Carl Ludwig Schleich
Das Ich und die Dämonien
Carl Ludwig Schleich

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Individuum und Persönlichkeit

Ein fast noch größeres Geheimnis als das Ich umschwebt das Rätsel des Individuellen, d. h. der täglich durch Augenschein immer von neuem wirkenden, verblüffenden Erkenntnis, daß es eine Illusion, eine phantastische Lüge, eine derbe Vorspiegelung falscher Tatsachen zu sein scheint, wenn wir in der leidigen Mathematikstunde lernen mußten: a ist gleich a, oder: »Wenn zwei Dinge einem dritten gleichen, so sind sie auch untereinander gleich.« Ja, wo in aller Welt sind denn diese drei gleichen Dinge unter Sternen, unter den Äpfeln, Bäumen, Blättern, Blüten, dem Milliardengekribbel und -gewimmel kleinster Tiere? Etwa unter den Menschen? Keiner sah noch völlig Gleiches, nur Ähnliches! Ist doch das Spiegelbild nicht mehr völlig gleich dem Beschauer, rechts und links sind optisch vertauscht, statt Form und Tiefe nur Fläche usw. Man sagt wohl »erstaunliche Ähnlichkeit«, wie »aus dem Gesicht geschnitten« gliche eins dem andern; aber selbst die ähnlichsten kleinen Zwillinge haben noch Varianten genug, so daß sie sich mit blauem oder rötlichem Seidenbande nicht brauchten ihre Hälschen umwinden zu lassen, damit man eins vom andern unterscheide. Je mehr sie aus ihrer Kindheitsform heranwachsen zu kleinen Sonderwesen, desto mehr »individualisiert« sich die Form, und schließlich wird alles an ihnen »ganz anders«. Erst große Übung im Formanschauen läßt scheinbare geringe individuelle Unterschiede als vollgültige Unterscheidungen gelten. Für uns Europäer sehen alle Chinesen gleich aus, einer wie der andre, namentlich in gleicher Tracht, und es gehört sehr viel Übung dazu, den einzelnen Lu-ten Togi von Fu-chen-Ho persönlich abzusondern, was den Detektivbeamten und Kriminalisten große Schwierigkeiten bereitet. Übrigens revanchieren sich die Chinesen und Japaner auch: wir sind für sie alle über einen (für sie verächtlichen) Leisten gearbeitet. Wer in einer geburtshilflichen Klinik tätig gewesen ist, weiß, daß man es erst lernen muß, die kleinen, sich alle ähnlich sehenden Eintagswesen voneinander zu unterscheiden, und daß gewiß unverantwortliche Unterschiebungsversuche gelingen können, wenn auch freilich die jungen Mütter beim ersten Anblick ihrer Lieblinge so intensiv mit dem Herzen sehen, daß sie Tausende unverwischlicher Merkmale blitzartig in sich aufnehmen. Wenn also nichts im Leben, nicht ein Tröpfchen, nicht ein Sandkorn, völlig dem andern gleichen darf nach einer geheimnisvollen Bestimmung der Weltordnung, so können wir doch wenigstens die Basis der Ähnlichkeit, der Verwandtschaft, der Annäherung erkennen, gewissermaßen das geistige Gefüge, das Skelett, die Rotationsachse, den inneren Rhythmus, den Typus ähnlicher Dinge konstatieren, welche für alles Lebendige an die rhythmischen Schleifen des Zellkerninhalts, die Chromosomen gebunden sind.

Es ist eine grandiose Variationslust in der Natur am Werke gewesen und waltet immer weiter. Ein höchstes Künstlertum tritt in Erscheinung, ein artistischer Geist von beinahe unersättlicher Lust am Versuchen, Verwerfen, Umbiegen, Abändern, Bessermachen, Schönerwerdenlassen. Wenn meine enge Heimat Pommern allein zehntausend Arten Schmetterlinge aufweist, wenn die Knochenlehre 1200 Mechanismen der Gelenkverbindungen bisher (!) konstatieren konnte, wenn jedes Lebewesen zur Decke seines Hauttrikots eine andre Nuance eines Wachses erhalten hat, was eine Million chemischer Individualitäten bedeuten dürfte, wenn das Flug- und Tauchproblem in der Natur in tausend Möglichkeiten variiert wurde, so kann man wohl sagen: Hier ist ein großer Bastler am Werke, ein rastlos Spielender, ein vielleicht immer wieder über das Unerreichte wehmütig Lächelnder, wie es eben nur die größte Künstlerseele als ein Fluch der Unerfüllbarkeiten empfinden kann. Wie müht sich hier eine nimmermüde Schöpferhand um ganz handgreifliche Probleme durch tausend Zwischenstufen; muß nicht von kleinsten blauen Flügelfleckchen mit Silber, Gold und Alabaster gespart werden, bis es hoch gesteigert ist zu dem Glanz und der Schönheit der silberblauen Riesenschmetterlinge von Brasilien? Wie werden da Federchen in tausend Tinten gestippt und Farbenauftrag in feinsten schillernden Linien geübt und durchstudiert, bis es fertig ist: das einzige, das himmlische Pfauenauge, an dessen einem Rade viele Speichen stecken, Palmwedel, die schöner sind von Lichtglut als alle Blumen der Erde! Aber kein Fleckchen gleicht dem andern, kein Pfauenauge gibt es genau so wie es erschaffen noch ein zweites Mal auf Erden! Nicht genug an diesen Hunderttausenden von Arten kleinster Flatterer der Luft, hat nicht noch jede Art ihre Millionen Einzelexemplare, von denen jedes zwar das Programm, den Typus, den Urplan erfüllt, aber trotzdem in irgend etwas unmerklich abweicht? Wir zählen dabei gar nicht die Fehler, den Ausfall, die Hemmungsbildungen und atypischen Mißratenheiten; es ist eine Variationsorgie, an deren Vorstellbarkeit die Phantasie ebenso verzweifeln muß, wie am Ausdenken unendlicher Zahlenketten und Raumausdehnungen. Hier steckt das Geheimnis einer unermüdlichen Versuchsreihe von vielstrahligsten Mechanismen zwecks Hochsteigerung des schon Erreichten!

Was ist dagegen menschliche, künstlerische Variationsfähigkeit, und sei ein Bach mit einem Beethoven gemeinsam bei einem Thema. Das ist es – alle diese ungeheure Variationstätigkeit der Natur hält sich überall an eine freilich unbegrenzte Zahl von Themen, aber sie bleibt auf dem einmal ergriffenen Abriß nicht bestehen. »Wer kann das Gesetz der Individualisierung verstehen, der hat Gott in die Karten gesehen!« Es hat nun immer die jetzt etwas wankende Theorie Darwins vom Aufstieg der Arten eine Lücke gehabt: das Fehlen der Entwicklungszwischenglieder, welche doch vom großen Konstrukteur der Formen als verworfene oder brückenbauende Versuchsobjekte zu Milliarden aufweisbar sein müßten im Schutt seiner alten Künstlerwerkstatt, der Welt, wenn die Entwicklung in dieser Art stattgefunden hätte. Es scheint vielmehr, als habe sich der Geist der Welten eine Unzahl von Einzelplänen angefertigt und mit einer ebenso erstaunlich variablen Grundform seiner Bausteine vom Elektron bis zur Zelle in jedem Einzelfalle die eingesponnene Idee mit dem Auftrag freigegeben: »Nun siehe zu, du Zellhäufchen, wie du zur Ameise, du zum Riesenelefanten und du, besonders Unglückliche, zum Menschen gelangst!« Er mußte dann millionenfach Hemmungen fortnehmen, wie ein sorgender Hausvater seinem Kindchen Steine vom Hof entfernt, und in all die von ihm bewilligte Freiheit von der Hemmung stürmte das drängende, nach innewohnendem Plane dem höchsten Ziel entgegenrasende Lebematerial hinein und immer höher. Daher scheitert die Mathematik am Individuellen. Sie umfaßt nur den Typus. Das enthält den Beweis, daß nicht der Zufall Herrscher der Welt gewesen sein kann, auch nicht die Naturgesetze, welche nicht Individualitäten, sondern lauter gleichartige Automatien geliefert haben müßten. Man kann sich wohl ein Bild machen, wenigstens woher diese ungeheure Variationsfähigkeit des von Gott, dem Bastler der himmlischen Werkstätte, verwendeten Materials herkommt, wenn man bedenkt, daß es beim kleinsten Lebewesen selbst sich immer um viele hundert Milliarden von Elementen handelt,Man zählte mit dem Ultramikroskop 227 000 Milliarden von Molekülen für eine Zelle! bei denen ein paar Tausende mehr oder weniger schon so etwas wie ein Herausleuchten von einer Individualität bedeutet, und daß aus einem solch minimalen, rein zahlenmäßigen Zellausfall von Einzelgruppen ein um so entscheidender Faktor für eine zukünftige Formentwicklung werden kann, je mehr der Ausfall rückwärts, nahe am Ursprung des neuen Keimes der Entwicklung gelegen ist, weil dadurch Richtungslinien aller Art variiert werden können. Aber das kann nicht helfen, vom Zauber der Individualität befreien uns bisher keine mechanischen Gedanken, denn auch der Einzeller ist ein individuelles Wesen,Die einzelne Zelle trägt sogar die Möglichkeit in sich, aus sich heraus bei der Zeugungsregeneration zwei Individuen hervorzugruppieren. Das kann nur von der Konstanz der Zellschleifen der Nukleinsubstanz, die gleichsam die Handschrift, den Ziegeldruck, das Petschaftsrelief der Individualität bedeuten, abgeleitet werden. Ich habe dies in meinen Vorträgen über das »Bewußtsein und die Unsterblichkeit« (Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart) ausführlich begründet. obwohl wir vom Individuum doch lieber da sprechen, wo es sich um vielzellige Gebilde handelt und möglichst, wenn auch mit Unrecht da, wo dieses Individuum etwas wie ein »Ich«, eine geistige Einheit, repräsentiert. Vom Individuum eines Baumes, eines Tieres, einer Blüte denken wir schon etwas kopfschüttelnd oder dichterisch träumend. Das ist aber angesichts der Tatsache, daß auch jedes Goldpartikelchen, jedes Eisenteilchen, jedes Stahl- oder Glasbröckelchen eine beinahe persönliche Note hat, nicht recht angängig. Der Begriff des Unteilbaren stammt von der Chemie; wo eine Substanz nicht weiter teilbar gedacht werden konnte, da nannte man sie mit dem Worte Atom (griechisch) auf Lateinisch Individuum, während Virchow das Wesen ein Individuum nannte, das nicht geteilt werden darf, ohne seinen Begriff von Einheit einzubüßen! (Wie dogmatisch, dieses »Darf nicht«.) Das Individuum ist in diesem Sinne also ein Lehnswort, weil es einen von der chemischen Wissenschaft in die Geisteswissenschaften übernommenen Begriff darstellt. Jedenfalls ist das Individuelle ein so variationsreiches Gebiet, daß wir hier sogar die Mathematik, diese hochthronende Berechnerin aller Möglichkeiten, versagen sehen. Denn, zieht sie nicht die Individualität z. B. eines Baustoffes, des Eisens bei der mathematischen Konstruktion einer Brücke zu Rate, was nur unter Benutzung der Empirie, d. h. der erfahrungsgemäßen Belastungsmöglichkeit eines gebrauchten Materials geschehen kann, so knickt ein nur mathematisch konstruiertes Gewölbe sicherlich zusammen. Immer muß die Belastungsprobe, eine Probefahrt, ein Probeflug statthaben, ehe man sich über die tückische Individualität des Grundstoffes beruhigen kann. Jedes Ding auf Erden ist eben zugleich dasselbe und auch ein anderes, ein einziges, aber nicht alleiniges zugleich, es gleicht darin dem Augenblick, der auch ein scheinbar sich Wiederholendes, doch Unwiederbringliches, Einmaliges darstellt. Legen wir zwei oder mehrere Stückchen Gold zerbrochen, unbearbeitet nebeneinander, sie mögen gleich viel wiegen, obwohl sie das im letzten Sinne gar nicht können, weil unsere Wagen ebenfalls am Maß des Individuellen versagen, sie sind doch wieder verschieden in Bruchlinie, Farbennuance, Glanz, Form und Linie, eben immer durch etwas für sich Bestehendes. Ein lehrhaftes Beispiel, daß ein paar Urteilchen mehr oder weniger der Grund einiger Individualitäten sein können, ebenso im Unorganischen wie oben angedeutet im Organischen; denn Bruchlinie, Farbe, Glanz sind alles Folgen der Vielfältigkeit der Oberflächenform, in welchen sich das Licht besonders in jedem Falle bricht und abgelenkt wird. Wie viel mehr aber spukt dieser Begriff des rätselhaften Variationstriebes im Organischen, im Blatt, in der Frucht, ja in Einzelzellen, in der Alge, in dem Bakterium! Denn, daß auch eine Bakterienzelle irgendeiner Art eine spezifische Form zwar, aber eine besondere Form der Erscheinung haben muß, lehrt uns das Mikroskop und jede Methode, die uns gestattet, zu erkennen, daß in einem Wesen von hunderttausendsten Teilen eines Millimeters doch noch Organisationen im Nukleinkern stecken von unbegreifbarer Kompliziertheit. Ist doch das ultramikroskopische Bestandteilchen irgendeines Metalles wiederum hunderttausendmal kleiner als ein Bakterium, das sich gegen ein Goldatom verhält wie ein Erdball gegen einen Menschen. Es ist also alles Individuelle die Folge eines unverzichtbaren Spieltriebes der Natur, nicht aus Nutzen und Gewinn, sondern, wie wir hoffen dürfen, aus einer Sehnsucht nach Verbesserung und Vollendung!

