Anna Schieber
Gesammelte Immergrün-Geschichten
Anna Schieber

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Bethesda.

So, von mir aus können sie kommen,« sagte die Badmarie zu ihrem Mann, dem Badaugust. Der Badaugust hatte einen gepolsterten Fahrstuhl unter den Händen und schmierte dessen knarrende Räder. »Von mir aus auch,« sagte er und lachte ein wenig vor sich hin, denn es war ihm recht, daß der lange Winter vorbei war und daß das leere Haus sich wieder füllen wollte. Er zog eine große silberne Uhr aus der Tasche, und als er daraufsah, wie spät es schon sei, wurde er sofort wieder ernst; denn das verlangte eigentlich seine Würde. »August,« rief es von dem Balkon des Hauses in den Garten herunter, in dem das Ehepaar hantierte. Dort droben stand die Vorsteherin, Fräulein Grosse. Der helle Maisonnenschein lag auf ihr, und sie schien sich gleichfalls über etwas zu freuen, denn sie lachte mit Mund und Augen. Das sah man nicht sehr oft an ihr, August kannte sie nun schon lang, sie schien nicht in der Sonne aufgewachsen zu sein. Es war ja aber um so erfreulicher, sie jetzt so zu sehen, das Strenge in ihrem Gesicht machte sie oft unbeliebt, und sie meinte es doch nicht böse. »August,« rief sie noch einmal, »wir müssen an die Bahn, es ist Zeit. Sind die Wagen bereit? Marie soll auch mitfahren, es kommen gleich viele.« Und dabei verschwand sie auch schon von dem Balkon, und das Ehepaar führte einen Fahrstuhl um den andern über den knirschenden 179 Kies des Gartenweges bis an das Eingangstor, das nach der Straße führte. Da kam es vom Hause her mit raschen Schritten. »Mir auch einen Stuhl.« »Mir auch einen.« Es waren fünf junge Mädchen, alle mit hellen, eifrigen Gesichtern, man sah, sie hatten sich heut schon tüchtig geregt. Das hatten sie auch. Über fünfzig Betten waren überzogen, im Speisesaal lange Tische gedeckt, alles war rein, gelüftet, gesonnt, abgestäubt im ganzen Hause. So blieb es nicht lang, das wußten sie. Aber es tat nichts, man konnte ja jeden Tag aufs neue damit anfangen.

»Her mit dem.« Fräulein Pia war allen voraus und ergriff einen leichten, langgestreckten Korbstuhl. »Dahinein kommt der lahme Albert; der gehört mir noch vom vorigen Jahr her. Auf den freu' ich mich am meisten.« Alle lachten. Sie hatte sich im Lauf des Vormittags schon auf sechserlei Kinder am meisten gefreut. Aber sie lachte tapfer mit. Rotes, krauses Haar hatte sie und eine etwas aufgestülpte Nase, lustige, blaue Augen dazu; sie kutschierte allen voran. Fräulein Grosse war eigentlich hier und da unzufrieden, es dünkte sie nicht ganz passend, daß Pia so übermütig sei, das Leben war zu ernst dazu. Indessen, wenn man es recht überlegte, so konnte sie ihren Frohsinn gut gebrauchen, das wird man schon noch zu sehen bekommen. Fräulein Grosse hatte allein keinen Stuhl zu schieben; das verbot ihre Stellung als Vorsteherin. Sie hätte aber gern einen gehabt, sie war oft so verlegen, immer vorn dranstehen und repräsentieren zu müssen; das verbarg sie dann unter einer strengen Miene. Eigentlich wollte sie lieber die einfachste Arbeit tun, aber da war nun nichts zu machen. Der Zug brauste herein, es hatte gerade noch an den Bahnhof gereicht. Aber, hilf Himmel, was wurde da alles herausgeschoben, 180 getragen, geführt! »Hierher, August!« Schwester Eva, die allen wohlbekannt war, sie hatte schon manchen Wagen voll kranker Kinder und Leute hierhergebracht, stand auf dem Trittbrett. »Jetzt greifen Sie fest an, fest und sachte zugleich – vorsichtig.« Da hoben sie miteinander eine Frauengestalt aus dem Wagen. »Die Krücken besonders – so – jetzt ganz nah her mit dem Fahrstuhl,« da saß sie schon drin, ein wenig stöhnend zwar, aber doch mit unzerbrochenen Gliedern. Das hatte sie auf der langen Fahrt nicht mehr geglaubt. Es rief schon wieder auf einer anderen Seite nach August. Jetzt, da Jungfer Sophie, so hieß die Reisende, allein saß, kam Fräulein Grosse zu ihr heran. »Grüß Gott, Sophie, das ist schön, daß Sie wiederkommen.« Sie streckte ihr die Hand hin. Aber da kam sie schlecht an. »Schön ist das? So? Wenn eins ein solches Leben führen muß? Aber es gibt Leute, für die ist alles gut genug.« Ja, so hatte es Fräulein Grosse freilich nicht gemeint. »Wir wollen unser möglichstes tun, Sophie,« sagte sie. »Ach, ich habe mich unterwegs geärgert.« Sophie hatte ein gelbes, grämliches Gesicht. »Sollte man's glauben, daß Schwester Eva mit den Kindern gesungen hat? ›Der Lenz ist angekommen‹ und so Sachen. Man hätte meinen können, es sei ein Vergnügungszug.« »Das ist es auch für viele.« Fräulein Pia rief es herüber. Sie bettete soeben den lahmen Albert, auf den sie sich so gefreut hatte, in seinen Stuhl. Das war ein zwölfjähriger Knabe mit blassen, spitzigen Zügen, aber leuchtenden Augen. »Einmal für mich,« sagte er. »Ich hab's schier nicht erwarten können, bis es endlich Mai war.« Ein buntes Gewimmel war ringsherum. Einmal gab es ein Gelächter. Alle sahen hin. Da stand Fräulein Amalie mit erstaunten Augen vor einem lachenden Kind, 181 das wie zur Probe von einem Fuß auf den andern trat. Sie hatte es vorsichtig aus dem Wagen gehoben und in den Stuhl setzen wollen, da war es ihr unter den Händen weggelaufen. »Ja, so, du hast gehen gelernt? Keine Krücken mehr? Keinen Stock? Das laß ich mir gefallen, Mariele.« Mariele hinkte noch ein wenig, man hatte ihm voriges Jahr ein Stück vom Hüftknochen herausgenommen, und es hatte auch noch eine Wunde, aber was tat das? Es konnte doch wieder ohne Stock gehen. »Ja, dann lauf nur.« Es kam ein anderer Insasse in den Stuhl, und endlich waren alle untergebracht. Sechs Stühle, die andere Schar ging zu Fuß. »Stütze dich fest auf mich, Pauline.« Fräulein Dorothea bot ihren Arm einem elend aussehenden jungen Mädchen. »Hast du keinen guten Winter gehabt?« »Ach nein, ich bin fast immer gelegen.« »Jetzt wollen wir nicht mehr daran denken. Sieh, da ist schon das Haus. Der Weg ist nur jetzt, nach der Reise, so weit. So, da sind wir.«

