Anna Schieber
Gesammelte Immergrün-Geschichten
Anna Schieber

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Was Annegret zu helfen fand.

Fünfundzwanzig Staffeln waren es, die von der Straße zum Haus hinaufführten. Von der fünfundzwanzigsten an ging es in den großen, kühlen Hausöhrn hinein. Links war die Küche, da hatte Annegret eben den Kopf hineingesteckt und hatte Marlene, die große, dicke, gute Marlene, die die Köchin war, in einer dichten Wolke erblickt, schwitzend und schnappend. Sie war am Schmalzauskochen. Das war nichts für Annegret.

Rechts war die Wohnstubentür. Dorther kam Annegret soeben. So sah es dort drinnen aus: an einem Fenster saß der Großvater, am andern die Großmutter, und beide schliefen. Es war nämlich nach dem Mittagessen, und da nahmen sie immer die Zeitungen vor sich hin und begannen zu lesen, so lange, bis sie vor sich hin nickten, und natürlich fielen dann die Zeitungen in den Schoß. Großvater und Großmutter waren beides alte, alte Leute. Sie hatten weißes Haar, und darüber trug der Großvater ein Käppchen von schwarzem Samt, in den von Annegrets Hand goldene Sternchen eingenäht waren, und die Großmutter eine Haube, die immer schneeweiß war, viel weißer noch als das weiße Haar.

Und nun stand Annegret hier draußen vor dem Haus, und sah über die hohe Staffel hinunter und die weiße Landstraße entlang. Links war der Wald, rechts ein Bach, an den Bach stieß Weideland an, dort grasten die Kühe, 111 eine ganze Anzahl. Aber Annegret sah nicht nach den Kühen. Sie sah die Straße hinab, so weit sie konnte, das war schon ein gutes Stück. Endlich tauchte dort hinten jemand auf; Knöpfe blitzten in der Sonne, das war das erste, was zu sehen war; dann ein grauer Tuchrock, an dem die Knöpfe saßen, ein alter, etwas vornübergebeugter, breitschultriger Mann, der in dem Tuchrock steckte. Er stapfte an einem dicken Hakenstock einher, trug eine große Ledertasche umgehängt, hatte allerlei Schachteln und Pakete um und an sich. Als er nah genug war, um gehört zu werden, tat Annegret einen lauten Ruf.

»Postmichel,« rief sie, und dann flog sie hinter ihrem Ruf drein, alle fünfundzwanzig Stufen hinunter. Das Haus war auf einen kleinen Hügel gebaut, die Stufen waren in den Hügel gehauen. Als sie unten ankam, war der Postmichel nur noch ein kleines Stück entfernt. Man konnte es schon sehen: er lachte über das ganze Gesicht. »Postmichel,« begann Annegret schon von weitem, »ich muß dich etwas fragen. Ist es wahr, daß die Schwalben heilig sind? Ist es wahr, daß es ein Unglück gibt, wenn die Katze ein Schwälbchen frißt? Es ist eins aus dem Nest gefallen, ein Junges. Da hat die Bussi einen Satz gemacht und hat es gefressen. Es hat einen einzigen Pieps getan.«

Der Postmichel stand und stützte sich auf seinen Hakenstock. Er mußte sich doch auch auf eine Antwort besinnen. Das ging nicht so schnell. Aber Annegret konnte warten.

»Du, Postmichel, drunten in der Wirtschaft ist das kleine Kindlein gestorben. Es ist erst drei Tag' alt gewesen. Es hat noch nichts geheißen, bloß Bub. Der Konrad hat's gesagt. Und der Konrad hat gesagt: ›Weil es noch nicht getauft gewesen ist, so kann man denn nicht 112 wissen, ob es in den Himmel hat hinein dürfen.‹ Jetzt hab' ich gesagt: ›Mein Papa ist im Himmel, der kann's vielleicht noch taufen, er ist ein Herr Pfarrer gewesen.‹ Du, Postmichel, was meinst du?«

Der Postmichel war ratlos. Er kam der Sache nicht mehr nach. »Jetzt sei einmal einen Augenblick still, Kind,« sagte er sanftmütig. »Ich muß dem zuerst nachdenken.«

Er stellte seine Schachteln auf der Staffel ab und trocknete sich mit einem roten Taschentuch den Schweiß vom Gesicht.

»Also, Kind, die Bussi weiß es nicht besser, als daß die Schwälbchen zum Fressen da seien, wenn man's nämlich kriegen kann. Ein Unglück braucht's dieserhalb nicht zu geben. Sie sollte Mäuse fangen, freilich, das gibt's genug in den Ställen und so. Aber die Katzen wissen's nicht so, daß man recht tun solle und nur fressen, was erlaubt sei.«

Annegret war aber schon ein wenig von dem Schwalbenunglück abgekommen, das mit dem Kindlein war ihr wichtiger. »So sag jetzt das andere,« sagte sie. »Ich weiß dann noch mehr Sachen. Also ob der Papa –«

»Ja, guck, Annegret,« der Postmichel schüttelte den Kopf, »guck, das weiß der Konrad nicht und ich nicht, wie das ist mit so kleinen Kindlein. Aber denk einmal, wenn so ein kleines, kleines Seelchen daherkommt und muß von seiner Mutter fort und hat gar niemand, da muß ja doch der liebe Gott die Tür ganz weit aufmachen und muß das Seelchen auf den Arm nehmen und es an ein ganz schönes, sonniges Plätzlein setzen, daß es ihm ganz wohl wird. Anders glaub' ich's nicht.« Annegret war sehr einverstanden.

