogenannten reflektierenden Vernunft, oberhalb der automatischen Reflexe und Instinkte und oberhalb aller unterbewußter Sympathikusempfindung und Tätigkeit.

Die Ichzone bildet also eine Art Scheidewand zwischen hohen Bewußtseinsfunktionen und den zurückliegenden schwebenden Meeren des Unterbewußtseins. Hier ist auch die Stelle, wo Außenwelt und Innenwelt sich berühren, wo die reale Hand des Verstandes gepackt werden kann von der Mysterienfaust alles vor uns Entwickelten und Gewesenen und von dem dunklen Willen des strömenden Äthers, es ist die Stätte, die zutiefst das helle Licht des Lebens erreicht, aber auch die Schwelle, an der das phosphorische Licht der Gewesenheiten aller Vergangenheitserlebnisse aus den Tagen der Kindheit des Menschen nicht nur, nein der Menschheit überhaupt, gespenstig hineinblitzt in den hellen Tag des Heutigen! Die Reize von der Außenwelt, die Reize von der Innenwelt, das Milieu mit seinen Ätherwellen und das Gewoge des Inneren, im wesentlichen durch innere Sekretionsströme getragen, stoßen hier aufeinander. Es gibt also eine Zone innerhalb des Ganglienhimmels, wo das Ichgefühl aufblitzt wie eine Summe von beiden, von Außen- und Innenreizen, genau als wenn aus beiden fernen Reichen Meteorpartikelchen gegen die Atmosphäre des Ichs geschleudert würden, und hier, wo sie aufleuchten zu Millionen gewiß, entsprüht auch die Zone des »Ich«, die wie ein Streifen von Meeresleuchten in der Flut der übrigen, abgeblendeten Ganglien nun diesen zum Objekt der Betrachtung durch die rückleitende Phantasie wird und das, was hier als Gefühl innen getastet wird, diesen akkumulierten Gruppenreiz einer Zone, die durch den Ganglienwald aufleuchtet, diesen Vorgang der Reibungs-»Weißglut« aller Reizbarkeiten, fertigt das Sprachorgan ab mit dem Symbol dreier Buchstaben: Ich! Sprache ist immer nur der Versuch, einem anderen klarzumachen, was er glaubt, von den Vorgängen des inneren oder äußeren Lebens begriffen zu haben.Man beachte die Nachbildung einer gleitenden, glühenden Flut in dem schleifenden I-c-h-geräusch. Jetzt erkennen wir erst deutlich, welche Beziehungen das »Ich« zur Gegenwart hat. Das Ich ist ein gefühlsmäßiges Bewußtwerden des phasenhaft immer von neuem Aufleuchtens einer bestimmten Ganglienzone, und zwar derjenigen, an welcher die Außen- und Innenweltreize sich berühren; es wird illuminiert, angesteckt, in elektrischem Sinne erhellt, erleuchtet durch die ewig rauschenden Ätherwellen des Kosmos und der Umwelt mit all ihren physischen Motiven, und es erhält aus den in Schächten der Vergangenheiten aufbrausenden elektrischen Triebsäften mit dem Blute jene ungeheuer wichtigen Gegenmotive, welche der Grundstimmung, dem Charakter, den Temperamenten, dem ganzen Bau der Persönlichkeit erst Fundamente schaffen. Hier muß auch irgendwie räumlich ganz nahe verfügbar die Stätte sein (Insula Reilii), wo der von uns sogenannte Reservestrom geistiger, akkumulierter Energie, zu einer ständig entladungsbereiten Gewitterwolke verdichtet, lauert, um nach den Lücken zu spähen, durch welche nach Hemmungsfortfall unserer blauen Umhüllungen der elektrischen kleinen Glühbirnen der Einbruch der fortgeschobenen Energieströme stattfinden kann. In Register hinein, in denen die einzelnen Flöten und Stimmen unserer Hirnorgel ganz andere Harmonien und Symphonien ausüben gelernt haben, die je nach ihrer langen Einübung ganz bestimmter Funktionen vom Gefühl zum Begriff, bis zu den sechzigtausend Worten und ihrer Verkettung zum Satz, zur Aussage, zur stillen philosophischen Träumerei, zum schärfsten Denken oder zu den Millionen Möglichkeiten der Tat führen: vom Federhalten bis zum Heldentod sterben, d. h. die Einschiebung des Ichs mit seinen Willensstrebungen in die drei Orgelregister, welche das Bild der adjektivischen, der subjektivischen und verbalen (aktiven) Welt, wie Fritz Mauthner es ausdrückt, bilden. Hier ist die Zone, wo zunächst als Reiz die ganze Welt eigenschaftartig (adjektivisch), man möchte sagen rein physikalisch, chemisch, optisch, akustisch usw., also sensoriell, durch Sinne geleitet, gleichsam an die reizbaren Resonatoren ihrer singenden, klingenden Wellen anbraust, wo der hochgespritzte Schaum, das erlangte bunte Primaband nun schon den anderen Ganglien der Innenbetrachtung zum Objekt wird, die sie sammeln im Reiche der aufbewahrten Erinnerungen und der spekulativen Reflexionen (Phantasiebereich, rechte Hirnhälfte, Kategorien). Diese wiederum zu großen Stromkaskaden, Leuchtpyramiden, glühenden Trauben gruppierten Ganglienherde bilden ein Motiv, eine Intention, in irgendeiner Weise die im Gehirn erregten Stromwellen zu entladen, und diese Hirnentspannung wird Wort oder Bewegung (Handlung), welch beides Tat bedeutet. Das ist ein Kreislauf, denn mit der Tat gibt die konzentrierte Ichzone dem Kosmos die Stromwellen zurück, welche dieser ihm durch die Sinnenbahnen zuführte. Eines jeden Ich ist also eingespannt in den Rhythmus der Gesamtnatur, und unser Wille muß, um harmonisch zu wirken, in Harmonie zu dem gesamten Ätherwillen sein, dessen unsichtbares Netz alles umspannt, alles durchrieselt, vom Vakuum bis zum festesten Stahlblock. In diesem Kreislauf ist also eine Empfängerzone der Gangliengenossenschaft, welche immer von außen und innen strombeladen nach einem Reiz verlangt, hungert, einem Reize entgegenwartet.