Das Haus sah den Ankömmlingen aus hellen Fenstern freundlich entgegen. Mitten im Garten stand es, trug ein Schild mit großen goldenen Buchstaben über der Tür: Bethesda. Ja, möchte hier auch der Engel kommen und das Wasser heilsam erregen; an Händen, die die Kranken hineintrugen, fehlte es hier wahrlich nicht.

Der Garten stand im schönsten Schmuck. Tulpen und Kaiserkronen in den Beeten, blühendes Jelängerjelieber umspann eine große Laube, ein paar mächtige Apfelbäume sahen aus wie große, rötlich schimmernde Blumensträuße.

Vor dem Haus ein kiesiger Platz, Bänke der Wand entlang. Aber jetzt ging es zuerst ins Haus hinein.

»Ah, das riecht fein. Das dort muß die Küche sein, nicht?« Eine Frau kam heraus, sie trug eine große, weiße 182 Schürze und hatte ein freundliches Gesicht. »Klang, klang, klang,« sie schlug mit dem Hammer an die Glocke, die dicht neben der Küchentür hing, das hallte durchs ganze Haus. Es wäre heute nicht nötig gewesen; denn es waren alle versammelt, die mit zu Tisch gehen sollten, aber sie hatten sogleich erfahren sollen, welchen Klang die Essenglocke habe. Das war so eine Art von Begrüßung, die Kathrine, die Köchin, den Ankömmlingen darbrachte.

»Ich will nicht hoffen, daß hier umsonst gedeckt und gekocht ist,« sagte Fräulein Grosse. Das Tischgebet war gesprochen, und alle saßen an ihren Plätzen. Nein, es war nicht umsonst gekocht worden, das konnte man nicht sagen. Im Nu waren die Suppenteller leer, es war aber auch eine Suppe danach. Nicht bei allen ging es so schnell; manche Kinder sollten erst wieder essen lernen, besonders solche, die aus den Elternhäusern kamen; die, die schon vorher in einem Krankenhaus gewesen waren, konnten es besser. Wo viele sind, stecken sie einander an, das gilt auch vom Essen oder vielmehr von der Lust dazu. Manch ein Mutterkind hatte daheim gesagt: »Ich kann keine Suppe essen, ich kann nicht.« Nun sah es mit Staunen, wie das bei den andern ging, ein Löffel voll um den andern. Und siehe da, es ging auch bei ihm. Das war noch gut; denn jetzt kam Braten und Salat. Der ging denselben Weg. »Seid ihr alle satt?« Dann kam das Tischgebet, und dann durften sie alle in den Garten hinaus. »Aber nicht so weit weglaufen, bleibt nah am Haus, daß man euch mit Namen rufen kann.« Fräulein Pia kam auch mit heraus. »Nachher spielen wir miteinander,« sagte sie, »ihr müsset euch einstweilen besinnen, was wir zuerst nehmen wollen.« Da kam ein schwarzgekleideter Herr mit einem Bart und einer Brille durchs Eingangstor 183 auf das Haus zu. Es war ein Doktor, das war gar keine Frage, soviel Erfahrung hatten diese Kinder alle. Richtig, Jungfer Sophie lag in ihrem Fahrstuhl dicht am Weg, die begrüßte er, sie war voriges Jahr auch hier gewesen. »Grüß Gott, Herr Doktor,« sagte sie. Er mußte also nicht bös sein, denn selbst ihr grämliches Gesicht verzog sich zum Lächeln, als er ihr die Hand gab, das war den Neuen tröstlich.