Die letzte organisch erkennbare Einheit, der Sitz der letzten Individualität im Organischen, ist nach Virchow-Schleiden-Schwann die Zelle. Ja, Virchow spricht sogar jeder Zelle ihre kleine Seele, eine Anima zu, d. h. doch wohl so etwas wie eine Art Zielstrebigkeit im Rhythmus des Ganzen, eine das Ganze fördernde kleinorganische Automatie, wenn auch ohne Bewußtsein im Menschensinne. Die Zelle eines jeden Organismus hat wenigstens in ihren Regenerationszellen, d. h. in den kleinen Märchenträgern vom schlafenden Dornröschen, das der Ritterkuß weckt, etwas ungemein ihr Eigentümliches, ihrer Art Zugehöriges, so daß man aus der Anordnung ihrer Teilungsrhythmen (Chromosomen), ihren gefärbten Ätherwirbeln, unter dem Mikroskop erkennen kann, ob dieses oder jenes befruchtete Eichen einem Ichneumon, einem Eichbaum, einem Elefanten oder gar dem Menschen zugehört und, entwickelt, zu ihm führen müßte. Ein höchster Triumph vom Gedanken der einmalig in der Erscheinung verbundenen Konstanz des Typus mit der Variationslust am Individuum! So charakteristisch ist das Gefüge der inneren Rhythmen aller Wesen, daß sie gleichsam das ganze Vollwesen wie eingerollt zu einer Zauberspirale, zu einem Wunderknäuel, einem Filmband in sich bergen, nach dem Gesetz des zugrunde liegenden Typus und mit dem Siegel der Eigenart noch dazu, dem des Individuellen. In jedem Zellkerne, in der Handschrift, dem Alphabet der strudelnden Kernmasse ist eben ein Typus und eine Neuformung, eine Melodie und eine Variation, ein Thema und eine Abweichung. Alles ist zugleich generell und individuell. Wie? Kann nun die Summe aller dieser Einzelwesen zum Beispiel aller Zellchromosome, der Teilseelchen, die Summe einer geschlossenen Individualität ausmachen? Ja und nein! zu gleicher Zeit, in ungleicher Weise. Aus ungezählten Einheiten, aus tausend Teilchen in der Hand entsteht eben erst durch das geistige Band etwas wie ein Individuum. Welch eine Sprachverwirrung! Aus lauter Teilbarkeiten eine Einheit! Wir haben aber gesehen, daß diese Summenwirkung von kleinen Elementen nicht eine konstante Wirklichkeit der Einheit schafft, sondern, daß diese Einheit nur eine schwebende Funktion ist, ein Allgemeingefühl eines Strudels von Einzelwellen im Zellkern, die nicht nur der gegebene Körper schafft, sondern die auch von der Außenwelt dauernd mit Strömen der Erlebnisse gespeist werden.

Das Individuum wird geistig die Anderen offenbare Einheit des »Ichs«. Das Individuum ist die durch das Ichgefühl zusammengehaltene Einheit aller auf den Organismus wirkenden Animae innen und der beseelten Welt, von außen, welche anderen Individuen beobachtbar wird. Ihre Steigerung, ihre außerordentliche Prägung ist die Persönlichkeit. Die Spannkräfte der inneren Zellrhythmen sind seelisch (animae). Die von außen aber sind auch seelisch. Es findet kein Wunder statt, an der Stelle wenigstens, wo scheinbar der materielle Reiz seelisch wird, er war schon seelisch. Seele liest da Seelisches ab. Dubois mit einem der sieben Wunder, dem Kardinalwunder, ist widerlegbar. Lichtfelder, elektrische Felder, alles ist Gespenstererscheinung. Die Materie ist immateriell. Das ist das gelöste Empfindungsproblem. Tausend Geistigkeiten in allem. Wie das Auge sonnenhaft sein muß, um die Sonne sehen zu können, so ist jeder organisierte Stoff geistig, um die Geistigkeit der Natur abzulesen. Der Wert der Persönlichkeit nun richtet sich nach seinem künstlerischen Einschlag, wie ja nur der den Schöpfergedanken Begreifende eine Persönlichkeit ist, mit der Schönheit, der Würde, dem Zauber eines Idealmenschen. Es ist das Einheitsgefühl mit dem innen empfundenen Gesetze des Rhythmus vom All, welches dem hervorragenden Menschen die Weihe, den Auftrag gibt, im Namen des Allmächtigen zu wirken. Es ist seine Tragik, wenn er sich hier vergreift. Alle wahrhaft Bedeutenden sind so einzig durch die unbeugsame Aufrechterhaltung einer begriffenen Bestimmung. Individuum ist nur die Möglichkeit zur »Persönlichkeit«, wie das Ich, »d. h. die Zusammenfassung aller Augenblicksreize«, die Möglichkeit zum bewußten Individuum bedeutet. Das Ich ist das primäre Innengefühl, das Individuum ist auch das objektive Ich für andere, seine Persönlichkeit das Bewußtwerden des ethischen Zieles seiner Individuälität für sich und für andere. Ethik ist die Selbstfrage: Wie stehe ich als einzelner zum Gesamtwillen, zum Ätherwillen, zum Rhythmus der Welt? Dann ist Charakter die Erhaltung dieses ethischen »Ichs« in der Welt, das stetige Handeln nach einem Mandate des Gesamtwillens um jeden Preis, selbst um den der Selbstvernichtung! Persönlichkeit ist eine Wirkung nach außen, Charakter ist ein Einheitsgefühl mit dem Willen der Welt. Es kann täuschen, dann wird die Tragik einsetzen. Es ist schon etwas Grandioses in dem Begriff: Wille und Vorstellung des Genies Schopenhauers. Aber war sein Wille der Wille der Welt? War es nicht seine Tragik, sich hier zu verhauen? Der Wille zum Ja oder zum Nein ist entscheidend. Hier sind nur aus der Individualität heraus begreifbare Fesselungen des Weltwillens (Strindberg, Nietzsche, Weininger!) vorhanden!

Sollte nun dies Ichgefühl, diese nur von geistigen Gefühlt»heiten« zusammengehaltene Einheit, nicht eine Illusion, vielleicht ein Kniff der Natur sein, um desto sicherer auf dem Umwege der gefühlten Bedeutung des »Ichs«, ihrer weit über dem »Ich« liegenden Zwecke desto sicherer zu erreichen? Sollte das Individualitätsgefühl des Menschen nicht ein Mittel sein, um die Zwecke der gesamten Menschheit zu erreichen? Es ist in diesem Sinne ein hübsches Wort, daß man den Wald vor Bäumen nicht sieht, es heißt: Wir sehen auch zu viele Menschen, nehmen den einzelnen viel zu wichtig, überschätzen seine Individualität, hinter der doch der dunkle Trieb der »Menschheit« zum freilich unerkennbaren, verhüllten, nur ahnbaren Ziele treibt. Es kann sein, daß die Geschicke aller Menschen wie ihrer Leiber durch ein unsichtbares, nie erkennbares, in sich selbst verschiebbares und verstülpbares, dem Äther ähnlichem oder gleichem Grundstoff verknüpft sind, so daß alle Allgemeinaffekte wie Mitgefühl, Mitleid, Raserei Dämonien, Enthusiasmen und Erregungen von Seele zu Seele buchstäblich sich fortpflanzen, daß schließlich der allgemeine rhythmische Vorwärtstrieb des Äthers, unter dem allein wir uns so etwas wie eines Schopenhauers »Weltwillen« denken können, sich mehr oder minder geltend macht am Rhythmus des eingestellten Einzelwillens. Da mag es denn der Natur vielmehr darauf ankommen, die Gesamtheit der Menschheit vorwärts zu bringen als den einzelnen, das ist vielleicht der Grund aller gleichzeitigen Fortschritte und ihrer scheinbaren Grausamkeit, daß sie immer die einzelnen rücksichtslos opfert, wenn es sich irgendwo um ihre unabänderlichen, generellen Pläne handelt. Vielleicht gerade um diesen Gesamtaufstieg desto sicherer zu garantieren, bedient sie sich der Methode der individuellen Rhythmisierung mit dem Resultat des Ichbewußtseins, d. h. das »Ich«-Gefühl, als abgelöst von allem sich fühlen zu dürfen, was bei näherer Betrachtung gar nicht objektiv zutrifft, da wir ja von außen wie von innen in unserem »Ich« bedingt sind, also Außenwelt und Innenwelt auf uns, in uns gemeinsam denkt. »Etwas« denkt in uns, nicht »wir«. Wir sind vom Gehirn her gesehen Apparat, von der Seele her Mittel. Die Natur gab jedem seinen individuellen Erhaltungs- und Entwicklungstrieb, um aus einer Summe von Egoismen desto sicherer das außer dem Ich liegende höhere Ziel zu erreichen! Der unweigerlich dagegen sich aufbäumende Mensch, der Titan, der Prometheus lebt von einem Triebe der Vernichtung, der, wie wir zeigen werden, funktionell den Dämonien zufällt. Daß es aber auch nicht nur schlechte und böse Dämonien gibt, darauf soll hier nur kurz hingedeutet werden, mit der Tatsache, daß ja auch Vaterlandsbegeisterung, Kriegsjubel funktionell in ihrer ganzen Erscheinung den Dämonien, wenn auch den Eudämonien, zugewiesen werden müssen. Warum, soll später erst erwiesen werden! Auch das echte Genie ist eine Form dieser Eudämonie! Sei unser Individualgefühl nun Täuschung, Illusion, Halluzination von uns, oder sei es real, jedenfalls haben wir im vorigen Aufsatz festzustellen versucht, was es mit dem Ich physisch-psychologisch für eine Bewandtnis hat. Möglich, daß die Summe aller kleinen Millionen Zellseelen in ihrem Zusammenhang das bilden oder sind oder dem die Existenz verdanken, was wir »Seele« des einzelnen nennen, so direkt geschieht das jedenfalls nicht, es gibt da eine Art Zwischenschalter zwischen der Zellnatur der einzelnen Elemente, der metaphysischen Struktur dessen, was wir »Seele« nennen. Wir sahen, daß dieser Zwischenschalter das Gehirn und das ganze Nervensystem (mit dem Sympathikus) ist, die aber ohne Beihilfe des ganz von inneren Säften und Wirkungen erfüllten Hemmungsapparates, der letzten Auffaserung des Blutgefäßsystems im Gehirn gar nichts zu sagen hätte. In diesem Apparate, dem auch zugleich viele anders geartete Leistungen zugeteilt sind, spielt sich auch das Wunder des Ichs ab, als Komponente elektroider Erzitterungen durch Außen- und Innenweltreize, und da dieses Aufleuchten der inneren Sternwarte des Leibes, die ein durch Wechsellupen sich selbstbeobachtender Leuchtturm ist, so ist hier unter dem Ichgefühl zuvor nichts verstanden als diese physikalisch-elektrische Angelegenheit. Davon ist noch gar nicht die Rede gewesen, was dieses Ich nun leistet oder leidet, was seine gefühlsmäßigen oder verstandesmäßigen Spaltungen bedeuten, das bleibt alles noch zu untersuchen, wir wollen hier bis jetzt nichts weiter anrühren als das Problem, wie wir uns das Gesetz der Individualisation nach dieser Definition abgeleitet denken. Gerade die höchst komplizierte rein physiologische Entstehungsgeschichte des Ichs macht es so begreiflich, daß der Individualitäten in geistiger Beziehung so viele sein müssen. Denn Individualität ist doch schließlich der mir und anderen klar gewordene und immer von neuem konstatierbare Unterschied, den ich aufzuweisen habe; er ist ein Differenzgefühl von bemerkbaren Abweichungen, Variationen, Umkehrungen des Themas »Ich«. Wenn man bedenkt, daß hier Zahl und Größe der Ganglien und ihre verschiedene Verteilung im Raume, ihr Zusammenhang mit anderen Lagern psychischen Geschehens, der Phantasie, der Logik, den Gemütsfunktionen von großer Wichtigkeit und Variabilität sind, wenn man bedenkt, daß die Hemmung der Blutgefäßanordnung gleichfalls viel Detailabänderungen im Einzelfalle möglich macht, und gar wie an der Bildung des Betriebs- oder Hemmungssaftes eine gewaltige Anzahl von Drüsen variabelster Funktionen beteiligt sind, dürfen wir uns keinen Augenblick mehr wundern, warum es soviel Variationen des Individuums gibt; denn auch sonst überall in der Natur wächst die Kombinationsreihe mit der Zahl der Elemente, und auch sonst ist das Individuum heute nicht mehr nach dem zu beurteilen, was ein falscher Vergleich und Sprachgebrauch von ihm aussagt: »Unteilbarkeit«, sondern es ist seine leichte Unterscheidbarkeit von anderem, Ähnlichem im Typus, welches sein Wesen ausmacht. Das Ich selbst eben ist keine Individualität oder Unteilbarkeit in dem Sinne, daß es nicht geteilt werden »könnte« oder »dürfte« in seiner Einheit, es wird in der Tat dauernd geteilt und ist in gewissen Fällen gedoppelt resp. dämonisch vervielfältigt, abgesehen, daß zu seinem Zusammenkommen von uns am »Ich« drei durchaus variable Komponenten festgestellt werden müssen. Die Ganglienzone, die Außenwelt und die Hormone, resp. Bewegungs- und Hemmungssäfte, von deren Blutfüllung und Einwirkung wir so viele schwankende Zustände des »Ichgefühls« in Abhängigkeit sehen werden. Oder kann jemand ernstlich behaupten, sein »Ich« sei immer dasselbe? O nein! Es ist, wie der Himmel scheinbar auch immer dieselbe atmosphärische Erdenkuppel zu sein scheint, und doch wie immer wandelbar von Sekunde zu Sekunde, wie launisch von Tag zu Tag ist er! Das innere Gefühl einer Konstanz in uns ist allerdings vorhanden: einesteils ist es eben vorgetäuscht durch die in keiner Sekunde unterbrochene Wiedererzeugung der Millionen Ichflämmchen, oder andererseits ist dieser dauernd in uns auch im Schlafe, vor der Geburt, vielleicht auch nach dem Tode noch waltende Genius, der die Wacht am Strome unseres kleinen und doch so vollen Lebens hat, eben gar nicht das »Ich«, sondern die »Seele«, für die wir kein menschliches Auge, keinen wenn auch noch so riesenhaft vergrößerten Fangapparat aus Glas- oder selbst Diamantlinsen haben; ihr ist jedenfalls physiologisch nicht beizukommen, sie ist überirdisch, kein Produkt des Leibes, sondern dieser Leib ist ihr Produkt mit all seinen Mechanismen, geistigen und leiblichen. Immer wieder handelt es sich darum, noch schärfer abzugrenzen, was am Leben mechanisch begreifbar ist und wie weit diese mechanische Idee vorwärts zu führen ist auch ins Gebiet geistiger Mechanismen, deren Bestand bei der heutigen Stellung der psychologischen Experimente nicnt mehr angetastet werden darf.