Man beachte, mit wie unendlich vielem Recht ich die Sprache einen erkennbaren Versuch, innere Mechanismen, Gangliengeschehnisse zu beschreiben, genannt habe. Gegenwart ist ein Vorgang, bei dem ein Etwas von Stromeinheit einem Reize: entgegenwartet. Sie ist das Gesamtgefühl dieses für Reize Gegenwärtigseins des »Ich«, die Sprungbereitschaft der kleinen Leoparden des Willens, die Klanggeneigtheit aller kleinen Glöckchen der Wahrnehmung, die Spielbereitschaft aller kleinen Hirnorgeln, die jeden Augenblick (zehnmal in einer Sekunde sogar) anschnurren, losklingen, vibrieren und damit in ihrer Gesamtausdehnung über den ganzen Himmel des Hirngraus die nicht beteiligten Zuschauer der Nebenganglien zu der Vorstellung zwingen: hier geht etwas vor, sekündlich, pünktlich, hier leuchtet, zuckt etwas ein submariner Scheinwerfer durch die ganze Tiefe des Ozeans der geistigen Fluten von Augenblick zu Augenblick, und dieses wunderbare, zuckende Nordlicht an unserem inneren Sternsystem der Ganglien nennen wir mit unserem armen Sprachsymbol: das sich Bewußtwerden des von der Gegenwart immer neu entzündeten Ichs, d. h. ein Entstehen des Wissens von mir, nur erklärbar, nur einzig verstehbar, wenn man mit uns eben die Möglichkeit der Beobachtung von Teilen des Gehirns unter sich, des Hineinblickens der einen Hälfte in die andere, des Beobachtern des Rückenmarks durch das Gehirn usw. zugibt. Nur auf dieser Basis ist so etwas wie eine Hirnmechanik, ein ingenieurhaftes Beschreiben der Seelenvorgänge denkbar, die sich, wie diese, sogar an die mechanische Definition philosophischer Kardinalbegriffe heranwagen will.

Es muß mir erlaubt sein, an dieser entscheidenden Stelle kurz hinzuweisen auf die uns bekannten groben Mechanismen, welche imstande sind, das Ichbewußtsein, dessen physiologische Ableitung soeben versucht wird, zu betäuben, zu erlöschen, fortzuwischen, d. h. für die Dauer es völlig aufzuheben. Und zwar deshalb, weil gerade aus den hier folgenden Betrachtungen sich ohne weiteres ergibt, daß meine Auffassung vom Hirnmechanismus auf durchaus sicherem Boden steht, was sich immer mehr herausstellen wird, je mehr wir vordringen werden in das Verständnis auch der Trübungen, Verwandlungen, Exaltationen, Konfusionen, Dämonien und Wahnvorstellungen des Ichs.

Der Weltkrieg hat eine entsetzliche Fülle von Schädel- und Gehirnverletzungen gebracht, von einer Grausamkeit, wie sie die »blinde« Natur niemals, mit keiner Sintflut, mit keinem Erdbeben oder Luftorkan gewagt hat, sondern die allein dem sogenannten »bewußten« Menschenverstande, sagen wir nur offen, seinem bestialischen Vernichtungstriebe vorbehalten blieb. So grausam aber hätte auch kein himmlischer Experimentator sein können, wie hier der Wille zum Siege, etwa aus Sehnsucht nach Erkenntnis. Aber es wird vielleicht doch einmal (gewiß ein schwacher Trost für soviel Unheil!) Nachlebenden von Nutzen sein, wenn erst alles rein wissenschaftlich, d. h. eiskalt, schön exakt gruppiert, aufgezeichnet vor uns liegt, zu hören, daß kaum eine Stelle des Gehirns den grausamen Experimentalwerkzeugen der Technik unerreichbar gewesen ist! Das wird schon manches lehren, für uns hat es vor allem die Lehre von der gedoppelten Funktion beider Hirnhälften gebracht und zweitens offenbar und ganz deutlich aus allen Krankengeschichten ablesbar den Satz umgestoßen: »Das Gehirn ist der Sitz der Seele!« Das ist ein für allemal ein Köhlerglaube geworden. Die Leser meiner Bücher wissen ja, daß mich dieses Fiasko der materialistischen Betrachtungsweise von chemischer Diosmose und spezifischer Ganglienassoziation und Herausdampfung der Seele usw. nicht wundernehmen konnte. Man kann auch nur annehmen zur Entschuldigung der an diesen Satz Gläubigen, daß schuld an ihm nicht so sehr die Medizin und die Physiologie ist, als die oben angedeutete, unheilbare Konfusion aller solcher Begriffe, wie Seele, Geist, Gemüt, Ich usw.

Hier wollen wir ja eben einen kleinen herkulischen Besen in die Hand nehmen, um viel verstaubte Zadern gründlich auszufegen. Und zwar kann kurz gesprochen das Gehirn deshalb kein Seelenorgan genannt werden, weil allzuoft auf die allergröbsten Substanzverluste von Gehirnbestandteilen, sei es im Augenblick der Verletzung, sei es als Folge derselben durch Einschmelzung von allerkostbarstem »Seelen«material, der Ganglienzellen und sonstigen Hirnmassen keinerlei Trübung der Seelentätigkeit bei denen, die solche Verwundungen überlebt haben, festgestellt werden konnten. Man denke sich einmal den Sachverhalt recht durch: Hirnganglienarbeit und seelische Tätigkeit sollen absolut identisch sein, etwas anderes Seelisches als Ganglienarbeit gibt es überhaupt nicht, Seele und Geist, Vernunft und Verstand, Gemüt, Gefühl, das alles ist ausschließlich durch Ganglienassoziationen des Gehirns für die Herren Materialisten zureichend erklärt. Und nun kommen die Tausende von Fällen mit großen Hirnverwundungen und zeigen, wenn manchmal auch sterbend, noch eine völlige Intaktheit ihres Ichs, ihres Geistes, ihrer Vernunft, ihrer auch noch so schmerzlich zusammenbrechenden Erinnerung. Wie oft haben wir in einem Schädelverband Unmassen von Hirnsubstanz den staunenden Schwestern zeigen können, aber ich habe auch niemals versäumt, ihnen zu sagen: »Nun, meine Damen, angesichts dieses hier völlig klaren und seelisch intakten lieben Dulders und angesichts der Menge seiner Hirnpartikel, welche er hergeben mußte, sind Sie hoffentlich ein für allemal davon überzeugt, daß das Gehirn allein der Sitz der Seele, des Geistes unmöglich sein kann. Die Sache hängt denn doch anders zusammen!«

Wahrlich, das, was wir Seele nennen, ist überall, zu ihr gehören die Säfte der Drüsen (Schilddrüse), das Blut, die Tastfasern in Fingern und Bauch, das Muskelgefühl, das Neurogliagefühl, die Sinne usw. Sie ist nicht physisch, sie ist nicht meßbar, betastbar, mechanisch analysierbar, sie schwebt über dem ganzen Organismus als eine höhere, als eine transzendente Einheit; was sie ist, kann man nur durch Ausschluß alles dessen, was eben physisch ist, abgrenzen, sie ist metaphysisch. Sie ist das, was den Leib und Erkenntnisapparat, das Gehirn, seine Aktionen, Sprache, Gedanken, Tat durch ihren Orientierungsapparat, den Ganglienhimmel, geschaffen und möglich gemacht hat und dauernd kontrolliert. Sie sitzt nicht im Gehirn, sie thront über dem ganzen Leib und durchrieselt ihn beständig, sie ist ein Abgesandter lichterer Höhen, eines überirdischen Monsalvat, der ihre himmlische Heimat ist. Ihr Walten ist ein Auftrag der Gesamtseele, den Stoff zu steigern zum himmlischen Erkennen, zum Zurückführen des luziferischen Abtrünnigen in die höchste Geistigkeit. Davon später mehr. Aber wie ist es mit dem Ich?