»So, jetzt kommt eins ums andere ins Haus hinein, wie ich es mit Namen rufe,« sagte Fräulein Pia, und dann lief sie schnell dem Doktor nach, denn sie mußte ihm helfen. Also Fräulein Pia war auch dabei, es war überhaupt nicht so arg, wie es die ängstlichen Gemüter befürchteten. Jungfer Sophie erzählte nämlich den draußen Wartenden, daß jetzt alle ihre Verbände aufgemacht und alle ihre Wunden untersucht würden, und daß da alles Heulen und Schreien nichts helfe. Die Kinder hatten bis jetzt nicht an Heulen und Schreien gedacht, aber auf das hin wurden sie doch bedenklich. Jungfer Sophie lag etwas unbehaglich da, denn schon fing das eine und andere an zu weinen, bis Fräulein Amalie aus dem Haus kam und wieder Frieden in die Gemüter brachte. Das war ihre Art so; man brauchte nur in ihr ruhig-freundliches Gesicht zu sehen, so wurde man schon bedeutend sicherer. Sie wußte auch das Interesse für die Doktorsstube zu wecken, indem sie erzählte, daß sie dort drinnen alle auf die Wage gestellt würden, eins ums andere. »Und,« setzte sie hinzu, »dann wird man schon sehen, wer am meisten Brot und Suppe und Spätzle ißt und am meisten Milch trinkt, denn an den wächst ein Pfund ums andere hin, das sieht man dann das nächstemal.« Es war ein Büblein dabei, das kam von der Alb herunter und 184 gehörte armen Häfnersleuten, dem schoß das Blut ins Gesicht, als es das hörte: »Wer am meisten essen kann.« Das hatte es noch nie erlebt, daß man so sagte. Daheim galt immer der am meisten, der das kleinste Stücklein Brot brauchte. Hier schien es ein Verdienst zu sein, wenn man viel essen konnte, daß »ein Pfund ums andere an einen hinwächst«. Das Büblein wußte noch nicht, wieviel gutes Blut die Krankheit fraß und wie nötig man für neues sorgen mußte. So sagte es nur mit einem staunenden Atemzug: »Dem Hüllenbauern seine Sau hat man auch gewogen, die ist über zwei Zentner schwer gewesen.« Da lachten sie alle, und Fräulein Amalie konnte wieder ins Haus gehen, denn dort gab es auszupacken und einzuräumen genug. Und drunterhinein mußte sie hier und da einen Blick aus dem Fenster werfen und froh sein, daß sie wieder hier war. Denn im Winter war das Haus geschlossen, da lebte sie daheim bei den Ihrigen. Das war auch schön; aber sobald der Frühling kam, zog es sie wieder zu den kranken Kindern, die soviel Liebe und Pflege brauchten, und denen sie so gern das beides gab.

Draußen floß, dicht am Garten, der Neckar vorbei. Auf den ziehenden Wellen lag die Sonne, da glitzerten sie tausendfältig. Drüben über dem Tal hoben sich Berge empor; Wimpfen auf der Höh' grüßte herunter, samt seinen Kirchlein. »Dorthin gehn wir am Sonntag mit den Kindern, die gut zu Fuß sind,« dachte sie und freute sich drauf, und freute sich auf die Überfahrt mit der Fähre über den Neckar, freute sich der Kinder und ihrer Arbeit an ihnen. Die Kinder sahen es ihr an; manche von ihnen, die von daheim gekommen waren und sich ein wenig gefürchtet hatten vor der Fremde, atmeten befreit auf. Denn hier umgab sie Liebe, da war nichts zu fürchten. 185 Fräulein Amalie hatte Mädchen zu versorgen, drüben im großen Bubensaal waltete Fräulein Pia. Dort ging es laut und lebhaft zu; jeder hatte ein Fach, in das er seine Habseligkeiten legen konnte; allzuviele hatte keiner. Ein paar Hemden und Strümpfe und einen zweiten Anzug, falls es gut ging. Als alles in Ordnung war, fielen schon die Strahlen der sinkenden Sonne schräg durch die Fenster. Der große Saal war voll goldenen Lichtes. Laute, starke Töne hallten von unten herauf. Die Buben kannten sie schon: »Das ist die Eßglocke,« die hatten sie heut mittag kennen gelernt, sie gingen dem Schall gern nach, denn sie hatten heut doch viel erlebt, gereist, untersucht, ausgepackt, im Garten gespielt, sie hatten Hunger.

Als alle satt waren, kam der Abendsegen. »Ja, fürwahr, uns führt mit sanfter Hand ein Hirt durchs Pilgerland der dunkeln Erde, uns, seine kleine Herde, Halleluja!« So sangen sie. Nicht alle konnten das Lied, aber es klang doch stark aus vielen Kehlen. Dann das Vaterunser, Fräulein Grosses Stimme zitterte ein wenig dabei; nun waren ihr so viele Kinder anvertraut; sie nahm es ernst und schwer mit ihrer Aufgabe, aber so recht froh daran wurde sie nur selten.

