Johannes Schlaf
Papa Hamlet
Johannes Schlaf

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Ein Dachstubenidyll

Novellistische Skizze von Johannes Schlaf

Frau Aurora Wachtel ist Witwe, und da ihr verstorbener Mann, ein braver Handwerker, ihr nur ein sehr winziges Vermögen hinterließ, so muß sie sich recht und schlecht mit dem Mietzins in der unvernünftig großen Weltstadt durchhelfen, den ihr die drei Mansardenzimmer einbringen.

Frau Aurora Wachtel ist eine kleine, runde Frau von sehr lebhaftem Temperament. Sie ist erstaunlich gutmütig; eigentlich für eine Großstädterin zu gutmütig. Man kann sie zu Tränen rühren, ohne eben erheblich viel Mühe hierauf zu verwenden. Sie besitzt ferner die Eigentümlichkeit, bei jedem nur entfernt schicklichen Anlasse, ihren Mietern, oder wessen sie sonst habhaft werden kann, von ihrer verstorbenen Tochter zu erzählen, die ein Ausbund aller möglichen Tugenden gewesen ist. Wenigstens hat noch niemand, dem sie unter strömenden Tränen mit einer erstaunlichen Kraft der Beredsamkeit davon erzählte, daran zu zweifeln vermocht ...

Frau Aurora Wachtel pflegt bei solchen Gelegenheiten hinzuzufügen, daß der Gram um die Verblichene sie noch töten werde, und da meist ihre Zuhörer angesichts der nicht unbeträchtlichen Korpulenz der Frau Wachtel eine derartige Befürchtung für unbegründet halten, pflegt sie dann noch einen Vergleich zwischen ihren einstigen geistigen und körperlichen Vorzügen und der damaligen Dekadenz derselben zu ziehen...

Die gute Frau Wachtel besitzt ferner die für eine Großstädterin gleichfalls etwas bedenkliche Eigentümlichkeit, »das Herz auf der Zunge zu tragen«. Die etwaigen nachteiligen Folgen derselben werden aber durch eine weitere ausgeglichen: trotz ihrer anerkannten Gutmütigkeit kann nämlich Frau Wachtel eine unglaubliche Energie entwickeln und bei dieser Gelegenheit »etwas gerade heraus sein«. Ja, es ist sogar vorgekommen, daß sie einen »meschanten« Mieter einmal eigenhändig aus einem der oben erwähnten Zimmer und dann auch noch die erste der vier Treppen, die zu ihrer Wohnung führen, hinabbefördert hat... Sonst ist sie jedoch die vortrefflichste, aufmerksamste Wirtin von der Welt, und wenn einige die Wache, die sie von ihrer Küche aus, in der sie sich mit einer kleinen Pflegetochter behilft, über die Hausordnung hält, allzu streng finden und daher obige vortreffliche Eigenschaften der Frau Wachtel in Zweifel ziehen, so hat man Ursache, darauf nicht viel Gewicht zu legen ...

Zu der Zeit, wo diese Erzählung spielt, wurden die drei Dachstubenzimmer von folgenden Mietern bewohnt.

In einer einfenstrigen, schmalen Kammer hauste ein Student, der bei Frau Wachtel im Geruche außergewöhnlicher Solidität stand. Sie ließ sich in dieser guten Meinung auch nicht durch Einwendungen eines jungen Malers, eines anderen Mieters, irremachen, die sich übrigens daraus erklärten, daß sie den »Herrn Kandidaten« dem jungen Künstler mit großem Freimut als ein nachahmenswertes Beispiel hinstellte, wozu sie sich bei dem allerdings etwas freien Lebenswandel dieses jungen Mannes berechtigt glaubte ...

Der Maler pflegte zu behaupten, daß jener musterhafte Lebenswandel sich leicht mit den »hohen Semestern« jenes Herrn erklären lasse. Im übrigen habe er Beispiele, daß es mit demselben nicht »so weit her sei«. Das macht aber um so weniger Eindruck auf Frau Wachtel, als der »Herr Kandidat« mit rühmlichster Geduld und achtungsvollster Rührung sich die Vorzüge der verstorbenen Tochter, sooft es Frau Wachtel beliebt, darlegen läßt und für deren Trauer das edelste Mitgefühl zeigt...

