Anna Schieber
Gesammelte Immergrün-Geschichten
Anna Schieber

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Der Bändelmann.

Droben im Oberland, gegen den Bodensee hin, war es. Die Sonne war am Untergehen und grüßte noch zum Abschied freundlich über das ganze Land hin, über die reifen Kornfelder und über die Dörfer und Höfe, über Wälder und Hügel und Obstgärten. Es ist ein schönes Land dort oben, die Sonne kann es wohl freundlich ansehen. Als sie beinah' hinten am Horizont versunken war und nur noch ein schmaler, goldener Streifen hinter den Hügeln hervorsah, fingen die Abendglocken an zu läuten. Eine rief der andern zu, daß nun der Tag vorüber sei, und wo nur ein Kirchlein zwischen Baumwipfeln heraussah, da hatte es auch eine tönende Stimme, die die Menschen mahnte, jetzt einmal mit der Arbeit aufzuhören und an etwas anderes zu denken, das wichtiger sei als alles übrige. Da und dort auf den Feldern konnte man auch ein Trüpplein Leute sehen, die gleich beim ersten Hall der Glocken die Hände zusammenlegten und still für sich hin beteten, weil sie wußten, daß sie für sich und ihre Arbeit des Segens bedurften, und auch für ihren Schlaf in der kommenden Nacht, daß ihnen da nichts Böses widerfahre.

Grad in die sinkende Sonne hinein schritt der Bändelmann. Er hatte einen großen Pack auf dem Rücken hängen, in schwarzes Wachstuch gewickelt und an einem Riemen über der Achsel befestigt. Vielleicht war er von dem Pack 156 nach und nach ein wenig krumm geworden, den er alle Tage, vom Morgen bis in die Nacht hinein, umhertrug. Er ging ein wenig vornübergebeugt und stützte sich beim Gehen auf einen starken, hagebüchenen Stock. Seine Kappe hatte er weit hinten im Nacken sitzen, da konnte man sehen, daß er graues Haar hatte. Aber das Gesicht, das war rund und rotbackig, und obgleich es von tausend kleinen Fältchen durchzogen war, konnte es doch niemand einfallen, zu denken, daß es einem so alten Mann gehöre, wie der Bändelmann einer war. Das machten die Augen, die so fröhlich und jung in die Welt hineinsahen, als ob sie immerfort etwas Neues und Schönes zu erblicken hätten.

Er schritt rüstig vor sich hin, denn er hatte noch ein gutes Stück Wegs zu gehen bis zu seiner Hütte. Aber er kam nicht so schnell vorwärts, als er eigentlich im Sinn hatte. Das machte, daß ihn alle Leute kannten, die da auf den Feldern waren oder die auf der Straße nach ihren Häusern zugingen, und er sie. Da rief es bald von einem Garbenwagen herunter, bald aus einer Wiese heraus: »Guten Abend, Joachim, auch noch unterwegs? Kommet auch wieder zu uns, die Bäuerin wartet schon. Sie braucht Schurzbändel, und die Buben Hosenträger, und der Ähne eine Zipfelkappe.«