Auch dieses wird sonderbarerweise durch jene Fälle von Verwundungen des Gehirns, die natürlich immer nur die relativ seltenen Ausnahmen umfassen, bei denen der Tod nicht jede Frage verstummen machte, d. h. durch das Angreifen der rohen Gewalt, durch Zertrümmerung von Hirnsubstanz überraschend wenig, ja oft gar nicht verändert. Wir können also getrost sagen, auch das Ichgefühl wird durch den Ausfall von unzähligen Ganglienkugeln so gut wie gar nicht alteriert. Es muß also wohl in der Funktion der Gesamtheit der Ganglienkugeln resp. einer gewaltigen Zone des grauen Hirnsaumes bedingt sein, wenn es überhaupt innerhalb der Ganglienbreite webt, herumspukt und geistert. Man muß also annehmen, daß der Ichbegriff zwar an den Ganglienapparat gebunden ist, aber daß selbst der Ausfall von Millionen von Zellen ihn nicht vernichten kann, vielleicht, weil nach dem Ausfall die übrigen Zellen blitzschnell die zerstörte Funktion übernehmen. Denn nacherzeugen lassen sie sich nicht. Sonderbarerweise sind Hirn- und Rückenmarksganglien nicht regenerationsfähig, vielleicht weil sie so hochstehen im Entwicklungsprozeß der zur Geistigkeit aufgestiegenen Materie. Krebsschwänze und -scheren, Wurmköpfe und Eidechsenglieder wachsen wieder, aber nicht eine einzige Ganglienzelle! – Dagegen wird das »Ich« aufs schnellste, tiefste und umfassendste ausgelöscht, wenn der Blutumlauf, plötzlich oder langsam sich vorbereitend, gehemmt wird. Dann haben wir ein schwammartiges, gelatinöses, elastisch schwappendes, gleichsam aufgesteiftes Konvolut innerhalb des starren Schädels, aus dem das eingepulste Blut nicht wieder herauskann: eine Drosselung, eine Abschnürung des Gehirns tritt ein. Das Blut staut sich, und in solchen Fällen ist schon die Bewußtlosigkeit da! Spricht das noch nicht deutlich genug für meine Hemmungstheorie der aktiven Neurogliatätigkeit, wonach die Neuroglia als letzter Ausläufer, als die Auffaserung der Blutadern ungemein wichtig wird? Ja, hier aus den Studien über Hirnverletzungen kann man direkt erkennen, daß die Blutzirkulation an dem »Ich« und Bewußtseinsbegriff den Hauptanteil hat, einen, der funktionell den der Ganglien sogar überwiegt.

Wir wollen hier nicht näher darauf eingehen, warum ebenso absolute, plötzliche Blutleere wie dort die Uberfüllung mit Blut im ganzen Gehirn durch Gefäßschock erregt, schlagartig, wie in der Ohnmacht usw., das »Ich« auslöschen kann, tiefer als im Schlafe und noch enger brüderlich verschwistert mit dem Tode. Im Buch »Von der Seele« ist darüber Ausführliches zu lesen. Ich bin zur Rechtfertigung meiner hier angewandten persönlichen Methode genötigt, darauf hinzuweisen, wie sehr diese Flut von gewaltsamen Durchbohrungen, Anschießungen, des Zerreißens, Zerwühlens der Gehirne der Verletzten geeignet war, meine Theorie von dem Einfluß des Blutumlaufes für alles geistige Geschehen im Gehirn zu erweisen. Eine Fülle von neuen Anschauungen springt aber aus dieser Auffassung, wenn wir erst einmal die Zusammensetzung des Blutes und seiner Bestandteile heranziehen werden zu allen den feinen Funktionen am Ganglienapparat, welche das Ich in Milliarden Individualisationen und Variationen, vom stumpfen Phlegma des Idioten bis zur Raserei des Genies aufzulösen gestatten.

Geht doch der wesentliche Anteil, welchen das Ich vom Unterbewußten herbezieht, auch für ein harmonisches Ich ganz allein durch die Stromquelle des Blutes.