Als aber jetzt alle die Kinder zum Gutenachtsagen an ihr vorübergingen und jedes ihr die Hand reichte, da wurde es ihr warm ums Herz: »Du bist der rechte Vater über alles, was da Kinder heißt, im Himmel und auf Erden.« Nein, sie brauchte nicht allein für alles aufzukommen, was hier geschah, es wäre doch zu schwer für sie gewesen. Ein blauäugiges Kind kam zuletzt nach allen, das sah aus einem schmalen Gesichtchen rührend vertraulich zu ihr hinauf. »Möchtest du etwas?« sagte Fräulein Grosse. Es kam weicher heraus, als sie selbst 186 es gewohnt war. Das Kind nickte. »Was denn? wie heißt du denn?« »Dorle.« »Was möchtest du denn, Dorle?« »I möcht' wieder heim zu meiner Mutter.« Da hob sie das leichte Gestaltlein zu sich herauf und küßte das Kind auf sein bittendes Mäulchen. Es war niemand sonst mehr im Saal, sonst hätte sie es wohl nicht getan. »Du darfst auch wieder heim zu deiner Mutter,« sagte sie. »Aber vorher mußt du wieder gesund werden, daß deine Mutter eine Freud' an dir hat, wenn du kommst. Gelt?« Das Kind sah aufmerksam in das Frauengesicht. Dann nickte es entschlossen. Es hatte eigentlich heut wieder heimgehen wollen, aber am Ende konnte es auch noch ein wenig warten. »Komm, ich zeig' dir den Weg in deine Stube. Sie heißt Jericho. Guck, jetzt wird's Nacht, da kann man doch nicht mehr verreisen, da ist man froh an seinem guten Bettlein.«

Da kam auch schon die Pflegerin, Fräulein Dorothea, zur Tür herein. »Es fehlt mir ein« – sie staunte, das Kind so zutraulich an Fräulein Grosses Hand zu finden. Sie sah jetzt nicht gestreng aus, sie hatte ein weiches, bewegtes Gesicht. Da ging das Dorle aus einer beschützenden Hand in die andere und barg sich ohne großes Heimweh mit den anderen Vöglein im weichen Nest, und Liebe wachte über ihnen allen.

Es war früh am andern Morgen. Da fing erst recht das Amt des Badaugusts und seiner Frau, der Badmarie, an. Im Garten sangen die Vögel, und auf den Neckarwiesen wogten die weißen Morgennebel, da kamen sie schon aus ihrer sauberen Stube und verschwanden unten im Haus in den Baderäumen. An ihnen sollte es nicht fehlen, wenn die Kranken nicht gesund würden, das stand einmal fest. Klinglingling, erscholl es bald. Und 187 Augusts Stimme tönte hintendrein: »Nebelhöhle – Wildbad – Teinach.« Wer fremd im Hause war, der mußte zuerst staunen. Was sollte das bedeuten? Aber das erfuhr er dann bald. Alle Räume im ganzen Haus hatten ihren Namen – dies nun waren die Namen der Baderäume, wo schon in den Wannen die heilsamen Wasser warteten. Oben im Haus war es auch schon lebendig. Wer nicht gehen konnte, wurde getragen, was gut zu Fuß war, das huschte in flüchtiger Morgentoilette die Treppen herunter. Und ins Wasser. Die Pflegerinnen halfen den Kindern hinein. Huh – da gab es manches Sträuben, wenn die Soole so ungewohnt juckende, prickelnde Gefühle auf der zarten Haut erzeugte, wenn eins seine Wunden vor dem Wasser schützen wollte und schreiend und zappelnd vor der Wanne stand. Aber zuletzt saßen sie alle drin – es war nicht so arg, wie es von weitem aussah, und das Beispiel der »Alten«, derer, die schon öfters dagewesen waren, wirkte auch ansteckend. Ja, nun konnte sich Jungfer Sophie wieder ärgern, wenn sie wollte. Denn aus den unteren Räumen drang heller Gesang in den Garten heraus. Das waren die Kinder, die im Bade saßen. »Kennt ihr das Land in deutschen Gauen, das schönste dort am Neckarstrand?« und: »Preisend mit viel schönen Reden« und andere mehr. Da verging die Zeit, da man still im Wasser sitzen sollte, am schnellsten. Aber Jungfer Sophie ärgerte sich heute nicht. Sie war schon wieder ein wenig in den Geist des Hauses eingetaucht, der im ganzen doch ein friedlicher und fröhlicher war. Ja, je mehr Krankheit hier beisammen war, Wunden und Beulen und auch Schmerzen, je mehr mußte man aufs Fröhlichsein denken. Auch hatte Sophie bereits einen guten Morgenkaffee ans Bett bekommen, 188 und eben jetzt half ihr ihre Pflegerin in die Kleider und dann in den Fahrstuhl. Dort konnte sie den ganzen Tag im Freien liegen, nein, sie konnte sich nicht so ärgern, wie sie eigentlich zu müssen meinte. Das Ärgern, das vergaß sie in den folgenden Wochen noch mehr und mehr. Ja, nach einiger Zeit fing sie an, mit geschickten Fingern kleine Püppchen anzuziehen, damit beglückte sie die, die ihren Stuhl am öftesten aus der Sonne in den Schatten schoben. Nur gar zu weit von den andern sollte er auch nicht entfernt sein. Wenn Fräulein Dorothea mit im Garten war und die Kinder der Kreisspiele müde wurden, dann versammelte sie so gern die ganze Schar um sich und erzählte den aufhorchenden Kindern Geschichten, merkwürdige zum Teil. »Sie sind gewiß großenteils erdichtet,« sagte Jungfer Sophie etwas grämlich, »und man sollte den Kindern nichts dergleichen erzählen,« aber sie selber mochte gar zu gern zuhören, wenn sie es auch nicht gerade zugab. »Mir schadet es nichts mehr,« sagte sie. »Aber was sollen die Kinder mit so Geschichten? In meiner Jugend ist es niemand eingefallen, dergleichen zu tun.« Da lachten sie alle, und wollten nur immer noch mehr hören.