Dann lachte der Bändelmann über sein rundes, rotes Gesicht und gab überall fröhlichen Bescheid und blieb da und dort ein bißchen stehen, besonders wenn Kinder dabei waren. Denn die Kinder, die hatte er am liebsten, wenn er es schon auch mit den Großen ganz gut konnte. Für sie hatte er schöne, buntfarbige, goldgeränderte Helglein in seiner Tasche und rote und weiße Kraftküchlein in einer runden Holzschachtel, und sie liefen ihm entgegen, 157 wo sie ihn erblickten, und waren gar nicht scheu gegen ihn. Wenn er auf einen Hof kam, so riefen sie ihm schon zu den Fenstern heraus entgegen, und dann sammelte sich alles um ihn, die Frau und die Ahne und die Mägde, und oft auch die Knechte, und vor allem die Kinder. Dann breitete er seine Waren aus: Knöpfe und Nadeln und Faden, Bändel, grobe und feine, Pfeifenschnüre und Hosenträger, Milchseihtücher und Zipfelkappen, und um den Niklastag herum auch Lebzelten. Und dazu wußte er immer etwas Neues. Er kam in allen Ortschaften und Höfen herum, fast bis an den See. Da sagte dann oft ein Bauer zu ihm: »Joachim, wenn Ihr wieder nach Reutti kommet, so saget auch meinem Bruder, dem Vinzenzbauern, wir haben wieder ein Kleines bekommen. Es sei ein Mädle diesmal, und es stehe alles wohl.« Oder eine Mutter nahm ihn heimlich beiseite und sagte: »Joachim, gucket nur auch nach meinem Georg. Er ist auf dem Jörgenhof zum Viehhüten, man kann nie wissen, was es gibt mit so einem Buben; der Sommer ist gar lang.« Und der Bändelmann machte sich zu den Knöpfen, die er schon an seinem Sacktuch hatte, noch einen neuen, aber nur aus Spaß, denn er vergaß schon von selbst keine Botschaft auszurichten, da konnte man sicher gehen. Nur eins richtete der Bändelmann nicht aus, und das war ein böses Geschwätz, das etwa herumging, ein liebloses Urteil über andere, das er irgendwo zu Ohren bekam. Das ließ er still wieder aus sich hinausgehen, und wenn ihn jemand darum anging: »Warum habt Ihr jetzt auch das nicht erzählt, Bändelmann? Ihr müsset es doch gewußt haben, man erfährt doch auch gern etwas Neues,« so sagte er nur: »Erstens weiß man's nie sicher, ob's auch so sei, wie die Leute sagen, und zweitens, wenn's 158 wahr ist, so weiß man nicht, wie es zugegangen ist, und drittens red't man lieber von etwas Gutem als von etwas Bösem.« Dabei blieb's, und so kam mit dem Bändelmann immer etwas Sauberes, Friedliches zur Tür herein, er mochte hinkommen, wo er wollte. Da war's kein Wunder, daß ihm jedermann gern abkaufte, und ihm gern etwas anvertraute, und so trug er denn nicht nur den stattlichen Warensack auf seinem Rücken und nicht nur einen schönen, runden Geldbeutel an einer Schnur unter dem Hemd, sondern auch allerlei Anvertrautes auf dem Herzen. Er lebte für sich allein in dem kleinen, niedrigen Häuschen, das ihm zu eigen gehörte und dem er jetzt zustrebte. Das Häuschen lag auf einer kleinen Anhöhe, man konnte es von weitem sehen, besonders, wenn die untergehende Sonne in seine Fenster schien, daß sie dann blitzten und funkelten, wie von einem inwendigen Feuer. Ein mächtiger Vogelbeerbaum stand daneben, und unter dem Baum war eine alte Steinbank. Dort saß der Bändelmann an schönen Feierabenden mit einer Pfeife im Mund, ließ die Mücklein um sich her spielen, horchte auf die Amsel droben im Bauer, die sich selber ein Schlaflied sang, und bedachte das lange Leben, das hinter ihm lag, und das kurze, das er vielleicht noch vor sich hatte. Unten an dem Hügel lag ein stattlicher Bauernhof. Dort war reges Leben. Feste, wohlgenährte Kühe weideten auf der grünen Grasfläche, die sich bis an den Bach hinunterzog und noch weiterhin; ihre Glocken hörte man bis hier herauf. Starke Gäule zogen die vollen Erntewagen in den Hof, Hühner gackerten und scharrten auf dem stattlichen Misthaufen, und dort, das langgestreckte, niedrige Haus, war der Schafstall, dessen Bewohner auch noch auf der Weide waren. Zwei starke, 159 gesunde Söhne und drei Töchter ersetzten dem Bauern Knechte und Mägde; es ging alles gedeihlich und wohlhäbig zu auf dem Hof. Der Bändelmann sah ohne Neid hinunter. Er hatte ein friedliches Gemüt, das kam ihm gut zustatten. Einst hatte das ganze, große Anwesen seinem Großvater gehört, und Joachim hatte noch die allerfrühesten Kinderjahre dort drunten unter dem bläulichen Schieferdach verlebt. Dann war ein Unglück ums andre gekommen. Daran wollte er lieber nicht mehr soviel denken. Er hatte noch eine Reihe seiner besten Jahre damit zugebracht, die Schulden abzutragen, die noch übrigblieben und die sein einziges Erbteil waren. »Man hätt's nicht von mir verlangen können, das geb' ich zu,« sagte Joachim, wenn ihm die Leute gutmütige Vorwürfe darüber machten, daß er das getan habe. »Aber ich hab's so in mir drin gehabt, daß ich hab' müssen.« Ja, da konnte freilich niemand mehr dreinreden, wenn er es in sich drin gehabt hatte. Jetzt hatte der Bändelmann noch etwas in sich drin; einen Wunsch nämlich, ein Vorhaben. Er hatte sich das Geldverdienen so angewöhnt, damals, beim Schuldenzahlen, dann, als er das kleine Häuslein für sich erwarb. Jetzt wollte er es gern so weit bringen, daß er eine schöne Stiftung hinterlassen könne, etwa ein Altargerät in die Kirche oder etwas Rechtes für die Schule, einen jährlichen Festtag für die Kinder mit Wurst und Wecken oder so. Das dachte sich der Bändelmann oft aus, wenn er abends auf seinem Bänklein saß, denn er wollte nicht gern gleich vergessen sein, wenn er dann einmal nicht mehr lebte, und darum hatte er auch schon angefangen, in ein besonderes Käßchen hinein Geld zu einem recht schönen Grabkreuz aus Marmor zu sammeln. Das, meinte der Bändelmann, sei er doch auch wert, da er ohnehin 160 sein Leben lang manches habe entbehren müssen. Er war jetzt 75 Jahre alt, und es fiel ihm oft recht sauer, so alle Tage herumzuwandern, wenn es ihm schon niemand ansah. Aber er dachte, ein gutes Andenken sei schon wert, daß man sich plage, und fuhr fort, den Wachstuchpack auf den Rücken und den Stock in die Hand zu nehmen.

Die Sonne war längst hinunter, als er um die letzte Biegung kam, von der aus er den Hof und sein Häuschen auf dem kleinen Hügel erblicken konnte. Es lag noch so ein dämmeriges Licht auf seinem kleinen Heimwesen, und der Bändelmann freute sich, bis er vollends droben sei und dann bald zu einem Nachtessen komme. »Wär' nicht so übel, wenn jetzt ein Rauch aufstieg aus meinem Kamin,« dachte er, »daß mir etwa jemand schon etwas Warmes gerichtet hätte.« Aber dann verlachte er sich selbst. »Das muß ja nicht sein, Joachim, es hat's seither so getan und tut's vollends die paar Jährlein.« Schon war er am Hof vorbei und stieg den Berg hinan, da hörte er hinter sich etwas rufen, und es kam ihm die älteste Tochter Apollonia nachgelaufen und rief: »Joachim, so wartet doch, ich hab' euch schon dreimal gerufen. Habt Ihr nicht die Doktorschaise fahren sehen oder seid sonst dem Doktor begegnet? Die Mutter hat einen Schlag gekriegt, jetzt liegt sie da und kann sich nicht regen, und am End' ist's ihr Letztes. Ach, ach, und niemand kann zum Doktor, sie sind alle bei einer Hochzeit in Essenhausen, und die Knechte müssen im Stall bleiben, der eine Gaul hat die Kolik. Ach, der geht am End' auch hin, der ist fünfhundert Mark wert. Ist das ein Unglückstag!« »Und die Mägd'?« fragte der Bändelmann; es war ihm nicht besonders darum, jetzt noch einmal nach Markdorf zu laufen, denn darauf kam es ja doch heraus.