Ein größeres, zweifenstriges Zimmer bewohnt der erwähnte Maler. Er ist ein junger Mann von zweiundzwanzig Jahren, hat eine sehr kleine Gestalt, aber um so längere Haare und einen ebenso langen Namen, der seine Ausdehnung der beigefügten Bezeichnung des Geburtsortes dieses jungen Mannes verdankt. Er heißt Müller-Königsberg. Frau Wachtel erklärt ihn für einen zwar gutmütigen, aber außerordentlich leichtsinnigen Menschen, da er den Grundsatz hat, nie vor Mitternacht nach Hause zu kommen, und außerdem häufig Damenbesuche erhält. Es ist ihm noch nicht geglückt, die Notwendigkeit dieser Besuche – die Damen sind Modelle – Frau Wachtel klarzumachen. Da nämlich außer ein paar unschuldigen, unvollendeten Landschaften, die in diesem Zustande schon geraume Zeit auf ihren Staffeleien stehen, keine sonstigen Spuren seines Fleißes zu bemerken sind, glaubt sich Frau Wachtel zu einigen allerdings wohl unbegründeten Zweifeln berechtigt ... Für die »geniale« Unordnung, die in seinem Zimmer herrscht, hat Frau Wachtel nicht das mindeste Verständnis. Wennschon sie nämlich als »alte Frau« mit verschiedenen der zahlreichen Studien, die rings umherhängen und sich nicht im mindesten vor der braven Frau Wachtel genieren, mit ihrer absoluten klassischen Nacktheit Nachsicht hat, so ist sie doch darüber untröstlich, daß dieser »infame Plunder« ihr schönes Zimmer so lästerlich verunziere... Außer diesen Studien rechnen übrigens zu diesem »infamen Plunder« einige trockene Palmzweige, japanische Fächer und Schirme, alte Waffen, Kostümstücke, Fischernetze, ausgestopfte Vögel, Paletten, Staffeleien, leere und volle Farbenhülsen, Aktphotogramme, Skizzenbücher usw., welche mit bunter Mannigfaltigkeit in allen Winkeln und Winkelchen des Zimmers herumliegen.

Diese »geniale« Unordnung pflegt aber den erdenklich höchsten Grad zu erreichen nach den häufigen Besuchen der Studien- und Gesinnungsgenossen dieses geselligen jungen Mannes. Man sagt diesem übrigens nach, daß er mit seinen nicht uninteressanten Gesichtszügen und seinem künstlerisch-nachlässigen Exterieur bei den Damen sehr gern gesehen sei.

Das dritte, kleinere Zimmer bewohnt ein junger Schauspieler und seine Frau, die mit ihren deklamatorischen Übungen den »Herrn Kandidaten« oft zur Verzweiflung bringen. Herr Kraft und seine Gemahlin waren augenblicklich ohne Stellung und daher ziemlich mittellos, ein Umstand, der aber ihre gute Laune nicht erheblich zu beeinträchtigen vermochte ...

Mit unserem Maler war dieses liebenswürdige Ehepaar bald bekannt geworden, vermöge der geselligen Tugenden, die beiden Teilen gemeinsam waren ... Der »Herr Kandidat« war der Gegenstand fortwährender kleiner Intrigen, die jedoch ihre Wirkung gänzlich verfehlten und jenen nicht im geringsten vermochten, aus seiner Reserve herauszugehen.

Frau Kraft war guter Hoffnung, und es stand seit einiger Zeit ein Sprößling zu erwarten.

Als unser Maler daher eines Morgens zu einer seinen Grundsätzen – wenn man berechtigt ist, ihm derartige nützliche Besitztümer zuzumuten – gemäßen Stunde nach Hause kam, hörte er im Zimmer seiner Nachbarn Schmerzensrufe, über deren Ursache ihn das beruhigende Zureden einer Frauensperson belehrte. Jene Schmerzensrufe dauerten ungefähr zwei Stunden, nach welcher Frist sie aufhörten und der junge Künstler einen kurzen zitternden Schrei vernahm ...

Obgleich zwar bei der oben gekennzeichneten äußeren Lage des Ehepaares eigentlich der kleine Ankömmling, den ich übrigens den geehrten Lesern als den Helden dieser Erzählung vorstelle, ziemlich überflüssig war, genierte er sich doch nicht im mindesten, aus dem selig-unbewußten Stilleben seines bisherigen Zustandes in die Welt des Bewußtseins einzutreten. Ja, und es muß gesagt werden, daß der Schrei, mit dem der neugierige kleine Patron das dürftige Dachzimmer, das der Schauplatz seiner jungen Leiden werden sollte, begrüßte, daß die Art, wie er seine Ichheit jedem, der es hören wollte, ad aures demonstrierte, von nicht gewöhnlicher Lebenskraft zeugte. Diese Kraft würde vielleicht jeden anderen Menschen, der sich in der zweifelhaften Lage des Vaters unseres Helden befunden hätte, mit einiger entschuldbarer Besorgnis erfüllt haben, aber dieser trat auf das Zeichen, das die Hebeamme gegeben hatte, mit unsrer Frau Wachtel mit der freudigen, unbefangenen Neugier eines Kindes, das zur Weihnachtsbescherung gerufen wird, in das armselige Zimmerchen... Er nahm seinen Sprößling, nachdem ihn die Hebeamme sauber in Windel und Wickel geschnürt hatte, auf beide Arme, betrachtete ihn mit freudestrahlendem Gesicht und fragte, während er das Kind auf und ab wiegte:

»Ein Sohn?«

»Jawohl, ein Sohn, Herr Kraft!« antwortete die Hebeamme, die bereits im Begriff stand, sich zu entfernen.

»Sagte ich's nicht? Sagte ich's nicht?« wandte er sich zu seiner Frau, indem er über und über vor Vergnügen errötete, den Arm ausstreckte und den Zeigefinger auf und ab wippte wie ein vergnügtes Kind.

»Sagte ich's nicht, Helene? Ein Junge!«

Seine Frau verlangte mit schwacher Stimme nach dem Kinde, und er trug es ihr tänzelnd zum Bett und beugte sich mit ihm zu ihr herab.