»Ja, und dann sagt er zu einem großen Engel, der 113 nur grad so herumfliegt: ›Du, Engel, paß einmal ein bißchen auf das kleine Kindlein auf.‹ Sagt er so nicht, Postmichel?«

Der Postmichel wußte es nicht so genau. Er mußte wieder weiter. Er hatte zwei Pakete und eine Zeitung hier abzugeben, und dann mußte er ins Dorf hinauf. Bis zu den nächsten Häusern war es noch fünf Minuten. Das Haus, in dem Annegret mit den Großeltern wohnte, stand allein für sich.

Nein, nicht ganz allein. Drüben über dem Weg, dem Dorf zu, stand das Pförtnerhäuschen, das zum »Schloß« gehörte. Das Schloß war früher einmal eine Grafenwohnung gewesen und lag in einem schönen, großen Park. Aber nun war um den Park her ein hoher Zaun mit eisernen Spitzen obendrauf, und hineingelangen konnte man nur durch ein eisernes Tor, das nur der Pförtner auf und zu machen konnte. Denn jetzt wohnten in dem Schloß arme, kranke Leute, Gemüts- und Geisteskranke, die man wohl bewahren und bewachen mußte, daß sie nicht sich und nicht anderen schaden konnten. Annegret war noch nie dort drinnen gewesen, und es war ihr auch nicht darum zu tun, denn Marlene wußte schaurige Geschichten davon zu erzählen. Und Marlene war schon viele, viele Jahre hier, Annegret aber erst sechs Wochen. Sie sollte über den Sommer hierbleiben, bis die Mama mit den großen Brüdern und Schwester Eva ihren Umzug in die große Stadt gehalten und sich dort eingerichtet hatte. Annegret war die Jüngste. Sechs Jahre war sie alt und hatte schon viel erlebt. Da durfte man nur in Heinersbronn nachfragen. Dort war der Papa Pfarrer gewesen, und Annegret hatte ihm geholfen. Nicht beim Predigen, natürlich. Aber bei vielem sonst. Bei manchen 114 Krankenbesuchen, und wenn er in die Kinderschule ging, und dann bei den Handwerksburschen. Für die Kranken machte sie Sträußchen aus ihrem eigenen Gärtlein und brachte sie ihnen. Und dann, wenn der Papa noch mit den Kranken sprach, dann saß sie auf dem Bänklein vor der Tür und wartete auf ihn. In der Kinderschule durfte sie manchmal Bildchen verteilen, und die Handwerksburschen durfte sie fragen, ob sie Hunger haben. Ja, der Papa hatte oft gesagt, daß Annegret seine Stütze sei.

Aber jetzt war er, wie wir wissen, im Himmel, und in das Heinersbronner Pfarrhaus zogen andere Pfarrleute ein, und Annegret war nur hier bei den Großeltern. Da mußte sie sich neue Bekannte suchen, und das tat sie auch. Außer den Großeltern und Marlene war noch Max, der Knecht, und Konrad, der Hirtenbub, und Flox, der Hund, da. Es waren auch Kühe und Gänse und Enten da, und Hühner. Aber die zählte Annegret nicht so zur Familie. Hans, den alten, steifbeinigen Rappen, den zählte sie eher noch dazu. Und dann Bussi. Bussi war die Katze, und Annegret liebte sie zärtlich. Sie war ganz schwarz, hatte nur ein weißes Pfötchen, vornen, links, und ein weißes Fleckchen am Halse; grüne, schillernde Augen. Sie war unsäglich drollig. Aber nun hatte Marlene ein Unglück prophezeit, weil Bussi ein Schwälbchen gefressen hatte. Marlene war überhaupt, so gut und dick und groß sie war, ein bißchen düster. Wenn ein Laden klapperte oder ein Topf zerbrach oder wenn sie von schwarzen Kirschen träumte, gleich mußte es etwas zu bedeuten haben, und meist nichts Gutes. Max, der Knecht aber war ganz still für sich hin und hatte immer Tabak im Munde. Den spuckte er nach rechts und links. Die Großmutter aber hörte so schlecht, und der Großvater las viel. Mit 115 ihnen also konnte Annegret nicht allzuviel bereden. Da bezog sie denn ihre Weisheit von Konrad, dem Hirtenbuben, und außerdem von Marlene. Und als ihr das nicht ganz genügte, da fand sie heraus, daß der Postmichel ganz vorzüglich zum Kameraden passe.

Der Postmichel läutete an dem Pförtnerhäuschen an, und der Pförtner streckte die Hand zum Fenster heraus. »Gib nur alles da herein,« sagte er und langte nach den Postsachen.

»Es ist aber zu unterschreiben,« sagte der Postmichel.

Da sprang das Tor auf. Ach, nun hätte Annegret hineinsehen können; wenn nur Marlene nicht so dringend gesagt hätte, daß sie das niemals solle. Es mußte schaurig sein da drinnen. Es zog sie aber doch so unsagbar an.

»Postmichel,« rief sie, »kann ich nur ein einziges Mal mit hineinsehen?« Der Postmichel blieb stehen. »Komm,« sagte er. Es gab wohl nicht so leicht etwas, das er der Annegret abgeschlagen hätte, wenn sie ihn bittend ansah.