161 »Ach, die Ursel, das dumme Ding, hat sich ja gestern den Fuß übertreten und kann nicht laufen, und die Gret hat zum Tierarzt müssen nach Zußdorf,« sagte die Apollonia aufgeregt, »und das wisset Ihr selber, Bändelmann, dann ist nur noch der Garnichts da, das Kätterle, das man in Gottes Namen zu nichts brauchen kann als zum Essen und Trinken.«

»Ja, dann seh' ich schon, dann muß ich halt gehen,« sagte der Bändelmann. »Da, so nimm meinen Sack und heb' ihn derweil auf, Aplone. Gesehen hab' ich den Doktor nicht, aber er wird schon daheim sein, ich will's probieren.«

Als er wieder zur Hofstatt hinausging, sah er das Kind, das die Apollonia mit »der Garnichts« bezeichnet hatte, am Eckstein stehen, bleich, mit seltsam erloschenen Augen und fest zusammengedrückten Lippen, und er konnte nicht anders, er mußte ihm einmal über das straffe, rauhe Haar streichen. Da zuckte es ängstlich zusammen, so, als ob es nur andere Berührungen gewöhnt sei, die nicht wie Liebkosungen waren. »Geh ins Haus hinein, was stehst denn da herum?« sagte die Haustochter. »Wenn man dich zu etwas brauchen könnt, die Säu haben noch nichts, und Kartoffeln müssen gewaschen sein –,« mehr hörte der Bändelmann nicht mehr. Er ging in die sinkende Nacht hinaus, um den Doktor zu der sterbenden Frau zu holen, wohl zwei Stunden weit her.

Als er wieder vor Markdorf hinauskam, standen die Sterne am Himmel, flimmernd und funkelnd die einen, ruhig brennend wie stille Lichter die andern. Er hatte den Doktor nicht daheim getroffen, aber man hatte ihm durchs Telephon Botschaft tun können, so fuhr er jetzt gewiß schon auf einem andern Weg dem Reutehof zu. 162 Ob er sie wohl noch am Leben antraf? Die Bäuerin war dem Bändelmann die angenehmste Person auf dem Hofe. Sie hatte ein stilles, etwas gedrücktes Wesen und paßte nicht recht zu der lauten, schaffigen und raffigen Art der andern. Aber sie konnte auf einmal ganz sicher und kecklich werden, wenn es sich um ein Gutestun, um eine Wohltat zu erweisen handelte. Das hatte sie auch bewiesen, als sie es durchsetzte, daß das Kind einer armen Base, das schüchterne, halbblöde Kätterle, als es ganz verwaist dastand, ins Haus genommen wurde, obgleich nicht viel Aussicht war, daß es sein Essen verdiene. Dabei fiel dem Bändelmann wieder ein, wie das Kind am Eckstein gestanden war, ganz ausgelöscht, als ob nie mehr etwas Frohes in sein Leben fallen könne. »Es hat gewiß von niemand im ganzen Haus ein gutes Wort bekommen als nur von der Bäuerin,« dachte er, »das kriegt's nicht gut, wenn sie stirbt.« Als er daran dachte, hörte er von weitem etwas kläglich schreien, mit einem feinen, hohen Stimmchen. »Das kann aber kein Kind sein, was ist's dann?« besann er sich. Dann wurde es immer deutlicher, es mußte ein Schäfchen sein, das sich verlaufen hatte. Der Bändelmann ging den Tönen nach, da sah er etwas Weißes im ungewissen Licht der Sterne schimmern, und fand nach einer Weile ein Lämmchen, das am Boden lag, mit einem gebrochenen Fuß und einer tiefen Bißwunde, die von einem Raubtier herstammen mußte.

»Wie dies kommt, kann auch kein Mensch wissen,« sagte er mitleidig, »und reden kann's nicht. Du, Lamm, wer hat dich so zugerichtet und hat dich dann fallen lassen?« Aber das Lämmchen blökte nur kläglich weiter, und der Bändelmann nahm es auf den Arm und trug es mit sich heim. »Es wird ja doch sterben, aber ich 163 kann's ja so nicht liegen lassen,« sagte er. Er hatte schon mehr Tierlein aufgehoben und herausgepflegt, er hatte daheim eine einäugige Katze, die er aus Bubenhänden gerettet, und einen Star, den er mit gebrochenem Flügel gefunden hatte. Er konnte keine Kreatur leiden sehen, ohne daß er es versuchte, ihr zu helfen.

