Johannes Schlaf
Papa Hamlet
Johannes Schlaf

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III

Es war nicht anders! Aber er hegte Taubenmut, der große Thienwiebel, ihm fehlte es an Galle ...

Er hatte seit kurzem – er wußte nicht wodurch? – all seine Munterkeit eingebüßt, seine gewohnten Übungen aufgegeben, und es stand in der Tat so übel um seine Gemütslage, daß die Erde, dieser treffliche Bau, ihm nur ein kahles Vorgebirge schien. Dieser herrliche Baldachin, die Luft, dieses majestätische Dach mit goldnem Feuer ausgelegt: kam es ihm doch nicht anders vor als ein fauler, verpesteter Haufe von Dünsten. Welch ein Meisterwerk war der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend .und wunderwürdig im Handeln, wie ähnlich einem Engel; im Begreifen, wie ähnlich einem Gotte; die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch: was war ihm diese Quintessenz vom Staube? Er hatte keine Lust am Manne – und am Weibe auch nicht. Die Zeit war aus den Fugen! War es zu glauben? Aber – e – man hatte ihm noch immer nicht geschrieben. Man war undankbar in Christiania. Armer Yorick!

Sterben, schlafen ... vielleicht auch träumen? ...

Einstweilen jedoch hatte es allen Anschein, als ob gewisse Rücksichten das Elend des armen Yorick noch zu hohen Jahren kommen lassen wollten. Jedenfalls wenigstens durften jetzt die naseweisen Aktschüler unten in der Akademie den großen unübertrefflichen Hamlet aus Trondhjem schon seit vollen vierzehn Tagen in den schönen, langen Vormittagsstunden als sterbenden Krieger kopieren. Das war freilich eine Entwürdigung, aber sie brachte Geld ein. Nur genügte es leider noch nicht.

Wenn der »arme Yorick« jetzt mittags nach Hause kam und sich mit einem Appetit, als hätte er eben vierundzwanzig Stunden lang ohne aufzusehn Eichenkloben zerkleinert, über die große Schüssel herstürzte, die ihm die reizende Ophelia schon vorsorglich verdeckt, der Photographie des großen Thienwiebel grade gegenüber, auf den Tisch gestellt hatte, fand sich meist nur eine etwas grün angelaufene, dünne Kartoffelsuppe drin vor, in der höchstens hie und da noch ein paar kleine, kohlschwarze Speckstückchen schwammen. Armer Yorick! ...

Amalie schien schon seit undenklichen Zeiten ihre Nachtjacke nicht mehr in die Waschwanne gesteckt zu haben. Wozu auch große Toilette machen? Man war ja zu Hause.

»Nicht wahr, Thienwiebel?«

Der große Thienwiebel hielt es für unter seiner Würde zu antworten. Er hatte sich eben wieder in seinen alten, bequemen Schlafrock geworfen, aus dem die Watte freilich, ihrer nur noch geringen Quantität halber, nicht mehr recht klunkern konnte.

Seinen William aufgeklappt, hatte er sich jetzt wieder tiefsinnig rücklings über das kleine Blaukattunene geworfen.

»Oh, schmölze doch dies allzu feste Fleisch,
Zerging' und löst' in einen Tau sich auf!
Oder hätte nicht der Ew'ge sein Gebot
Gerichtet gegen Selbstmord! O Gott! o Gott!
Wie ekel, schal und flach und unersprießlich
Scheint mir das ganze Treiben dieser Welt!
Pfui! Pfui darüber!«

Amalie, die sich wieder auf ihre kleine, mollige Fußbank neben den Ofen gesetzt und eben ihre Schmalzstulle in den Kaffee gestippt hatte, sah jetzt etwas verwundert in die Höhe. Als aber der »arme Yorick« dann nicht mehr weiterlas und, seinen William zugeklappt, sich jetzt sogar, ganz wider seine sonstige Gewohnheit, mit dem Kopfe gegen die Wand gedreht hatte, wurde ihr denn doch ein wenig unbehaglich zumut.

Eine Weile noch überlegte sie; dann aber, endlich, hatte sie sich entschieden. Ihre Stimme klang noch kläglicher als sonst.

»Ich will nähen gehn, Niels.«

»Nein, Amalie! Niemals! Niemals! Das werde ich nie dulden! Das wäre eine unverzeihliche Vernachlässigung deiner heiligsten Mutterpflichten!«

Er war wieder empört aufgesprungen.

»Nein, Amalie! Nie! Niemals! ... Solang Gedächtnis haust in dem ... zerstörten Ball hier!«

Er hatte sich melodramatisch vor die Stirn gestoßen.