»Da sieh mal! He! Ein strammer Bursche! Und ist er mir nicht wie aus den Augen geschnitten? He, Frau Wachtel? Sehen Sie! Urteilen Sie selbst! Ganz der Vater! Ohne Widerrede, Helene! Ganz der Vater! Ohne Widerrede, Helene! Ganz der Vater! 's ist gar kein Zweifel!«

Hierauf schickte er sich an, ein Tänzchen mit dem Kleinen in der Fülle seiner Vaterfreude das Zimmer auf und ab zu unternehmen, wogegen aber Frau Wachtel ganz energisch Protest einlegte mit dem triftigen Grunde, daß das Kind und die Mutter jetzt »absolut« Ruhe haben müßten. Der glückliche Vater konnte sich dem nicht verschließen und begab sich zu dem Bette seiner Frau, um sich mit ebenso großer Zärtlichkeit wie Umständlichkeit nach dem Befinden derselben zu erkundigen. Auch hiergegen legte aber die umsichtige Frau Wachtel Protest ein. Sie drängte ihn nicht eben sanft vom Bette hinweg, legte den Neugeborenen an der Seite der Mutter nieder und zog sich dann still in ihre Küche zurück, während Herr Kraft sich auf sein lederüberzogenes Schlafsofa warf und bald sanft und selig mit einem glückseligen Lächeln entschlummerte ...

 

Herr Kraft hatte an verschiedenen Provinzialbühnen Süddeutschlands, bedeutendere, wie er behauptete, die ersten Liebhaberrollen, wie er gleichfalls behauptete, mit großem Erfolge gespielt. Auf die nicht unberechtigte Frage, warum er so ungemein günstige Stellungen aufgegeben habe, pflegte er zu erwidern, daß er eines größeren Feldes für die volle Entfaltung seines Talentes bedürfe und deshalb sich nach der Hauptstadt begeben habe. Obgleich er nun vorläufig »auf dem Pfropfen sitze« –so drückte er sich aus –, so könne es doch gar nicht fehlen, daß er nächstens ein seinen Talenten entsprechendes Engagement bekommen werde. Man habe ihm auch bereits verschiedene Anerbietungen gemacht, und zwar seitens nicht unbedeutender Bühnen; doch sie hätten ihm noch nicht genügen können.

Vor der Hand wußte er und seine Frau, die ein unerschütterliches Vertrauen auf die Talente ihres Mannes setzte, allerdings kaum, wovon leben. Er mußte sich auf die etwas zweifelhafte Güte und Opferwilligkeit seiner Schwiegermutter verlassen und sah sich im übrigen genötigt, ein Stück seiner Garderobe und der seiner Frau, einer Soubrette, nach dem anderen zum Leihhaus zu tragen. Trotzdem brachte er – da seine Garderobe bereits sehr mangelhaft war – fast den ganzen Tag auf dem Zimmer zu, wiegte sich auf den Lorbeeren künftiger, großartiger Erfolge und deklamierte; der »Herr Kandidat« behauptete, in sehr mangelhafter Weise; der Mann könne nur ganz untergeordnete Rollen gespielt haben. Man weiß nun freilich nicht, inwieweit man dem »Herrn Kandidaten« hier beipflichten kann...

Abwechslung in dieses Stilleben hatte, soweit man ihrer bedurfte, zuerst Herr Müller-Königsberg gebracht. Da aber dieser junge, hoffnungsreiche Künstler den größten Teil des Tages meist außer Haus zubrachte, wenn er vormittags gegen zwölf Uhr sich entschlossen hatte, das Bett zu verlassen, so kam doch Herrn Kraft die Ankunft seines Sohnes sehr erwünscht, und wir werden bald sehen, welche Abwechslung dieses junge Menschenkind in die bisher etwas monotone Häuslichkeit des Schauspielerpaares brachte ...

Zunächst zeigte sich die gute Frau Wachtel in der ganzen Glorie ihrer Gutherzigkeit. Sie brachte der Wöchnerin unentgeltliche Wochensuppen und gab sich, neben dem Bette sitzend und ihr gutmütiges Vollmondgesicht gedankenvoll stützend, den Erinnerungen an ihre verstorbene Tochter hin, wobei sie die bittersten Tränen weinte, während die Wöchnerin, die von der Suppe aß, zwischen dem Essen von Zeit zu Zeit bedauernde oder tröstende Interjektionen dazwischenwarf ... Für den Kleinen zeigte Frau Wachtel die mütterlichste Sorgfalt, obgleich bei gewissen natürlichen Eigentümlichkeiten, die der hilflose Zustand in diesem Lebensalter mit sich bringt, immerhin gewisse Selbstüberwindung hierzu nötig war ...

Der junge Künstler war bald nach der Geburt des Kleinen mit diesem bekannt gemacht worden. Als er seine Nachbarn besuchte, fand er sie in folgender Situation. Die Mutter saß im Negligé auf einem Fußschemel vor einem Stuhle und hielt den geöffneten Mund über einen irdenen Topf, um den Brodem, der aus demselben aufstieg, einzuatmen. Sie litt nämlich schon lange an einer hartnäckigen Heiserkeit und suchte auf die angedeutete Weise derselben Herr zu werden. Sie sah noch sehr bleich und angegriffen aus, wozu auch der Umstand beitrug, daß sie bei der gegenwärtigen Lage ihres Mannes keine hinreichend kräftige Nahrung zu sich nehmen konnte. Herr Kraft saß auf einem mit Glanzleder überzogenen Schlafsofa und war beschäftigt, »seinen Jungen« aus einer mit einem Gummischlauch versehenen Flasche zu tränken.