Das Lämmchen starb aber nicht. Als man aus dem Reutehof die Bäurin hinaustrug, die am andern Tag gestorben war, lag es in der Sonne vor des Bändelmanns Häuschen und ließ sich anscheinen. Der Fuß war geschindelt und die Wunde gereinigt, und das Lämmchen hatte eine Milch vor sich stehen, um die die Katze schnurrend herumstrich, als ob sie für den Bändelmann das Zusprechen und Einladen zur Mahlzeit übernehmen wolle. Denn der war mit dem Leichenzug in das Pfarrdorf hinuntergegangen. Als er nach einiger Zeit wiederkam, war das Schüsselchen leer. Vielleicht hatten sie sich darein geteilt, und das war dann um so besser, wenn sie doch Hausgenossen werden sollten. Denn der Bändelmann hatte im Sinn, das Lämmchen für jetzt einmal zu behalten und aufzuziehen. Er sah nachdenklich aus, so, als ob ihn etwas stark bewege, legte den Hut ab, hing den Sonntagsrock in den Kasten und blieb dann nachdenklich vor dem Wachstuchpack stehen. »Ich könnt' noch nach Horgenzell hinunter, es ist noch nicht so spät,« sagte er. Dann ging er wieder zur Tür hinaus und sah den Abhang hinunter. »Es ist ein Kreuz, ein blutiges,« sagte er und ging wieder ins Haus hinein. Es trieb den Bändelmann etwas um, und das schon seit ein paar Tagen, das ließ ihn gar nicht mehr zu seiner gewohnten steten Ruhe kommen.

Dort drunten, an dem äußeren Eckstein des 164 Hofeingangs, da, wo man den ganzen langen Weg nach dem Pfarrdorf hinuntersieht, stand in einem fort, regungslos vor sich hinstarrend, das Kind, das sie drunten im Hof den Garnichts nannten. So war es schon dagestanden, als der Bändelmann damals am Abend zum Doktor gegangen war, und so stand es jetzt immer da. In der Nacht war es wohl auf seinem Laubsack drinnen über dem Stall gewesen, aber am Morgen kam es gleich wieder da heraus und sah vor sich hin. Dann rief es wohl das eine oder das andere an, daß es hereingehen und etwas arbeiten solle oder auch zum Essen kommen, oder schalt die Apollonia, die stark herumregierte, auf es hinein. Aber es stand doch da und rührte sich nicht. Das schnitt dem Bändelmann so tief ins Herz, daß er immer wieder ins Häuschen hineingehen mußte, daß er es nicht sehe, und wenn er drinnen war, so mußte er wieder herauskommen, um zu sehen, ob es noch ganz gleich dastehe, und dann war es immer dasselbe. Das Kind war dabei gewesen, als die alte Frau auf einmal umgefallen war, da hatte es wohl einen tiefen Schreck verspürt, und davon war es wie versteint. Vielleicht hätte man es durch liebreichen Zuspruch ein wenig aufwecken können, oder ihm zeigen, daß dann noch nicht alles vorbei sei, wenn auch die Bäurin nicht mehr da sei. Aber dazu war niemand da, auf dem ganzen Hofe nicht. Der Bändelmann befragte die Knöpfe an seinem Sonntagsrock um Rat: »Soll ich, soll ich nicht?« Aber er hatte scheint's unrichtig angefangen, es ging mit »soll ich nicht?« aus, und davon war er nicht befriedigt. Dann fragte er die Katze. Die strich schnurrend an seinen Stiefeln herum, da sagte er: »Ja, gelt, dir tut's auch gut, wenn eins ein freundliches Wort zu dir sagt.« Da sprang die Katze mit einem Satz auf des 165 Bändelmanns Achsel und schnurrte von da oben herunter. »Ach,« sagte er, »du bist ein unvernünftiges Vieh, mit dir ist nicht zu reden. Das will überlegt sein. Und wenn ich's heraufhole, wie krieg' ich's dann wieder los? Die da drunten sind imstand und hängen's an mich hin. Und ich muß doch fort mit dem Ranzen. Was meinst? Es tät auch so langen, und ich sei fünfundsiebzig? Du hast gut reden. Sein Sach' aufbrauchen, solang man lebt, und auf Gemeindskosten begraben werden. Das tätst mir zumuten.«

Aber die Katze gab nicht nach, sie schnurrte immer weiter. Da gab er ihr einen Puff, daß sie herunterflog, und setzte die Kappe auf. Dann hängte er den Ranzen über. »Sie warten auf mich in Horgenzell,« sagte er. Es war in letzter Zeit noch ein anderer Hausierer in der Gegend aufgetaucht, einer mit einem Stelzfuß. Der brachte neumodisches Zeug mit sich, Taschenspiegel und Bartwichse und so Sachen. »Daß der mich ausstechen soll?« dachte er grimmig. Dann schloß er das Häuschen zu und ging sehr entschieden den Berg hinunter. Aber der Eckstein! Wenn nur der Eckstein nicht gewesen wäre! Da stand das Kind und sah mit erloschenen Augen vor sich hin. Da konnte er nicht vorbei.