»Da, so sieh herein, es ist nichts Besonderes zu sehen.«

Der Pförtner hatte eine große Brille auf der Nase, und sah durch diese hindurch das kleine Mädchen mißbilligend an. Er mochte es nicht, wenn man neugierig hier hereinsah. Er war früher Sergeant beim Militär gewesen; er war ein wenig strengen Sinnes von damals her. Aber das merkte ja Annegret nicht. Sie hüpfte herbei und faßte Postmichels Hand. So stand sie unter dem offenen, eisernen Tor. Es war aber nichts Besonderes zu sehen. Eine schöne, schattige Allee von großen Kastanienbäumen ging in schnurgerader Linie auf das Schloß zu. Ganz weit hinten sah man die weißen Wände 116 schimmern. Alles war grün und still. »Oh,« sagte Annegret, »die Marlene hat nichts gewußt. Es gibt kein Unglück wegen der Bussi, und es ist nichts Arges da drinnen. Das muß ich ihr sagen.«

»Du weißt viel von da drinnen,« sagte der Pförtner.

»Da sind lauter kranke Leut', arme, und viele unheilbare darunter. Und du sagst, es sei nichts Arges drin.«

»Ach,« sagte der Postmichel, »laß doch das Kind, das versteht's noch nicht. Siehst denn nicht, was es für ein Gesichtlein hat? Wie ein Sonnenstrahl. Das sieht noch nichts Arges, dem ist noch alles schön.«

Aber Annegret hörte nicht darauf, was die Männer sprachen. Sie ließ ihre hellen Augen hin und her gehen, und auf einmal rief sie: »Tante Ursa! So hör doch!« und sprang den Kiesweg hinunter. Dort, zwischen den Bäumen, ging eine schwarzgekleidete Frau hin und her. Sie trug einen aufgespannten Sonnenschirm über dem Haupt, und außerdem noch einen dichten Schleier über das Gesicht gezogen, trotzdem die grünen Laubkronen der Bäume keinen grellen Strahl durchließen. Als sie das Kind herankommen sah, blieb sie stehen.

Der Pförtner und der Postmichel standen am Tor und wußten ihrer Seele keinen Rat. Denn die Frau war eine Kranke, und es war streng verboten, hier jemand einzulassen, und nun vollends ein Kind. Aber dann faßten sie sich. »Sie ist harmlos, sie tut ihm nichts,« sagte der Pförtner. »Dem Kind kann niemand etwas tun,« sagte der Postmichel.

Inzwischen standen die zwei, die Frau und das Kind, und sahen einander an. Annegret sprach zuerst. »Laß einmal sehen,« sagte sie, »unter deinem Schleier. Ich hab' 117 gemeint, du seist Tante Ursa. Gelt, du bist es aber nicht? Laß sehen.«

Die fremde Frau seufzte schwer, und Annegret sah, daß sie zitterte. »Du mußt nicht so tun,« sagte Annegret. »Ich tu' dir ja nichts. Ich bin nur die Annegret. Dort ist der Postmichel. Ich hab' nur hereinsehen wollen. Es ist aber nichts Schreckliches. Die Marlene hat's gemeint.«

Da tat die schwarze Frau den Schleier ein wenig zurück. Das war recht, das gefiel der Annegret.

»Nein, du bist nicht meine Tante. Sie hat auch ein schwarzes Kleid an, weil mein Papa ihr Bruder gewesen ist. Und du?«

Annegret fühlte sich der schwarzen Frau ein wenig verwandt, und scheu war sie überhaupt vor niemand. Sie hatte schon mehr traurige Gesichter gesehen in ihrem jungen Leben, und ihr warmes Herzlein hatte sie immer zum Trösten bewegt. Davon konnte die Mama sagen.

»Und ich?« sagte die fremde Frau mit einer matten, tonlosen Stimme. »Ich, weißt du, ich kann nie mehr froh sein, nie mehr. Mich darf die Sonne nicht mehr anscheinen, in meinem ganzen Leben nicht.« Und damit tat sie ängstlich den Schleier wieder herunter.

Aber das war ja nicht auszuhalten. Am Tor rief der Postmichel, und nun erschien auch noch Marlene, rot und heiß und händeringend. »Ach, ach, hab' ich's nicht gesagt, daß etwas passieren muß? Ach, das Kind, wenn ihm etwas geschieht! Und der Herr und die Frau schlafen und wissen von nichts, und derweil ist das Kind in der Löwengrube.« Und Marlene wurde innerlich hin und her gezogen von der Angst um das Kind und der Angst für sich selbst. Nein, wenn sie hätte mit so einer reden müssen. Nicht um alles in der Welt. »Annegret!« 118 rief sie vom Tor her mit zitternder Stimme. »Ich komme gleich,« rief Annegret mit ihrem hellen Stimmlein. »Ich muß nur der Frau noch sagen, daß sie die Sonne schon noch anscheinen kann. Du mußt nur dort den Weg hinunter, wo die Bäume aufhören, und dann den Schleier hinauftun, dann ist es dir ganz hell.«

Aber die Frau tat noch die Hände vors Gesicht. »Ich kann nicht,« sagte sie. »Nie mehr. In meinem ganzen Leben nicht mehr.«

Da konnte Annegret nicht fort. Wie konnte sie das? Es war so einfach, zu helfen, und die Frau wollte nicht.

