Friedrich von Schiller
Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache
Friedrich von Schiller

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Jene ging. Frau von P*** warf sich in den Wagen und ließ sich in die Vorstädte fahren, welche ihr von der Wohnung Aisnon am weitsten entlegen schienen. Hier mietete sie nicht weit von der Pfarrkirche eine schlechte Wohnung in einem ehrbaren Bürgerhause und ließ solche auf das sparsamste möblieren. Dahin lud sie die beiden Aisnon, übergab ihnen Haus und Wirtschaft und legte ihnen einen schriftlichen Aufsatz von den Lebensregeln vor, die sie künftighin zu befolgen hatten. Sie waren folgende:

»Auf keinen öffentlichen Spaziergang gehen Sie mehr; denn es liegt daran, daß Sie von niemand entdeckt werden.

Sie nehmen keine Besuche an, auch selbst aus Ihrer Nachbarschaft nicht; denn es muß das Ansehen haben, als hätten Sie der Welt gänzlich entsagt.

Gleich von dem morgenden Tag an müssen Sie andächtige Kleider tragen.

Zu Hause werden keine andre als geistliche Bücher geduldet, daß Sie ja keinem Rückfall sich aussetzen.

Ihrem Gottesdienst müssen Sie jeden Werk- und Feiertag mit brünstigem Eifer obliegen.

Sie müssen dahin trachten, daß Sie sich in das Sprachzimmer dieses oder jenes Klosters Eingang verschaffen. Die Plaudereien der Mönche können von Nutzen für Sie werden.

Mit dem Pfarrherrn und den übrigen Geistlichen müssen Sie genau bekannt werden; der Fall könnte kommen, daß man ein Zeugnis von Ihnen verlangte.

Des Monats müssen Sie wenigstens zweimal zur Beichte und zum Abendmahl gehen.

Ihren Familiennamen nehmen Sie wieder an, weil er ehrbarer ist und Nachfrage deswegen geschehen könnte.

Von Zeit zu Zeit streuen Sie kleine Almosen aus, aber ich verbiete Ihnen schlechterdings, welche anzunehmen. Man soll Sie weder für reich noch für dürftig halten.

Zu Hause beschäftigen Sie sich mit Nähen, Stricken, Spinnen und Sticken, und Ihre Arbeiten verkaufen Sie dann in ein Armenhaus.

Ihre Lebensordnung sei äußerst mäßig. Einige schmale Portionen aus dem Gasthaus sind alles, was ich Ihnen erlauben kann.

Die Tochter gehen nie ohne die Mutter, die Mutter nie ohne die Tochter aus. Überhaupt, wo Sie Gelegenheit finden, etwas Erbauliches zu tun, ohne daß es Kosten verursacht, so unterlassen Sie es nie.

Aber einmal für allemal: weder Pfaffen noch Mönchen noch fromme Brüder in Ihren vier Pfählen.

Gehen Sie über die Gasse, so schlagen Sie die Augen jederzeit sittsam zu Boden. In der Kirche sehen Sie nirgends hin als auf Gott.

Ich will gern glauben, daß diese Einschränkung hart ist. Aber in der Länge kann sie nicht dauern, und die Entschädigung wird außerordentlich sein. Gehen Sie nun mit sich selbst zu Rat. Wenn Sie besorgen, daß Ihre Kräfte diesen Zwang nicht aushalten, so gestehen Sie es jetzt frei heraus. Es kann mich weder beleidigen noch befremden. – Ich vergaß vorhin noch anzumerken, daß es sehr wohl getan sein würde, wenn Sie sich die Sprache der Mystiker angewöhnten und die Redensarten der Heiligen Schrift recht geläufig machten. Bei jeder Gelegenheit lassen Sie Ihren Groll gegen die Weltweisen aus, und Voltairen erklären Sie für den Antichrist. – Nunmehr leben Sie wohl. Hier in Ihrem Hause werden wir und schwerlich wieder sehen. Ich bin ja nicht würdig, mit so heiligen Frauen in Gesellschaft zu leben. Doch seien Sie deswegen unbesorgt. Sie sollen mich desto öfter in der Stille besuchen, und dann wollen wir das Verlorene bei verschlossenen Türen hereinbringen.