»Ich sage dir, Helene ...«

Hier wurde er durch das Eintreten des jungen Malers unterbrochen.

»Ah, Herr Müller! Sehen Sie, sehen Sie, lieber Herr Müller! Ein Junge, und was für ein Junge!«

Er erhob sich und hielt den Kleinen, dem die Unterbrechung seiner angenehmen Tätigkeit nicht zusagte und der deshalb in ein heftiges Zetergeschrei ausbrach, Herrn Müller entgegen. Dieser, welcher die Eigenheit hatte, Kinder dieses Alters auf das heftigste zu verabscheuen, machte ein sauer-süßes Gesicht und tippte mit der äußersten Spitze seines Zeigefingers einigemal auf das Händchen des kleinen Kerls, wobei er sagte:

»Wirklich! Ein allerliebster Bursche! Gratuliere! Ein reizender Kerl! Hm! He! He! Du!«

Während er den kleinen Mann in dieser Weise liebkoste, trat ihm der Schweiß auf die Stirn.

»Nicht wahr?« rief der glückliche Vater.

»Und ist er mir nicht wie aus den Augen geschnitten? Sagen Sie selbst, lieber Herr Müller!«

»Gewiß!«

»Siehst du, Helene? Jeder sagt's! Sie will's nicht glauben!«

»So gib doch aber lieber dem armen Wurm zu trinken!« rief die Angeredete mit ihrer heiseren Stimme herüber, ohne ihre Stellung zu verändern. »Es schreit sich ja noch zu Tode!«

Diese Mahnung war allerdings berechtigt, denn wenn unser kleiner Held jetzt eine Pause machte, so geschah dies deshalb, weil ihm vor gänzlicher Ermattung die Stimme versagte.

»Sage das nicht, Helene! Ich habe von Ärzten erster Autorität gehört, daß Kindern nichts zuträglicher ist als Schreien, tüchtiges Schreien!«

»Ach! Gar ...« antwortete Helene.

»Gewiß! Helene! Gar kein Zweifel! Das weitet die Lungen!«

»Na ja, aber das Kind muß doch Trinken haben. Es kann doch nicht verhungern!«

»Das muß es! Allerdings, das muß es!« antwortete Herr Kraft, während er sich wieder setzte und dem Kleinen die Flasche in den schnappenden Mund steckte und aufmerksam darauf achtete, daß sie ihm nicht entrutsche.

»Allerdings muß das Kind Trinken haben, Helene! Aber ich sage dir nochmals« – er hatte es ihr bereits vor Eintreten des jungen Malers gesagt, der mit den Händen in den Beinkleidern an der Tür lehnte und ziemlich stumpfsinnig zusah, wie der Kleine trank – »ich sage dir nochmals, daß diese Methode eine ganz verkehrte ist!«

»Aber...«

»Verlaß dich darauf! Eine verkehrte! Sage ich! Denn ich frage: ist sie natürlich?«

»Aber Alfred!«

»Herr Müller!« wandte er sich erregt an diesen jungen Mann. »Sagen Sie, Herr Müller! Ist es unnatürlich, Kinder aus der Flasche zu tränken?«

Unser kleiner Held bekam wieder Gelegenheit, seine Lungen zu weiten ...

»Jenun!...« machte Herr Müller-Königsberg, der sich in dieser Frage nicht das nötige Sachverständnis zutraute.

»Siehst du, Helene? Natürlich! Kein Zweifel: es ist unnatürlich! Du solltest das Kind selbst stillen, Helene!«

»Aber, wie kann ich denn!«

»Ach, das ist Einbildung! Ich, Helene! Ich sage dir, du bist gesund! Kerngesund!«

»Schön gesund! Bei meiner schwachen Brust!«

»Na, was sollen denn aber die Negerweiber machen? Die haben die einzig richtige Methode! Ich habe gelesen, in anerkannt authentischen, berühmten Berichten gelesen, daß ihnen ein Busch zum Wochenbett genügt! Und dann: wo sollten sie denn Flaschen mit Gummischläuchen herbekommen?«

Herr Müller-Königsberg lachte, und Herr Kraft, in der Meinung, er habe unbewußt einen Witz gemacht, stimmte ein.

»Aber ich bin doch nun kein Negerweib, Alfred!«

»Du mußt mich recht verstehen!« Herr Kraft nahm einen väterlich belehrenden Ton an. »Das war ja nur ein Beispiel! Wenn du bedenkst, wie gut Negerkindern diese Methode im allgemeinen zu bekommen pflegt, so mußt du mir zugestehen, daß die natürliche Methode, nach der man Kinder selbst stillt, die beste ist! Und ich halte es nicht für unter der Würde eines zivilisierten Menschen, selbst von einem Neger zu lernen, wenn man davon Vorteil hat, Helene!«

Herr Müller-Königsberg, der die Stubenluft – die Fenster wurden hier fast gar nicht geöffnet, denn es war Winter, und man mußte die Feuerung schonen – mit der Zeit unerträglich fand und bei dem fortgesetzten Zetergeschrei des Kleinen für sein Trommelfell fürchtete, hielt es für gut, sich zu verabschieden.