Wir wissen es noch nicht allzulange, es werden zwanzig Jahre her sein, daß Drüsensäfte einen enormen Einfluß auf geistige Aktionen haben müssen, weil ihr Aufhören, ihr Fehlen nach operativen Eingriffen, beispielsweise der Schilddrüse, nach Herausnahme derselben ungeahnte geistige Störungen schwerster Art bedingen. Ein Mensch, der plötzlich der ganzen Schilddrüse mit ihren Nebenkörperchen beraubt wird, stirbt geistig ab, und hätte man in der vorwitzigen Weise der Chirurgen solche Operation bei einem Newton und Goethe gemacht, sie wären beide unrettbar Idioten geworden, und wir wären um einen der köstlichsten Geisterkämpfe, den die Literatur kennt, den um die Farbenlehre, gekommen. Um wieviel Genies also Herrn Kochers Messer die Welt beraubt (strumipriviert) hat, wissen wir nicht, aber wir haben aus diesen Experimenten gelernt, daß innere Organe Dinge produzieren, die für den Betrieb eines menschlichen Organismus so wichtig sein können, wie ein Führungsrad, ein Leitriemen, eine Kontaktbüchse für einen Maschinenbetrieb. Eine Tatsache, welche ins Gewicht fällt und den ewigen Blinddarmschneidern und Rachenmandelnbarbierern, Aufmeißlern und Uterushöhlenkratzern eigentlich etwas zu denken geben sollte! Wir wissen, daß fast jede solche innere geheime Werkstätte eine Segensquelle ist für den Betrieb des Ganzen; die Drüsen, die nach außen ihren Saft leiten, leisten für die Harmonie des Organismus und seiner Bestandfähigkeit wahrlich genug, ein wunderbares Geheimnis aber umflüstert die Tätigkeit der kleinen Saftbrauereien in den zahlreichen Drüsenkörpern und den meisten Geweben überhaupt, welche ihren Segensstoff nicht nach außen abgeben, sondern wie kleine Lebensbäche einmünden lassen in den großen Strom von Blut, der alles im Leibe säen, keimen, aufblühen läßt, von der stillen Architektur der Form, vom Räderwerk der Automatien bis zu dem Hochbetrieb des Geistes, den Gedanken! Das eine wissen wir heute ganz genau: in der Zirbeldrüse, in der Schilddrüse, in den Geschlechtszellen, in der Bauchspeicheldrüse, im Mark der Knochen, im Hirnanhang usw. werden Stoffe produziert, von denen fast jeder bewußt behaupten könnte, wie ein Geiger im Orchester: »Ohne mich geht's eben doch nur halb!« Ja freilich, sprechen können sie nicht, aber nicht nur belebend, nein belebt sind sie; es ist Leben in diesen Heil- und Harmoniesäften, die die Nerven steuern, als wären sie die Seele des Steuermanns, welche sich gegenseitig hemmen und fördern, wie in einer zierlichen Quadrille, wo Part mit Gegenpart den schönen Reigen erst zuwege bringt. Säfte, die leben!Ohne diese Betrachtung ist der Abbau eines Eiweißmoleküls durch ein dauernd qualitativ und quantitativ unverändertes Fermenttröpfchen mysteriös! Jawohl! Oder ist das nicht lebend, wenn ein Ferment des Magens ohne eine Spur an Kraft zu verlieren, ganze Felsen von Eiweißnahrungen spaltet, genau so, als wenn ein einzelner Mensch einen Chimborasso langsam zu Staub, ja noch tiefer zu Grundstoffen, zu Wasser und Kohlensäure zerriebe, ohne selbst zu vergehen? Ist das nicht belebt, um ganz derb real zu sprechen, wenn durch die Einspritzung von 1 ccm Hormonal, wie uns das der ausgezeichnete Kliniker Professor Zuelzer gezeigt hat, eine Verdauungsstörung von vielen Jahren für mindestens zehn Jahre beseitigt ist, weil das eingespritzte, aus Drüsensäften gewonnene Zaubermittel so lange die Harmonie der Darmbewegungen automatisch regelt? Diese Stoffe, die man »Hormone«, auf Deutsch »gerufene Lebensgeister« (&#972;&#961;&#956;&#940;&#969; = ich rufe) nennt, spielen eine ungeheure Rolle in der Gegenwartsmedizin und werden mehr als die Bakterien einst die Medizin der Zukunft beherrschen, weil durch sie zum ersten Male eigentlich das von mir immer betonte Verhältnis von Saft zur Seele schlagend erwiesen werden wird. Hier haben wir nur zu untersuchen, in welcher Weise wir uns zu denken haben, daß diese Stoffe auf das Ichgefühl Einfluß üben.

Nun, sie sind alle eigentlich konservative Reaktionäre. Sie halten fest, was in Jahrhunderttausenden die Natur erreicht hat zur Lebensfähigmachung ihrer Gebilde. Sie sind die Aufstapler der Erfahrungen aller vergangenen Lebenskämpfe, sie sind die grundlegenden Unentweichbarkeiten unserer Lebensbedingungen, sie sind die Fundamente vorzeitigen Wissens. Sie sind das Wissen vom Aufstieg der Kreatur zum Menschen, die Urquellen und Strombetten und Fortpflanzer des Ge-Wissens! Sie gleichen aus, wenn noch so sehr die Gegenwart mit immer neuen Forderungen unsern Denkapparat bestürmt, wenn immer neue Tragödien der Liebe oder Bacchanale der Lust den Kreis der Möglichkeiten zu erweitern sich bestreben, sie halten das Ich fest an dem einmal Erreichten, sie warnen, mahnen, steuern, sie sind die geheimen Sendlinge der Erfahrung, sie sind es, durch die ein Konfuzius, der konservativste aller Denker, spricht: »Ehrt die Vergangenheit! Sonst sterbt ihr!« Wahrlich, es klingt wie ein kalauernder Witz, aber es ist die nackte Wahrheit, die Hormone sind die Harmoniker des Ich! Wenn sie nicht da sind, stockend oder gehemmt, so fehlt etwas, etwas in dem Orchester der Seele fällt aus, woher der trefflich gewählte, von meinem alten Lehrer Senator geprägte Ausspruch stammt: sie bedingen Ausfallserscheinungen. Er, der Vater der Lehre von der »inneren Sekretion«, hatte keine Ahnung von der Bedeutung, die seine Lehre für die Physiologie des Gehirns, des Geistigen haben würde. Es ist ein schöner Grabstein, den ich, sein Schüler, ihm an dieser Stelle zu setzen die Gelegenheit nicht versäume. Denn er hat es als erster ausgesprochen: »Die Blutdrüsen beherrschen die Lehre von dem Kranksein!« Und ich füge dazu, sie sind, normalerweise, die Motoren unserer Gesundheit!

Wenn alles in dem schwer erworbenen Vorteil, den der Ringkampf zwischen erneuertem Geschehen und erworbenem Bestand davon abhängt, ob das Erreichte den Anstürmen des Werdenden gewachsen sich erweist – sonst ginge alles zugrunde –, so müssen wir in ehrfurchtsvoller Demut, auch in der Politik, dem fest Gewordenen seine Naturbestimmung lassen. Das ist der Sinn jeder konservativen Aristokratie, die es auch im Volksstaat immer geben wird, die nur eine Raserei des Neuschaffens aus nichts, ohne Tradition, mit Haß bekämpfen kann! Wir wollen dieses aus der Biologie allein hellbeleuchtbare Thema hier nicht ausführen – hier genügt es, auch dem Laien, dem Naturunkundigen klarzumachen, daß in unserer eigenen Brust das schon Erreichte eine unendlich wichtige Rolle spielt, gegen welche die Sehnsucht, weiterzukommen, immer die Rolle der meuternden Dirne aller Revolutionen spielen wird. Aber lassen wir alles Soziale beiseite, die Prüfung des eigenen Ichs ergibt, daß es janusköpfig ist, es möchte ebensowohl seine ihm lieben Traditionen festhalten, wie die Gegenwartserfahrungen, seine eigenen Erlebnisse und Überzeugungen hinausschieben in schönere Möglichkeiten! Die Zone des Ichs ist es eben, wo die Arena liegt zwischen Zukunft und Vergangenheit. Hier ist das Büro gleichsam der bindenden, allein Rechte gewährenden Entschlüsse, sich mit der Vergangenheit untrennbar zu verankern oder das Luftschiff der Zukunft zu besteigen. Wo die Zone des Ichs ist, ist auch die Zone des Gewissens, welche nichts anderes bedeuten kann, als das Monitum, das Memento mori oder Spera vivere, das aus zwei Quellen gespeist wird, aus der intensiven Beobachtung der Gegenwart und aus Beachtung der gewonnenen Unumstürzbarkeiten, der Gewinnung des Klassischen! Solange aber kein Konflikt zwischen diesen beiden Füllquellen des Ichs (des Charakters) entsteht, walten eben die innensekretorischen Mächte so harmonisch durch ihre inneren Lebensantriebe, daß ihnen die von außen kommenden Neuantriebe des vorwärtsdrängenden Lebens nichts anhaben können. Schwanken kann nur der, welcher fühlt, daß seine Umwelt seine Innenwelt zu überrumpeln droht. Es ist die Gleichgewichtslage, in der die Heroen der Menschheit sich befanden, wie Buddha, Christus oder Goethe; es ist der Gleichgewichtsmangel, der aus so vielen einen Hamlet, einen Faust, einen Peer Gynt, einen Manfred, die Musterbeispiele großer problematischer Naturen machen. Es ist erschreckend, zu denken, daß Säfte uns zum Mephistopheles oder zu einem Luther machen können, aber es ist die Wahrheit: mein Ich ist die Differentialsumme von Außenwirkung aller Reize und von Innenwirkung der inneren Sekretion. Hier schäumen die Triebe gegen die Felsen der Vernunft! Aber dieser schreckliche Ringkampf verliert an grauenhafter Unbegreifbarkeit, wenn wir uns klar machen, daß es gewonnene Geistigkeiten sind, die in diesen »lebendigen Flüssigkeiten« kreisen, wie es Geistigkeiten sind, die uns unaufhaltsam treiben, den Kreis des Gewordenen mit Zukunftsideen zu durchbrechen! Wie es auch Geistigkeiten gewesen sind, die den Strom des Lichts, der Wärme, der Elektrizität usw. bis zur Zelle, zum Bewußtsein, zum Ich und zur Vernunft emporgesteigert haben. Unser Ich ist die Kuppe, der Gipfel dieses Aufstiegs des ruhenden Äthers zu Funktionsquanten!