Ich wollte, ich könnte sie alle herzählen, die da im Kreis herum saßen, lagen und standen. Wie viele waren dabei, denen die vier Wochen in Bethesda Sonne und Wärme für das ganze Jahr, ja für noch viel länger geben mußten.

Da war der lahme Albert, auf den sich Fräulein Pia so sehr gefreut hatte. Der war noch viel kränker als voriges Jahr, mußte gehoben und getragen werden und hatte viele Schmerzen. Von dem allein könnte man ein Büchlein füllen, und es wäre mancher frische, starke Knabe, der 189 sich etwas von ihm merken könnte. Denn er hatte den Mut, die Zähne zusammenzubeißen, wenn man seine tiefen Wunden untersuchte und verband, und die Tapferkeit, lächelnd zu sagen: »Es geht gut,« wenn man ihn nach seinem Befinden fragte, obgleich seine blassen Züge anders redeten. Auch konnte er das Klagen lassen, wenn die gesunderen Genossen an schönen Nachmittagen in den Wald durften und so lustig an ihm vorbeizogen zu frohen Spielen, er aber still daheimbleiben mußte. Manchmal durfte er mit, dann fuhr ihn seine Pflegerin, die lebhafte, heitere Pia, sachte – sachte – daß es nicht schütterte, aber es gab dennoch manchen Stoß, und ihm tat der kleinste weh. Dann sahen sie einander an und versuchten zu lachen. Immer ging es nicht, aber doch so gut als möglich – mit dem Lachen nämlich.

Im Wald aber, wenn der Stuhl unter einer dichten Eiche stand, zwischen deren grünem Geäst kleine, goldene Sonnenfunken und blaue Himmelslichter hereinschienen, wenn die andern, je nach ihrem Können, sich zu heiteren Spielen verteilten, dann führten seine feinen, mageren Hände den Stift und zeichneten Bäume, Büsche, Blumen und Moose auf ein Blatt Papier. Wenn, was von ihm zu erzählen wäre, allein ein Büchlein füllen könnte, so könnte er selber Blatt um Blatt mit zarten Bildchen schmücken.

Und da war Charlotte, das Königskind, von dem an anderer Stelle schon erzählt ist, der Findling, der vor der Türe der Kinderheilanstalt lag und der herangewachsen war zu einem leidenden Leben, mit verkrüppelten Händen, denen der und jener Finger fehlte. Aber aus den schwarzen Augen sah ein fröhliches Herzlein in die Welt hinein, und jeder Tag brachte etwas zum Freuen. Sie kam sich nicht 190 als ein verkürztes Kind des lieben Gottes vor. So kamen sie sich hier alle nicht vor. Sie hatten alle schon mit Wunden und Schmerzen Bekanntschaft gemacht und hatten alle etwas zu tragen, manche viel, manche auch weniger, und alle freuten sich auf die Zeit, »wann ich wieder gesund bin«. Daß diese Zeit bei vielen in weiter Ferne lag, daß sie bei manchen erst dort kam, wo man's gar nicht mehr Zeit heißt, sondern Ewigkeit, das focht sie heute nicht an. Das Heute, das brachte Spiele im Garten, oder ein Päcklein von daheim, oder einen Waldspaziergang, oder das Aufbrechen eines bösen Geschwürs, das von da an nicht mehr weh tat, oder ein Leibessen. O ja, das Heute war schön.

Und da war der kleine Thedi mit dem kurzen Fuß, dem man die Kniescheibe herausgenommen hatte, und der umherhüpfte wie ein junger Spatz, und die lange, magere Pauline mit dem grünen Augenschild, die immer im Schatten sitzen mußte, und das feine, zarte Dorle, dem gar nichts fehlte als die Lebenskraft, und das am allerliebsten ganz still neben seiner Pflegerin saß und glücklich war, wenn es seine Händlein in die große Hand schieben konnte. Da waren noch viele, viele, die man den gesunden Kindern zeigen möchte: »Seht ihr's, wie gut ihr's habt? Seht ihr's, wie fröhlich und dankbar sie sind?«