»So hör doch aber auf, Alfred! Um Gottes willen! Das Jör schreit sich ja zu Tode! Gib ihm doch zu trinken! Aber laß nur!« Sie erhob sich und ergriff unseren kleinen Helden. »Gib! Ich gebe ihm selbst!« Von jetzt ab war allerdings dem Kleinen die Gelegenheit zu jener heilsamen Lungengymnastik genommen. Er ließ es sich aber nicht verdrießen, sog eifrig an dem Gummischlauch und entschlummerte dann.

»Nein, Helene! Ich bleibe dabei, daß es dem Kinde zuträglicher wäre«, setzte Herr Kraft das Gespräch fort, während er, die Hände auf dem Rücken, auf und ab ging. Er suchte darauf mit ebensoviel wissenschaftlicher Sachkenntnis wie Phantasie seiner Gattin klarzumachen, welche höchst gefährliche chemische Vorgänge der Gummi im Munde des Kleinen notwendig hervorrufen müsse, und wiederholte dann noch einmal mit besonderem Nachdruck seine Behauptung.

»Das ist ja alles richtig, Alfred! Aber es ist doch besser, wenn das Kind gesunde, kräftige Milch bekommt, als daß ich es selbst stille, bei meiner schwachen Brust!«

»Nun, wenn du denkst, es verantworten zu können, Helene!«

Helene verlor ihre Geduld, und das wollte eigentlich etwas sagen, da sie von Natur sehr zum Phlegma neigte.

»Na, wenn man auch nichts Ordentliches zu essen hat!? Heute und gestern haben wir zu Mittag nur Kaffee mit Butterbrot gehabt! Davon kann doch das Kind nicht zu Kräften kommen?«

»Willst du mir einen Vorwurf daraus machen? Helene! Du!...«

»Na! Schließlich bin ich wohl an unsrem Malheur schuld?«

»Weib!!!...«

Herr Kraft ballte die Fäuste, indem er in höchst besorgniserregender Weise die Augen rollte und sein langes, prächtiges Künstlerhaar sich sträubte, und nahm eine äußerst aggressive Haltung ein, so daß es Helene für nötig hielt, die Vorwürfe, die sie ihm machte, mit einem lauten Schluchzen zu begleiten, das jedenfalls an das Mitleid ihres erzürnten Gatten appellieren sollte ... Nachdem dieses Gespräch eine gewisse tragische Höhe erreicht hatte, nahm es dicht vor einer gewiß höchst furchtbaren Katastrophe noch eine glückliche Wendung zum Guten. Die Versöhnung wurde geschlossen, indem Herr Kraft seine schluchzende Gemahlin an seine Ersteliebhaberbrust drückte und sie sein »liebes, teures Weib« nannte. Nachdem er es ihr von neuem mit überzeugender Beredsamkeit zur unzweifelhaften Gewißheit gemacht hatte, daß nächstens ihre Lage eine äußerst günstige sein werde, wusch Helene Windeln, und Alfred deklamierte aus einem höchst interessanten Buch, das »Humor vor Gericht« betitelt war ...

 

So gingen zwei Monate hin, während welcher Zeit unser kleiner Held täglich der Gegenstand weitläufiger Erörterungen zwischen den beiden Ehegatten war, da diese immer noch untätig auf ihrem Zimmer auf die günstige Wendung ihres Geschickes warteten und doch notwendig die Zeit bis dahin auf eine möglichst zerstreuende Weise ausfüllen mußten ... Er hatte hinreichend Gelegenheit, jene oben erwähnte Lungengymnastik zu üben. Da hinsichtlich seiner Behandlung die Ansichten seiner Eltern auseinandergingen, so wurde, weil einer den anderen von der Vortrefflichkeit seiner Methode überzeugen wollte, unser Held der Gegenstand verschiedentlicher Experimente, die aber auf sein körperliches Befinden keinen anderen nennenswerten Erfolg hatten, als daß er sich einige Male den Magen verdarb. Auch die Kurmethoden wußte unser Held, der angesichts aller dieser Tatsachen wohl mit Recht die Bezeichnung verdient, standhaft zu überdauern.

Je älter er wurde, um so vielseitiger nahm er das Interesse seines Vaters in Anspruch. Eines Tages erklärte dieser, als unser Held einmal wieder Gelegenheit hatte, seine Lunge zu weiten, was übrigens den ganzen Tag über der Fall war, in einer für seine körperliche Entwickelung gewiß vorteilhaften Weise:

»Helene! der Junge hat einen störrischen Charakter!«

»Ach!« sagte diese, die an einem Butterbrot kaute und dazwischen Kaffee trank. Sie war im Negligé wie meist, obgleich es Nachmittag war, denn sie hielt es für überflüssig, Toilette zu machen, da man ja doch nicht ausgehe und man sich vor den etwaigen Besuchen nicht zu genieren brauche. Dem stimmte auch Herr Kraft bei, der, in Hemdärmeln, seiner Gewohnheit gemäß auf und ab promenierte. In dem Zimmer herrschte aus einem ähnlichen Prinzip eine »unverantwortliche Unsauberkeit«. Letzteres ist ein Ausdruck der Frau Wachtel ...