»Doch, sie kann dich schon noch anscheinen,« sagte sie und faßte dringlich nach der Hand der Frau. Die steckte in einem schwarzen Handschuh und zuckte ängstlich zurück, als die warme, feste Kinderhand sie faßte. Aber wenn Annegret im Eifer war, dann merkte sie das nicht. »So komm nur, wir gehen nur da hinunter, siehst du?«

»Nein,« sagte die Frau angstvoll, »dort sind Menschen, sieh, sie kommen schon, und ich kann nicht sein, wo Menschen sind.«

»So komm mit in unsern Garten, da bin nur ich ganz allein und noch der Flox und die Bussi und der Konrad. Aber der Konrad nur am Abend. Und da ist es ganz hell, da kann dich auch die Sonne anscheinen. – Doch, sie kann, jetzt glaub es auch einmal!«

Aber jetzt kam dem Pförtner die Angst obenauf, denn ganz in der Ferne sah er den Herrn Assistenzarzt auftauchen, und von dem wollte er sich lieber keinen Tadel anhängen lassen. So rannte er denn mit langen Schritten den Weg herunter, und nahm das Kind fest an der Hand, und es konnte ihm nur recht sein, daß die schwarze Frau vor ihm zurückwich, so brauchte er ihr nichts zu sagen.

119 Er führte das Kind bis an das eiserne Tor, und dann fuhr er es noch ein wenig an: »Du kleine Kröte, du kommst mir auch nicht mehr da hinein, das weiß ich.« Und Annegret mußte nun mit Marlene ins Haus zurück. Marlene aber prophezeite, daß man mit diesem Kind, das vor gar und gar nichts zurückschrecke, noch erlebe, kein Mensch wisse, was, und auf alle Fälle noch etwas Arges.

*     *     *

Der Postmichel hatte selber Enkelkinder gehabt, und sie waren ihm gestorben, da war es kein Wunder, daß er die Annegret so ins Herz geschlossen hatte. Denn er hatte viel Platz darin, und wer Liebe in seinem Herzen hat, der läßt nicht gern auch nur ein Eckchen leer stehen.

Er mußte nun jeden Tag mit anhören, was Annegret sich über die schwarze Frau ausdachte, und das war nicht wenig.

»Es wird ihr etwas Böses geschehen sein, daß sie sich so fürchtet, oder am End' hat sie selber etwas Böses getan,« sagte er einmal. Aber das wollte Annegret nicht gelten lassen. »Nein, nein, das hat sie gar nicht, sie ist nur sonst betrübt,« sagte Annegret eifrig. »Ich wollte nur noch ein einziges Mal hinein und ihr zeigen, daß sie schon noch in die Sonne kann. Aber das Tor ist immer zu. Und der Mann am Tor macht so ein Gesicht.« Annegret versuchte das Gesicht des Pförtners nachzumachen, es wurde aber nicht ganz so streng wie seins.

»Ich wollte nur gern wissen, ob sie immer da unter den Bäumen herumgeht und gleich fortläuft, wenn ein Mensch kommt,« sie atmete tief auf – »und dann noch vieles.«

»Das kannst du nun nicht wissen,« sagte der 120 Postmichel. »Aber du kannst es gut zum lieben Gott sagen, daß er ihr die Sonne ins Herz hineinscheinen läßt. Davon vergeht alles Böse und Traurige.«

Sie wußten es nicht, der Postmichel und die Annegret, daß die traurige Frau schon ein wenig nach dem Sonnenschein aussah, den ihr der liebe Gott wollte ins Herz hineinfallen lassen, und Annegret wußte auch nicht, daß sie selber so ein Sonnenstrahl sei.

Aber als nach acht Tagen der Postmichel wieder einmal in das Torwartshäuschen hinein mußte, sagte der Torwart grämlich: »Da hab' ich mir neulich etwas Schönes eingebrockt mitsamt meiner Gutmütigkeit. Seit die kleine Krabbe mit der schwarzen Frau gesprochen hat, ist diese von einer Unruhe befallen wie noch nie. Immer geht sie den Laubgang auf und ab, und dann steht sie lange und starrt nach dem Tor. Und jetzt hat mich vorhin der Oberarzt gefragt, was das sei, sie rede immer von einem Kind, das sie an die Sonne führen wolle, und ob das irrgeredet sei oder ob eins dagewesen sei. Ich hab' nichts machen können, ich hab's gesagt, und hab' auch gesagt, daß es nicht mehr vorkommen soll. Da hat sich der Oberarzt nur stracks umgedreht und ist dem Schloß zu gegangen. Er kann mich um den Dienst bringen, wenn er will.«

Aber es kam nicht so böse, als der Torwart meinte.

Sondern als am andern Morgen Annegret frisch gekämmt und gewaschen auf der Hausstaffel stand und sich eben mit Bussi beredete, daß Bussi das Rotschwänzchennest in der Hecke doch ja in Ruhe lassen solle, da kam ein großer, breiter Herr daher, der hatte einen mächtigen Bart und sah in etwas Annegrets Papa gleich. Und er kam die Staffel herauf und sagte, als er vor Annegret 121 stand, ganz freundlich: »Du, Kleine, bist du das Mädelchen, das einmal nur so geschwind an dem Torwart vorbei in den Schloßgarten geschlüpft ist und hat mit einer kranken Frau geredet?«

»Nein, krank ist sie nicht gewesen,« sagte Annegret, »nur traurig und auch nicht böse. Und sie hat gesagt, sie könne gar nicht mehr an die Sonne gehen, und ich wollte sie nur ein einziges Mal dahin führen. Sie muß nur den Schleier wegtun und die Augen aufmachen, dann kann sie wieder froh sein.«

Da sah der freundliche Herr einen Augenblick sehr ernsthaft aus, fast, als ob ihm etwas weh täte (und das war auch so, denn er hatte ein ganzes Haus voll kranker Menschen und wollte gar nichts lieber, als sie alle gesund machen, und konnte doch so oft nicht). Dann nahm er Annegret ganz väterlich bei der Hand und sagte: »Willst du ein wenig mit mir gehen und es der kranken Frau noch einmal sagen? Doch, sie ist krank, Kind, ganz innen ist sie krank, und vielleicht kannst du ein bißchen helfen, daß sie gesund wird.«

»Ja, das kann ich gut,« sagte Annegret ernsthaft, »das habe ich in Heinersbronn immer auch getan,« und dabei war sie schon die Staffeln hinabgehüpft, der Herr Doktor konnte ihr kaum folgen.