So können wir also vom Individuum nichts anderes aussagen, als daß es die geistige Einheit in unseren Zellkernen und ihrer Summation, die andern und uns selbst gleicherweise zum Objekt gewordene Gesamtheit unseres physisch-seelischen Bestandes, unser uns und andern erkennbares Ich ist. In diesem Satze sind drei Begriffe: Ich, Geist, Seele, die leider immer durcheinander gebraucht werden. Wir wollen an dieser Stelle noch einmal kurz festhalten, wie wir diese drei Begriffe voneinander zu sondern haben, zum Verständnis der Psychologie überhaupt, namentlich aber dieser Schrift. Seele ist ein von der Weltseele, der Allseele, der Allvernunft, von dem Schöpferprinzip, der Allidee, abgeteilter goldener Faden, dessen Weben von Anbeginn der Schöpfung als ein unsterblich Teilchen mit einem bestimmten Auftrag, einem Mandat, durch alle Vorentwicklung und alle Vorstufen hindurch, auf dem Umweg durch Feuer- und Dunstgase kreisender Sonnen und Planeten, durch tausend und aber tausend Vorstufen, Vorgebilden und Ahnen bis zur Konstruktion eines Wesens vorgedrungen ist. Diese unerkennbare, mystische, nur ahnbare Einheit ist vom Äther getragen, bedient sich dieses allmächtigen Bildungsstoffes zur Entwicklung ihrer Idee, einer einzigen von den unzähligen Abspaltungen von dem Ozean der Ideen über aller Welt und auf Erden.Der Äther bildet Wirbel, Knotenpunkte, Verdichtungen, welche die ersten Materialisationen veranlassen: die Elektronen, Ionen und Kationen. Aus ihren Bewegungsantrieben nach Ideen entstehen die Stoffe. Sie sind von Urbeginn rhythmisierter Geist. Es gibt nichts Körperliches im letzten Sinn. Es scheint nur so, es ist alles Gespenstererscheinung, Lichtfelderwirkung, sich reibender Rhythmus, die zur Empfindung und zum sekundären Gedanken führen.

Dagegen ist Geist der von der Seele erzwungene, geschaffene, gewordene Apparat zur Betrachtung der Welt und zur Weiterwirkung in ihr. Sie bedient sich dieses langsam im Aufstieg nach vorbestimmtem Plane angeordneten Apparates, um damit das Ziel, die Höchststeigerung der Materie zur absoluten Geistigkeit, wirksam durch Individualitäten zu unterstützen. Die Menschheit ist ein Heerbann von Seelen, bestimmt, den ewigen, wirbelnden, nie ruhenden Sturm und Schrei des, Äthers: Vorwärts! Hindurch! Trotzdem! aufzunehmen und unter Milliarden Opfern die unbekannten Höhen zu nehmen. Die Ätherbewegung, ihr einem Ziele fest zugeschwungener Rhythmus, sein Elektronenzittern rast unaufhörlich, unaufhaltsam in einer Richtung voran, welche auch der Wille, das Ziel, Zweck und Absicht der Welt sein muß! Der Urwille hat sich selbst Gegenrhythmen, wie zur Prüfung,Gleichwie ein ehrlicher Denker die Zweifel an seinen Ideen sich selbst ersinnen muß. Darum konnte eben ein Gerüsteter, wie Luther, so sicher stehen auf dem Reichstag zu Worms, weil er alle Einwände zuvor in sich selbst, gleich als ein Teufel gegen einen Gott, vorher überlegt hatte. Das ist die Psychologie des Märtyrers. genug geschaffen durch Bildung ungeheurer Verdichtungen, Anhäufungen, Verschlingungen seiner selbst, und damit die luziferischen Massen, welche sich, obgleich seine Kinder, ihm in die Arme werfen, um ihn zu hemmen, zu erdrücken, zurückzuschleudern! Es ist ein Wettkampf zwischen Gott und Teufel, die Arena ist die Menschenbrust! Wir müssen Gott beistehen zu seinem Siege. Er fleht zu uns! Er begnadet uns, ihm Mitleid zu schenken!

Doch zurück von Träumen, hier handelt es sich nur darum, die plastische Idee des allgemeinen rhythmischen, auch im Organischen kristallisierten Kräftebetriebes zu betonen, der nachweislich ist. Alles ist nach Ideen konstruiert, alles steckt voll Geist! Und ein Apparat, bestimmt, das Geistige in der Welt zu erfassen bis zum Einblick in sich selbst, solch ein Apparat ist der Menschengeist!

An ihm spielt sich ab, was Universalgeist ist, die ganze bunte Schöpfung des Spiritus creator wird seine Szene. Der konstruierte Spiegel sieht den ewigen und wird einst von Angesicht zu Angesicht sehen, wie es möglich war, daß ewiges Licht ewige Spiegel bereiten konnte.

In diesem Apparate also ist eine Zone, welche durch nüchtern beschriebene Mechanismen zu einer Aktion gelangt, die wir die Ichfunktion genannt haben, ein wechselndes Spiel von leuchtenden Springbrunnen und Glutenbächen, das wir uns fest einprägen wollen. Wichtig ist nur für unsere Auffassung, daß dieses Flammenband des Ichs, dieses glühende Skieron (Band bunter Schatten, Regenbogen) in uns den übrigen auf Reize lauernden Werkstätten unseres geistigen Apparates zu einem Gruppenbild, zu einer leuchtenden Physiognomie, zu einem inneren Gesichte wird, das für sich beobachtbar wird, und aus dessen Werkstatt sich Aufträge genug ergeben, wie wir des weiteren sehen werden.

Diese drei also, Seele, Geist und Ich, machen psychologisch ein Individuum aus. Auch hier also wieder keine Unteilbarkeit, indem es aus der Einheit durch die uns kettende Seele, Geist und Ich in unzählige Einzelfunktionen zerfällt. Wir können als vierten Bestandteil unsere Körperbeschaffenheit hier ruhig beiseite lassen, als gleichfalls von der Seele gebaut und bewacht; für unsere psychologischen Betrachtungen kommt sie nicht in Betracht: es wäre Sache einer von Psychologie durchtränkten Anatomie und Physiologie, die Bildnerhand der Seele und die Wirksamkeit ihrer plastischen Ideen am Körper nachzuweisen! Überall, wo das geschieht, wie bei einem Meister, z. B. dem Anatomen Hyrtl, dem Botaniker und Anatomen Reinke, ja manchmal bei ihrem Gegner Haeckel an kleinster Stelle – da erkennen wir eine volle Künstlerpersönlichkeit! Diese anatomische Analyse der seelischen Struktur der Gewebe gehört einer ferneren Zukunft an. Wir wollen nur festlegen, daß natürlich auch der Leib eine Komponente der Individualität ist, aber daß eben darum der konfuse Begriff des Individuums noch absurder wird, wenn von seiner scheinbaren Unteilbarkeit noch einmal ein ungeheures, vielspaltiges Gebiet abfällt.

Und nun einen Schritt weiter! Zu den vielstrahligen Formen des Ichs, die diesen Funktionsbegriff umflattern wie irisierende Strahlen, wie Wogenringe mit Regenbogenfarben, zu der Frage: Was ist nun gegenüber der Individualität die Persönlichkeit?