Alles, was gutes Gewissen bedeutet, kommt eben darauf hinaus, wie das Ich die Außenweltwirkungen in Einklang zu bringen vermag mit dem Grundstock meines unterbewußten Wesens, ob ich Handlungen zulasse im Kreislauf der Welterlebnisse, die mit meinem Erhaltungstriebe direkt in Widerspruch geraten oder nicht. Denn zweifellos ist es ein Urtrieb, sich zu erhalten, also müssen Handlungen, die an dem Grundstock der Existenz rütteln, eine Gefährdung, ein in Unruhebringen meiner Lebenssicherheit in moralischer wie in strafrechtlicher Hinsicht, von dem Verstoß gegen meine inneren Überzeugungen bis zu dem gegen die Staatsgesetze, die Harmonie des bewußten und unterbewußten Betriebes gerade in der Ichzone der Ganglienformationen empfindlich stören. Diese Interferenzen der Motive aus beiden Lagern über und unter der Ichzone, dieses Schwanken der Welle des Zweikampfes, verhindern ein ruhiges Leuchten des immer aufzuckenden Flämmchens persönlichen Seins. Ein Flackern, ein Ausweichen, ein kurzschlußartiges Überspringen von Ganglienzuckungen in die Gefühlsbahnen mit dem Charakter der Gefahr tritt ein, welches dem Unlust- und Schmerzgefühl, deren Wesen der elektroide Kurzschluß aller sensitiver Leitungen im Körper ist, ganz nahekommen. Dieser Motivstrudel, dieses Aufschäumen der Gegenwart gegen die Überkommenheiten, das Anprallen des Ich gegen gleichzeitig zwei Bedingtheiten, jene nach innen, diese nach außen, das beobachten nun die an diesem Prozeß unbeteiligten anderen Gangliengruppen und führen die erfaßte Unruhe der Ichflämmchen zum Sprachorgan, und wir geben ihm das Symbol: Qual, Gewissensqual, Seelennot usw., deren Lautbildung unserer Meinung nach auf dichterisch-phantastischer Weise zur Entladung der im Innern erregten Stromüberladungen stattfand, zum Zweck einer Entlastung des Gehirns von seinen sonst nicht lösbaren Spannungen. Das vulgäre: »Ich muß mich einmal ordentlich aussprechen«, die Beichte, das Bekenntnis, die Reue, die Freudsche Psychoanalyse – alles das sind Versuche zur Gleichgewichtseinstellung unserer Gehirnerregungen gegen das sympathische System, aber nicht im Sinne Freuds, wo es sich um »eingeklemmte« Motive im Triebleben handelt, sondern um Motive, die eben gerade im Bewußtsein erinnerungsgemäß verankert und versenkt sind, und welche auch die Vernunft, das bewußte Leben, die Erfahrung, das Ich zu verarbeiten die Aufgabe hat. Daß eben all unser geistiges Tun vom Empfindungsreiz über die Spekulation, vom Gedanken bis zum Wort, von der Humorstimmung bis zum Lachen, vom Anhören einer Beleidigung bis zum Faustschlag ein motivischer Kreislauf der Welt- und Nervenströme ist, der sich im Gehirn abspielt unter Zuhilfenahme einer dem Ich und dem Willen zur Verfügung stehenden aufgespeicherten Reservemacht – diese Erkenntnis ist für mich wohl der größte Gewinn, welchen ich aus derlei Betrachtungen gewonnen habe; damit sehe ich, daß mein geistiger Mechanismus dem Universum und dem Kosmos ebensosicher eingewebt ist, wie das materielle Geschehen und seine strengen Gesetzmäßigkeiten in die Gemeinsamkeiten des alles durchziehenden Äthers!

Nun bleibt mir für dieses Thema vom »Ich« nur wenig noch zu tun übrig, nämlich ein wenig auf seine Geburt und seinen Tod einzugehen, selbst auf die Gefahr hin, die Frage berühren zu müssen, ob das »Ich« wirklich stirbt im Tode des Leibes, oder ob es eine Möglichkeit gibt – nicht es zu hoffen, sondern es irgendwie wissenschaftlich zu stützen –, daß so etwas wie ein »Ich« unsterblich sein könne.Das wird später in einem neuen Werke: »Über die Unsterblichkeit« in positivem Sinne von mir entwickelt werden.