Und es vergingen ihnen – essend, badend, spielend, schlafend, Tage und Wochen. Man konnte bereits sehen, wer am meisten »Milch und Brot, Fleisch und Spätzle« gegessen hatte und davon schwerer geworden war. Und auch das konnte man sehen, wer trotz der guten Pflege elend blieb und wer, zur Freude derer, die ihn pflegten, an Kraft und Blüte zugenommen hatte. Hier und da heilte eine Wunde, hier und da brach eine neue auf, 191 hier und da kamen Eltern, ihr Kind zu besuchen, und staunten, daß es kein Heimweh habe. Es kamen Regentage, die endlos lang waren und die man im Saal verspielen mußte, und es kamen schöne Sonntagsgänge nach Wimpfen in das hochgelegene Kirchlein oder nach Kochendorf für die, die gut marschieren konnten. Und eines Tages kam ein Brief aus Nürnberg, daß eine ganze Anzahl Nürnberger Kinder von einer Ferienkolonie hier eintreffen sollten. »Ja, wo schlafen denn dann die?« fragte eins der Kinder, das etwas davon aufgeschnappt hatte. »Die? schlafen in euren Betten.« Fräulein Pia sagte es, aber sie machte kein so lustiges Gesicht dazu wie sonst manchmal. Denn nun ging es ans Abschiednehmen, und Abschiednehmen war eins von den Dingen, die ihre hellen Augen am leichtesten trüben konnten. Das ging ihr nicht allein so. Nun waren sie so miteinander eingelebt, Pflegende und Pfleglinge. »In unseren Betten?« Die Kinder sagten es einander nach. »Dann müssen wir fort?« »Dann dürfet ihr wieder heim,« sagte Fräulein Amalie. »Das wird schön, da kann man sich doch drauf freuen.« Ja, das war freilich auch eine Ansicht von der Sache, da konnte denn schon wieder das Freuen angehen, es war ja nicht auszuhalten ohne das. Es war aber bei einigen noch nicht so ganz echt, es hatten nicht alle eine schöne Heimat, in die sie zurückkehren konnten. Da ging die Gartentür auf – sie waren alle miteinander auf dem freien Platz vor dem Hause –, und herein kam der Badaugust mit seiner Frau, der Badmarie, die trugen einen großen, braunen Weidenkorb voll Kirschen und setzten sie mitten unter die Kinder hinein. »Ach, Kirschen, wem gehören die?« »Die schickt euch der Herr Doktor.« Der Badaugust lachte übers ganze Gesicht, und seine Frau 192 auch. Denn wenn den Kindern etwas Gutes widerfuhr, so war es fast noch besser, als wenn es ihnen selbst geschah. Das war nun ein gutes Mittel gegen den Abschiedsschmerz, der ohnehin noch nicht ganz Gegenwart war. Man sieht, der Herr Doktor stand sich nicht schlecht mit seinen kleinen Patienten. Kirschen, und gleich einen halben Zentner, das stiftet keiner, der einem nicht wohl will. Das wußten sie aber auch schon lange und ohne die Kirschen, daß er es gut mit ihnen meinte. »Wollt ihr wohl die Steine heraustun, ihr Racker?« Sieh, da kam er gerade dazu, als sie alle schnabulierten. Er tat sehr bärbeißig, aber hinter der Brille leuchteten ihm die Augen vor Vergnügen. »Das könnt' ich gerade noch brauchen, daß ihr euch krank esset an den Kirschensteinen. Bin froh, wenn ihr glücklich gesund fort seid.« Jungfer Sophie hatte auch ihren Teil auf dem Schoß, aber sie bezog dieses Frohsein nicht auf sich, denn sie gehörte zu denen, die noch einmal einige Wochen dableiben sollten. Der lahme Albert gehörte auch zu ihnen und dann das kleine Dorle. Das war immerhin ein Trost, daß nicht alles auf einmal schied.

Es dauerte nicht lang, so brach der bewußte Morgen an. Die Fahrstühle fuhren wieder vor, die Bündel waren gepackt. Ade, ade, behüt' euch Gott, die ihr nun wieder hinaus müsset. Die Köchin Kathrine hatte beständig den Schürzenzipfel an den Augen, Jungfer Sophie schenkte noch einige Püppchen her, ade, ade.

Da fuhren sie hin, die nicht gehen gelernt hatten, da schritten die andern, dicht um ihre Fräulein gedrängt, da ging Fräulein Grosse und machte vor lauter innerer Bewegung ein grimmiges Gesicht. Dann entschwand der Zug der Scheidenden auf der weißen Straße, Jungfer 193 Sophie lehnte sich in ihren Stuhl zurück, sie hatte ihnen bis jetzt nachgesehen. »Da.« Kathrine kam und brachte ihr einige Erdbeeren. Sie war für eine halbe Stunde Hausverwalterin, da konnte sie sich schon eine solche Schenkung erlauben. »Wenn man bedenkt, was aus allen wird« – da rief sie ein starkes Zischen in die Küche zurück; dort kochte wohl das Fleisch über? Es nützte ja auch doch nichts, sich auszudenken, was aus allen werde.

Bald kam der Zug gefahren, er donnerte über die Neckarbrücke; nachher sah man ihn nochmals für einen Augenblick, als er landabwärts fuhr, weiße Tücher flatterten vor den Fenstern, ade, ade. Dann kamen die Begleitenden zurück, die Fahrstühle waren aber nur mit Gepäck beladen, alle, bis auf einen. Darin saß ein blondlockiges Mädchen, ein feines, schönes Kind mit strahlenden blauen Augen, etwa sechsjährig, es hatte zarte, rosige Wangen. »Aber es ist sehr krank,« flüsterte die begleitende Schwester, die es aus einem Krankenhause gebracht hatte, Fräulein Dorothea zu. »Der ganze Unterkörper steckt in einem Gipsverband.« Es war aber jetzt nicht Zeit zu ausführlichem Bericht, denn es ging lebhaft genug zu. Die Nürnberger waren offenbar nicht schwerkrank, das gab ein Geschwirre und Geschnatter. Es war eine andere Art von Kindern, als die waren, die soeben Abschied genommen hatten, das war sicher. Indessen waren sie auf ihre Art auch hilfsbedürftig, und das genügte ja. Das war die Hauptsache, nach anderem fragte man hier nicht. Ach ja, wohl waren sie hilfsbedürftig, mehr als man ihnen auf den ersten Blick ansah. Hatten denn keine Mutterhände diese Haare gekämmt, die in verfilzten Zöpfen rauh und wirr lagen? Und mehr als das, die ganzen Kinder – »müssen zuerst ins Bad,« sagte der Doktor, als er sie 194 nach dem Essen sah. »Und die Haare?« »Wo's nicht anders geht, herunter damit.« Das war eine große Betrübnis, und es gab Tränen, indessen war nichts anderes zu machen, es ging allzu lebendig zu in diesen dichten Wäldern.