Ist etwa jedes menschliche Individuum eine Persönlichkeit? Ist gar jede Person eine Persönlichkeit?Zumal wenn man Schimpfwortsinn in den Begriff: »solche Person« legt? Wo fängt im Staate die Persönlichkeit an? Wo hört sie auf? Ist sie ein juristischer, ein philosophischer, ein naturwissenschaftlicher Begriff? Zunächst – was soll uns der Name sagen? Er stammt von einem fremden Volke, den Römern oder den Griechen, und wir wollen einmal hier eine Stichprobe anstellen auf die Stichhaltigkeit einer meiner liebsten Vorstellungen, ob es wohl richtig sein kann, daß der Mensch sich Namen bildet nach inneren physiologischen Geschehnissen an seinem Hirnapparat, auf einem Wege, der jener naturnachempfindenden Stammelei von gegebenen Geräuschen nicht so ferne steht, wonach wir Donner, der Franzose tonnère, wir Blitz, jener éclair sagt, wie man es bei so hochentwickelten Begriffen kaum glauben sollte? Es läßt sich gewiß bei vielen Worten solch Zusammenhang nachweisen, und es ist vielleicht die Sprache immer noch am Werke, von solchen Ur-Innen-Geräuschen auszugehen und mit ihrer Hilfe am Bau der Sprache zu modellieren. Nun hören wir Meister Mauthner erzählen, daß das Wort Person vielleicht abstammt von dem, qui per se sonat, von dem, der mit einer Maske sprach, d. h. von einem Schauspielerbegriff. Das wäre ungefähr so, wie wenn wir im Deutschen zu einer überragenden, hervorragenden Individualität aus Bildentlehnung immer »Turmbläser« in übertragenem Sinne sagen müßten. Wir haben aber kein eigenes Wort für den majestätischen Begriff »Persönlichkeit« ersonnen, sondern den Begriff, ganz gleich, woher er stammt, übernommen, entlehnt; es ist ein Lehnwort, wie der Fachausdruck heißt. Nun, Mauthner, dessen Seele auf Sprachfeinheiten reagiert wie Lackmuspapier auf Laugen oder Säuren, gefällt diese Ableitung nicht recht, er neigt zu der Ansicht, daß »Persona« schon eine andere, ältere Entlehnung aus dem Griechischen ist und eine Verstümmelung von προσωπον andeutet. Prosopon heißt Gesicht, vielleicht auch Schauspielermaske, daraus sei die »Person« geworden; obwohl mir wegen des Lautsymbols die Ableitung von Sonare, feierlich dröhnen, sprechen wie Drommetenton, besser behagen würde zuliebe meiner Theorie, kann ich mich Mauthners Auseinandersetzungen über solche Punkte, wegen ihrer Meisterschaft, schwer entziehen. In jedes Gebildeten Haus müßte diese Quelle von Genuß und Belehrung vorhanden sein, um einzusehen, welch einen Reichtum dieser Tiefdenker dem deutschen Volke mit seinem Werk »Wörterbuch der Philosophie« dargebracht hat. – Genug, es ist auffällig, daß wir Deutsche keinen Begriff für so etwas wie Individuum mit der Steigerung zur Persönlichkeit besitzen, obwohl seit Goethe dieses Wort uns ja ganz gut deutsch klingt, es gehört zu den Barbarismen, welche man als völlig akklimatisierte Schmelzworte, als Amalgame, Mischworte bezeichnen könnte. Aber doch – sagt Mauthner – hat die deutsche Sprache im Mittelalter einmal einen Anlauf genommen, selbst ein Wort zu dichten – denn Sprache ist Dichtung, angenommene Volksworte sind wie Volkslieder ewig und unausrottbar – und zwar das Wort die »Heit«, welches jetzt nur noch als Begriffssummenfaktor und oft verkehrt in »keit« den Worten hinten angesetzt wird und dann ihnen unweigerlich das Reale, Adjektivische nimmt und zu Phantasiekonstruktion erhebt. Die Hoh»heit«, die Frei»heit«, die Rein»heit«. Alle drei Male wird meiner Ansicht nach durch Anfügung eines realen Netzzuges das sinnlich Wahrnehmbare in ein gedachtes, ersonnenes Idealfahrwasser eingetaucht. Das Reale bekommt seine Idealtünche. Ebenso mit »keit«; Fröhlich»keit«, Lustig»keit«, Winzig»keit«, obwohl hier eine feine Nuance durch das »k« schon andere nicht mehr rein tastbare Begriffe, sondern schon Empfundenheiten in einen Dauerzustand als innere Begriffe gesetzt werden. Ja, so sehen die kleinen Heinzelmänner-Schmiedemeister im großen Zentralwerk des Gehirns aus. Da kommen die wilden Pferdchen der reinen, nur empfindenden Natur hineingaloppiert vom linken Hirn in die Glaskammern der abgebogenen Geistigkeit und erhalten ihre Marke, ihren Beschlag, ihren Huf mit »keit« und »heit« und »sein« und »schein«, mit »nis« und »lich« und »ig«, lauter kleinen Anhängseln, die die armen erdgewohnten Füllen nun sofort zu Luftwesen, einer Spezies Pegasus werden lassen, die natürlich im Galopp in das Luftreich losrasen und nur schwer wieder in die festen Ställe der »Kategorien« einzufangen sind. Was hat das dem armen Kant für Mühe gemacht, diese Jagd auf abgestempelten, behuften, maskierten Pferden! Goethe hat sie einfach laufen lassen und nur hier und da eins ergriffen und mit Blumen umwunden. Aber die Kantsche Dressur führte zur hohen Schule! Ja, das ist ganz etwas anderes!

Aber Scherz beiseite! Es ist so! Im Bereich der realen Wahrnehmung werden die naturgegebenen Eindrücke wie Rohmetalle geschmolzen, gereinigt, und im Reiche der Abstraktion erhalten sie möglichst allgemeingültige Prägung, wobei natürlich der leidige Münzkampf mit seiner Valuta von Gold und gestempeltem Schein nicht ausbleibt.

So soll also einmal von einem deutschen Mann das Wort »Heit« als Substantivum mit dem Sinne einer besonderen Verfassung, eines Zustandes, eines Charakteristikums im Mittelalter eingeführt worden sein. Ein Bach war von schöner »Heit«, der verlorene Sohn konnte in solcher »Heit« nicht vor den Vater treten, Christus hatte drei »Heiten« (zitiert nach Mauthner). Es spielt also meiner Meinung nach hier der Begriff des Augenscheins einer Wesen»heit« mit hinein, und ich möchte doch Mauthner recht geben, daß er darum vielleicht die Ableitung des Personbegriffs von Prosopon (Antlitz) vorzieht. Dann wäre in beiden Sprachgefühlen zwischen Griechen und uns doch eine psychologische Parallele, der des Antlitzes; bei uns und dort ein »Augenschein«, und es ist überwältigend, daß wir den griechischen Gedanken ja völlig ähnlich empfinden, wenn wir sagen präpositional: angesichts der oder jener Tatsache. »Angesichts« gleich wie »in Anbetracht«, »in Anschauung«! Da haben wir ja das Antlitz, die Maske in schönster Form. Ich bin einmal etwas näher auf diese Art Sprachbildung bei der Entwicklung des Begriffes Persönlichkeit eingegangen, nicht nur, was Zweck genug wäre, um einmal Mauthner, meinem tief verehrten Lehrer, einen innigen Dank abzustatten. Mauthner ist ein Mensch von einer Lehrkraft wie Kant, und ich möchte ebensowenig Arzt ohne Digitalis und Morphium sein, wie Philosoph ohne Kant und Mauthner. Beide waren für mich Erlöser, der vom Zweifel des Gedankens, dieser vom Wahn und der Tyrannei des Wortes. Die Welt enthüllt uns nur sprungweise, brockenweise ihre großen bleibenden Gedanken. Wäre doch ein Mauthner, der Sprachkritiker, der Farbenkundige, vor Kant, dem Farbenschöpfer, dagewesen! Nun ist das Gemälde da, aber die Farben springen, reißen, verwischen sich wie die platzenden Fresken Lionardos. Wie vieles hätte ein Kant klarer, dauerhafter dargestellt mit Hilfe Mauthners Kenntnis vom Geheimnis des Wortes und seines Mißbrauches! Es war die höchste Zeit, daß ein Mauthner erstand, um die ungeheure Konfusion in den Begriffen und den Fetischismus der Worte zu entlarven!Einen ähnlich bahnbrechenden Einfluß hat Vaihinger für die wissenschaftlichen Illusionen in seiner »Philosophie des Als ob«, einem der tiefsten Bücher deutscher Literatur, geleistet. Ich diene ihm gern, – weil ich fühle, meine Methode der Gehirnanalyse kann viel dazu tun, Klärung zu schaffen. Es muß eine Zeit kommen, in der es ein leichtes sein wird, auch die höchsten Gedankengänge auf einen physiologischen Vorgang im Gehirn zurückzuführen. Falls man diese Anordnung im Gehirn unter der Oberherrschaft der Seele fest durchdenkt, kann man niemand mit Gespensterfurcht des Materialismus vor mir und meinen Bestrebungen warnen, obwohl es mir unbegreiflicherweise auch Jesuiten übelgenommen haben, daß ich den Nachweis versuchte, in der Methode ihres Heiligen Ignatius etwas unglaublich Brauchbares an Heil-Mechanismen aufdecken zu können. Als wenn nicht die Entdeckung jeden Kunstwerkes in der Natur, jeder tief geistigen Struktur ein Dankgebet des Erkennendürfens, eine Seligkeit des Anschauens hervorrufen müßte!

Es sind eben die Persönlichkeiten – jawohl, bei diesem Thema sind wir ja. Wir wollen ja eben sagen, was solche Menschen sind, die eben wie Mauthner, Kant, Vaihinger, Ignatius, so herausragen aus dem gewohnten Massenkreis der Individuen, was denn eigentlich in dem Ameisenherd von lauter Einzelwesen diesen und jenen zur Persönlichkeit macht, wie Platon, Aristoteles, Lionardo, Goethe, Bach, Beethoven, d. h. zu einem Menschen mit ganz besonderem Angesicht und Wesen? Ist es eine rein körperliche Schönheit, ist es eine besondere Grazie, welche ja eine im Fluß und in Bewegung schmelzende Schönheit bedeutet? Gewiß auch das! Ist es eine Abweichung? Kann ein Buckel, eine Warze zur Persönlichkeit stempeln? Ganz gewiß nicht!

Was ist es also, das den einzelnen geistig und leiblich zu einer Persönlichkeit macht? Wann findet der Übergang vom Individuum auf die höhere Stufe der Persönlichkeit statt?

Nur dann, antworte ich, wird ein Individuum zur Persönlichkeit, wenn es in irgendeiner Weise ein Träger des Weltwillens ist, bewußt oder unbewußt! Ein Wesen, welches in sich keine anderen Motive im wesentlichen kennt, als die Aufträge der Welt, als Stimmen, die ihn ohne das Individualgefühl irgendwelcher Furcht vorwärtstreiben, im Banne der gefühlten Rhythmen der Welt – nur ein solcher Mensch kann Persönlichkeit werden und, wenn er sich und seinen Trieben treu bleibt – sein. Nur wer die Richtung des Allrhythmus freudig im Einklang mit den letzten Schwungkräften seines eigenen Rhythmus empfindet – nur der ist oder wird Persönlichkeit.

Wann geschieht das? Nun, jedem wird oftmals die Gelegenheit geboten, im Rhythmus des Frühlings, der Genesung, der Liebe die höchste Menschenwonne zu empfinden! Das sind aber eben die Bewiesenheiten vom Einklang der Natur mit unserem Ich, des Universums mit unserem Individuum!

Warum behaupten denn so viele gerade junge Menschen, eine Persönlichkeit zu sein und sind es auch manchmal? Weil in der Zeit der Reife alle Säfte blühen, alle Spindeln glühn vom Vorgefühl der Erfüllung, weil hier gefühlter Weltallwille, geahnte Kraft, ihn zu erfüllen, sich bemerkbar macht, wie nie später wieder in der Jugend die titanischen Kräfte der einströmenden, lachenden Weltrhythmen uns zuflüstern: Willst du mit? Vor dieser Entscheidung steht einmal jeder Mensch! Wehe, wenn er verzagt ist, das Wolkenschiff zu besteigen, er bleibt Individuum, wohl ihm, wenn er auf die Planke tritt mit dem Gefühl: »Ich will jedenfalls dabei sein, steure los!« Solcher wird eine Persönlichkeit werden.

Was heißt hier Irrtum, heißt hier Schuld? Einen ehrlich mit Gott und sich im Reinen gefundenen Plan kann auch ein Gott nicht verwerfen. Tragik ist Scheitern solchen bestgewollten Willens am Unbegriffenen! Darauf kann nur Gnade, keine Strafe stehen. Aber nur die, welche ihren Weg gehen, den sie aufleuchten sehen, als ihren Auftrag, als ihr Ziel, unbekümmert von den ewigen Versuchen zur Lust der Weltlichkeit, wie Christus vor dem Teufel, nur sie sind oder werden Persönlichkeit. Hier klafft ein Widerspruch! War Buddha, der Verneiner der Welt, und sein Prophet Schopenhauer, und waren alle diese grandiosen Pessimisten, von Empedokles bis zu Strindberg, Nietzsche und Weininger, etwa keine Persönlichkeiten? Gewiß, sie waren es, weil sie ihrem Auftrag treu bis zum Ende ihrer Idee hingegeben waren und diesem ihrem individualistischen Anschauen der Welt bis zum Opfer treu geblieben sind.