Aber oben an der Staffel erschien Marlene und schlug die Hände zusammen, als sie sah, daß der Herr Doktor das Kind entführte, und fing zu jammern an. Da kehrten die beiden Ausreißer noch einmal um, denn sie hatten es im Eifer ganz vergessen gehabt, daß noch mehr Leute ihre Erlaubnis dazu geben müßten, wenn Annegret gehe, um die kranke Frau an die Sonne zu führen.

*     *     *

122 Unter den Bäumen wandelte die schwarze Frau hin und her und blieb dazwischenhinein stehen und sah sehnsüchtig nach dem Tor. Da ging dieses auf, und an der Hand des Herrn Doktors kam ein kleines Mädchen herein, das hatte zwei kurze, blonde Zöpfe und hatte ein blaues Schürzlein an. Und das Mädchen ließ sogleich die Hand des Herrn Doktors los und ging auf die Frau zu. Der Herr Doktor ging langsam hintendrein, und hinter ihm stand wieder der Pförtner und wußte nicht mehr, was er von der Anstaltsordnung halten sollte. Wenn gar der Oberarzt anfing, Kinder von der Gasse hereinzuholen, dann konnte man ja das Tor gleich ganz offen lassen.

»Guten Morgen,« sagte Annegret und bot der schwarzen Frau ihr Händlein. »So wollen wir jetzt dann gleich miteinander dahin gehen, wo keine Bäume sind.«

Diesmal ließ die Frau dem Kind ihre Hand und sah durch den Schleier hindurch unverwandt in das helle Gesicht, das Annegret zu ihr emporhob. »Nein, da kann ich nicht hingehen,« sagte sie traurig. »Ich habe es dir schon gesagt. Aber ich muß ein wenig mit dir reden, damit du siehst, daß ich es nicht tun kann. Ich habe immer nach dir gesehen, aber du bist gar nicht mehr gekommen.«

»Das ist wegen dem Tor gewesen,« versicherte Annegret. »Sonst wäre ich sicher jeden Tag gekommen. Aber dann hat der Postmichel gesagt, ich müsse es nur dem lieben Gott sagen, daß er dann macht, daß dich die Sonne anscheint. Da vergeht alles Böse und Traurige, hat er auch noch gesagt.«

»Und das hast du getan, Kind?« fragte die schwarze Frau, »das hast du für mich getan?« Sie vergaß ganz, daß ein heller Schein sie treffen konnte, und hob ihren Schleier hinauf, um deutlicher das Kindergesicht zu sehen.

123 Annegret merkte es auch nicht, daß das mit dem Schleier geschah. »Ja freilich,« sagte sie. »So sag's jetzt, warum du nicht kannst.« Denn das schien ihr das Allermerkwürdigste zu sein.

»Ja, siehst du,« sagte die Frau und richtete ihre traurigen Augen ganz fest und wie Hilfe suchend auf Annegrets Augen, »ich habe einmal ein kleines Kindlein gehabt, so ein herziges, liebes. Nur eins. Und das hat sterben müssen, weil ich von ihm fortgegangen bin in einem schönen Kleid, eine ganze Nacht lang, und ist niemand bei ihm gewesen als eine Magd, die aber hat geschlafen. Und ich habe getanzt, und daheim ist mein Kind krank gewesen, und niemand hat ihm geholfen. Und als ich heim kam, da ist mein Mann dagewesen; der ist von einer Reise zurückgekommen und hat das Kind im Arm gehabt, und die Sonne hat in sein Gesichtlein geschienen; die ist grad aufgegangen gewesen. Und da hat es die Augen zugemacht und ist gestorben. Und man hat es in die Erde hinuntergetan, in das dunkle, dunkle Grab. Und da liegt es nun.

Mein Mann aber hat gesagt: ›Geh nur hin, wo dich keine Sonne anscheint, wenn nun das Kind um deinetwegen im Dunkeln liegt.‹«

Die schwarze Frau schauerte zusammen. Dachte sie nicht daran, daß sie zu einem Kinde sprach? Sie sah unverwandt der Annegret in das Gesicht. Die tat einen tiefen Atemzug.

»Das liegt doch nicht im Dunkeln,« sagte sie. »Das ist ja schon lang beim lieben Gott. Der Postmichel hat auch gesagt, wie das kleine Kindlein beim Wirt gestorben ist: Dem hat er doch gleich die Tür aufgemacht und hat es auf den Arm genommen. Und dann hat er zu einem 124 großen Engel gesagt: ›Paß auf das Kindlein auf, daß ihm nichts geschieht.‹ Da trägt es jetzt vielleicht der Engel immer herum im Schönen und Hellen. Da kannst du gut wieder an die Sonne gehen.«

Annegret hatte nicht die ganze Rede der schwarzen Frau verstanden, und das war auch nicht so nötig. Sie mußte nur für das Kindlein sorgen, weil man das nicht im Dunkeln lassen konnte. Und sie brachte ihre eigenen Gedanken und die des Postmichels untereinander. Aber die beiden vertrugen sich gut miteinander.