»Warum gehst nicht ins Haus hinein?« sagte er. Aber das Kind regte sich nicht. »Du, drinnen essen sie Hefenkranz zum Leichmahl. Geh hinein, dann kriegst auch.« Es war wie in den Wind geredet. So grau und still und stumpf sah das Gesicht aus, der Bändelmann konnte es nicht aushalten. »Kätterle,« sagte er weich, »Kätterle, ist dir's denn so arg um die Bäurin?« Keine Antwort. Ging denn gar nichts vor hinter der niedrigen Stirn und den erloschenen Augen? Da fuhr er ganz 166 sachte über das rauhe Haar, wie man ein krankes Vöglein streichelt, so sachte. Es ging ein Zittern durch das Kind hindurch, er spürte es deutlich. Da faßte er nach der Hand, die schlaff hinunterhing. Die war heiß, brennend heiß. Sie hatte eine harte Haut, fast wie Horn. »Es ist nicht, wie wenn es nichts geschafft hätte,« dachte er. Drinnen klopfte es, eilig, laut und stark. »Das ist krank, das Kind;« der Bändelmann war auf einmal nichts mehr als Teilnahme und Fürsorge. »So sag doch, was dir fehlt, tut's im Kopf weh oder sonst? Du frierst ja, siehst du, wie du zitterst? Aber darum steht man auch nicht tagelang da außen herum. – Obwohl, es ist ja warm, es ist nur krank, das Kind.« Er mußte es noch einmal streicheln, und da war das Zittern noch stärker, und auf einmal glitt das Kind neben dem Eckstein auf den Boden. »Da hat man's jetzt,« sagte der Bändelmann. »Da hat man's jetzt.« Aber er wußte gut, was er zu tun habe, er mußte sich gar nicht besinnen. Hinten hing ihm der Wachstuchpack, auf den Armen trug er das Kind die Anhöhe hinan. Das rührte sich nicht. Es war schwer, es lastete immer schwerer auf dem Bändelmann. Er spürte doch, daß er der Jüngste nicht mehr sei. Aber endlich war er droben. Er mußte das Kind auf den trockenen, besonnten Boden hinlegen, damit er die Hüttentür aufschließen konnte. Das hatte die Augen zu und rührte sich nicht, auch nicht, als er es auf sein Bett legte. Das Bett war offen und nicht gerade extra aufgeschüttelt, der Bändelmann trieb in solchen Sachen keinen Luxus, und ein weibliches Wesen, das etwa gesehen hätte, wo es fehle, kam nie da herein. Die Katze sprang auf das Bett und strich neugierig um die reglose Gestalt her, und der Bändelmann bettete das Kind, so gut er's vermochte, und 167 legte fürs erste den Ranzen in eine Ecke, denn heute brauchte er ihn nicht mehr.

*     *     *

Dort in der Ecke blieb der Ranzen auch eine gute Zeitlang liegen, ohne daß der Bändelmann nach ihm hingesehen hätte. Wenn die Leute in den Dörfern ringsherum oder auf den Höfen seine Waren nötig hatten, so mußten sie entweder warten oder selber in den großen Laden nach Wilhelmsdorf gehen, in dem er einzukaufen pflegte. Vielleicht machte auch der neue, stelzfüßige Hausierer jetzt gute Geschäfte, das konnte wohl sein. Aber der Bändelmann konnte jetzt an das alles nicht denken. Denn er hatte bei sich im Haus die allerdringendste Arbeit, die es geben konnte. Da lag auf seinem Bett das arme Kind, das er selber auf seinen Armen dahin getragen hatte, und dem Bändelmann fielen aus längst vergangenen Zeiten, in denen er seine kranke Mutter gepflegt hatte, alle Handreichungen wieder ein, keine Pflegerin hätte sorgsamer und mit geschickteren Händen alles tun können, was erforderlich war, als er's nun wieder ein wenig geübt hatte. Die Haustochter Apollonia war mit großem Geschrei vom Hof heraufgekommen und hatte die Arme in die Seite gestemmt. »Joachim, Ihr seid nicht recht gescheit,« hatte sie gesagt. »So einen Umstand mit so einem. Das wird bald wieder auf den Füßen sein, es ist nur so lahm im Kopf. Und im andern Fall, dem ging's ja nur gut, wenn es stürb'. Und dann möchte ich auch noch fragen, wer den Doktor zahlen soll und die Arznei? (Denn der Bändelmann hatte den Doktor zu dem kranken Kätterle holen lassen.) Einmal ich hab' kein Geld dazu, das 168 sag' ich gleich. Da könnt' man vollends für die Zigeuner den Doktor holen, es ging in einem Übermut hin.«

Aber der Bändelmann stritt sich jetzt nicht lang mit der Apollonia herum. »Bscht,« sagte er, »seid auch still. Es hat das Nervenfieber, der Doktor hat's gesagt. Horch, es ruft seiner Mutter im Fieber. Ja, ja, der Doktor kriegt sein Sach, da dürfet ihr keine Angst haben da drunten. Darum wird man mir nicht gleich das Häusle pfänden.« Er dachte an sein geheimes Schächtelchen mit den Goldstücken, die einen so guten Zweck hatten. Aber nur geschwind, dazu war jetzt gerade nicht die Zeit.

Als die Apollonia das Wort Nervenfieber hörte, wich sie immer mehr zurück, bis an die Tür. Denn wie leicht könnte eins angesteckt werden, wenn es zu nah hinkam. »Ich muß hinunter, es gibt grausig viel zu schaffen,« sagte sie. »Wenn etwas fehlt, es ist dann auch nicht, daß man nichts herzugeben vermöchte, eine Milch oder so. Es hätt' auch gut in seiner Kammer liegen können über dem Stall, es hat einen guten Laubsack und eine Decke.« Damit ging sie hinaus, und atmete erst wieder recht, als sie draußen war in der frischen Luft.