Nun wird einmal die Geschichte lehren, und in gewissem Sinne hat sie es schon gelehrt, daß nur diejenigen in irgendeiner Weise hervorragenden produktiven Männer, welche ihren Mitmenschen als Persönlichkeiten, den Nachfahrenden als Genies erschienen sind, immer solcher Art waren, daß ihre Lehren, ihre Taten, ihr Leben und dessen Führung gleichsam eine Entwicklungsstufe der Zukunft vorausnahmen, anders ausgedrückt, daß ihre Wirkungslinie durch ein »Zufrühgeborensein« zum Voraus, als Vorposten gleichsam künftige Möglichkeiten voraussah und sie wahr machte. Ihr gesamtes Wirken lag in der Verlängerungslinie der Zukunft, sie fühlten den Weg, den Frühlingspfad voraus, den die Menschheit, getragen von den Impulsen aller Einzelindividuen und erstrebt von dem ewigen Willen der Entwicklung zu gehen bestimmt ist. Es ist die vollendete, rhythmische Einfühlung des Ichs in die Richtung des Alls, des Unausweichlichen, Unhemmbaren, welches schöpferische Menschen zu Genies macht. Das ist ja der Grund, warum man von einem Mitlebenden nie beweisen, nur immer vermuten kann, daß er ein solcher Wegweiser zu Höhen ist, zu dem einst der ganze Heerbann der Menschheit aufsteigen muß. Das Kriterium des Weges, seine ideale topographische Richtigkeit kann nur die kommende Zeit entscheiden. Es gibt nur Genies der Zukunft und der Vergangenheit, die Gegenwart weiß nie, wer unter uns der Genius ist, welcher in irgendeinem Bereich den Ariadnefaden des Aufstiegs in Händen hält. Denn, das ist ja die Tragik des Genies, daß es erst anstürmen muß gegen eine Phalanx von Widerständen, sie (wie selten und wie langsam!) überrennend, die Palmen des Siegs im stumpfen Alter erst oder im noch taubern Sarge rauschen hört, daß dann die ungehörte Fanfare des Sieges beginnt, und daß (noch tragischer!) schließlich sein prunkender Leichenstein, sein Ruhm wie eine Hemmung drückt auf die, die nach ihm mit derselben Fähnrichsweihe zum Generalissimus der Gedanken bereit dastehen, ihn zu überwinden. Freilich, er selbst, der Candidatus immortalitatis, weiß ja nichts von seiner Zukunftsrolle, wehe, wenn er es sich einbildete! Seine Demut, die schönste Zier des Genialen, seine Kindlichkeit, dessen schönster Orden, und seine opferfähige Selbstlosigkeit und Unbestechlichkeit, die leuchtendsten Kränze für seine reine Stirn – wären dahin! Der eitle Wettlauf begönne, und das Allzumenschliche könnte, ach zu bald, der freien Schwinge die schönsten Steuerfedern entreißen. Es ist also die eigentliche Schwungkraft der ganz großen Persönlichkeit, des Idealmenschen, des Genies, doch im Unterbewußten gelegen, und das bringt uns auf das Kernproblem des Persönlichen überhaupt.

Wir haben den Sympathikus den Allherrscher genannt, mit seinem Goldnetz von empfindenden Gangliengeflechten, welche er im Innern des Leibes um jedes Organ mit besonders dichtem Gefüge gewebt hat; so um die Gebärmutter, wo er das Wunder der Empfängnis bis zur Geburt des neuen Menschheitserben leitet und überwacht wie Sternenweben über jener Morgenlandshütte; so um Herz, Niere, Leber, Nebenniere, Generationsdrüsen, Pankreas usw. usw., überall, wo etwas besonders Rätselhaftes gebraut, gekocht, entsprudelt und gekeltert wird – da ist er dabei mit seinen mikroskopisch kleinen Geisterfingerchen und leitet alles Geschehen mit unbegreiflich segensreichem Walten. Nun, er ist ein Meister Rübezahl, der Jahrtausende Zeit gehabt hat, sich zu üben in allen Zaubereien und Weisheitsformeln der Natur.

Er ist des Stoffes erster Nervensohn, der erstgeborene, in sich sichere und durch seine Urstruktur gesicherte Geist der Materie, ihr erstes Depot, die Verdichtung aller Empfindlichkeit und Geistigkeit, wenn man so sagen darf, von kondensiertem Willen, die erste nervöse kleine Zentrale, welche einen bestimmten Umkreis ihr zugewiesenen Stoffes nach höherem Kommando, nach dem gefühlten Rhythmus der Welt in molekulare Stromrichtungen und Kristallkompasse zwingen konnte. Vorher, vor seiner Geburt, anfangs ein Tröpfchen kondensierten Weltwillens, war zwar schon alles in molekularer Erzitterung, chaotisch, erregt von jedem Reize hier und da, was uns die Brownsche Molekularbewegung feinster Teilchen noch heute unter dem Ultramikroskop direkt erkennen läßt, aber diese phantastischen Veitstänze der ersten Formelemente, der zu Lichtfeldern gebannten Ätherteilchen, waren wie eine Riesenarmee durcheinander verschobener Truppen, im Anmarsch zu einem ihnen ganz unbekannten Ziel. Ein wilder Wille in ebensoviel Milliarden wilder Wollender. Da kam der Ordner, der Organisator, der Disponent der Macht, der Gruppenbildner – der Sympathikus. In ihm, wie in einem Beauftragten des Gesamtwillens, wurde dieser Wille bewußt, und er lagerte und lagert immer noch heute die Elemente so, daß sie mit dem Gesamtwillen des Oberkommandos immer möglichst eine gleiche Marschroute einhalten. Er ist also vom Fischlein, wo er vielleicht zuerst erstand, überm Wurm bis zum Menschen der große, uralte Weise geblieben, der Kondensator des Weltwillens, der nie sprechende, nie kündende, nur Spannung äußernde alte Nachtgelehrte, der die Empfängerplatten des Alls der Welt und des kleinen Nichts der Erde und all ihrer Geschehnisse in Händen hält und unaufhörlich Meldungen schickt zur Zentralstation bewußten Lebens, die eben zu bestimmen hat, inwieweit das Einzelindividuum schon berechtigt ist, teilzunehmen an dem Aufstieg, an der Rhythmenflut, von der er, der Sympathikus, alleinig im Leibe des Individuums etwas, dem Gehirne unbewußt, fühlt und weiß.

Nicht jedes Individuum ist berufen und auserwählt genug, nicht jeder Apparat der Seele, »der Geist«, ist vollendet genug gearbeitet, um ganz die unterbewußten Rhythmen des Alls zur Geltung zu bringen. Sie könnte viel Unheil bringen, eine Botschaft aus dem All vom Sympathikus zum Bewußtsein hinaufgetragen, wenn sie vom fehlerhaften Apparate falsch referiert würde, übersetzt, mißverstanden, hinausgeschrien in die Welt, als eine schlimme Prophetie. Wie das so oft geschieht im Leben der Staaten und heute das Geschick der Völker beherrscht! Es ist gefährlich wegen der Ansteckungsfähigkeiten unreifer Ideen, die ja nur geistige Rhythmen sind, ein Filtrat aus den Tiefen des Sympathikus ungehemmt in das Bewußtsein übergehen zu lassen, gefährlich für den Träger, gefährlich für die von ihm beeinflußbaren Genossen! Darum wird von den unterbewußten Meldungen der Marconi-Platte des Alls, dem Sympathikus, so wenig hineingelassen in das bewußte Leben, es wird vorsichtig abfiltriert, abgeschieden, und möglichst nur die stillen, fördernden Segensströme sollen den offenen, bewußteren Betrieb unserer sogenannten Vernunft erreichen. Es muß der geistige Apparat erst langsam heranwachsen zu seinen immer mehr gesteigerten Aufgaben, genau so wie erst in einem Orchester neue Instrumente geschaffen werden müssen, ehe die modernen Forderungen von nie gehörten Klängen in der Seele eines vorwärtsgerichteten Hörers von Unerhörtheiten erfüllt werden können. Das ist der Sinn des Hineinwachsens von ganzen Völkern in neue Ideen! Das sehen wir ja an der Hirnentwicklung: das ganze Gehirn kann man ganz gut ein Orchester nennen, dessen Arrangeur, Dirigent, Erweiterer, Besetzer, Komponist der Sympathikus ist, so daß alles langsam aufgestiegen ist vom Duett und Quartett bis zur unerhörten Polyphonie, vom Rückenmark zu den Gehirnknollen, von da zur Hirnkuppe und zum Gangliensystem, indem Schritt für Schritt der Urrhythmus der Welt immer stufenweise geistig höher begriffen und mit Stimmen besetzt wurde, und wir sehen sogar die Möglichkeit der Fortsteigerung dieser Neubesetzung für geistige Ausdrucksmittel, die Möglichkeit eines Überhirns über dem jetzigen Hirn garantiert durch die simple Tatsache, daß das Wachstum unserer Schädelknochen erst im 18. Jahre den sphärischen Schluß macht, gleichsam als lauerte eines Jeden Kopf auf die Anbildung neuer Formen, neuen Gehalts, neuer Sitzplätze für neue Instrumente im Gehirn. Wem das zu phantastisch klingt, den darf ich wohl daran erinnern, daß es außer Frage steht, auch streng anatomisch, daß Goethe den Nachweis führen könnte, daß der Schädel ein fortentwickelter Wirbel ist, so daß man deutlich lesen kann im Buch der Entwicklung: weil sich das Rückenmark hinaufsteigerte zum Gehirn, so mußte ihm aus der Röhre der Wirbelsäule ein Dach, ein Gewölbe, ein Altar, ein Kuppelbau geschaffen werden, um dieses Allerheiligste des Organischen zu schützen. Wer aber steuert denn alle diese Bildungen, wer ist der geheimnisvolle Architekt aller dieser neuen Konstruktionen? Wer anders als der Vertreter der plastischen Ideen der Natur überhaupt, die Brücke und der letzte erkennbare Träger des Weltwillens, der seelische Organisator, der Nervus sympathicus, den man heute auch den Nervus ideo-plasticus nennen könnte, unser im sympathischen Geflechte um schier alle Organe angefaserter, organisierter Ätherwille, unser Mit- (d. h. mit der Welt) Fühlender! Nur von hier aus, vom Wechselspiel zwischen unbewußtem Triebleben und mehr oder weniger vollendetem Apparat, dessen Funktion wir eben »Geist« nennen müssen, der seine Struktur einer unausweichbaren Ahnenreihe verdankt, von diesem Verhältnis vom Spieler zum Instrument, vom Geiger zur Geige, vom Virtuosen zum Klavier, ist nun das abhängig, was wir Persönlichkeit nennen. Jedes Individuum ist eine Nuance dieses Verhältnisses von eingeborenem Weltwillen und der physisch gewordenen Ausdrucksfähigkeit des Apparates. Es wäre auch eine wahnsinnige Ungerechtigkeit der Natur, jedem Leben nicht wenigstens die Möglichkeit zur Höchststeigerung mitgegeben zu haben mit seinem weit motorischen Auftrag im Sympathikus; wie er sich bricht im Prisma der Individualität, das ist eben von den unendlichen Variationsreihen abhängig, welche der Antipol des Geistigen, die Materie und ihre Gesetzmäßigkeiten schaffen. Vergessen wir nie, daß alles Widerstrebende, jede Kampfnorm ein Werk der Schöpfung selbst ist, daß der Teufel ein Geschöpf Gottes (vielleicht seines beängstigenden Traumes) sein muß, weil die Setzung des Gegengedankens allein ihm ganze Himmelsklarheit garantiert. Es ist alles polar, und wenn Kant sagt, es sind drei Grundformen, in denen der Menschengeist zu denken gezwungen ist: in Raum und Zeit und Kausalität, so fordere ich ohne weiteres die Polarität, die ewige Gegensätzlichkeit, von Schwarz und Weiß, von Liebe und Haß, von Gott und Teufel in diesen schlimmen Bann der Menschengedanken. Ich persönlich kann nichts ohne Gegensätzlichkeit denken, ich sehe den Sonnenuntergang nicht ohne Vorstellung von ihrem Aufgang, den Strom nicht ohne sein Bett von Felsen, ich kann die Kraft nicht sehen ohne Widerstand und kann Gott nicht glauben ohne Teufel. So kann ich auch den Menschen nicht sehen in seinem geistigen Leben ohne Apparat von Geist und Hemmung, und kann nur aus polaren Komponenten jede Phase seiner seelischen Betätigung erklären. Das also, was den Menschen zur Persönlichkeit macht, ist wiederum eine Polarität, eine Kampfstellung von Bewußtem und Unbewußtem. Eine Persönlichkeit ist also ein Mensch, bei dem eine Harmonie besteht zwischen unterbewußtem Willen und seiner Fähigkeit, diesen Willen in sich, wenn auch dunkel, zu begreifen und anderen Individuen begreiflich zu machen. Eine Persönlichkeit ist ein auffallender, ein bewunderter, ein verehrter Mensch deshalb, weil auch die Menge instinktiv, d. h. zwanghaft überzeugt anerkennen muß, hier ist eine Einheit, und zwar ein wesentlicher ausgeglichener Ideenakkord von Weltwillen und Menschenwillen. Diese Einheit gibt die Würde, die Hoheit, die Berufenheit, die auffällt. Die höchste Steigerung der Persönlichkeit ist das Genie, welches die Etappe höherer späterer Erreichbarkeiten solcher Harmonie wie im Paradigma vorzeigt. Ob nun eine solche von seiner Mitwelt wegen dieser Harmonie angestaunte Persönlichkeit ein Genie ist, das eben entscheidet das ewige Salz des brandenden Meeres der Zeit.

