Johannes Schlaf
Papa Hamlet
Johannes Schlaf

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II

»Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage:

Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden, oder ...
oder? ... Scheußlich!«

Der große Thienwiebel hielt wieder inne.

»Nicht zum Aushalten das! Nicht zum Aushalten!!«

Die fünf kleinen gelben Lappen hinter dem Ofen, die dort an einer Waschleine zum Trocknen aufgehängt waren, hatten ihn wieder total aus dem Konzept gebracht.

»Ekelhaft!«

Er hatte sich jetzt, die Hände in seinen Schlafrocktaschen vergraben, erbittert vor das Fenster aufgepflanzt.

Der Himmel drüben über den Dächern war tiefblau; in den nassen Dachrinnen, von denen noch gerade der letzte Schnee tropfte, zankten sich bereits die Spatzen; es war ein prachtvolles Wetter zum Ausgehn.

»Armer Yorick!«

Noch um eine Nuance verdüsterter hatte sich jetzt der große Thienwiebel wieder rücklings über das kleine, niedrige, mit blauem Kattun überspannte Sofa geworfen und starrte nun über die Spitzen seiner grünen, ausgetretenen Pantoffeln weg melancholisch zu Amalien hinüber.

Ihre dünnen, lehmfarbenen Haare waren noch nicht gemacht, ihre Nachtjacke schien heute noch schmutziger als sonst und stand vorn natürlich wieder offen; der kleine kirschrote Spießbürger, den sie, auf ihr Fußbänkchen gekauert, nachlässig aus einem Gummischlauch säugte, sah auf einmal häßlich aus wie ein kleiner Frosch.

»Armer Yorick!«

Herr Thienwiebel hatte sich wieder seufzend erhoben und setzte jetzt seine Wanderung von vorhin wieder fort.

»... oder? oder ...
Sich waffend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden. – Sterben – schlafen –
Nichts weiter! –«

Vor dem Fenster konnte er sich jetzt wieder nicht versagen, eine kleine Pause zu machen.

Die Sonne draußen ging gerade unter. Die Dächer sahen fuchsrot aus. Aber ein Blick auf seinen alten, abgenutzten Schlafrock unten ließ ihn sich wieder zusammennehmen und seinen Monolog von neuem beginnen.

»Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage:
Ob's edler im Gemüt...

Ae, Quatsch!!«

Mit einem Ruck war jetzt der Shakespeare, den er sich eben aus seiner Schlafrocktasche gerissen, auf den Tisch geflogen, wo er die Gesellschaft einer Spirituskochmaschine, eines braunirdenen Milchtopfs ohne Henkel, eines alten, berußten Handtuchs, einer Glaslampe und einer Photographie des großen Thienwiebel in Morarahmen vorfand.

»He! Horatio! Horatio!!... Nicht zu Hause! Nicht zu Hause...«

Total vernichtet hatte er sich jetzt wieder auf das Sofa zurückgeschleudert und vertiefte sich nun in den tragischen Anblick eines schmutzigen Kinderhemdchens, das neben einer geplatzten Schachtel schwedischer Zündhölzchen vor ihm unten auf dem Fußboden lag.

»Verwünscht! Wenn man wenigstens mal ausgehn könnte, Amalie! Aber ich fürchte ... ich fürchte ... die Welt ist nicht vorurteilsfrei genug, um einen Niels Thienwiebel im Schlafrock und Zylinder unbehelligt seines Weges dahingehn zu lassen!«

Aber Amalie antwortete nicht einmal. Der kleine Krebsrote nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sein Lutschen zog jetzt den ganzen Schlauch zusammen.

»Ja! Es ist so! Es ist so, Amalie! Aber sie schreiben mir noch immer nicht! Sie haben da Leute, Leute – Leute? Pah! Stümp'rr! O Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweist!«

Jetzt hatte Amalie, die dies Thema bereits kannte, etwas aufgesehn.

»Ja... es wäre am Ende doch gut, wenn du einmal...«

Ihre Stimme klang heiser, belegt.

»Ja, so wird es kommen! Vielleicht... bei meiner Schwachheit und Melancholie...«

Der kleine Krebsrote schmatzte! Seine Flasche war jetzt so gut wie leer.

»Ich werde selbst hingehn müssen und fürliebnehmen mit dem, was man mir anzubieten wagt! Das Leben ist brutal, Amalie! Verflucht! Wenn man wenigstens einen Rock zum Ausgehen hätte!«

Sein Tenor war jetzt übergeschnappt, er hatte sich wieder lang über das Sofa zurückgeeselt.

Große Pause ...

Die Dächer draußen hatten sich allmählich braun gefärbt. Die Sonne an dem großen runden Schornstein drüben war verblichen.

Frau Thienwiebel fing jetzt hinten in ihrer Ecke zu husten an.

»Herr Gott, Niels! Ich muß ja inhalieren! Da, nimm doch mal das Kind!«

»Natürlich! Auch noch Kinderfrau! Oh, ich reiße Possen wie kein andrer! Was kann ein Mensch auch andres tun als lustig sein? Still, Krabbe!!«

Der kleine Krebsrote schwieg wieder. Er war noch nie so verblüfft gewesen.