Jetzt sah sie, wie es in dem Gesicht der traurigen Frau zuckte und wie langsam ein paar große Tropfen aus ihren Augen fielen.

»Ist das wahr?« sagte die Frau, »woher weißt du das, Kind? Muß es nicht allein im Dunkeln sein?« Sie ergriff Annegrets Hand, so fest sie konnte. »Das weiß ich eben,« sagte Annegret, »jetzt komm!«

Aber da schlug die Frau die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen, und weinte, wie Annegret noch nie einen Menschen hatte weinen sehen, und lehnte sich an den Stamm einer großen Kastanie und legte den Kopf an die Rinde.

Und da trat der Herr Doktor aus einem Gebüsch, in dem er seither gestanden war, und Annegret ging erschreckt auf ihn zu. »Ich habe ihr nichts Böses getan,« sagte sie, »und jetzt weint sie so.«

»Etwas Böses?« sagte der Herr Doktor. »Du hast ihr etwas Gutes getan. Siehst du, wenn ganz graue Wolken am Himmel sind, dann muß es regnen, daß die Sonne wieder scheinen kann. Und bei Frau Rose ist es auch so. Sie hat gar nie weinen können, da ist alles ganz 125 schwer und grau gewesen. Aber nun weint sie, das ist gut, da kommt alles herunter.«

»Ja, und dann kann sie wieder an die Sonne,« sagte Annegret und ließ sich zufrieden vor das eiserne Tor hinausführen.

*     *     *

Es verging eine Reihe von Tagen, ohne daß Annegret in den Schloßgarten geholt wurde. Es war nur gut, daß sie soviel anderes zu erleben hatte, so daß sie keine Zeit fand, allzuviel an die traurige Frau zu denken, denn sonst wäre es ihr vielleicht lang geworden, bis sie wieder etwas von ihr erfuhr. Zuerst regnete es ein paar Tage. Da hätte es am Ende langweilig sein können. Aber da bekam gerade die Bussi junge Kätzchen, gleich sechs, und die waren alle miteinander schwarz und hatten nur da und dort weiße Flecken, und es war gar nicht zu sagen, wie drollig sie waren. Annegret sah ihnen zu und saß stundenlang auf dem Speicher vor ihrem Korb. Dann waren im Geflügelhof junge Entlein ausgekrochen, und es waren unzählige neue Blumen im Garten aufgegangen, und Konrad, der Hirtenbub, hatte sich einen Scherben in den Fuß getreten und konnte nur mühsam herumhumpeln, da mußte Annegret sogar mit zu den Kühen und den Hirten unterstützen.

Das hätte ja aber alles nicht ausgereicht, wenn der Postmichel nicht gewesen wäre. Es war unglaublich, was der Postmichel alles mitbrachte, außer dem, was er in seiner schwarzen Tasche trug, ganz allein für Annegret. Was waren alle jungen Kätzlein und Enten, wenn der Postmichel erzählte, daß in seinem Haus, das heißt, in dem Haus, in dem er ein Stüblein hatte, gar zwei kleine 126 Kindlein geboren seien, beides Buben, beide mit blauen Augen und mit einem schwarzen Haarschopf, beide in rot und weiß karierten Tragkissen. Es war schier unerschöpflich, was es von so kleinen Kindlein schon alles zu erzählen gab. Annegret hatte ja wohl auch noch den Wunsch, die schwarze Frau an die Sonne zu führen, aber der andere, die Kindlein zu sehen, war doch noch viel brennender. Hatte man ihnen nicht Seidenbändchen ums Handgelenk gebunden, dem einen ein rotes, dem andern ein blaues? Es war schier nicht auszuhalten, die Kindlein nicht zu sehen.

Aber eines Tages kam der Postmichel an, und sein gutes, runzeliges Gesicht sah so ernst und schwer darein, daß Annegret ihn nur ansehen mußte. »Postmichel, was hast du?« fragte sie. »Du siehst so aus, so –« Da kam der ganze Jammer zum Vorschein.

»Ja, soll ich nicht so aussehen?« sagte er. »Wenn die Mutter wegstirbt von so kleinen Kindlein? Drei größere hat sie noch, die brauchen sie auch noch, freilich. Aber die ganz kleinen, ach, Annegret!«

Es war merkwürdig, alle Leute, die in Annegrets Umgebung waren, redeten mit ihr wie mit einem Erwachsenen, und sie war doch so ein Kind. Sie hatte nur ein warmes Herzlein für alle, das war es.

»Oh, ist sie gestorben?« jammerte Annegret. »Warum ist sie gestorben? Hat sie ihre Kindlein ganz allein gelassen?«

»Ja,« sagte der Postmichel, »das hat sie. Heißt das, das eine nimmt sie mit; das stirbt auch noch, das sieht man. Das ist noch gut.« Aber nun war Annegret noch trauriger. »Oh, oh,« rief sie, »welches? Das mit dem roten Bändchen? Heißt es noch nichts? Nur Zwilling? 127 O Postmichel, und ich hab's noch nicht gesehen, und jetzt geht es fort!«

Da standen sie und jammerten miteinander und sahen nicht, daß schräg über dem Weg drüben das eiserne Tor aufging und der Torwart herauskam. Erst als er rief: »Du, Kleines, so hör doch einmal. Sollst herüberkommen, aber gleich, wenn's der Herr Oberarzt sagt« – da sahen sie auf. Aber es war der Annegret jetzt grad nicht so wichtig. »Ja, ich komme schon,« sagte sie. »Wenn du nur warten könntest, Postmichel; ich komme vielleicht gleich wieder, und dann kann ich mit dir gehen und die Kindlein sehen, eh' die Frau das eine mitnimmt. Ich muß dann nur noch die Großmutter fragen.«

So rief sie noch, als sie schon unter dem Tor stand, und als das hinter ihr zufiel, da rannte sie mit langen Schritten den gelben Sandweg hinunter, bis sie an den Herrn Doktor stieß, der aus einem Seitenweg herauskam.