Der Bändelmann setzte sich in seinen lederbezogenen Großvaterstuhl. Er war doch rechtschaffen müd' geworden die letzten Tage und Nächte daher. Es stand ein hölzerner Zuber mit Wasser in der Stube, in dem hatte er das Kind gebadet, so oft die Hitze gar zu hoch stieg. Aber es war ihm warm ums Herz, noch viel wärmer, als da er das kranke Lämmlein verbunden hatte. Es war fast, als ob das Kind da ihm gehöre. Es hatte, wie es so dalag mit geschlossenen Augen, ein fast liebliches Gesichtlein, oder kam es ihm nur so vor, weil er es ganz allein zu versorgen hatte? Da, jetzt rief es wieder »Mutter«. »Du Armes,« 169 sagte er ganz weich, »du Armes, sie hört's nicht, daß du ihr rufst. Sei aber nur still, es gibt schon auch noch Leut' auf der Welt, die ein Herz haben.«

Und dann, als es ruhig wurde, schlief auch der Bändelmann eine Weile ein in seinem Stuhl. Die Schwarzwälderuhr tickte, die Katze schnurrte leise, das Lämmchen lag still vor der Tür auf seinem Strohlager, und der Star hüpfte hin und her und sah mit runden, gescheiten Augen über das Ganze hin. Drunten im Kirchdorf läutete die Betglocke, und der alte Mann und das Kind empfingen den Segen in ihren Schlaf hinein.

*     *     *

»Kätterle, komm, bring mir meinen Ranzen.« Der Bändelmann hätte sich den Ranzen gut selber holen können, denn er stand fast neben ihm, und das Kind war in der Kammer drinnen. Aber es gefiel ihm so gut, sich ein wenig bedienen zu lassen, daß er am liebsten immerfort etwas angeordnet hätte, das das Kätterle tun solle, nur um es auszuprobieren.

Das Kätterle kam aus der Kammer heraus und hob den Ranzen vom Stuhl in die Höhe, da nahm ihn der Bändelmann schnell aus ihren Händen und sagte: »Was denkst du auch? Er ist ja viel zu schwer für dich. Mußt auch Spaß verstehen.«

Spaß verstehen, das war nun allerdings etwas, was das Kätterle in seinem Leben noch nicht viel geübt hatte, es hatte nicht viel Veranlassung dazu gehabt, und dann war es auch von so bescheidenen Geistesgaben, daß es nur gerade immer das Einfachste dachte und tat. Aber das merkte es doch gut, daß es jetzt in guten, freundlichen Händen sei, so gut es ein Pflänzlein merkt, das die warme 170 Sonne anscheint, wenn es vorher in einem dunklen Winkel gestanden ist.

Das Kätterle war nach Wochen wieder von seinem Kranksein aufgestanden, bleich und schwach und in einem immerwährenden stillen Staunen darüber, was auch mit ihm sei, da es gar nichts mehr von früher wußte. Aber so war es dem Bändelmann gerade recht. So konnte er es nun herauspflegen, ganz wie er wollte, und es an sich gewöhnen ohne viel Erklären und Worte. Denn er hatte nichts anderes im Sinn, als dieses zusammengedrückte Menschenpflänzlein für sich zu behalten und es bei sich daheim sein zu lassen, daß es neu erstarke und aufwache. Es war nicht so ganz leicht gegangen; denn er hatte sich schon solange an stillen Feierabenden ausgedacht, wie es denn nach seinem Tode sei, wenn der Pfarrer in der Kirche vorlese, was der weiland Joachim Haberer, Hausierer von Reutehof, hinterlassen habe: ein silbernes Taufbecken und einen jährlichen Festtag für die Schulkinder, da sie mit Wurst und Wecken beschenkt würden. Denn er war allgemach dahin gekommen, daß er beides hatte erlangen wollen und noch das Grabmal dazu, so sehr hatte er seine Gedanken in die Weite und Breite gesponnen. Er hatte dann schon die erstaunten Gesichter der Leute gesehen, wie sie einander ansahen und mit den Ellbogen anstießen und sagten: »Was, der Bändelmann? Ist das ein Tausendkerl. Das hätt' man auch nicht hinter ihm gesucht.« Und so mehr. Und es war ihm dann nur hier und da schmerzlich eingefallen, daß er das ja dann alles nicht mehr sehe und höre und also nichts mehr von dem Vergnügen habe, das er sich so sauer werden ließ.

Jetzt war dieses Feierabendgespinst von etwas anderem in den Hintergrund geschoben, und zwar von etwas, 171 das der Bändelmann noch selber miterleben konnte, und das ihm darum schier ein bißchen eigensüchtig vorkam. Das war der neue, ungewohnte Gedanke an etwas eigenes Lebendiges, das ihm gehöre, das auf ihn warte, wenn er heimkomme, und das bei ihm sei, wenn er daheim bleibe. Denn er spürte es oft so deutlich, daß er Feierabend machen müsse, und das war ihm bisher immer grausig gewesen, wenn er an sein stilles Häuslein dachte. Er war den Verkehr mit Menschen so gewohnt geworden in den langen Jahren.

Derweil war nun so sachte das Kind wieder gesund geworden. Es aß, was der Bändelmann ihm kochte, und wenn abgegessen war, so fing es selber an, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu waschen. Als es einmal von selber den Überrest des Milchbreis in das Katzenschüsselchen füllte und die Katze herbeilockte, da stand der Bändelmann wie vor etwas Wunderbarem und brachte nur die Worte heraus: »Jetzt das auch. Jetzt das. Es wird noch recht, es wird.«

Gestern nun war der Bändelmann zum erstenmal wieder in Wilhelmsdorf gewesen. Der St. Niklastag kam heran, und es war ihm doch, als könne er nicht anders, als um diese Zeit mit Lebkuchen und mit Kindertrompeten und anderem billigen Spielzeug herumzuziehen. Was würden auch die Leute denken, wenn er gar nicht mehr kam? So hatte er nun eingekauft, eine ganz große Traglast. Hatte er denn in den andern Jahren weniger gehabt? Oder spürte er das Alter so stark? Er war rechtschaffen müde heimgekommen. Auch hatte er in demselben Laden seinen Konkurrenten, den stelzfüßigen Hausierer, getroffen, der gleichfalls einkaufte, und den er lieber nicht gesehen hätte. Zwar wußte er, der andere hatte für Weib und 172 Kinder zu sorgen. Aber dennoch, er ging ihm doch gern aus dem Weg. Als er heimgekommen war, hatte ihn das Kätterle so deutlich und freundlich angelacht, daß es ihm ganz warm geworden war. »Es ist doch am besten daheim,« hatte er gedacht. Das war früher nicht so gewesen.