Eins davon wollte der Doktor wieder heimschicken, es hatte eine böse Hautkrankheit, eine solche, die man nur von großer Unsauberkeit bekommt. Es war ein bräunliches, neunjähriges Dirnlein, mit einem schwarzen Lockenwald und hellen, schwarzen Augen. »Hat dich denn deine Mutter nie gewaschen?« »Doch, eh' sie ins Spital kam, sie ist schon lang fort.«

Da sahen sich die beiden an, der Doktor und die Pflegerin; das Ende vom Lied war, daß das Kind dablieb. »Aber aufpassen heißt's, sonst steckt sie uns das ganze Haus an.«

Das wollte Fräulein Dorothea gern tun, das und alles Nötige. Und als vierzehn Tage um waren, da war des Lisabethleins Haut jung und neu, und das ganze Kind wie ein geschorenes, gebadetes Lämmlein. Und wie ein Lämmlein trottete es auch hinter seiner Pflegerin drein, da die andern ihre Liebe mehr verteilten und jauchzend in Haus und Garten spielten. »Es schlägt an, es schlägt an.« Kathrine konnte fast nicht genug kochen, diese Kinder gediehen zusehends; es war ein Genuß, es mitanzusehen. Ach, daß sie wieder in ihre alten Verhältnisse zurück sollten; hier konnte man es nur schwer übers Herz bringen, sie ziehen zu lassen. Aber es war noch nicht ganz so weit, zuerst durften sie noch sonnige Tage erleben, Liebe und Freude genießen. Das Haus war nun voll bis aufs letzte Eckchen, in den Städten hatten die großen Ferien begonnen, da waren viele Stadtkinder 195 gekommen, bleichsüchtige Mägdlein und lernmüde, schnellwachsende Buben; es war eine andere Art zu leben als am Anfang. Die schwerer Kranken waren nun abgereist, auch der lahme Albert, auch Jungfer Sophie. Sie sah nicht mehr so grämlich aus wie bei ihrer Ankunft. Es ging ihr ein wenig besser, und sie hatte viel Liebe genossen und hatte gesehen, daß ihr Elend nicht das einzige sei. Die Vakanzkinder konnte sie nicht recht vertragen. Sie nahm es ihnen übel, daß sie keine Wunden und Schmerzen hatten und daß manche von ihnen hübsche, buntfarbige Kleidchen trugen. Es kam ihr nicht recht verteilt vor.

Da war es vielleicht besser, daß ihre Zeit jetzt gerade abgelaufen war. Sie nahm nun dennoch ein wenig Sonne und Wärme mit sich nach Hause, in das enge Stüblein, das sie bei einer Schwester bewohnte.

Das »Prinzeßchen«, wie das kleine, blondlockige Mädchen, das zugleich mit den Nürnberger Kindern angekommen war, bald im Hause hieß, das war schon lang vor allen andern wieder abgereist. Es war ein so sonniges, liebliches Kind, alle hatten es schnell ins Herz geschlossen. Da fing es einmal mitten in der Nacht an, aus der Nase zu bluten, so stark und so anhaltend, nichts half dauernd, es kam immer wieder. Als der Morgen kam, lag ein blasses, elendes Geschöpfchen da. »Es stirbt uns,« sagte der Doktor. Man brachte es ins Spital zurück, aber dort erholte es sich wieder.

Kinder weinen einem Kamerädlein nicht lange nach. Am selben Tag, da das Prinzeßchen auf der Tragbahre an die Bahn gebracht worden war, kam ein leichter Wagen an der Gartentür vorgefahren und ein freudebringender Besuch entstieg demselben. »Kinder,« sagte Fräulein Grosse, als die beiden Damen, die so unsäglich vornehm 196 aussahen und die Haus und Garten besichtigten, wieder eingestiegen waren, »Kinder, das gibt ein Fest! Ihr seid alle eingeladen auf den Lautenbacher Hof!«

»Ah!« die schon hier gewesen waren, wußten viel zu erzählen, wie schön es dort sei; denn diese Einladung kam jedes Jahr. Alle, alle durften da mitfahren, auch die an Krücken, auch die allerärmsten. Solcher waren jetzt gerade nur wenige da, aber sie, denen nicht so viele Freuden blühten, freuten sich denn auch am allermeisten.

Vier bekränzte Leiterwagen hielten am Gartentor. Dahinein wurde alles gepackt, was Kinder hieß, und zuletzt stiegen die Pflegerinnen ein. Diesmal hätte sich Jungfer Sophie lang ärgern können, denn sie sangen und sangen aus vollen, fröhlichen Herzen heraus. Die Wagen holperten, sie wurden durch und durch geschüttelt, aber das tat der Freude keinen Eintrag. Die festen, starken Gäule spitzten die Ohren und trabten um so fröhlicher dahin, je voller die frohen Lieder ertönten. Dies war ja eine Vergnügungsfahrt, nicht nur für einige, nein, für alle.