Amalie fühlte sich wieder beruhigt und biß jetzt herzhaft in ihre Schmalzstulle ...

»Herein?«

Es war Frau Wachtel. Sie brachte wieder die Milch für den Kleinen.

Der große Thienwiebel hatte es sich nicht versagen können, ihn auf den Namen Fortinbras taufen zu lassen.

»Na, Dickerchen? Langweilste dich? Oh, mein Mäuseken! Oh!«

Sie fand nämlich, daß Amalie ihren heiligsten Mutterpflichten etwas nachlässig oblag, und gestattete sich öfters eine kleine Kontrolle.

Frau Rosine Wachtel war nämlich im Besitze eines guten Herzens. Und das mußte wahr sein, denn sie sagte es selbst und vergoß jedesmal Tränen dabei. Indessen war ihr dieser Besitz noch nicht allzu gefährlich geworden. Denn es war ihr noch niemand durchgebrannt, und sie war noch immer zu ihrem Geld gekommen; und das war oft ein Stück Arbeit gewesen. Frau Rosine Wachtel konnte das jeden versichern ...

»Ach, du Würmeken! Ach, mein Putteken! Hab'n se dir so in'n Korb jestochen!«

Die gute Frau Wachtel war ganz gerührt. Aber plötzlich, aus irgendeinem Grunde, wahrscheinlich weil draußen auf dem Flur eben jemand die Treppe heraufzukommen schien, hielt sie es jetzt doch für besser, sich schnell noch mal nach ihrer Küche umzusehn ...

Der große Thienwiebel, der etwas ungeduldig gewartet hatte, bis ihr runder, trivialer Rücken endlich hinter der Tür verschwunden war, weil er wieder etwas wie einen Monolog in sich verspürte, war jetzt tragisch auf das kleine runde Spiegelchen über der Kommode zugetreten, aus dem ihm nun sein schöner, edelgeformter Apollokopf melancholisch zunickte.

»Armer Freund! Wie ist dein Gesicht betroddelt, seit ich dich zuletzt sah!«

Amalie bekümmerte sich nicht mehr um ihn. Sie kannte ihren großen Gatten.

»Armer Freund!«

War das sein Haar? Sein schönes, berühmtes, blauschwarzes Haar? Eine grausame Natur der Dinge hatte ihm nun schon seit Wochen verwehrt, es sich brennen zu lassen. In die Stirn, in diese erhabene Wölbung majestätischer Gedanken, fiel es ihm nun in Strähnen, dick und feist, wie sie selber, diese schale, engbrüstige Zeit.

»Armer Freund!«

Nachdem er sich so zu der erhabenen Mission, die ihm vorschwebte, genügend präpariert zu haben glaubte, drehte er sich jetzt gemessen nach dem kleinen, gelben Korb um, der dicht neben dem Bett quer über zwei Stühle gestellt war.

»Armes kleines Menschenkind! Welch böser Stern verdammte dich in dieses Elend!«

Das arme kleine Menschenkind zappelte ihn an und lachte.

»Aber still! Still! Ich will alles einsetzen! Ich will meine ganze Kraft einsetzen! Ich werde arbeiten, Freund! Ich werde arbeiten! Ich werde dem Schicksal die Stirn bieten; ich werde ihm abtrotzen, daß du in dieser herben Welt dereinst jene Stellung einnimmst, die deinen Talenten gebührt ... Ja! So macht Gewissen Feige aus uns allen. Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt; und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck, durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, verlieren so der Handlung Namen!«

Seine Stimme bebte, seine Schlafrocktroddeln hinter ihm, die er sich zuzubinden vergessen hatte, zitterten.

Amalie hatte jetzt ihr Schmalzbrot wieder beiseite gelegt.

»Niels, ich will doch lieber nähen gehn!«

»Nie! Nie! Sprich nicht davon, Amalia! Bei meinem Zorn! Sprich nicht davon!«

Amalie war wieder beruhigter denn je.

Ihr schönes Schmalzbrot war, Gottseidank, noch nicht ganz alle. Der große Thienwiebel, der einigermaßen aus seinem Konzept gekommen war, hatte jetzt einige Mühe, wieder hineinzukommen. Den Shakespeare, den er wieder von der Erde aufgelesen hatte, hinten in seinen Wattenklunkern, die Finger krampfhaft um seinen roten Saffianrücken, nickte er jetzt wieder schmerzlich auf das kleine, verwunderte Bündelchen hinab. Es hatte die ganze Zeit über kaum zu mucksen gewagt.