Heute nun war ein schöner, klarer Vorwintertag, und der Bändelmann zog mit frisch ausgeruhten Kräften aus. Auf den fernen Bergen lag ein leichter Schnee, sie glänzten in der Morgensonne in schimmerndem Weiß. Bäume und Sträucher waren vom Reif angehaucht und sahen aus wie überzuckert. Das war das rechte Wetter, um Lebkuchen und Spielsachen zu verkaufen; denn der Bändelpack war heut Nebensache und hing nur so hinten dran wie etwas Unvermeidliches, die Hauptsache aber trug Joachim vor sich hin in einer leichten Kiste, die ihm an breiten Gurten von den Achseln herabhing. Er sah sich noch einmal um, ehe er um die Wegbiegung verschwand, da lief hinter ihm das Kätterle her mit so raschen Schritten, wie noch niemand auf dem Hof den »Garnichts« hatte laufen sehen. »Joachim, Joachim,« rief sie, »haltet, Ihr habt eure Dose vergessen.« Der Bändelmann lachte übers ganze Gesicht. Denn es war wohl schon öfter vorgekommen, daß er seine Schnupftabaksdose vergessen hatte, und daß er sie dann den ganzen Tag hatte vermissen müssen, aber noch nie, daß sie ihm jemand nachgetragen hätte. Hinter dem Kätterle drein lief in großen Sätzen das Lamm, und ein Stück weiter hinten kam die Katze, und so hatte er seine ganze Haushaltung hinter sich drein, es war schwer, vom Haus wegzukommen. Die Aplone stand am Hofeingang und sah ihnen allen miteinander zu, und jetzt, als das Kätterle herankam, sagte sie spöttisch: 173 »Nimmt mich nur Wunder, ob ihr alle miteinander hausieren gehen wollet? Etwas anderes schaffst du ja doch nicht mit samt deinen zehn Jahren. Aber du bist immer der gleiche Garnichts.«

Das Kätterle fürchtete sich immer ein wenig vor der Aplone, die jedesmal, so oft sie es sah, etwas Spöttisches sagte, so wollte es stracks wieder umkehren, als es die Dose dem Bändelmann hingestreckt hatte. Aber der klopfte ihm ganz väterlich mit der Hand auf die Achsel und sagte: »Bist mein Braves, sei du nur zufrieden.« Und zu der gefürchteten Aplone sagte er: »Immer ein bißle herb, Aplone? Immer ein bißle ungut? Kaufet Ihr auch Lebkuchen? Das Kind muß daheim bleiben und haushüten, es ist mir lang recht, wie es ist, und es kommt immer noch besser.«

Da schluckte die Aplone ihren Ärger hinunter zum andern. Denn sie hatte fast immer einen; und seit sie das Kätterle sah, das so ein wenig auftaute und rote Bäckchen bekam, wußte sie auf einmal vielerlei Geschäfte, die der Garnichts gut hätte tun können, wenn sie ihn nur wieder gehabt hätte. Aber der Bändelmann hatte schon in den schweren Krankheitstagen mit dem Bauern ausgemacht, daß er für das Kätterle sorge, und damals hatte sie sich nicht um das Kind gerissen. So mußte sie es lassen, wo es war, und aller Ärger half nichts.