Wir haben es schon gesagt, ein jeder kleine Menschensendlingsbote, mit der Garantie von der Unsterblichkeit der »Menschheit«, muß sein »Ich« erlernen. Wie geschieht das? Nun, durch langsames Vorbereiten aller in ihm noch nie erklungenen kleinen Hirnmaienglöckchen, die bei der Geburt so gut wie gar nicht funktionieren. Es liegt alles im so seligen Paradiesesschlaf nach der überstandenen, aber ihm nicht bewußt gewordenen Qual der Geburt, es ist alles abgedämpft durch die Übermaße von hemmender Neuroglia, die erst später zur zuckenden, ordnenden Ein- und Ausschaltung sich anschickt. Erst müssen durch die kleinen Gucklinsen die goldenen Klöppel der Sonnenstrahlen an die winzigen Glockentürmchen in dem noch kleinen Wächterhause millionenfach anläuten, die Sinne alle ihre Glockenzüge in Bewegung gesetzt haben, ehe langsam hinter den Wolken der Neuroglia der Himmel sich mit Sternchen besetzt, die langsam die schwebende Hemmung durchbrechen. Bis dahin geht alles den Weg des unbewußten Reflexes, der Automatie und der Instinkte. Das alles ist eine Angelegenheit des Mechanismus außerhalb des »Ichs«, den eben eine plastische Idee an sich schon lange vorher ersonnen und ausgearbeitet hat. Hier müssen für das Bewußt-Werden des »Ich« im Gehirn erst eine unendliche Anzahl von Fähigkeiten nicht erzeugt, sondern erzwungen werden aus einer prädestinierten Anlage heraus. Wie eine Unzahl kleiner Schläfer in der Tiefe der Todesruhe, im Grabe des Ichs vor der Geburt, wühlen sie sich aus der Verschüttung hervor, lernen auf Licht, Wärme usw. reagieren und Ströme zu akkumulieren, und damit das Spiel der Leuchtkugeln tauschenden Ganglien zu inszenieren, noch immer ohne Motive, immer nur im Spiel von Automatie und in der Richtung des geringsten Widerstandes gegen die Reizwellen aller Art und bewacht von der schon wissenden und von Vormüttern belehrten Mutter des Kleinen. Und so müssen die ersten kleinen Geisterfingerchen der Junker »Ganglien« an die Sphäre der Vergleichsmöglichkeit ihres dumpfen Innengefühls tippen und erst diejenigen Brücken geschlagen werden, auf denen das Unbewußte überhaupt zum Bewußtsein, das Tier schließlich zum Menschen aufsteigen konnte: die Fähigkeiten der Phantasie müssen geboren werden, welche unser menschlicher königlichster Besitz ist, die Fähigkeit, etwas außer uns, vor uns Stehendes auch in einer Art rückläufigen Nervenstromes in uns beliebig wiederholt vorstehend zu machen, d. h. uns ein Ding, einen Vorgang, innerlich »vorzustellen«. Das macht unser Geistigtum aus, in uns die Welt noch einmal zu konstruieren, ihre Gesetzmäßigkeit durch Experimente zu erkunden, das macht uns so kausalitäten-hungrig, zum Ursachentier, schuf unsre Handwerkszeuge und Technik und uns zu unheimlichen Wesen, welche die Riesen der Naturkräfte in Sklavendienste zu zwingen versuchen. So muß also das Kindlein erst Spiegelungen, innere Erscheinungen und schließlich die Fähigkeit der Phantasie erworben haben, um auf dem Wege des Vergleichs und »Nach«-Sinnens die Spuren seines »Ichs« zu finden. Wir sahen ja auch von der Narkose her, daß rings um das »Ich« die Phantasie in der Reihe der geistigen Errungenschaften steht. Bevor diese dunkle Vorstellung von einem dämmernden Morgenrot des »Ichs« im kleinen Weltbürger nicht zu einiger Helle schwillt, lallt er zwar in seiner noch imitierenden Kosesprache, der Mutter entlehnt, Kalli (Karli), Wim (Wilhelm), E-ich (Erich), »will« Milli haben, aber es kommt kein »Ich will« heraus! Er ist sich noch, wie der große Cäsar später bewußt, ganz Objekt, er spricht von sich in der heuchlerischen Verbergung seines »Ichs«, wie jener große Unsterbliche in seinen Werken. Wie muß es rührend gewesen sein, als der kleine Kerl am Tisch beim Breipappen plötzlich ein »ich« einmogelte und mit verlegenen Augen schräg die Eltern, unsicher anguckte: was sie wohl sagen werden zu diesem ersten tappenden Schritt ins volle Menschentum, von dem, was er freilich nicht weiß, sein ganzes Schicksal abhängt, mit dem er das Paradies verläßt. Aber unsre Eltern sind viel zu unpsychologisch, um alle die Wunder recht zu bemerken, welche sich an dem kleinen werdenden Genius enthüllen. Vielleicht ist es ganz gut so, denn sie genießen die Offenbarungen ihrer Kinder vielleicht auch so intensiv genug, vielleicht wärmer und inniger als die Augen des Forschers, wenn in ihm nicht, was selten ist, ein sehr weiches Herz den Denkapparat steuert. Ist erst das »Ich« geboren, so ist auch die tastende Logik schon sprungbereit, und es gibt nichts Drolligeres, als beim Kinde die werdende Logik zu beobachten, die sich kundgibt in dem naiven Kausalitätshunger und dem unvermeidlichen Verketten von Dingen durch Fragen, die einen Gott in Verlegenheit, Rührung oder zu donnerndem Jupiterlachen bringen müßten.