Aber um was ich Sie bitte – sehen Sie ja zu, daß Sie mir über dem Heiligen nicht im Ernst heilig werden. Die Auslage für Ihre kleine Wirtschaft wird meine Sorge sein. Glückt unser Anschlag, so bedürfen Sie meines Beistands nicht wieder. Sollte er, ohne Ihre Verschuldung, mißlingen, so habe ich Vermögen genug, Ihr Schicksal erträglich zu machen, und unendlich erträglicher, als dasjenige war, dem Sie jetzt mir zu Gefallen entsagen. Aber vor allen Dingen – Gehorsam, blinden unumschränkten Gehorsam gegen meine Befehle, oder ich kann Ihnen weder für jetzt noch fürs Künftige stehen.«

Unter der Zeit, daß unsere zwei Andächtige nach Vorschrift die Welt erbauten und der gute Geruch ihrer Heiligkeit sich ringsum verbreitete, fuhr Frau von P*** nach ihrer Gewohnheit fort, jeden äußerlichen Schein von Achtung und vertraulicher Freundschaft gegen den Marquis zu beobachten. – Willkommen, sooft er sich sehen ließ, nie mürrisch oder ungleich von ihr empfangen, selbst dann nicht, wenn er sich lange hatte vermissen lassen, kramte er alle seine kleinen Abenteuer bei ihr aus, welche sie mit der unbefangensten Lustigkeit anhörte. In jeder Verlegenheit schenkte sie ihm ihre Teilnehmung, ihre Rat – unter der Hand ließ sie auch ein Wort von Verheiratung fallen, jedoch immer mit dem Tone der uneigennützigsten Freundschaft, der auf sie selbst nicht die geringste Beziehung zu haben schien. Wandelte es den Marquis in gewissen Augenblicken an, galant gegen sie zu sein und ihr etwas Schmeichelhaftes zu erweisen – Dinge, worüber man bei Frauenzimmern von so genauer Bekanntschaft sich nie ganz hinwegsetzen kann – so antwortete sie mit einem Lächeln oder schien gar nicht einmal darauf merken zu wollen. Ein Freund wie er, behauptete sie dann, reiche zur Glückseligkeit ihres Lebens hin – ihr erste Jugend wäre vorüber, ihre Leidenschaft ausgelöscht.

»Wie, Madame!« antwortete er voll Verwunderung, »Sie sollten mir also nichts mehr zu beichten haben?«

»Nicht das mindeste mehr.«

»Auch von dem kleinen Grafen nichts, der mir sonst so gefährlich war?«

»Diesem habe ich meine Tür verschlossen. Ich seh' ihn nimmermehr.«

»Das ist aber verwunderlich, Madame, und warum denn?«

»Weil er mir zuwider ist.«

»Gestehen Sie, Madame. Gestehen Sie. Ich lesen in Ihrem Herzen. Sie lieben mich noch immer?«

»Das könnte wohl sein.«

»Und zählen auf meine Wiederkehr?«

»Warum sollt' ich nicht dürfen?«

»Und wenn mir also das Glück – oder das Unglück? – begegnete, rückfällig in meiner Liebe zu werden, würden Sie sich ohne Zweifel nicht wenig darauf zugute tun, über meine vorige Unart einen Schleier zu ziehen?«

»Sie haben eine große Meinung von meiner Gefälligkeit.«

»O Madame, nach dem, was Sie bereits schon getan haben, traue ich Ihnen jede Heldentat zu.«

»Das soll mir unendlich lieb sein.«

»Auf Ehre, Madame. Sie sind eine gefährliche Frau. Das ist ausgemacht.«

So standen die Sachen noch, als schon der dritte Monat verstrichen war; endlich glaubte die Dame, daß der Zeitpunkt erschienen sei, ihre Federn einmal spielen zu lassen. An einem schönen Sommertag, wo der Marquis bei ihr zu Mittag erwartet wurde, befahl sie den beiden Aisnon, im königlichen Garten spazieren zu gehen. Der Marquis erschien bei der Tafel, man trug früher auf als gewöhnlich, man speiste kostbarer, die Unterhaltung war die munterste. Nach Tische brachte sie einen kleinen Spaziergang in Vorschlag, wenn anders der Marquis nichts Wichtigeres darüber versäumte. Es traf sich gerade, daß an eben dem Tag weder Schauspiel noch Opera war. Dies gab Gelegenheit, daß der Marquis zuerst auf den Einfall kam, das königliche Kabinett zu besehen. Nichts konnte der Dame willkommener sein. Die Bestellung wird gemacht ohne Zeitverlust. Die Pferde sind vorgespannt. Man wirft sich in den Wagen. Man eilt nach dem Garten und findet sich auf einmal in einem Gedränge von Welt, begafft alles und sieht nichts, wie das gemeiniglich zu geschehen pflegt.