Es war ihnen aber beiden, dem Bändelmann und dem Kätterle, ein ganz neuer Gedanke aufgestiegen, und jetzt strebten sie eifrig danach, ihn zur Ausführung zu bringen, ein jedes den seinigen. Das Kätterle wollte heut etwas schaffen, daß dann selbst die Aplone nichts mehr zu spotten fände, es wollte zu Nacht kochen, bis der Bändelmann heimkäme, denn das hatte es ihm abgesehen, wie 174 man eine dicke Brotsuppe kocht und Kartoffeln siedet. Weil es aber seine Sache gut machen wollte und auch nicht wußte, wie lang es daure, bis es Abend sei, fing es sogleich an, das Brot einzuweichen und Kartoffeln zu waschen, einen tüchtigen Topf voll von beidem, es wäre für acht Personen genug gewesen. Dann machte es ein Feuer an mit vieler Mühe und hängte das Essen darüber. Das fing auch nach einiger Zeit an zu kochen und kochte überlaut, als wider Erwarten schon lang vor Mittag der Bändelmann zur Tür hereinkam, schweratmend und müd' und gefolgt von dem Herrn Lehrer drunten im Kirchdorf. Er hatte sich gleich, als das Kätterle mit der Dose gekommen war, vorgenommen, gleich heute noch mit dem Herrn Lehrer zu reden seinetwegen. Denn wenn das Kind so überaus helle Gedanken hatte, so konnte man dann nicht wissen, ob es nicht doch auch fähig wäre, in die Schule zu gehen und etwas zu lernen. Das war nämlich im Hof drunten ein für allemal festgesetzt gewesen, daß das nie sein könne, weil es viel zu dumm dazu sei. Der Herr Lehrer aber hatte grad an diesem Morgen auch dran gedacht, einmal nach dem Kind zu sehen, und so waren beide Männer einander in ihrem Vorhaben begegnet. Der Bändelmann war aber so schnell müde geworden, daß er schon nach dem ersten Dorf, als er kaum ein Drittel von seiner Last verkauft hatte, müde auf einer Wagendeichsel gesessen war. Von da hatte ihn der Lehrer mitgenommen. »Es tut's nicht mehr,« sagte er zu sich selbst, »es ist Zeit zum Feierabendmachen.« Da hatte er schon unterwegs mit dem Lehrer, der noch jünger war und ein freundliches Gemüt hatte, seine Sorgen und Pläne wegen des Kindes beredet und auch mit ihm ausgemacht, daß einmal später, dann, wenn der Bändelmann nicht mehr lebe, der Lehrer 175 sich um das Kätterle annehme, daß es in gute Hände komme. »Es ist dann schon noch etwas da, man wird's schon finden dann, nachher,« sagte er, und damit gab er dem Denkmalplan den letzten Stoß, »das soll dann für das Kind verwendet werden.« Unter diesen Gesprächen waren sie nahe an das Häuslein hingekommen, und der Bändelmann mußte ein paarmal stehenbleiben und sich auf seinen Stock stützen und schwer atmen. »Jetzt gönn' ich mir dann eine Ruh',« dachte er. »Ich koch' etwas zu Mittag, und dann geh' ich heut nimmer fort.« Auf einmal sah er, daß eine schöne, gerade Rauchsäule aus seinem Schornstein emporstieg, und konnte sich nicht genug wundern, bis er vollends drinnen war. Da stand das Kind am Ofen und rührte aus Leibeskräften in der Suppe, die eben ein wenig anbrennen wollte, und hatte von all dem Geschäft rote, heiße Backen und schier lebhafte Augen. Der Bändelmann war sprachlos. Woher hatte dieses Kind, dieses gescheite Kind, denn gewußt, daß er schon am Mittag heimkomme? Und wer hatte es geheißen, zu kochen? Das Kätterle aber mußte ein wenig staunen, daß schon Abend sei, und sagte: »Es ist gleich vollends fertig, Joachim.« Der Bändelmann war im hellen Staunen. »Da braucht man sich, denk' wohl, nicht arg zu besinnen, Herr Lehrer,« sagte er stolz. Der Lehrer stellte nur seinen Stock und Hut weg, und hob zuerst den brodelnden Topf von der starken Glut. »Es brennt an,« sagte er, und dann mußte er zuerst ein wenig lachen, als er die Menge Suppe sah und noch den großen Topf voll Kartoffeln. »Das langt auf drei Tage,« sagte er. »Komm her, Kleines, laß dich ansehen. Was meinst, wenn du doch so kochen kannst, am Ende könntest du auch Lesen und Schreiben lernen?« Das Kätterle nickte nur. Es dachte, 176 es werde dann schon stimmen, denn der Bändelmann hatte auch genickt, und der war ihm das beste Muster zu allem. »Ja, so wollen wir's denn probieren,« sagte der Lehrer, »es wird schon gehen, komm du nur.«

So war der Garnichts auf einmal ein Schulkind geworden, keins von den hellen, lebhaften, gescheiten. Das Kätterle hatte schwache Gaben, und das wurde nicht anders. Aber kein stolzer Vater hat mit größerer Freude zugehört, wie sein begabtes Kind schwere Aufgaben löst, als der Bändelmann, wie das Kätterle zum erstenmal einen Vers aus dem Gesangbuch vorlas. Es war ihm schier, als ob das Kätterle den Vers selber gemacht hätte, und er strich ihm über sein rauhes Haar. »So ist's brav. Wer hätt' auch das gedacht?« Das Kind war jetzt zwei Jahr bei dem Bändelmann, und wenn es auch nicht versprach, ein Gelehrtes zu werden, so gab es doch etwas wie ein Hausmütterlein hin, das emsig herumschaffte und sich nicht einmal mehr vor der Apollonia fürchtete, denn diese konnte jetzt nicht mehr sagen, daß es nichts mehr schaffe. Sobald es aus der Schule kam, fing es an, in dem Häuslein herumzuschaffen, und die Suppen ließ es ganz selten mehr anbrennen. Der Bändelmann ging jetzt nie mehr fort. Er war doch allmählich zu müd' und alt dazu geworden. Das Liebste war ihm, wenn das Kätterle sich zu ihm hinsetzte und dann die Katze und das Schaf, das inzwischen groß und stark geworden war, sich auch herzudrängte und der Star auf des Kätterles Achsel saß. Dann hatte er alles Lebendige, das er besaß, beieinander. Aber das Kind war doch das beste davon. »Da hat man können schon das andere drangeben,« sagte er hier und da zu dem Lehrer, wenn er kam und ihn besuchte und ihm immer versprach, daß er dann einmal für das 177 Kätterle Sorge tragen wolle. Aber der Bändelmann braucht nicht zu sorgen, daß er so schnell vergessen werde, auch ohne die Stiftung nicht.

Denn wer Liebe gepflanzt hat in seinem Leben, dem wachsen Blümlein auf seinem Grab, und wenn sie nur ein einfältiges Kätterle pflegt, und das ist doch besser als der allergrößte Marmorblock. 178

 


 


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