»Da! Nimm's! Kau's! Friß! Verschluck's!«

Der große Thienwiebel hatte es jetzt sogar über sich gewonnen, seinem ungeratnen Sprößling auch den Schnuller in den Mund zu stopfen. Mehr war unmöglich zu verlangen!

Amalie hatte unterdessen die Ofenröhre aufgemacht und entnahm ihr jetzt einen kleinen, grünglasierten Kochtopf. Ein nach Salbei duftender Brodem entstieg ihm. Nachdem sie dann noch das kleine Geschirr neben den Ofen auf einen Stuhl und sich selbst auf die Fußbank davor gesetzt hatte, machte sie jetzt ihren Mund auf und atmete das heiße Zeug langsam ein.

Der große Thienwiebel, der sich unterdes mit seinem impertinenten kleinen Krebsroten auf die Tischkante placiert hatte, sah ihr nachdenklich zu.

»Hm! Weißt du, Amalie?«

»Hm??«

»Weißt du? Wir haben eigentlich eine ganz falsche Methode, das Kind zu nähren, Amalie!«

»Ach was!«

»Ich sage, eine Methode! Eine verkehrte Methode, Amalie!«

»Aber...«

»Verlaß dich drauf! Eine unnatürliche, Amalie!«

»Ja, du lieber Gott ...«

»Eine unnatürliche ... Wir sollten das Kind nicht mit der Flasche tränken!«

»Nich? Na, womit denn sonst?«

»Du selbst solltest es eben tränken!«

»Ich?«

»Gewiß, Amalie!«

»Ach, lieber Gott! Ich! Selbst!«

»Nun! Warum nicht?«

»Ich?? Bei meiner schwachen, kranken Brust jetzt?«

»Ach was! Das bildest du dir ja nur ein, Amalie! Ich sage dir, du bist völlig gesund. Du bist völlig gesund, sage ich! ... Übrigens: ein Kind kann ein für allemal nur dann gedeihen, wenn es die Mutter selbst säugt!«

Herr Thienwiebel war jetzt ganz eifrig geworden. Seine Langeweile von vorhin schien er völlig vergessen zu haben. Er schien es sogar nicht bemerkt zu haben, daß dem kleinen zappelnden Wurm auf seinen Knien der Schnuller wieder heruntergekullert war.

»Verlaß dich drauf, Amalie! Ich sage, die natürlichste Methode ist immer die beste! Denk doch mal: was sollten denn sonst die Negerweiber anfangen! Sie haben keine Flaschen! Sie nähren eben ihre Kinder selbst, siehst du ... und, und – nun ja! Und sie gedeihen dabei! Gedeihen! Na?«

»Ja, Niels, aber ich bin doch kein Negerweib!«

Der große Thienwiebel lächelte überlegen.

»Ja nun, du mußt ... hehe! Du mußt mich eben verstehn, Amalie! He!«

Amalie hatte sich wieder tief über ihren Salbeitopf gebückt.

»Ich wollte dir damit eben nur durch ein ... ein ... nun! sagen wir durch ein Beispiel, andeuten, daß das Natürlichste immer das Vernünftigste ist. Ich sehe eben durchaus nicht ein, warum die Negerweiber etwas vor uns voraushaben sollten!«

»Aber sie sind gesund!«

»Ach was! Das bildest du dir ja nur ein, Amalie, daß du krank bist!«

»Ich?«

»Allerdings, Amalie! Ich behaupte ...« Amalie war jetzt ein wenig ungeduldig geworden.

»Ach was! Laß lieber das Kind nicht so schrein!«

»Auch das ist wieder nur so ein Vorurteil von dir, Amalie! Was schadet das! Ich habe gelesen, es ist nichts gesünder! Die Lungen weiten sich dabei! Aber – e ... wie gesagt! Du solltest das Kind selbst tränken! Die heutige Kultur freilich, die Kultur der europäischen Welt ...«

Die Kultur überging Amalie. Sie hielt sich nur an die Ermahnungen, die sie nun schon so oft zu hören bekommen hatte.

»So! So! Jawoll doch! Gewiß! Bei unserm Leben! Den ganzen Tag lebt man von Kaffee und Butterbrot! Ich möchte wissen, wie das arme Wurm dabei gedeihen sollte!«

»Ha! Zu leben im Schweiß und Brodem eines eklen Betts, gebrüht in Fäulnis, buhlend und sich paarend über dem garst'gen Nest! Nicht wahr? Du willst damit sagen, daß ich an unsrer Lage schuld bin, Amalie!«

»Na! Etwa ich?«

»Weib!!«

»Moi'n!«

Die Tür, an der es schon eine ganze Weile vergeblich geklopft hatte, wurde in diesem Augenblick weit aufgestoßen, und herein, in seinem ewigen Havelock, der vor Zeiten wahrscheinlich einmal hechtgrau gewesen war, den ungeheuren schwarzen Schlapphut tief in das kleine fidele, blasse Gesichtchen gedrückt, tänzelte jetzt der kleine Ole Nissen.