»Du kannst dich darauf verlassen, Helene! Er hat einen störrischen Charakter!«

»Na, er ist ja aber doch noch viel zu klein! Das kann man doch wohl noch gar nicht sehen!« wagte Helene schüchtern einzuwenden.

»Glaube das nicht, Helene! Dafür ist er mein Junge! Er ist so schlau und entwickelt wie ein einjähriges Kind. Verlaß dich darauf! Hast du nicht bemerkt, wie klug er mich anblickt, wenn ich mit ihm spreche? Paß mal auf!«

»Willst du wohl still sein!!?« brüllte er das Kind an, welches, durch das entsetzenerregende Gesicht seines Papas verblüfft, stillschwieg.

»Siehst du? Er versteht mich! Aber er ist störrisch! Siehst du, da fängt er schon wieder an!«

Gott mag wissen, warum unser Held schrie. Befand er sich doch noch nicht in der glücklichen Lage, seinen Wünschen Ausdruck geben zu können. War er krank? Hatte er ein Bedürfnis nach Liebe? Sehnte er sich nach einem Zwiegespräch, wie es nur eine Mutter in dieser Lebensperiode mit uns zu halten versteht, die jeden unserer Wünsche, jede Lebens- und Gefühlsregung vermöge der Allmacht ihrer Liebe zu verstehen vermag?... Vermißte er das alles? Wer mag in so eine kleine Seele blicken? ...

»Er ist, wie gesagt, eigensinnig! Wir müssen ernstlich daran denken, ihn zu erziehen!« »Ach, lieber Gott! Das arme Wurm versteht ja noch nichts!« murmelte Helene ungefähr. Da sie kaute, konnte man es nicht recht verstehen.

»Glaube das nicht! Man kann nicht früh genug mit der Erziehung beginnen. Man hat Beispiele gehabt, daß Kinder von vier Jahren Latein lernten, und mein Junge wird das einst auch unzweifelhaft können!«

Von jetzt an gab sich Herr Kraft die löblichste Mühe, gegen die Spuren der Erbsünde bei unserem Helden anzukämpfen nach dem Grundsatz: wer sein Kind liebhat, der züchtiget es! ... Hierbei wurde freilich das Übel nicht gehoben, sondern vielmehr in einer Weise gesteigert, daß der Friede mit der Nachbarschaft oft höchst bedenklich gestört wurde ... Der »Herr Kandidat« setzte daher eine Verschwörung mit Frau Wachtel ins Werk und veranlaßte dieselbe, dem väterlichen Erziehungseifer Einhalt zu tun, was aber keinen besonderen Erfolg hatte, da Herr Kraft mit edler Entrüstung äußerte: er werde nie einen Einspruch in seine heiligsten väterlichen Rechte und Pflichten dulden ...

Trotzdem vergaß Helene eines Tages so weit ihre mütterlichen Rücksichten, daß sie, die hohe Bewunderung vor ihrem Mann und ihr natürliches Phlegma ganz außer acht lassend, dem »heiligen« Eifer Alfreds dadurch Einhalt gebot, daß sie ihm eine kräftige Ohrfeige verabreichte ...

Diese unerhörte Tat hatte einen hochtragischen Auftritt zur Folge. Er endete damit, daß Herr Kraft seinen Mantel umhing und sich bei allen beschwörbaren Personen und Gegenständen des Himmels und der Erde hoch und teuer verschwor, die »verruchte Frevlerin« auf »ewig« zu verlassen. Da dieselbe aber über einen so furchtbaren Entschluß auf das tiefste bestürzt zur Besinnung kam und kniefällig seine Verzeihung erflehte, ließ er sich endlich, endlich erweichen, nicht um ihretwillen, sondern seines »unglücklichen, verwaisten Kindes« willen ... Immerhin hatte dieser Auftritt zur Folge, daß ein Körperteil unseres Helden, der die erziehenden Absichten Herrn Krafts vor allem erfuhr, die Spuren derselben allmählich überwinden konnte ...

 

Unterdessen war für unseren Helden ein bedeutungsvoller Tag herangekommen, nämlich der seiner Taufe. Derselbe sollte mit aller Förmlichkeit festlich begangen werden. Zu dem Zwecke hatte Herr Kraft eine Einladung an den jungen Künstler, an ein diesem und ihm und seiner Frau bekanntes »Modell« und an eine seiner Schwestern ergehen lassen, welche drei Personen zugleich Patenstelle vertreten sollten.

Allseitig wurden nun zu diesem wichtigen Tage die weitgehendsten Vorbereitungen getroffen.

Herr Kraft entschloß sich, einen Pelzmantel, das letzte, kostbarste Stück seiner Garderobe, das bis jetzt allen Stürmen getrotzt hatte, zum Leihhaus zu tragen, und Helene überwand sich dazu, einmal Toilette zu machen und auszugehen, um die notwendigen und angemessenen Einkäufe zu besorgen.