»Ich weiß ... ich werde sterben, Freund! Ich werde sterben! – Das starke Gift bewältigt meinen Geist! Ich kann von England nicht die Zeitung hören; doch prophezei ich, die Erwählung fällt auf Fortinbras ... Du lebst; erkläre mich und meine Sache den Unbefriedigten!«

Der kleine Fortinbras war jetzt ganz ernsthaft geworden. Er hatte seinen großen Papa noch nie so menschlich mit ihm reden hören.

»Den Unbefriedigten ...«

Der Regen draußen, der die braunen Dächer drüben schon seit frühmorgens wie mit Glanzlack überzogen hatte, plätscherte, aus dem Fensterblech, unter das die reizende Ophelia natürlich wieder den Wasserkasten zu hängen vergessen hatte, war er jetzt allmählich sogar die graue Tapete hinab bis mitten unter das kleine Blaukattunene gekrochen. Auf seinem kleinen Teich drunter konnten die beiden angebrannten Schwefelhölzchen bereits in aller Gemächlichkeit rundherum Gondel fahren.

Plötzlich schien den großen Thienwiebel wieder mal irgend etwas unversehens gestochen zu haben.

»Amalie! Amalie!«

»Was denn schon wieder, Thienwiebel!«

Sie hatte sich nicht einmal umgesehn.

»Amalie, es ist nicht zu leugnen: das Kind hat ganz außergewöhnliche Fähigkeiten! Es hat mich soeben angelacht. Es unterhält sich ordentlich mit mir!«

Amalie grunzte nur verdrießlich.

»Ich wette, man kann ihm schon die Anfangsgründe des Sprechens beibringen, Amalie!«

»Hm? du! Sag mal: a! Na?! a – a – a ...«

Der kleine, gute Fortinbras wußte sich jetzt vor lauter Verdutztheit gar nicht mehr zu lassen. Er hatte seine beiden dicken Händchen rechts und links in den Korbrand gekrallt und ähte nun, seinen Kopf nach hinten zurückgelegt, seinen großen Papa ganz vergnügt an.

»Nicht ä, mein Junge! Sag a! A sollst du sagen! Also? Na? Aaaa! ...«

»Ach, laß doch! Das kann er ja noch nich!«

Amalie hatte es endlich doch für angezeigt gehalten, sich ins Mittel zu legen.

»Was?! Das kann er nicht?! Sage das nicht, Amalie! Sage das nicht! Dafür ist er mein Junge! Hä? Bist du mein Junge? Hä?«

»Aber er ist ja erst kaum ein Vierteljahr alt!«

»So? So? Nun, hm ... Ich will nicht mit dir rechten, Amalie! Allein du wirst doch vorhin bemerkt haben, daß er durchaus verstand, was ich meinte!«

Amalie gähnte. Sie gab es auf. Es hatte ja keinen Zweck! Es war ja alles egal! So oder so!

Der große Thienwiebel aber war damit noch nicht zufrieden. Er konnte seine Idee noch nicht so leicht wieder fallenlassen.

»Nein, gewiß, Amalie! Der Junge berechtigt zu den besten Hoffnungen!«

»Ach ...«

»Nun! Was ist denn da so Ungewöhnliches dabei, Amalie? Du weißt: es gibt; mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als unsere Schulweisheit sich träumt, Amalie!«

Amalie gähnte nur wieder.
»... und nun, ihr Lieben,
Wofern ihr Freunde seid, Mitschüler, Krieger,
Gewährt ein Kleines mir!«
Sie gewährten es ihm.

Es war wirklich zu schön von dem großen Thienwiebel! Aber er hatte sich jetzt tief über seinen kleinen, süßen Fortinbras, der zu so großen Hoffnungen berechtigte, gebeugt und wollte ihn nun – oh, zum ersten Mal, zum ersten Mal, seit langer, langer Zeit, Horatio! – wieder auf die kleine bleiche Stirn küssen.

Aber es sollte nicht dazu kommen. Er war bereits wieder zurückgetaumelt, noch ehe er seine schöne Tat zum Austrag gebracht hatte.

»Ha!«

Seine Augen rollten, seine Fäuste hatten sich geballt, die beiden roten Troddeln hinten an seinem Schlafrock schlotterten vor Entrüstung.

»Ha!«

Das Rätsel von der alten, lieben, guten, geschäftigen Frau Wachtel von vorhin hatte sich glänzend gelöst.

Sei's Farbe der Natur, sei's Fleck des Zufalls, kurz und gut, aber der kleine Prinz von Norwegen lag wieder seelenvergnügt mitten in seinen weitläufigen Besitzungen da.


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