Ein Schopenhauer – und viele andre problematische Genies könnte man hier nennen – kann seinerzeit eine hervorragende Persönlichkeit und vielen Jahrhunderten später ebenso erscheinen; ob er im Sinne der Fortbildung, des Aufstieges der Menschheit eine Genialität bleibt, das ist eine Frage, die eben kein Verstand, sondern nur das »Muß« der Entwicklung entscheiden kann. Das ist die Tragik aller, die nach dem Höchsten langen. Ein tiefer Barbarossa-Schlaf in den Gewölben unter dem darüberrollenden Leben nur kann entscheiden, wer der Menschheit ein Genius war.

Hier reiht sich nun, unausweichbar, die Frage an: Was ist die Unterlage, die Struktur, das Skelett der Persönlichkeit? Der Charakter! Was ist das? Wir sagen von einem Menschen, er habe Charakter, wenn seine Handlungen und sein Wesen eine gewisse innere gleichartige Beständigkeit zeigen, sofern wir darunter etwas Positives im Sinne eines »guten«, auffällig vorbildlichen oder mustergültigen Individuums, ob Kind, Mann, Frau, Jüngling oder Jungfrau verstehen. Wir trennen hier vorläufig die Negation, die Verkehrung in ihr Gegenteil, den »schlechten« Charakter, ab. Haben wir doch auch bei der Bestimmung der Persönlichkeit erfahren, daß eine höhnische Nuance die Persönlichkeit in eine »schlechte Person« verkehren kann, und daß es nur der mimischen Entrüstungsgeste bedarf, um »Person!« allein zum Schimpfwort zu stempeln. So bekommen also unsre Prägemünzen der Worte durch mimisches Pronunziamento, oft durch eine leichte Verschärfung der vorgestoßenen Konsonanten eine den Sinn ins Gegenteil wendende Stempelung. Das ist fast bei jedem abstrakten Begriff möglich: »so eine Menschheit! so'n Mensch, Menscher, schöne Persönlichkeit, Individuum usw.« können stets auch im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Bedeutung als Hohn, Spott, Angriff, Aburteil verwandt werden.Das beweist, wie das psychophysische innere Geschehen durchaus nicht allein durch die Sprache nach außen projiziert wird, sondern daß sie oft die mimisch-gestenhafte Tätigkeit der Körper- und Gesichtsmuskeln, Hände, Finger (bei den Italienern) zum deutlichen Verständnis herbeiruft. Das einfache »Ja« kann durch solche konkomitierende Geste (z. B. ein listig zugekniffenes Auge, eine Rollung der Handfläche nach oben) von seinem ursprünglichen Sinn zu 95 Grad »Nein« mit hineinklingen lassen. Wenn Christus sagt: »Eure Rede sei ja, ja, nein, nein, was darüber ist, das ist vom Übel«, so ist das buchstäblich richtig, nur müßte es heißen statt darüber: was »dazwischen« ist, was vielleicht Luther, wie so vieles, ganz falsch übersetzt hat! Das ist auch beim Charakter der Fall, der ursprünglich ja nichts als das Merkmalartige bedeutet. Wir wollen hier also unsre Untersuchung nur auf diejenigen denkbaren Funktionen unsers Gehirnnervenapparates beschränken, deren Wechselspiel und Mechanismus zur Erkenntnis der hauptsächlichen Quellen eines guten, lobenswerten Charakters führen sollen. Da soll zunächst konstatiert werden, daß sehr viele Menschen sich für einen Charakter halten und auch von andern gehalten werden, weil sie ohne genügende Kenntnis ihres eigenen »Ichs« und seiner Bedingtheit sich eine ganz falsche Vorstellung von sich machen und andern aufzuzwingen suchen. Sie haben in sich einen Götzen von sich, mittels der Phantasie ein inneres Antlitz ihres geistigen Wesens errichtet, dem sie mit einer enormen Konstanz des Willens nachstreben. Sie glauben so und so beschaffen, sich dies und das schuldig zu sein, sie verwechseln Eigensinn, Steifbockigkeit und Pedanterie mit Charakter und lernen vielleicht plötzlich in der Stunde einer ungeheuren Versuchung, daß ihr »Fetisch von sich selbst« gebrochen am Boden liegt; eine Tragik, die einem echten Charakter eben niemals passieren kann, er kann nicht zusammenbrechen, er läßt sich eher zerreißen, als daß er eine gewisse starre Folge ihm absolut geläufiger und selbstverständlicher Mechanismen des Handelns aufgibt. Es ist die erstaunliche Selbstsicherheit der oft härtesten Entschlüsse und Unausweichbarkeit in der Richtung der Bestrebungen und Taten, die Unerschütterlichkeit einmal gefaßter Beschlüsse ohne viel Überlegen, welche der Funktion eines Charakters das Gepräge einer höheren, von größtem Willen getragenen Automatie, jene absolute Verläßlichkeit, fast Ausrechenbarkeit und Treue gibt. Worin besteht die Sicherheit dieser Automatie im Willen? Weil der Wille des Charaktervollen viel mehr am Weltwillen seines Sympathikus-Unterbewußtseins gebunden ist als der andrer. Wir wissen vom »Schaltwerk der Gedanken« her, daß der Wille des Menschen eine Diagonale zweier Kräfte ist, dem Triebe des Unterbewußtseins, von dem aus er gebunden determiniert ist, und der Spielbreite der mit Hilfe von Muskeln bewirkten Einschaltung, in welcher er frei ist. Jede Handlung, selbst unser Denken, als Handlung, Aktion des Neurogliamuskels gedacht, welcher die Register schaltet, hat zwei Ströme: den unterbewußten Grundwasserstrom, der ihn dem »All« verbündet mit der Marconi-Platte des Sympathikus und den Augenblickselementen des einzelnen »Falls«, welche an den Klingelzügen seiner Klaviatur zerren. Da ist also der Wille und die Handlung eine Machtfrage zwischen Bewußt und Unbewußt, und Hamlet ein Bild der Wetterfahne ohne Richtungslinie, weil immer die großen, ewigen Weltimpulse seines Unterbewußtseins verflattern an den tausend Hemmungen, welche die Motive des Moments vor dem Perfektwerden einer Tat auftürmen. Und die Selbstbeobachtungsmöglichkeit, die Innenansicht dieses Vorganges läßt ihn hilflos vor den Strudeln dieses Ringens tatenlos hinabschauen in die Tiefen des aufgewühlten Ichs, wie einen träumenden Schiffer am rauschenden Wehr. Er ist ein wie Binsen in den Wogen schwankender Charakter!

Dagegen ist Cäsar ein Mann, der im vollen Gefühl einer in ihm waltenden Urkraft, einer determinierten Bestimmung, eines dem Rauschen der Weltmühlen des Sympathikus abgelauschten Auftrags alles Gegenwärtige, alles Augenblickliche, jedes Motiv vom Brausen des Tages und der Forderung der Stunde mit gewaltiger Muskulatur des Willens eindreht in den Vollstrom des unterbewußten: du mußt, und der kein Ereignis kennt, das erschütternd, durchgreifend, blitzstark genug wäre, diesem Zwiestrom von Wollen und Sollen, von Wählen und Müssen die Stirne zu bieten. Ich wähle diese beiden Charaktere eines größten Seelenkenners, Shakespeare, nicht, um diese Funktionen als historisch gegebene zu analysieren, ich benutze hier nur die Seherkraft eines Psychologen von Meisterschaft, um an ihrem Extrem die typischen Funktionsmöglichkeiten dessen zu entwickeln, was wir eben als Charaktere bezeichnen wollen. Denn dichterische Charaktere sind noch nicht die des realen Lebens, wenn sie dieselben auch spiegeln wollen. Wie im Leben entscheidbar sein soll, wer im Urstrom des Seins determiniert, verankert, vorwärts getrieben wird und wer nicht, das darf wohl niemand zu entscheiden wagen, der nicht den Plan der Welt in der Tasche hätte. Hier muß genügen, zu sagen, daß ein jeder seines unbewußten Lebens unüberwindbaren Vollstrom für identisch mit dem Weltwillen zu halten ein volles heiliges Recht hat, und daß die Entscheidung, ob einer der großen Charaktere und Genies wirklich auf der Lokomotive der Entwicklungsbahn des Menschengeschlechts gesessen hat, eben nur die allmächtige Wage der Zeit offenbaren kann. Wir können nicht weitergehen, als sagen: ein Mensch, der seinen ihm eingeborenen, richtunggebenden Trieb als ein unumstößliches Gebot seines Handelns trotz aller Einwände der Erfahrung und Verlockung persönlichen Nutzens als maßgebend ansieht, der ist eben unter allen Umständen ein Charakter. Das kann ein sittlicher oder ein unsittlicher Mensch sein; ein Unbeugsamer, unbeugsam durch Ereignis oder Einwürfe, er ist immer ein Charakter. Stört er mit seinem brausenden Tiefen- und Urwillen die menschliche Gemeinsamkeit und ihre gewollte Einheit, so mag man ihn einen verderblichen, schlechten, teuflischen Charakter nennen, aber er ist einer. Er unterscheidet sich gehirnfunktionell in nichts von jenen so unendlich viel glücklicheren Staubgeborenen, welche als wohltätige Genien der Menschheit lebendige Wundertaten voll Kraft und Segen vollbringen, was wir Taten einer ethischen Vernunft nennen. Wir versuchen hier keine Morallehre, sondern wollen uns für alles geistige Geschehen und später für alles gefühlsmäßige Empfinden möglichst scharfe Funktionsbilder schaffen. Das ist eben meine persönliche Methode, das philosophische Denken funktionell zu lehren, und ich überlasse andern gern andre Methoden; die meine ist nur ein Versuch, die Ganglienarbeit ingenieurmäßig begreifbar zu gestalten. Und so bliebe mir nichts übrig, als zu erklären, daß der Charakter ein Mensch ist, bei dem die Willensstrebungen des sympathischen Gebietes mit allen Hormonen und Säfteankurbelungen der inneren Sekretion, wechselnd an Triebkraft für die Hirnganglien, die Reize des individuellen Lebens und seiner begrenzten Zeitspanne überragen. Beide spielen ja am Apparat des Geistes, und je vollkommener dieser Apparat entwickelt ist, um so stärker, tiefer und nachhaltiger dürfte des Charakters öffentliche Erscheinung sein. In dem Verse aus dem »Westöstlichen Diwan«, wenn Goethe von dem höchsten Gut der Erdenkinder spricht, meint er auch einen Auftrag:

»Jedes Leben sei zu führen,
Wenn man sich nicht selbst vermißt,
Alles könne man verlieren,
Wenn man bliebe, was man ist.«

Nun, das ist eben die Konstanz des eingeborenen, unterbewußten Willens, der seine Strudel eben vom Weltwillen bezieht, gegen die Verlockungen von Situation zu Situation, der Strom unter den Nebeln, die ihn verhüllen! Gewiß muß also im letzten Sinne dieser Strom getränkt sein im Azurblau des ewigen Wollens der Natur, die fortrollenden Ideen des uranfänglichen Äthers, seine Richtungen müssen schließlich alle Ethik und alle Vernunft umklammert halten, ja identisch mit ihr sein. Aber der menschliche Apparat, der Diesseitsleib unsrer Seele ist nicht stets fein und empfindlich genug, um seine sanft gleitenden Schritte, wie eines Vogels Tritt im Schnee, zu hören, erst einer späteren Organisation im Jenseits mag es gelingen, hier feinhöriger zu werden. Solange eben ist jeder für seine Moral ein Charakter, der unentwegt den mit allen seinen Geistigkeiten hier und da belauschten Grundwillen, nach allen Quälereien des Dafürs und Dawiders im Leben, als sein einzigstes Eigentum, als etwas nicht Vermißbares und Beharrenmüssendes anerkennt und ihm die Fluten seiner Lebensanschauungen und Handlungen breit öffnet, wie dem Adler die schwebende, treibende und hebende Luft. Trotz allem!