Als der Festtag angekommen war, trafen die Geladenen zur bestimmten Stunde ein. Herr Müller- Königsberg hatte einen alten, bereits etwas mitgenommenen, einstmals schwarzen Gesellschaftsanzug aufgetrieben und äußerst sinnreich vermittelst Restitutionsschwärze und chinesischer Tusche repariert, so daß er höchst würdevoll auftrat und, als er mit dem Humor, der ihm zu eigen war, seine Künste offenbarte, allseitig Komplimente erntete ... Das »Modell«, eine junge, sehr gesellige und liebenswürdige Dame, erschien in tadelloser Toilette.

Helene hatte sich mit einem alten, schwarzen Seidenkleide herausgeputzt. Die Schwester, eine Näherin, die sich gleich von Anfang sehr reservierte, erschien gleichfalls in angemessener Weise; freilich verriet ihre Toilette der des »Modells« gegenüber entschieden einen Mangel an Phantasie ... Unser kleiner Held, der von der liebenswürdigen jungen Dame sofort auf das zärtlichste geliebkost wurde, so daß er vor gänzlichem Erstaunen über eine so ungewohnte Behandlung ganz seine »Störrigkeit« vergaß und das liebenswürdige junge Wesen mit weitaufgerissenen Augen anstarrte und dann wieder anlächelte: unser kleiner Held wurde mit seinem schmächtigen Körperchen in ein weißes Wickelbettchen geschnürt und mit einem Zwirnhäubchen, das mit einer rosafarbenen Schleife geziert war, geputzt. Man begab sich, nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, zur Kirche ...

Der Nachmittag und Abend wurde dank dem Pelzrocke in heiterster Stimmung verbracht. Nach einem kleinen Mahl machte man sich's bei Kaffee und Kuchen und sodann nach einem umfangreicheren Abendessen bei Bier und Zigarren bequem. Herr Müller saß auf dem Ledersofa, neben ihm die liebenswürdige Patin, welche den Kleinen, der heute sich sehr still verhielt und die Patin fortwährend anlächelte – er war einmal so recht glücklich –, auf dem Arm hatte und ihn fortwährend liebkoste.

Die Unterhaltung wurde bald eine sehr lebhafte. Der Maler wußte von einem Kollegen, der mit dem körperlichen Gebrechen des Schielens behaftet und durch dasselbe einst in eine unangenehme Affäre verwickelt war, mit glücklichstem Humor zu erzählen. Derselbe war nämlich in einer kleineren Gesellschaft mit seinem Nachbar in Streit geraten. Da es jedoch bei jenem unglückseligen Gebrechen den Anschein hatte, als wenn die Insulten, die besagtem Nachbar galten, an dessen Nachbarn gerichtet wären, welchen er zu fixieren schien, so entspann sich ein Streit um diesem, und da hier eine gleiche Verwechslung stattfand, kam er mit der ganzen Tafelrunde in Streit und schließlich auch glücklich mit jenem unschuldigen Urheber dieser erregten Auseinandersetzungen ... Da der junge Mann dieses interessante Ereignis durch Pantomimen sehr anschaulich zu machen wußte, versetzte er seine Zuhörer in den Zustand lebhaften Entzückens...

Hierauf bewies Herr Kraft haarklein, daß er ein ungemein schöner Mann auf der Bühne sei, und gab dann aus dem reichen Schatze seiner Erlebnisse eines um das andere zum besten, und jedes war geeignet, die persönlichen Vorzüge unseres ersten Liebhabers in das denkbar günstigste Licht zu stellen ... Die Stimmung wurde immer freier, und als Herr Müller, der sich neben allen anderen seinen vortrefflichen Eigenschaften des Besitzes einer vorzüglichen Baßstimme erfreute, ein Lied anzustimmen begann, stimmte die ganze Gesellschaft ein außer der Schwester, welche den Augenblick für günstig hielt, sich zu entfernen. – Das »Modell«, dessen Zärtlichkeit allmählich erkaltet war, hatte unseren Helden beiseite gebracht und zündete sich mit Helene, die heute merkwürdig ausgelassen war, Zigaretten an, deren Rauch sie mit koketter Grazie in blauen, zierlichen Ringeln gegen die Zimmerdecke hauchte. Herr Müller-Königsberg fand sie bei dieser Beschäftigung so hinreißend liebenswürdig, daß er sie sein »allerliebstes, kleines Schafchen« nannte und einen Kuß von ihren roten, runden Lippen raubte; hierfür schalt sie ihn aus, ohne ihn jedoch erheblich zu entmutigen. Unser Ehepaar, das diese Vorgänge sehr amüsant fand, brach in ein herzliches Gelächter aus...

Der Umstand, daß das enge Zimmer in einen dichten Nebel von Tabaksqualm gehüllt war, vermochte die allgemeine fröhliche Stimmung nicht zu beeinträchtigen. Als das »Modell« einmal Bedenken äußerte wegen dem Kleinen, meinte der Papa: das tue nichts, er sei das gewöhnt; und das hätte eigentlich wohl auch der Fall sein können, da dergleichen Zusammenkünfte auch sonst zuweilen hier in gleicher Weise stattfanden, sobald irgendein günstiger Zufall einiges Geld ins Haus gebracht hatte, denn Herr und Frau Kraft waren von jeher sehr freigebig gewesen ... Man trennte sich ziemlich spät in der vortrefflichsten Laune. Die junge Dame, die allerlei gangbare Operettenmelodien trällerte, ließ sich von Herrn Müller-Königsberg nach Hause geleiten, und beide ließen Helene und Alfred mit etwas schweren Köpfen zurück...