»Moi'n! Also laßt euch nicht stören, Kinder! Bitte, bitte! Keine Umstände, Nielchen! Keine Umstände! Weiß schon! Probiert 'ne neue Szene ein! Also, wie gesagt ... Donnerwetter! Ist das Biest hart!«

Er hatte sich eben mitten auf das kleine Kattun'ne plumpsen lassen und dabei wieder in einem Haar seine Ägypter verloren, die er schief zwischen die Zähne geklemmt hielt.

»Also, wie gesagt! Laufe da eben ganz trübselig den Hafendamm runter. Hä? Und wer begegnet mir da? Der Kanalinspektor! Na, wer denn sonst? Der Kanalinspektor natürlich! Nobel verheiratet, Villa in Bratsberg, no! etc. pp. Könnt euch ja denken! Schleift mich also natürlich sofort zu Hiddersen und läßt vorfahren ... Na, oller Junge? Wie geht's? ... Faul! sag ich also natürlich. Faul! ... Hm! Weißte was? Könntest eigentlich meine Alte porträtieren! ... Hm! Mit Jenuß, Kind! Mit Jenuß! Aber – e ... Farben, siehst du – he, Leinwand, Rahmen also ... Hä! Was? Nobles Putthuhn!!«

Ole Nissen ließ jetzt die schönen, noblen Kronen in seinen Taschen nur so klimpern.

»Frau Wach-tel! Frau Wachtell!! Frau Wach-telll!!!«

Das Haus Thienwiebel schwamm wieder in Wonne. Sein Krach war wieder auf eine Weile verschoben.

»Hä! Und dies? Ist das Butter? Und dies? Hä? Ist das Schinken? Hä? Und dies? Hä? Platz für das Silberzeug! Silentium!!«

Der kleine Ole war heute wieder ganz aus dem Häuschen ...

Nachdem das »Silberzeug« dann endlich abgeräumt und die Punschbowle zu zwei Dritteln bereits geleert war, mußte Frau Wachtel sogar noch die Skatkarten »ranschleifen«. Es war einfach herrlich! Der große Thienwiebel hatte seinen türkischen Fez auf, Ole Nissen bot seine Ägypter sogar galant der alten Madame Wachtel an, die sich aber empört von ihnen wieder in ihre Küche zurückflüchtete, Amalie rauchte tapfer mit. Ihre alten Opheliajahre waren wieder lebendig in ihr geworden.

»Ach, Thienwiebel! Niels!! Geliebter!!!«

Der große Thienwiebel stand da und weinte.

»Bin ich 'ne Memm'? – Ha! Rauft mir den Bart und werft ihn mir ins Antlitz! Nein, reizende Ophelia! Nein! Weine nicht! Mein Schicksal ruft und macht die kleinste Ader meines Leibes so fest als Sehnen des Nemeerlöwen! ... Was, alter Jephta? ... Nein, glaube nicht, daß ich dir schmeichle! Was für Befördrung hoff ich wohl von dir, der keine Rent' als seinen muntren Geist, um sich zu nähren und zu kleiden hat!«

Seine Stimme brach ab, die Hand, die er ihm auf die Schulter gelegt hatte, zitterte. –

Zuletzt, als die alte Glaslampe nur noch wie eine kleine Ölfunzel brannte und die prachtvollen Ägypter um ihre grüne Glocke einen schönen, silbergrauen, fingerdicken Nebelring gelegt hatten, wurde auch der kleine Ole Nissen gerührt.

Er hatte sich nach und nach zu der reizenden Ophelia auf das kleine, blaue Kattunüberzogene gedrängt und titulierte sie nur noch »Miezchen«. Jetzt hatte er endlich auch ihre Hände zu fassen bekommen und bedeckte sie nun mit seinen Küssen.

Der große Thienwiebel erhob keine Einsprache. Er hatte segnend seine Hände über sie gebreitet und konnte sein Herz nur noch stammelnd ausschütten.

»Der Kreis hier weiß, ihr hörtet's auch gewiß, wie ich mit schwerem Trübsinn bin geplagt!«

Der kleine Krebsrote hinten in seiner Ecke hatte unterdessen seine Not mit sich gehabt. Schon verschiedene Male hatte er sich in den Schlaf geweint. Jetzt aber war er wieder aufgewacht und konnte absolut nicht mehr seinen Gummipfropfen finden. Die reizende Ophelia hörte ihn nicht. Sie war längst in ihrer Sofaecke eingeschlafen. Er schrie jetzt, als ob er am Spieße stak.

Der große Thienwiebel hatte natürlich erst recht keine Zeit für den Schurken. Er hatte den kleinen Ole Nissen, der jetzt kaum noch seine kleinen, wasserblauen Augen aufhalten konnte, vorn an seinem Rockkragen zu packen bekommen und deklamierte nur wieder:

»Er ist eine Elster, Horatio! Eine Elster! Aber, wie ich dir sagte, mit weitläufigen Besitzungen von – Kot gesegnet!«


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