»Ich muß schnell machen,« fing sie an und ließ ihre Augen nach der schwarzen Frau umgehen, aber sie sah sie nirgends. »Ich muß noch zu den Kindlein, eh' die Frau das eine mitnimmt.«

»So,« sagte der Herr Doktor, »ich habe gemeint, du wollest mir ein bißchen helfen, die kranke Frau gesund zu machen. Das kann man aber nicht, wenn es so schrecklich pressiert. Hat das mit den Kindlein nicht noch ein bißchen Zeit?«

»Ja schon,« sagte Annegret, »aber vielleicht sind sie dann fort, dann kann man sie nie mehr sehen.« Und sie erzählte dem Herrn Doktor, was sie so stark beschäftigte.

»Weißt du was?« sagte der. »Ich muß nachher doch ins Dorf fahren, da setze ich dich in meinen Wagen, und 128 wir besuchen miteinander die Kindlein. Ich möchte sie auch sehen. – Und wer weiß, vielleicht nehmen wir noch jemand mit.« Aber er sagte nicht, wen.

Die schwarze Frau, die der Herr Doktor Frau Rose genannt hatte, und die wir von jetzt an auch bei ihrem Namen nennen wollen, lag auf der Terrasse vor dem Schloß auf einem langen Stuhl und sah bleich und müde aus. Aber sie hatte den dichten Schleier abgelegt, und es war nur ein leichter Vorhang zwischen ihr und der Sonne, wie ihn andere Leute auch benützen, wenn sie das grelle Licht blendet.

»Sehen Sie, Frau Rose, da bring' ich Ihnen Ihren Sonnenstrahl,« sagte der Herr Doktor. Frau Rose lächelte ein klein wenig, und dann kamen schon wieder Tränen in ihre Augen. Sie streckte Annegret die Hand hin, und der Herr Doktor ging mit eiligen Schritten weiter.

»Ich bin krank gewesen und seither fast immer im Bett gelegen,« sagte die Frau. »Hast du auch noch an mich gedacht? Hast du es auch noch öfter zum lieben Gott gesagt – das, was du das letztemal sagtest?« Annegret wurde ein wenig rot.

»Zuerst hab' ich's noch gesagt,« sagte sie, »dann hab' ich's vergessen. Aber man muß es nicht so oft sagen, er weiß es jetzt schon. Hat er's noch nicht gemacht? Soll ich den Vorhang wegziehen?«

»Nein,« sagte Frau Rose, »siehst du, meine Augen sind noch rot. Ich habe soviel geweint. Aber ein wenig Sonne hat mir der liebe Gott doch schon gegeben. Zuerst dich, und dann, daß ich weinen konnte« – – »Da ist es heruntergekommen,« sagte Annegret, das wußte sie vom Herrn Doktor – »und dann einen Brief von meinem Mann. Er hat mich noch lieb. Er will mich bald 129 besuchen. Jetzt, wenn ich mein Kindlein wieder hätte, dann wollte ich nie mehr von ihm fortgehen, dann könnte ich denken, der liebe Gott habe mir alles verziehen. Aber das kommt nicht mehr.«

Annegret war aber nur halb da. Bei dem Kindlein fiel ihr wieder ihr brennender Wunsch ein.

»Ja,« sagte sie, »und das mit dem roten Bändchen, das noch gar nichts heißt, geht auch fort; seine Mutter nimmt es mit. Sie will nicht, sie muß. Sonst möchte sie gern bei dem andern Kindlein bleiben und bei den großen. Aber sie muß in den Himmel, der Postmichel hat's gesagt.« Sie sah sich suchend um. »Fährt jetzt der Herr Doktor ins Dorf? Daß er nur nicht fortfährt.«

Aber Frau Rose hatte sich plötzlich aufgerichtet. »Wie, was ist das? Erzähl mir das recht, Annegret,« sagte sie. Denn was sie da hörte, das packte ihr trauriges Herz ganz neu und lebendig.

»Oh,« sagte sie, als Annegret erzählt hatte, was sie wußte, »ist niemand mehr da, der auf die Kindlein aufpaßt? Das darf man nicht, es kann ihnen etwas geschehen.«

Und sie stand rasch von ihrem Stuhl auf und merkte gar nicht, daß die Sonne um den Vorhang herum kam und ihr ins Gesicht sah, denn sie hatte soeben den Herrn Doktor an der Terrasse vorbeigehen sehen, und sie rief hinter ihm drein: »Herr Doktor, wenn Sie ins Dorf fahren, so nehmen Sie mich doch bitte mit. Es ist da etwas ganz Notwendiges für mich zu tun.«