 

Der Erziehungseifer Herrn Krafts nahm seinen weiteren Verlauf und fand eine Erweiterung. Dem »Jungen« sollten nämlich die Anfangsgründe des Sprachunterrichts beigebracht werden. Alfred ließ es sich daher nicht verdrießen, fast den ganzen Tag über zunächst unserem Helden den Vokal »a« beizubringen, da dieser, wie er behauptete, am leichtesten hervorgebracht werde und man doch eine Sache von vorn anfangen müsse...

Er hielt dabei Anreden an den kleinen Zögling, deren man ein gewöhnliches Menschenkind vielleicht im günstigsten Falle im vierten Jahre seines Lebens für würdig erachtet... Leider machte unser Held bei der ihm angeborenen Störrigkeit kaum nennenswerte Fortschritte und setzte die Geduld seines väterlichen Lehrmeisters oft auf die ärgste Probe.

Helene, die übrigens bei ihrem glücklichen Temperament den größten Teil des Tages mit Essen, Trinken und Schlafen sehr geschickt hinzubringen wußte, wagte eingedenk jener entsetzlichen Drohung ihres Gatten, obgleich das, was sie in kühnen Augenblicken ihren gesunden Menschenverstand nannte, sich oft empörte, keinen energischen Protest einzulegen. Sie hoffte übrigens, daß die Zeit ihrem Manne die Art, sie zu vertreiben, langweilig machen werde. Das geschah in der Tat, zumal die äußere Lage dieses trefflichen Ehepaares immer bedenklicher wurde, so daß man es jetzt bereits für vorteilhafter hielt, besagte Lage, wenn auch nicht immer in parlamentarischer Weise, zu erörtern. Ihr Humor kam ihnen zuweilen recht bedenklich abhanden, und leider wurde unser kleiner Held oft durch diesen Umstand in Mitleidenschaft gezogen ...

Unter diesen Verhältnissen fand es der kleine, anspruchsvolle Patron vorteilhafter, sich alledem zu entziehen. Eines Tages erkrankte er und verfiel in Krämpfe; es war im sechsten Monat seines Lebens...

Ein Arzt, den die tiefbestürzten Eltern herbeiholten, konnte ihn nicht mehr retten. Noch einmal krampfte sich der kleine, magere Körper zusammen, noch einmal verdrehte er seine Augen und verschied dann in den Armen seiner Mutter, die sich laut schluchzend über die kleine Leiche warf, während der Vater, ein Bild stummer Verzweiflung, mit gerungenen Händen vor der Gruppe stand und auf sie herabstarrte ...

Die kleine Leiche sah allerliebst aus, wie sie so in einem schneeweißen Hemdchen dalag. Der im Todeskrampf verzerrte kleine Mund erweckte den Anschein, als wenn er lächle, wie bei jedem Toten ... Man hatte dem Kleinen das Zwirnmützchen mit der rosafarbenen Schleife aufgesetzt. Es war so freundlich, so friedlich...

Frau Wachtel, welche die bittersten Tränen über ihn weinte, hatte dem Kleinen die Händchen über der Brust gefaltet...

»Ja ja! Er lachte schon so früh! Das ist nicht gut! Da sterben die Kinder bald!« sagte sie. Frau Wachtel war sehr abergläubisch.

»Es war ein Kind von großen, sehr großen Anlagen«, stöhnte dumpf der trostlose Vater.

Die Mutter sagte gar nichts, sondern sah die kleine Leiche nur an und weinte still...

Zwei Tage darauf wurde er in einen winzigen, schlechten Holzsarg gelegt, den Frau Wachtel mit zwei großen Kränzen schmückte, und dann fuhr das Ehepaar und der Künstler, der noch einmal den restituierten Gesellschaftsanzug zu Ehren brachte, mit der Leiche zum Friedhof. – – – – – – – – – – – – – Frau Wachtel ging zu dem »Herrn Kandidaten« und schüttete ihm ihr Herz aus.

»Das arme Würmchen! Warum hat's der liebe Gott auf die Welt kommen lassen? Aber es ist gut, daß er's beizeiten fortgenommen hat! Es ist gut!...«

 

Herr Kraft hat sich einige Zeit darauf, da das erwartete Engagement immer noch ausblieb, entschlossen, in der Kunstakademie Modell zu stehen, und Helene wird wohl, wenn sie ihrer unermeßlichen Trauer Herr geworden ist, es mit der Nähkunst versuchen oder etwas dergleichen. – – –

 

Ihr werdet es vielleicht sonderbar finden, daß der Verfasser einen Helden mit einer so lächerlich kurzen Lebensspanne gewählt hat: aber warum sollte eine Skizze nicht auch einmal einen so skizzenhaften Helden haben? ... Von seinen Taten war nicht viel Spannendes zu berichten. Vielleicht waren seine Leiden seine Taten? Aber auch das ist zweifelhaft. Mögt ihr nach Belieben darüber urteilen, geehrte Leser!


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