Nun möchte ich gerne eine gewisse Unterscheidung zwischen Persönlichkeit und Charakter machen, von der ich freilich nicht weiß, ob sie des allgemeinen Beifalls auf einem internationalen Wortwertzeichen-Kongreß sicher wäre. Ich bin nämlich sehr geneigt, die beiden Begriffe möglichst scharf voneinander abzusondern, weil die Tatsache besteht, daß es wohl kaum einen Charakter geben dürfte, der nicht zugleich eine Persönlichkeit wäre, daß es aber viele Persönlichkeiten geben dürfte, denen man das Wort Charakter nicht so ohne weiteres zubilligen würde. Ich möchte das Wort der Persönlichkeit dahin zurückretten, woher es vielleicht kam, zum Künstlertum, und das Wort Charakter, wenn man so will, zum Philisterium. Ein Charakter ist ja an sich der Mensch der wohlgefügten Ordnung, der Verläßlichkeit und regulären Pflicht im höchsten und tiefsten Sinne; ein Charakter kann ein an sich unbedeutender Mensch sein, eine gewisse Gloriole von Würde und Unantastbarkeit umgibt ihn doch, aber er behält etwas Staatseingeordnetes, Bürgerliches, Genossenschafts- und Standesgemeinsames. Anders die Persönlichkeit: von ihr geht ein Hauch allgemeiner Menschlichkeit, eine Art kosmopolitischer Weihe aus. Das kommt daher, weil eine Persönlichkeit dem Schöpferischen nähersteht als der Charakter an sich. Ja, das Maß einer Persönlichkeit richtet sich geradezu nach dem Maße seines künstlerischen, schöpferischen Einschlages. Persönlichkeiten sind darum so oft international Gefeierte gewesen, der Charakter kann nicht international sein, er muß ein nationales Timbre haben, eben weil der Nervus sympathicus zwar Sproß der ganzen Welt ist, aber sein Komponent, der Apparat, ein auf Schollen gezüchtetes Kunstwerk ist, bedingt durch Rassen- und Nationalitätennuancen, welche die Persönlichkeit nicht braucht. Ihr genügt es, allgemeingültige Werte zu schaffen für jedes Menschenauge, Ohr und Herz und Wohl. Der Charakter hat einen ethischen Einschlag, die Persönlichkeit einen ästhetischen. Woher es denn wohl kommen mag, daß in der Kunst leicht die Charakterlosigkeit, das Zigeunerhafte auftaucht und im Stande der Seßhaften das Künstlerische oft wie Einbruch empfunden wird. Das liegt daran, weil ein Überschuß im Phantasieregister dem konstanten Energiestrom der Handlung leicht gefährlich werden kann, und umgekehrt ein konstanter Strom des Handelns kein Entweichen ins Reich der Träume gestattet, ohne eben an Stetigkeit einzubüßen. Ein Staat kann schließlich der Persönlichkeiten eher entraten als der Charaktere. Er verlangt einen Rücktritt der Persönlichkeit zugunsten eines allgemeinen, als gegenwartsnützlich erkannten vollen Willens.

Es würde manchem Leser dieses Buches doch vielleicht eine empfindsame Lücke unsrer bisherigen Ausführungen über Ich, Individualität, Charakter und Persönlichkeit bedeuten, wollten wir gar nicht die Stellung dieser drei menschlichen Wesenheiten, deren Kristallisationspunkt immer das Ich bleibt, in irgendwelche Beziehung zu der Gemeinsamkeit des Menschen, zu seinen Kollektivbegriffen Nation, Staat, Menschheit setzen. Wir sagten es ja schon in der Einleitung, daß keine Zeit der Geschichte so unendlich diktatorisch eingegriffen hat in den Egoismus des Ichs, wenn man so sagen darf, wie die Erfordernisse dieses Weltkriegs, von dem man nicht weiß, ob er mehr der bisherigen Menschheit Vernichtungsorgie oder das brodelnde Chaos einer zukünftigen bedeutete, bei dem es wenigstens für die männlichen Mitglieder den Begriff des Individuums, der Persönlichkeit als eines Sonderwillens gar nicht mehr geben konnte, so sehr war auch der Wille des einzelnen eingezwängt in die Idee des ganzen Vaterlandes. Hier würde der Staat, die Nation gern der großen Persönlichkeiten (außer an Führerstellen) entraten, wenn nur dafür recht viele Charaktere in den Reihen selbst der einfachsten Soldaten vorhanden wären. Ja, er verlangte sogar überall den Rücktritt des Persönlichkeitsgefühls vor der großen Glut des Allgemeingefühls. Aber was ist eine Nation, ein Staat? Man sollte es nicht glauben, wie viele Schwierigkeiten es den Historiographien und Biologen gleicherweise, also den Geisteswissenschaftlern und den Naturwissenschaftlern macht, eine wirklich allgemeingültige Definition von dem zu geben, was eine Nation ausmacht. Rassenunterschiede, Territorialgrenzen, Spracheinheiten, Gewohnheiten, Gebräuche, klimatische Bestimmtheiten, Rechtsnormen – alles das gehört wohl mit dazu, aber keines ist durchgreifend, und so ist es eigentlich verblüffend: es gibt eigentlich keine Definition von dem, worauf alle Völker so stolz sind, und in dessen Namen sie die größten Menschenopfer zu bringen allezeit bereit waren. Hier muß einmal viel tiefer ausgeholt werden, um so etwas wie eine plausible Einheit zu schaffen. Unstreitig scheint es zunächst etwas durchaus Geistiges zu sein, was entscheidend die einzelnen Mitglieder einer Nation so unzerreißbar aneinanderkettet, im Bewußtsein einer politisch untrennbaren Zugehörigkeit. Diese geistige Gemeinschaft umfaßt nicht nur die Gleichheit der Sprache, der Gebräuche, der Verkehrsformen, der Speisenzubereitung, ein gleiches Mienenspiel, eine Harmonie ihrer Feierlichkeiten oder ihrer Heiterkeiten, die Form ihrer Schwermut oder ihres Humors, nicht nur Glaubenseinheit oder Niveaugleichheit ihrer Logik, die Form ihrer Erotik oder ihrer Rache – von allem ein bißchen und doch keines ganz rührt an dem geheimnisvollen Ring, der alle Greise, alle Kinder, alle Männer, alle Frauen einer Nation gewaltig und eisern umklammert hält. Es muß hier etwas viel Universelleres zugrunde liegen, was alle diese Einzelmomente nur wie Zacken in einem großen Kamme erscheinen läßt. Ich scheue mich nicht, es auszusprechen, es muß in einer Gemeinsamkeit der Gehirnorganisation gelegen sein, in der gleichmäßigen anatomischen Struktur und davon abhängigen gleichgerichteten Funktion der Ganglienapparate. Es muß so etwas wie eine chinesische, gallische, germanische Klaviatur im funktionierenden Innern des geistigen Apparates geben, welche gleichsam immer wieder einer uniformen Neusaat seine Regeneration verdankt. Nun, dies scheint mehr zu sein als ein Vergleich, es ist vielleicht die volle nackte Wahrheit, welche man auch so ausdrücken könnte: die geistige und physische Organisation einer Nation ist bedingt durch die Gemeinsamkeit der Nahrung, welche ein bestimmter Boden, die Heimatscholle, produziert. Wir wissen ja vom »Schaltwerk der Gedanken« her, daß die Nahrung ein Mysterium ist, daß sie viel mehr bedeutet als den simplen Stoffwechsel und den Umsatz von unterhaltener Wärme in Arbeit, wir haben ja in ihr einen ungeheuren Kreislauf des Lebens, eine dauernde Befruchtung von Nukleinkern zu Nukleinkern gesehen und glauben das Wunder der Zeugung bei jedem Nahrungsaustausch immer von neuem wieder erweisen zu können. Nahrung ist Kerntausch und Kernbefruchtung. Daher die Brutalität der Natur, des Sichzerreißens und -zerfleischens; ihr liegt die gewaltsame Erschließung der letzten Bewegungsrhythmen aus den kleinen Spiralen des organisierten Nukleins zugrunde. So nimmt die Scholle die heiligen Zellen des zerfallenen Leibes, dem die Seele entwich, in sich auf; die letzten kleinen Kristalle der entatmeten Persönlichkeit werden den Bakterien, den Larven zum scheinbar nur furchtbaren Raub, sie entrollen im neuen Leibe die hochorganisierten Rhythmen des geschiedenen höheren Individuums, um sich selbst auszurüsten mit dem Trieb des Aufstiegs; sie müssen ihre Leiber hingeben den Insekten, den Fischen, Amphibien und Vögeln, ein viel reicheres Teil noch assimiliert vor allen die Pflanze, und der Mensch dieser Omnivore, der Allesverschlinger, erhält schließlich auf einem schwindelmachenden Umwege die Spannkräfte seiner Urahnen durch die Nahrung zurück, gestählt, gestärkt, gekräftigt und begabt mit unerhörten Fähigkeiten der ganzen Wesenschaft der Natur, um von Generation zu Generation aufzusteigen zu unerhörten Erfolgen. Die Geheimnisse alles Naturgeschehens, vorexperimentiert vom großen Bastler des Alls, die Milliarden Mechanismen, der geheime Chemismus vieler Wesen, von allem erfährt er den Anstoß: lausche, begreife, horche! Die kleinen Nukleinspiralen der Nahrung läuten ihm von Wundern des Lichtes aus den Leuchtkäfern nicht weniger, als vom Zauber des Fluges, des Tauchens, des in die Tiefefahrens. So viel Nukleine der Mensch in sich aufnimmt, so viele kleine Ideenerzeuger assimiliert er sich, und wo ein Apparat herausgebildet ist, der die Stimmen dieser kleinen rhythmischen Sänger wie ein geistiger Siegfried hören kann, der wird ein Entdecker, ein Verkünder der Natur und ihrer Wunder. Aber nicht das allein; diese kleinen Durchsegler der ganzen lebenden mikroskopischen Welt bringen auch die winzigen Baumeister zu ihm, welche eine Einheit des geistigen Apparates erzwingen, von Ahnenzeit zu Ahnenzeit bis in die fernsten Enkelreihen, welche eben das Wunder der Nationalität in sich schließt. Sie sind die Träger der Unsterblichkeit des Ahnengedankens, wie sie die Entzünder neuer Begnadungen werden, um dem Nachlebenden Gelegenheit zu geben, auch ein Ahne zu sein! In diesem Kreislauf von Scholle, Urväterzellen und der konformen, heimatlicher Nahrung steckt das Rätsel der Nationalität: mit gleichem Material ein gleicher Apparat gebildet, gleich im Sinne der feinsten Mechanik rhythmischer Kontakte im mikroskopischen Nukleinkern, hat das gleichgerichtete Organische sich auch gleiche Ausdrucksmittel seiner geistigen Wesenheit geschaffen, von dem alles andere erst sekundär ist. Sekundär die gleiche Art zu fühlen, zu denken, zu singen, zu sprechen, sekundär die gleiche Hautfarbe, Augenfarbe, Schädelbildung, sekundär das Rechtsgefühl, der Glaube an den einen oder die vielen Herren dort über den Sternen, die Weltanschauung, die Gemütserregungen usw. Es ist eine Einheit der Gefühlslogik vorhanden, wenn man so kühn sein darf, den ganzen Hirnmechanismus mit einem Worte zu umfassen, die jede Nationalität von einer anderen unweigerlich scheidet. In den Nukleinkernen der Heimaterde, die Nachsaat aller darin Verendeter, welche für jedes Land Milliarden und aber Milliarden solcher kleinen Rhythmenträger ausmachen müssen, steckt die Konstanz der Gesinnungs- und Denkweise der Individuen eines Volkes, dem sich auch seine Persönlichkeiten und Charaktere nie ganz entziehen können: die Art. – Sollte es so ganz ohne Grund sein, daß in unseren Sagen und Märchen Heinzelmännchen, Wichtelmännchen, die Rübezahl, Nöcks, Elfen und Erlenkönige, die auch alle mehr oder weniger dem Boden entsteigen in Zaubernächten, eben vom ahnenden Dichtergeist des Volkes umdichtet, ganz die Rolle spielen, die wir hier wissenschaftlich den aufgespeicherten, fast unsterblichen kleinen Kernkristallen des Individuellen beilegen? Für mich sind eben organisierte Nukleine hochaufgerollte Kraftspiralen, in denen gewissermaßen das Persönlichste seinen übertragbaren Zündstoff erhält und ihn dem Kreislauf des Lebens übermittelt. Der allgemein dem Leben innewohnende Aufstieggedanke drückt eben diesen hochorganisierten Eiweißmolekülen in den Zellen, nicht nur in den Zeugungszellen, den geheimen Stempel der Persönlichkeit auf. Sie sind kleine Siegelbewahrer der Persönlichkeit, kleine Streichhölzerchen der Individualitäten, Rhythmusüberträger, winzige Platzpatronen mit rhythmischer Ansteckungsfähigkeit. Leben ist ein Tanz von Ätherwirbeln, und seine höchst komplizierte Verdichtung ist die organische Substanz, deren Urwerk nach Übereinstimmung aller Forscher im Chromosom der Nukleinkerne gelegen ist. Hier ist krystallisierter Urgeist mit zündender Kontaktkraft. Der Austausch dieser Kräfte heißt Ernährung, ihre Berührung miteinander schafft neue Wesen nicht nur, sondern enthält auch die Triebkräfte zur Förderung und Höherführung des persönlichen Lebens. Wenn diese Wunderkernchen übergehen in andere Organismen, so ist es ein mikroskopisches Ostern, ein Auferstehen, und mit dieser Anschauung nimmt es uns nicht wunder, daß die Zauber dieser milliardenfachen Neugeburten vom sinnenden Menschenauge immer an jenen verlassenen Schlupfwinkeln ahnungsvoll vermutet werden, wo viel Lebendiges dem Tode verfiel – Richtstätten, Schlachtfelder, Kirchhöfe; daß geglaubter Geisterspuk und wahrhaftige Verwesungsfluoreszenz an Stätten des Modems und Ausgelöstwerdens der Nukleingeister aus allen ihren Umhüllungen sich so eng zu Gespenstern in alten Schlössern, in Kirchen und Grabmonumenten zusammenschließen, bei denen oft in steinernen Gewölben die letzten Zündstoffe der Persönlichkeit unnötig lange dem harrenden Boden, der Scholle entzogen werden. – Woher denn stammt diese enorme Konstanz des Chinesentums mit seiner völlig nach innen gerichteten Kultur der Herzen, die viele Jahrtausende den Zeiten standgehalten hat, während rings Reiche mit internationalen Beziehungen der Reihe nach abtreten mußten von der Schaubühne der Erdgeschichte? Nun, vom ewigen Gleichmaß der Nahrung, in dessen Material geradezu die Denk- und Gesinnungsart ihrer Urväter rhythmisch aufgerollt, fixiert und infektionsfähig erhalten blieb. Eine internationale Ernährung ist ein biologischer Fehler. Die Nation bleibt gleichmäßig nur durch Ernährung durch die eigene Scholle, durch die Ganglienberührung mit immer verwandten Geisterfingerchen aus dem Bereich der versunkenen Zellen, welche einst auch einem Individuum angehörten und jetzt dem neuen, in den sie durch Nahrung hineingelangt sind, etwas mitgeben vom Streben und Ringen seines geschiedenen Volksgenossen. Für diese Anschauung weiß ich keinen besseren Ausdruck als ein Gedicht:

In dir zu ruhen, heil'ge Scholle,
Welch höhres Ziel könnt' dieses Leben krönen!
Wo Wälder ihre wundervolle
Weltklage in die Wolken stöhnen,
Wo Wogen still verrauschte
Urlieder singen, weltallabgelauschte.
Da, wo das Mosaik der eignen Zelle
Einst sich als Gold hebt aus der Bodenwelle,
Da, wo ich weiß, daß ich unsterblich bin,
In meiner Heimat legt mich Toten hin.
Da weiß ich ohne Kreuz und Marmormauern,
Wie meiner Kindheit liebvertraute Dinge,
Wald, See, der Blume und der Möwen Schwinge
Um ihres Bruders Erdenirrweg trauern!

Das ist es: der Zelle Mosaik erhebt sich einst als goldener Ähre Korn in die Welt und trägt den Zündstoff der Persönlichkeit zu den Brüdern der Nation. Wem das wieder einmal zu mystisch erscheint, der muß mir schon erklären, wie ein genau so kleines Körnchen, der Samenkopf des Mannes im Eichen des Weibes, die ganze Stammesgeschichte einer Ahnenreihe mit allen Talenten und Mißhelligkeiten neu eröffnen und entfachen kann und noch ein bißchen Neues dazu. Warum ist Zeugung und Wiedererzeugung überhaupt getrennt? Warum sollen nicht alle Zellen Ei sein können gegenüber dem mit der Nahrung überlieferten Anstoßkeim, warum sollen Ganglienzellen nicht geistige Befruchtung durch solche Zündstückchen eigenen Ätherwaltens erhalten können, wie eine Eizelle, die den ganzen neuen Menschen schafft? Kontaktinfektion, Einzwingen in denselben, Äthertanz, Rhythmus aller Rhythmen!

Darum sagen wir: die Nation ist eine Gemeinsamkeit von Menschen mit gleicher seelischer Organisation, die Genossenschaft einer gleichen Logik des Gefühls, eines gleichen Gebrauchs von Wortsymbolen und einer hohen Wahrscheinlichkeit gleichen Handelns unter gleichen Bedingungen. Das ist das Geheimnis des Wortes: »Nation ist Blutsgemeinschaft«, welches für uns, die wir wissen, welchen Einfluß die Säfte auf geistiges Geschehen und das Werden des »Ichs« haben, noch einen besonders überzeugenden Sinn erhält. Nationalität ist geistig eine Gleichrichtung der Phantasie, Welt und Dinge zu betrachten, auszudeuten und zu Motiven des Handelns umzudeuten. Wir sahen, daß beides seinen organisch-biologischen Grund hat in der Gemeinsamkeit autochthoner, schollengeborener Nahrungsquellen. Im Boden liegen die Geheimnisse der Vorfahrenseelen. Gemeinsame Geister der Vorzeit erzeugen durch Nahrung die Siegel ihrer Denkart bei den folgenden Generationen. In dieser Konstanz der Nahrung liegt die Wurzel zu den konstanten Formen der Nationangehörigen. Nationalität ist eine Stammesart in Reinkultur. Nicht nur bei Bakterien sind die Mischkulturen inkonstant und hoffnungslos. Alles Nationale ist Segen, alles Internationale wird früher oder später ein Gift der Nation (vielleicht nicht der »Menschheit«). Ein tiefsinniges chinesisches Sprichwort sagt:

Die Heimat stirbt auf Reisen!

Auch jeder Glaube, jeder Gott stirbt an fremden Göttern!

Das war auch der geheime Grund vielleicht dieses furchtbaren Krieges, daß er wie Hydraschlangenköpfe Nationen gegen Nationen zur Vernichtung aussendet: im Grunde können Nationen sich nicht verstehen. Ihre Phantasie ist verschieden gerichtet, ihr Gefühlsleben rollt in ganz anderen Kreiselfluten der Seele, ihre Wortsymbole entstammen ganz anderen Sinneseindrücken und haben daher ganz andere Nachahmungslaute, onomatopoetische Analogien. Darum ist auch kein Ausländer übersetzbar, es sei denn durch Umdichtung. In jedem nationalen Wort rauscht etwas von bodenständigen Wiesen und Wäldern. In Pinien ist ein anderes Lied als in Eichen, die See klagt anders vor Felsen als vor wolkenweißem Sand. Die an Naturvorgänge geknüpften geistigen Wendungen (Abstraktionen) haben ungleiche Quellen und andersfarbiges Stromwasser, die geistigen Register (Kategorien) sind anders orientiert. Über»setzen« ist eben ein Landen auf fremdem Strand, wo alles peinlich anders und ungewohnt ist. Da bricht dann plötzlich über den in die Fremde verschlagenen Sohn einer Nation, vielfach zurückgehalten von dem Vorwärtswillen in der Welt, von allem dem, was Verstand, Nutzen, Einsicht, Vernunft ihm eingehämmert hat mit fremdem Prägemetall, die Flut des Heimwehs über alle seine nach Schollengemeinsamkeit zitternden Zellensysteme und wird nie mehr ganz schweigen, überbraust vom Wollen der Welt auch in fremden Zonen; aber nun vielleicht in jener letzten Stunde der mechanisch erklärbaren Hellsicht über ein gelebtes Leben taucht es wieder mit Allgefühl empor wie ein Choral:

Wär' ich nie aus euch gegangen,
Wälder hoch und wunderbar!

Heimweh ist eben die Vereinsamung mitten in der letzten Grundes doch unverständlichen Fremde, es ist ein Massenüberfall der Fremdgeister über den Eingewanderten.

Ist einmal der Begriff des Nationalen auf diesem biologischen Wege gewonnen – warum müssen immer Juristen und nie Kenner des Lebens die Geschicke der Völker lenken? –, so ist es meiner Meinung nach nicht schwer, sondern zwingend, den Staat als den Erhalter der Nation zu definieren. Der Staat ist sicher kein biologischer Begriff in so engem Sinne, wie es die Nation ist, er ist eben sicherlich ein Produkt der Kultur. Obgleich man sich im allgemeinen auf das äußerste dagegen wehren muß, daß es überhaupt Dinge extra naturam geben könne, so muß doch trotz endgültiger Alleinherrschaft der Natur begrifflich streng zwischen primären und sekundären Bildungen im Reich des Lebens geschieden werden. Geradeso wie ein Schneckenhaus als ein sekundäres Erzeugnis der Schneckenhaut, die universell gegeben ist, da jedes Lebewesen seine Haut hat, betrachtet werden kann, welches aus der Natur des allgemeinen Hüllenbedürfnisses der Lebewesen herausentwickelt ist, genau so muß der Kulturstaat als ein sekundäres Naturgeschehen, wie alle Kultur, in einem gewissen Gegensatze zu einer Naturbedingtheit der Nation stehen. Es ist das genau so, wie das Verhältnis von Geist zu Natur, und kein Geringerer als Goethe hat immer wieder davor gewarnt, den Geist, die Vernunft, die Seele in irgendeiner Weise der Natur gegenüberzustellen als kardinale Wesens Verschiedenheit. Auch der bewußte Geist ist ein Naturereignis, wenn auch ein sekundäres, vom Betriebe der Zellen abgeleitetes, ein Apparat, wie wir sagten, wenn auch ein sekundärer, dessen naturgegebene Grundform die Teilseele einer Virchowschen Zelleinheit war; genau so ist der Staat der Geist der Nation, gleichsam aus biologischen Einheiten ein sekundär abgeleitetes geistiges Wesen. Der Staat ist der Intellekt der Nation, wie es der Geist der der Körpereinheit, der individuell gestempelte Zellrhythmus, ist. Er ist der Apparat der Nationalitätsempfindungen, wie der Geist der Apparat aller Zielstrebigkeiten eines geschlossenen Leibes ist. So dicht wir dieses Thema gestreift haben, es sei ferne von uns, uns hier in staatsphilosophische Betrachtungen zu verlieren, unser Thema ist ausschließlich dem »Ich«, dem Individuum, der Persönlichkeit, dem Charakter seiner Stellung im Begriffszwange des Staates anzuweisen. Der Staat ist eine Methode des Nationalitätenwillens, und hier tritt die Frage in ihr volles Recht, wie hat sich der Einzelwille zu diesem Gesamtwillen zu stellen? Die Antwort ist einfach: in Opferbereitschaft. Unser ganzes schnelles Leben ist am Ende überhaupt ein langsamer Opfertod gewesen für alles, was wir geliebt, erstrebt, erhofft haben. Hingabe an eine Idee ist Leben und Freiheit allein, und Christus' Opfertod ein Symbol eines mit überirdischen Kräften ausgestatteten Gottes, der menschlich wird und stirbt – aus Liebe. Gab es je, auch rein dichterisch, eine vollendetere Paraphrase vom Sinn des Lebens, als seine Leidensgeschichte, gibt es Vorbildlicheres in der ganzen Historie der Menschheit? Trifft irgend etwas sicherer die Bestimmung der Kreatur, von der Algenzelle bis zum Menschen, als dieses Offenbarungsgedicht eines Schuldlosen? Es ist gerade für den Biologen, den vermeintlichen Kenner aller geheimen Lebensgesetze, geradezu überwältigend, wie hier der Trieb der letzten Lebenseinheiten zum Wohle des Ganzen in Wahlmöglichkeit des »Ichs« zum Über-«Ich« stets das Opfer voranzustellen, eine Verherrlichung des ganzen Naturwillens offenbart, daß unser Wille uns nicht allein gehört, sondern einzumünden hat in den Strom des nur ahnbaren, unerkannten Willens des Ganzen. So ist die Stellung des Individuums zum Ganzen der Familie, des Staates, der Menschheit gegeben! Das zahllose Heer der Einzelwesen, den Sinn der Individualitäten, treibt mutvolles, bewußtes Einmünden in den Strom zur Höhe!


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