Für alle? Vier hatten zurückbleiben müssen, flüchtig streiften die Gedanken der Fröhlichen das ganz verdunkelte Zimmer, in dem vier Mädchen mit entzündeten Augen lagen, die keinerlei Helle ertragen konnten. Sie hatten die Genossen abfahren gehört, hatten Peitschenknall und Abschiedsrufe vernommen und hatten die schmerzenden Augen in die Kissen gedrückt, denn es wollte etwas Salziges, Bitteres da herauskommen, und das tat den Augen noch weher als den Herzen, die auf die Freude verzichten mußten. Da ging die Tür. Leise kam Fräulein Grosse herein, die daheim geblieben war. Fräulein Grosse? Was würde sie wollen? Sie pflegte ja nicht. »Wir haben schon Tropfen in die Augen bekommen,« sagte Lore, die 197 Älteste. Die Tropfen taten weh, sie wollten sie lieber nicht zweimal bekommen. »Ich bring' euch keine Tropfen, ich habe euch etwas Gutes.« Da fühlten sie alle etwas Rundes, Samtiges in der Hand. Ah, Pfirsiche! »Den Weg zum Mund findet ihr doch im Dunkeln?« Ach ja, den fanden sie, fanden ihn auch für den zweiten und dritten Pfirsich. »Und jetzt will ich euch eine schöne Geschichte erzählen, ich habe sie extra für euch gelesen. Heut habe ich Zeit für euch.« Wie sie staunten! Das konnte man sich schon gefallen lassen. Fräulein Grosse war im Dunkeln so viel unbefangener und lieber, als wenn man sie ansah. Aus der einen Geschichte wurden drei, und schließlich sangen auch die vier im verdunkelten Zimmer, sangen, alle Schmerzen vergessend, als ihre glücklichen Kameraden eben in den Torbogen des Lautenbacher Hofes einfuhren. Ja, da war es freilich schön. Da war ein Garten mit Blumenbeeten, die an Schönheit alles Gesehene übertrafen, da war ein Park mit langen, gedeckten Tischen. Da waren zahme Rehe und ein Hirsch mit stolzem Geweih in einer Umfriedigung, da waren Pfauen und Truthähne, Pfauen, die ein Rad schlagen, und Truthähne, die dunkelrot werden und kollern konnten, wenn sie etwas Rotes sahen. Da gab es Schokolade und Kuchen und Obst, und eine Schaukel gab es und einen Teich mit Goldfischen. Ach ja, es war schön. Es war wohl gut, daß Fräulein Grosse die Zurückbleibenden nicht vergaß, die Reisenden hatten keine Zeit, an sie zu denken. Doch ja, am Abend, als sie unter Singen und Jauchzen angefahren und ausgestiegen waren, kam das eine oder andere zu ihnen hinein: »Wie ist's euch gegangen? Oh – bei uns ist's schön gewesen.« Sie erwarteten wohl, daß die Zurückgebliebenen traurig oder neidisch die Frohen 198 empfangen würden? Aber das geschah nicht, dazu war kein rechter Grund vorhanden. Es war auch bei ihnen schön gewesen. Das war unbegreiflich, aber darum war es doch so. Ganz voll Duft war das Zimmer, ein Rosensträußchen stand an jedem Bett, ein Täfelchen Schokolade lag daneben, und die Herzen waren hell und warm. Sollte man's denken? Fräulein Grosse? Sie war so ernst und würdig an der Haustür gestanden, als die frohe Schar zurückkam, und hatte alle ermahnt, die Schuhe zu reinigen, es sei frisch geputzt. Da war es am Ende – am Ende ein Vorzug, daheim bleiben – zu müssen? Da lag am Ende ein Glück im Kranksein, im Entbehrenmüssen? wenn man dann soviel Liebe erfährt? Wer konnte es wissen? Am übernächsten Tag reisten die Nürnberger ab. Es war jedesmal ein Vom-Herzen-Weggeben für die Pflegenden und ein Vom-Herzen-Weggehen für die Kinder. Aber so geht es ja durch das Leben hindurch. Ein Häuflein ums andere kam und ging, bis der Herbstwind die Bäume rüttelte, bis die Dahlien im ersten Reif die Köpfe hängten. Da reiste auch Fräulein Grosse mit ihren jungen Stützen wieder ab. Hinter sich ließen sie das liebe Haus. Es war leer und dunkel in den Räumen, die Läden geschlossen, kalter Wind rüttelte daran. Nur der Badaugust mit seiner Frau, der Badmarie, war noch da. Nicht mehr lang, da gingen auch sie. »Von mir aus könnten sie gleich wieder von vorn anfangen,« sagte er zu ihr. »Von mir aus auch,« sagte sie. Das war das letzte, was die Abreisenden hörten. Es war ihnen auch so. Nun kam der Winter und ließ das Leben erstarren. Nein, er schloß es nur ein, daß es aufgehoben war für den künftigen Frühling. Und da konnte es wieder neu beginnen, beides, das Leben und die Liebe. 199

 


 


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