Der Herr Doktor sagte etwas in seinen Bart hinein, was niemand verstand, aber es war etwas Vergnügtes, das konnte man seinen Augen deutlich ansehen; und dann hatte der Torwart wieder einmal Grund, sich zu wundern, denn dann fuhren die drei miteinander zum 130 Tor hinaus und nach dem Dorf hinauf, und eben unter dem Tor sagte Frau Rose: »Ach, wenn wir nur gewiß das Haus finden. Wenn wir nur auch hinein dürfen.«

*     *     *

Dafür, daß sie das Hans fanden, war gesorgt. Denn als der Wagen die lange Dorfgasse hinunterfuhr, sah Annegret den Postmichel eben in eine niedrige Tür treten und rief mit aller Macht hinter ihm drein: »Postmichel, halt, laß uns auch mit hinein.« Da kam er wieder heraus, und sein Gesicht glänzte einen Augenblick auf, als er seine kleine Freundin sah. Da hatte auch das Hineinkommen keine Schwierigkeit mehr, denn er selbst führte sie hinein samt der Frau Rose. Der Herr Doktor fuhr noch weiter, denn er hatte oben im Dorf zu tun, und hier war nichts für ihn. Wohl aber war etwas für Frau Rose zu tun.

Auf dem Bett lag die tote Mutter, und ihr zu den Füßen lag das Kindlein, das vorhin auch gestorben war. Die größeren Kinder weinten, und der Mann stand dabei und wußte sich keinen Rat, das andere kleine Kindlein aber schrie mit einem dünnen, hohen Stimmchen, und niemand hörte nach ihm hin, niemand als Frau Rose. Annegret stand noch stumm und erstaunt. Aber Frau Rose ging hin, nahm das Kindlein auf die Arme und fing an, es herumzutragen.

»Du Kleines,« sagte sie, »du Armes. Ist deine Mutter fortgegangen? Hat sie dich allein gelassen? So, so, nun weine nur nicht. Ich – ich will –« Und da kam die Angst noch einmal über sie, die große Angst, unter der sie in ihrer Krankheit so sehr gelitten hatte. Durfte sie denn ein anderes Kindlein auf die Arme und ans Herz 131 nehmen, sie, die ihr eigenes hatte sterben lassen ohne Mutterliebe? Würde Gott das erlauben? Ach, niemand würde es ihr anvertrauen, niemand. Aber da kam schon Annegret heran. »Postmichel,« rief sie in eine Nebenstube hinaus, »Postmichel, sie hat's im Arm, sie trägt's herum. Du, Postmichel, gelt, sie soll's mit heimnehmen, dann hat sie wieder eins.« Unter der offenen Tür erschien Postmichels ehrliches Gesicht. »Kind, das kann man nicht nur so sagen,« sagte er sanftmütig, »das kann man einen nicht anweisen, wiewohl« – er zögerte. »Sagt's, sagt's,« drängte Frau Rose. »Ich – ich habe etwas so Schweres auf mir. Ihr habt das Kind gelehrt, für mich zu bitten. Sagt, ist es möglich, daß ich noch einmal so einen Sonnenschein in meinem Leben haben soll?«

»Seine Mutter hat von ihm müssen,« sagte der Postmichel, »und sein Vater weiß sich keinen Rat mit ihm. Und wenn man etwas Gutes einmal unterlassen hat, so kann man's ein anderes Mal um so besser machen. Solang man lebt, ist immer noch Zeit zum Rechttun und zum Verzeihen und Gutmachen. Wenn ich so einer vornehmen Frau etwas sagen darf.«

Da drückte sie das Kindlein an sich und bot dem Postmichel die eine, freie Hand. Aber über ihr Gesicht flog ein Schein, den hatte noch niemand an der kranken Frau gesehen, das war ein hellerer, besserer Sonnenschein als sogar in ihren gesunden Tagen, denn er stieg aus einem Herzen auf, das betrübt war und wieder froh geworden ist.

»Ich reise ab,« sagte sie leise. »Ich bring's meinem Mann. Er soll uns miteinander aufnehmen. Wir wollen gutmachen, was wir können.« Annegret stand dabei und streichelte die Häubchen des kleinen Kindleins und sah in die blauen Äuglein, die es aufmachte. Es war am Fenster.

132 »Oh, oh,« rief sie auf einmal, »du stehst ganz in der Sonne; du bist ganz von selber drin, ich habe dich gar nicht hineinführen müssen.«

»O Kind, du hast mich doch hineingeführt,« dachte Frau Rose. Aber eh' sie es sagte, ging die Tür auf und der Herr Doktor kam herein und nahm seine Patientin mit. Er sah aber, daß sie keine Kranke mehr sei, und das freute ihn mehr, als er sagen konnte, obgleich er das Mittel, das sie gesund machte, nicht hatte verordnen können. Er wußte es auch, nicht nur der Postmichel, daß der Sonnenschein, den der liebe Gott in ein trauriges Herz hineinfallen läßt, mehr wirkt als alle Arzneien auf der ganzen Welt.

*     *     *

Und Annegret? Die solltet ihr eigentlich kennen. Wenn ihr eine Frau seht (denn die Geschichte ist schon vor fünfundzwanzig Jahren geschehen), die kein Armes und Trauriges sehen kann, ohne daß sie versucht, es in die Sonne zu führen, und die ihr Herz und ihre Hände dazu hergibt, und die den Sonnenschein auch im Gesicht hat, so daß es jedermann freuen kann, hineinzusehen, und die die Kinder und die Alten liebhat – dann geht hin und fraget, ob sie einmal Annegret geheißen habe, die wird's wohl sein. 133

 


 


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