Nachdem beide das königliche Kabinett verlassen hatten, mischten sie sich unter die andern Spazierenden. Der Weg führte sie durch eine Allee nach der Baumschule, wo Frau von P*** auf einmal ein lautes Geschrei erhub: »Sind sie's? Sie sind's! Nein, ich täusche mich nicht! – Es sind wirklich dieselben!« Und mit den Worten entspringt sie dem Marquis und fliegt unsern beiden frommen Schwestern entgegen. Die junge Aisnon war heute zum Bezaubern; der bescheidene Anzug erlaubte es den Blicken, ganz in das Anschauen der Person hinzuschmelzen. –

»Ah! sind Sie es, Madame?«

»Ich bin's. Ja freilich. Und wie leben Sie denn? Und wie ist es Ihnen die ganze lange Ewigkeit her ergangen?«

»Sie wissen unser Unglück, Madame. Was war zu tun? Wir haben uns eingeschränkt, haben uns nach der Decke gestreckt, weil wir mußten, und einer Welt Lebewohl gesagt, in welcher wir mit der vorigen Anstand nicht mehr auftreten konnten.«

»Aber mich zu verlassen, mich, die doch auch nicht mehr zu der Welt gehört und sie nachgerade so abgeschmackt findet, als sie es auch in der Tat ist! Das war nicht artig, meine Kinder.«

»Mißtrauen, gnädige Frau, ist von jeher die Begleitung des Unglücks gewesen. Die Unwürdigen fürchten so gern, überlästig zu sein – –«

»Überlästig? Sie mir? Wissen Sie auch, daß ich Ihnen das mein Lebenlang nicht mehr vergeben werde?«

»Mir geben Sie die Schuld nicht, gnädige Frau. Wohl hundertmal habe ich die Mama an Sie erinnert. Aber da hieß es immer: Frau von P***? Laß es gut sein, meine Tochter. An uns denkt kein Mensch mehr.«

»Wie ungerecht! Aber setzen wir uns. Lassen Sie uns den Handel gleich auf der Stelle ausmachen. – Hier meine Freundinnen. Der Marquis von A***, ein sehr guter Freund von mir, und der uns nicht im mindesten stören wird. Aber sieh doch, wie Mademoiselle groß geworden ist, wie schön, seitdem wir uns das letztemal sahen!«

»Das danken wir unsrer Armut, Madame, die wenigstens unsre Gesundheit behütet. Schauen Sie ihr in die Augen, betrachten Sie diese Arme. – Das können Ordnung und Mäßigkeit, Schlaf und Arbeit und ein gutes Gewissen, und das ist auch nichts Kleines, gnädige Frau.« –

Man setzte sich, man plauderte vertraulich zusammen; die ältere Aisnon sprach gut, die jüngere wenig. Beide beobachteten den Ton der geistlichen Demut, doch ohne sich zu zieren oder zu übertreiben. Lange vorher, eh' es noch Abend wurde, machten die beiden frommen Schwestern den Aufbruch. Man drang in sie, zu bleiben – man stellte vor, daß es noch hoch am Tage wäre; aber die Mutter lispelte der Marquisin – ziemlich laut, versteht sich – in das Ohr, daß sie noch eine Andachtsübung zu verrichten hätten, die sie niemals versäumten. Sie waren schon eine ziemliche Strecke voneinander, als Frau von P*** sich auf einmal besann, nicht nach ihrer Wohnung gefragt zu haben. Gleich sprengte der Marquis zurück, dieses Versehen wieder gutzumachen. Die Adresse der gnädigen Frau ward mit Bereitwilligkeit angenommen, aber alle Bemühungen des Marquis waren umsonst, die ihrige zu erfragen. Er hatte nicht einmal den Mut, ihnen seinen Wagen anzubieten – ein Umstand, der ihm doch, wie er der Frau von P*** nachher selbst gestand, oft genug auf der Zunge schwebte.

Sei erstes war, daß er sich bei der Marquisin umständlicher erkundigte, wer denn eigentliche diese Frauenzimmer wären. – »Zwei Geschöpfe,« war die Antwort, »die wenigstens glücklicher sind als Sie und ich. Sahen Sie die blühende Gesundheit? Die Heiterkeit auf ihrem Angesicht? Die Unschuld, die Sittsamkeit in ihren Reden? Dergleichen erlebt man nicht, sieht man nicht, hört man in unsern Zirkeln nicht. Wir bedauren die Andächtigen, die Andächtigen bedauren uns, und am Ende – wer weiß, ob sie unrecht haben?«

»Aber ich bitte Sie, Madame – Sie werden doch nicht selbst eine Betschwester werden wollen?«