Wie nun aber, wenn diese ganze Phantasmagorie, diese Fata Morgana im Spiegel des »Ichs« fortfällt im Getriebe des Gehirns? Was geschieht dann, im Greisenalter, beim allmählichen Erlöschen der Flamme des scheinbar unvernichtbaren Glutenschmetterlings meiner Seele, oder beim plötzlich, wer weiß wohin, enthobenen Gefühl vom Ich, das uns manchmal, wie in der Ohnmacht, im Schock, in der Narkose, im tiefsten Schlaf überraschend geraubt wird? Wir würden nicht so ruhig diesen Verlust des Ichs ertragen Nacht für Nacht, ihn gewiß nicht segnen als die Zeit der Heinzelmannarbeit in den Palästen unsres Leibes, wenn wir nicht diesen Verlust zugleich mit der relativ sicheren Wahrscheinlichkeit hinnähmen: »Nun, ich werde ja ganz gewiß wieder erwachen!«, obschon das niemand ganz bestimmt behaupten kann! Es ist von Wichtigkeit, sich vorzustellen, daß beim gewöhnlichen Schlafe schon ein ganz gleicher Mechanismus einsetzt wie beim Tode, wie bei der Narkose, ein stufenweises Hinuntersinken eines Hemmungsmechanismus in die einzelnen Zonen, welche den Orientierungsapparat der Ganglien eben noch wach erhalten hatten, wie wir das ja im narkotischen Experimente mitgemacht haben; es ist vor allem dabei zu bemerken, daß also alle diese Abblendungen des Bewußtseins schichtweise den Menschen gleichsam tiefer stellen, zurückschieben in Entwicklungszonen dagewesener Epochen, wie ja die Träume auch meist mehr das vergangene, versunkene Gebiet der Erinnerungen mit aufleuchtenden Nebeldünsten umwallen, als die eben erlebte Gegenwart; das ist deshalb wichtig, weil daraus die ganze Symptomatologie, das ganze Erscheinungsbild eines Gehirnlebens erhellt, dem soundso viele Gangliengruppen des Orientierungsapparates irgendwie außer Funktion gesetzt sind, kurz, die Beziehungen des abgeblendeten »Ichs« zur unterbewußten, oft prähistorischen Dämonie. Hier soll nur bemerkt werden, daß der Greis, welcher sein Ich eher der Welt zurückgeben muß als seinen Leib, beim Eintritt dieser also die Ichzone umgreifenden Altershemmung, dieser Narkose aus mangelndem Blutumlauf, Säfteverdünnung, Kohlensäureüberladung wegen eindämmernder Atmungsenergie, Beimengung narkotisierender, trübender Krankheitssäfte und was sonst noch die Gründe des unerbittlichen Aufsteigens der Todesflut oder vielmehr ihr Herabrieseln aus den Höhen der obersten Bewußtseinsschichten sein mögen – daß solch ein Greis seinen Leib automatisch steuern lassen muß von der Hand der Stellvertreter und Urahnen seiner bewußtseintragenden, geistigen Gangliensprossen, d. h. von dem unterbewußten Räderwerk, dessen Sondergehirn der Sympathikus ist. Wir können uns am Bilde der Narkose leicht klarmachen, auf welche Weise nun diese kurz vor dem Tode inszenierte Hemmung schließlich wie eine erdrosselnde Hand tiefer und tiefer die eigentlichen elektrischen Zentralen für die einzelnen Körperfunktionen packt und Akkumulator um Akkumulator abstellt und schließlich den Apparat definitiv vernichtet. Dem widerspricht nicht das plötzliche klare Aufblitzen des Ichs mit allen seinen persönlichen Beziehungen, das die Beobachter eines Sterbenden so oft in Erstaunen setzt, wodurch möglicherweise der Mensch noch einmal sein ganzes Leben wie in einem Geisterfilm abrollen sieht, vielleicht sogar mit der Vortäuschung der ganzen langen, wiederholten Lebenszeit! Unsre Theorie der Abhängigkeit alles geistigen Geschehens vom Spiel der Blutgefäße, beweist gerade hier, daß ein dem Tode voraufgehender plötzlicher Krampf der kleinsten Hirnadern noch volle Freiheit der Ganglienverkettungen, d. h. Bewußtsein wie in Scheinwerferhelle gestattet. Es wird alles für kurze Frist noch einmal so mystisch erkennbar, klar, so sinnreich wie nie, und doch ist dieses Aufleuchten der sichere Vorbote von der kommenden Nacht der unwiderruflichen, endgültigen Hemmung durch Lähmung aller Gefäße! Todesklarheit ist Gefäßkrampf vor der definitiven Hemmung! Und da schließlich die endgültige Hemmung, der Tod, nicht eher einsetzt, als bis das Herz stillsteht, so sehen wir auch hier wie mit einem letzten Hellblick über alles geistige Geschehen unser Gesetz bestätigt: auch der Tod ist vom Blutsystem her bedingt, genau wie alle andern reparablen, periodischen, funktionellen oder künstlichen Hemmungen. Sie sind vom Blutsafte getragen, und zwar nicht im Sinne eines ernährenden Stoffwechsels, sondern im Sinne einer elektrischen Schaltgewalt, was allein daraus erhellt, daß das schlecht ernährte Gehirn in allen Fällen mehr geistige Arbeitsleistungen aufweist als das gut ernährte. Die Unruhe, das Zappeln, das ewige Brabbeln der Greise ist eben Hemmungslosigkeit der Ganglien, eine Folge mangelnder Dämpfkraft der verdünnten Blutmischung. Dieses Verhältnis hat die Natur veranlaßt, fast allen tödlichen Leiden einen ungemein segensreichen Mechanismus mitzugeben, welcher dem Menschen den scheinbar gräßlichsten Kampf zwischen Leben und Tod gnadenreich erleichtert. Seien es Krebssäfte, seien es Produkte des tuberkulösen Zerfalles, seien es Blutgase bei Herz- und Drüsenerkrankungen, Toxine, Fermente, Dishormone, wie man will – lange, ehe die Stunde kommt, wo der Bewußte schon die Sichel des Todes mähen hören könnte, sind vermittels der vorangegangenen pathologischen Beimischungen gleichsam narkotisierender Säfte zum Blut die beobachtenden Ganglien abgestellt; es ist eine Gnadennarkose der Natur am Werke, die wir nicht hoch genug in der Skala beobachtbarer Zweckhandlungen des uns unerkennbaren Weltbewußtseins bewerten können. Namentlich bei der Tuberkulose werden Stoffe erzeugt, die geradezu das Gefahrenbewußtsein des Einzelnen, selbst bei Ärzten, die doch den Verlauf ihres Leidens wissen müssen, in solchem Grade abblenden, daß eine Art Täuschungsversuch entsteht, der nur in der Beimengung spezifischer hormonähnlicher Stoffwechselprodukte mit zerfallenden Gewebeteilen gesucht werden kann. Man sollte allen Ernstes versuchen, dieses »Optimin« der Tuberkelbazillen aus Nährmedien (Gelatinekulturen, Agar-Agar, oder Tiergewebe) chemisch rein zu gewinnen und es als ein physiologisches Stimulans, als ein Stimmung und Leistungskraft enorm erhöhendes Elixirum excitans dem Leidenden einzuspritzen und sich so der Bedrückten zu erbarmen! Gnadenreiches Berauschen mit Hoffnung, solange der Mensch noch sein Ich behält, und Gnadennarkose, falls er darankommt, es zu verlieren!

Ist es nun wirklich nach diesen Auseinandersetzungen mit dem Kernproblem aller Psychologie so schwer, sich eine Vorstellung von dem zu machen, was unser rätselhaftes Ich bedeutet? Es müßte allein an einer schiefen Darstellung liegen, für die ich bei der Neuheit dieser Gedankenfolgen um Nachsicht zu bitten hätte, aber mir scheint das auf diese Weise abgegrenzte funktionelle Ich, die funktionelle Zone, die im Gehirn zwischen bewußter Orientierung und Unterbewußtsein mit jedem Augenblick ständig neu aufleuchtet, ein fast handgreiflicher Vorgang, und wäre es auch nichts als eine Idee, so hat diese Fiktion doch sicherlich enormen Nutz- und Lehrwert, indem sie doch auch dem Laien eine Annäherung an dieses schließlich jeden brennend interessierende Problem gestattet, weil ja jeder ein Ich ist und doch jeder wissen möchte, was er dadurch eigentlich ist, resp. wie seine Empfindung von sich zustande kommt oder wissenschaftlich erhellt werden kann. Freilich ist mit dieser Definition noch nicht der Forderung genügt, etwa mit dieser Auflösung des Ichs in einen spezifischen Ganglienvorgang nun auch herangehen zu können an das letzte: »Erkenne dich selbst!«, d. h. allein hieraus erhellt noch nicht die Bestimmung des Wesens, des Charakters, der Neigungen, der Änderbarkeit des Ichs unter bestimmten Bedingungen. Das kann erst voll erkannt werden, wenn wir unser ganzes Programm gelöst haben, d. h. vor allem auch alle die Mechanismen besprochen haben werden, welche dauernd den Thron des Ichs zum Schwanken und Wanken bringen möchten (Dämonien) und der Selbstbeobachtung die Wege weisen können, um zu wissen, wo das einzelne Ich fest und unweigerlich verankert ist in charakteristischen Automatien seiner Ganglienfunktionen, und wo es die Lücken überschauen kann, durch welche das Milieu und der Fremdwille eindringen kann in die Zone der schwebenden Reservekraft, um Überlegungen und Aktionen zu veranlassen, die eigentlich nicht dem Ich gehören, sondern eben etwas außerhalb des Ichs sind. Kommt dazu die innere Sekretion mit all ihren Spannungen, Ausfällen, Lockungen, sofern sie nicht die har- oder hormonische Ruhe des Ichs in glücklichen Gemütern aus einer Kerngesundheit heraus gewährleistet, so sieht man schon jetzt, welch kompliziertes Gebilde das »Ich« wird, sobald alle diese Beziehungen zum Bewußten und Unbewußten klargelegt sind.