»Warum das nicht?«

»Ich beschwöre Sie, Madame – Ich will doch nicht hoffen, daß unser Bruch, wenn es ja einer sein soll, Sie bis zu der Raserei führen werde?«

»Also sähen Sie es lieber, wenn ich dem kleinen Grafen meine Türe wieder öffnete?«

»Tausendmal lieber.«

»Und rieten mir's am Ende wohl noch selbst an?«

»Ohne Bedenken.«

Frau von P*** erzählte dem Marquis, was sie von dem Herkommen und den Schicksalen ihrer Freundinnen wußte, und mischte so viel Interesse, als nur möglich war, in diese Geschichte. Endlich setzte sie hinzu:

»Sie finden hier zwei weibliche Geschöpfe, wie man wenige finden wird, vorzüglich aber die Tochter. Eine Gestalt, wie das Mädchen sie hat, sehen Sie selbst ein, würde ihre Besitzerin zu Paris nie Not leiden lassen, wenn sie Lust hätte, Gebrauch davon zu machen; aber diese Frauenzimmer haben eine ehrenvolle Dürftigkeit einem schimpflichen Überfluß vorgezogen. Der Rest ihres Vermögens ist so klein, daß ich bis diese Stunde nicht begreifen kann, wie sie nur damit auskommen mögen. Da ist Tag und Nacht zu tun. Armut ertragen, wenn man arm geboren worden, ist eine Tugend, deren tausend Menschen fähig sind – aber von dem höchsten Überflusse plötzlich zur höchsten Notdurft herunterzusinken und zufrieden sein und sich obendrein noch glücklich schätzen, ist eine Erscheinung, die ich nimmermehr erklären kann – Sehen Sie, Marquis, so etwas kann nur die Religion. Die Weltweisen haben gut schwatzen. Die Religion ist etwas Herrliches.«

»Für den Unglücklichen ganz gewiß.«

»Und wer ist das nicht – mehr oder weniger – früher oder später?«

»Ich will sterben, Marquisin, wenn Sie nicht noch eine Heilige werden.«

»Als wenn das Unheil so entsetzlich wäre! Wie wenig bedeutet mir dies Leben, wenn ich es mit einer ewigen Zukunft auf die Wage lege.«

»Aber Sie reden ja schon wie ein Apostel.«

»Ich rede wie eine Überzeugte. Wie, mein lieber Marquis, antworten Sie mir doch einmal – aber wahr und ohne Rückhalt – Wenn uns die Freuden und Schrecken jener Welt lebhafter vorschwebten, wie klein würden die Reichtümer dieser Erde vor unsern Augen zusammenschrumpfen? – Wer sonst als ein Rasender würde Lust bekommen, ein junges Mädchen oder eine liebende Gattin an der Seite ihres Gemahls zu verführen, wenn der Gedanke ihn anwandelte: ich kann in ihrer Umarmung sterben und ewig verdammt sein?«

»Und doch ist dies etwas Alltägliches.«

»Weil man nicht mehr an Gott glaubt, weil man von Sinnen ist.«

»Oder, Madame, weil unsre Sitten mit unsrer Religion nichts zu schaffen haben. Aber, liebe Marquisin, wie kommen Sie mir vor? Sie tummeln sich ja über Hals und Kopf zu dem Beichtstuhl?«

»Ich sollte freilich wohl etwas Klügeres tun.«

»Gehen Sie, Sie sind eine Närrin. Sie haben noch schöne zwanzig Jahre ganz allerliebst wegzusündigen. Lassen Sie die erst genossen sein, und dann bereuen Sie meinethalben oder prahlen damit bei Ihrem Beichtiger – Aber unser Gespräch hat eine so schwermütige Wendung genommen. Ihre Phantasie, Madame, wird ganz unerträglich finster, und das kommt bei meiner Ehre von nichts als dem abscheulichen Klosterleben. Folgen Sie mir, Madame, – lassen Sie den kleinen Grafen wieder zurückkommen, und ich verwette Seligkeit und Seele, Sie sehen weder Hölle noch Teufel mehr und sind auf einmal wieder liebenswürdig wie zuvor. Fürchten Sie etwa, daß ich Ihnen ein Verbrechen daraus machen möchte, wenn es mit uns wieder auf den alten Fuß kommen sollte? – Es könnte aber nun nie mehr dahin kommen; dann hätten Sie sich ja, einem eigensinnigen Traum zu Gefallen, um die süßeste Zeit Ihres Lebens betrogen – und – soll ich's gerade heraussagen, Madame? – der Triumph, es mir zuvor getan zu haben, ist soviel Aufopferung nicht einmal wert.«


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