Für diese Studie muß nur immer zuvor festgehalten werden, daß die alleinige vorläufige Aufgabe war, gleichsam die Geburtsstätte des »Ichs« im Morgenland des Menschentums aufzufinden und seine primitivsten Betätigungen darzustellen. Wenn diese Ausführungen überhaupt einen begreiflichen Sinn haben sollen, so muß man stets daran festhalten, daß, wie das Narkose-Experiment hunderttausendmal bewiesen hat, das Ich in einer bestimmten Zone liegen muß, weil es örtlichzonisch durch die Hemmung ausgelöscht werden kann; es muß vorher eben in der naturbestimmten Funktion bestimmter Zellgruppen fixiert gewesen sein. Unser Erkenntnisfortschritt liegt, wie ich hoffen darf, in der Annahme, daß solches Zonen- und Gruppenaufleuchten, oder sagen wir, solche Erregungskomplexe, Strombetten, oder wie man das mit andern Vergleichen umschreiben will, von andern Teilen der am Ich unbeteiligten Allgemeinmasse der Ganglien beobachtet, bemerkt, betrachtet, wahrgenommen werden kann, genau, als wenn es ein Objekt, ein außen vor mir stehender Reizgegenstand wäre. Der Innenvorgang einer sogenannten Introspektion oder Innenwahrnehmung (auch des Ichs) ist also funktionell genau dasselbe, als ob das Objekt außen vorhanden wäre. Das Mysterium des Erkennens eines Gegenstandes ist kein andres als das rätselhafte Gefühl davon, daß ich »Ich« bin, weil eben die »Ichzone« dem Ganglienspiegel betrachtbar ist, wie ein Gegenstand im Innern! Diese sekundäre Betrachtungsgruppe, das glühende Stromband, die erhellte, blitzende Ganglienbatterie kann nun wieder in Tausende von Stromleitungen übergeführt werden durch die Bendasche Muskelaktion und weiter gefühls- und erfahrungsgemäß betastet werden. Diese Empfindung von dem, was wir da innen beobachten, wie außen im Reich der Welt, umdeuten wir mit Worten, so daß also sprachlich der »Ich«-Ausdruck das Wort »Ich« von einem Allgemeingefühl sagen soll: »es gleitet da immer etwas Leuchtendes am ganzen Firmament meiner Seele«Es »icht« da das Licht. – genau so wie das Wort »Blitz« dem Nachbarn bedeuten soll, es fährt da ein leuchtendes Zickzack durch die Luft. Aber meine Erlebnisse, meine Träume (der gewaltige Fritz Mauthner sagt es) wären nichts, als mein einziges ewig »unenthülltes« Eigentum, wenn nicht die Sprache versuchen würde, es den Genossen zu künden, was in mir vorging. Darauf wurzelt eben die Künstlerschaft des Wortes, an der alle Nationen, alle Einzelindividuen beteiligt sind, Erlebnisse dem andern so treu wie eigen Gefühltes durch das Symbol der Sprache mitzuteilen. Oh, welche Wunderwelt des Umsatzes des dumpfen Gefühls in allgemeingültige Laute ist das Reich der Sprache! Wie fußt alle Logik, alle Philosophie auf dieser Sehnsucht! Nur Musik, nur Malerei, Architektur und beinahe die Ästhetik der Mathematik ist losgelöst vom Kehlkopfslaut, vom Bund der Atmung mit den Brandungen der Konsonanten. Wir können nichts andres tun, als daß wir das Empfundene, das im Hirn unter Dach und Fach Gebrachte (daher das »Gedachte«), das für wahr Genommene (vor der Wahr = der Prüfung durch die Wage) mit den Sprachsymbolen möglichst charakteristisch umzuprägen, einen Bewegungsvorgang von außen nach innen, auch von innen nach außen zurückzuproduzieren als eine prismatische Brechung durch Hunderte von Millionen kleiner Ganglien. Das Resultat ist Handlung oder Wort, wie schon ausgeführt. So ist die Sprache als ein Bedürfnis der Mitteilung beim Menschen entstanden; bei Tieren mögen andre Mechanismen, die wir noch nicht kennen, etwa unsichtbare Wellen des Lichts und eine Art Strahlungstelegraphie in Frage und Einübung gekommen sein.Das beweist der Taubenflug, der Zug der Wildgänse mit seinen Blitzkommandos der Führerflieger. Es ist ein Kommando irgendwie, auf das die ganze Schar gleichzeitig einschwenkt, wie eine Kompanie Soldaten auf einen Zuruf. Ein Hund, der einen wedelnd anglotzt und scharf fixiert, scheint zu fragen, warum verstehst du die meinen Brüdern so geläufigen Depeschen meiner Schädelplatte nicht? Ich sehe nicht weiter, als daß es genügen muß, zu versuchen, dem ausgesprochenen Worte möglichst viel Sinn beizulegen, selbst auf die Gefahr hin, zu erweisen, daß manche unsrer Begriffe überhaupt gar keinen Sinn haben, was ich bei der Geistigkeit der gesamten Natur nicht glaube, daß es irgend etwas völlig Sinnloses in der Welt gibt. Dafür in den Nebeln unserer Erkenntnis gewiß um so mehr Irrtum! Dafür sind wir eben Menschen, d. h. Wesen, die auf Umwegen nur zur Höhe einer vollendeten Geistigkeit emporsteigen. – Das Ich ist aber die zwischen kosmischem Dasein und irdischem Hiersein eingespannte Empfängerzone des Hirnmechanismus!


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