Anna Schieber
Gesammelte Immergrün-Geschichten
Anna Schieber

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Zurückgesetzt?

Die Morgensonne kam hinter dem Wald herauf und sah über die grüne Wand der Tannen ins Tal hinein, so heiter, liebreich und warm, als sie gestern abend beim Untergehen dreingesehen hatte. Ja, nun hoffte sie wohl, alles in schönster Ordnung vorzufinden, friedlich, fröhlich, tätig. So hatte sie es gestern abend verlassen. Aber es geht nicht immer alles so zu, wie es die Sonne hoffen kann. Im untern Tal, am Nesselbach, klapperte die Sägmühle, lustig und stets im Takt. Auf den Feldern pflügten die Bauern, und die Ochsen und Pferde gingen gelassen im Schritt vor den Pflügen her. In der Schule sangen die Kinder, und der Lehrer geigte dazu, und aus dem Bärenwirtshaus stieg der Rauch kerzengerade in die blaue Luft hinein. Soweit war alles recht. Aber vor der Hundehütte neben dem Bären lag der Nero an der Kette und heulte so jämmerlich, daß es einen Stein erbarmen mußte, und das gab einen Mißton in den schönen Frühlingsmorgen hinein. Dem Nero war's aber gerade recht so, er fragte nichts danach, ob er andere Leute störe oder nicht, im Gegenteil. Er wollte heulen, so laut er nur konnte. Und das tat er auch. Die alte Magd Ursel ging in klappernden Pantoffeln über den Hof und fütterte die Schweine. Und als sie wieder zurückkam, blieb sie einen Augenblick stehen und sagte: »Du dummer Kerle! Bist gleich still, du Schreier?« Aber der Nero 45 legte den Kopf nur noch mehr hintenüber und brachte die allerhöchsten, klagendsten Töne hervor. Da ging die Ursel ins Haus, trocknete sich die Hände an der Schürze ab und sagte: »Da heißt's redlich: ›Recht hast, aber schweigen mußt.‹« Aber der Nero verstand sich nicht auf Sprichwörter. Ihm war die Welt entleidet. Und ich will euch sagen, warum?

Das war nun vier Jahre her, seit ihn der Bärenwirt einmal mit hierhergebracht hatte, als einen jungen, starken, eifrigen Hund. Es waren schöne Jahre gewesen, arbeitsreiche und freudenreiche. Nero und sein Herr hatten sich vorzüglich miteinander verstanden. Der Bärenwirt war ein rühriger, eifriger Mann, immer drauf aus, seine Habe zu bessern. Er war viel unterwegs mit dem Fuhrwerk, bald mit Brettern und Stämmen für den Sägmüller, bald mit Steinen für den Straßenmeister. Auch oft mit dem leichten Wägelein auf dem Markt in der Freudenstadt. Und da war der Nero seither sein steter Begleiter gewesen, immer lustig nebenher, an kalten Winter- und heißen Sommertagen. Er hatte seine Sache nicht schlecht gemacht, das konnte er sich selber sagen. Er hatte auf den Wagen aufgepaßt, solang sein Herr anderen Geschäften nachging, hatte mit Knurren und Bellen andere Hunde, Handwerksburschen, Schulkinder und was ihm sonst noch verdächtig schien, in Respekt gehalten und war immer ein rechter Vertreter des Bärenwirts gewesen. Seinen Herrn hatte er verstanden, und sein Herr ihn, sie hatten nie vermißt, daß sie nicht die gleiche Sprache reden konnten. Ja, das war alles gut gegangen, es war gar nicht einzusehen, warum das nicht immer so fortgehen sollte. Im Bärenwirtshaus wuchsen die Kinder heran, wie die Orgelpfeifen folgten sie aufeinander. Sechs Buben 46 waren es nun, und im Korbwagen lag ein kleines Mädchen. Nero kannte sie alle, und er rechnete sich so sehr zur Familie, daß er nur behaglich brummte, wenn die drei kleinsten Buben in seine Hütte krochen und taten, als ob sie da zu Hause wären. »Dasselbe tu' ich ja auch in eurem Haus,« dachte er, und so war es auch.

Ja, er liebte sie alle, auch die heitere, behende, mütterliche Bärenwirtin und die Ahne, die stets ein kleines Kind zu hüten hatte, und die Magd Ursel. Daß er seinen Herrn am meisten liebte, war nicht mehr als billig. Und daß er ihm, wo es nur anging, auf Schritt und Tritt folgte, das gehörte, seiner Meinung nach, zu seinem Beruf. Und das ging ihm vor allem.

Aber nun war alles aus. Nun war das Leben so traurig, wie Nero niemals gedacht hätte, daß es werden könne. Nun lag er an der Kette und heulte sein Elend in den blauen, heiteren Tag hinein, und sein Herr war fortgefahren, mit dem Fuchsen vor dem Marktwägelchen, und mit dem neuen Hund. Ja, und mit dem neuen Hund! Er war vorgestern angekommen, der Herr hatte ihn von Dornstetten mitgebracht. Es war ein junger Lapp, ein ganz und gar ungebildeter Hund, mit zottigem Fell und täppischen, würdelosen Bewegungen. Und um diesen war er zurückgesetzt, und lag wegen ihm an der Kette. Man hörte von weitem her ein leises Räderrollen, es mochte am Ende noch das Wägelchen sein, das nun die Steige nach Igelsberg erklomm. Nero stieg kettenrasselnd auf das Dach seiner Hütte. Da lag die weiße, schimmernde Landstraße im Sonnenschein vor ihm, und dahinter der grüne Wald – und er heulte seine Jammertöne über all die Herrlichkeit hin. Er war gekränkt und verwundet, sein Hundeherz tat ihm weh. Der Herr hatte ihn beim Gehen 47 getätschelt und hinter den Ohren gekraut und gesagt: »Nero, alter Kerl, nun sei gescheit und schick dich drein. Es geht nicht anders, du mußt am Haus bleiben. Siehst du, die Frau hat einen schlimmen Fuß und kann nicht überall sein. Ich kann ruhiger fort sein, wenn du da bist.« Aber Nero hatte von dem allen nur verstanden, daß er nicht mit in den fröhlichen Morgen hinausziehen solle. Und er hatte gesehen, wie der Neue mit lustigem Gebell an seinem Herrn emporgesprungen war. Er kam sich abgedankt vor. Was wollte er von der Suppe, die die Ursel vor ihn hinstellte? Er verachtete die Suppe. Die Tauben girrten auf dem Hausdach, die Schweine grunzten in ihrem Stall. Man hörte, daß sie sich wohl fühlten, und das war ja auch für Schweine ein leichtes.

Die kleinen Buben kamen aus dem Haus und spielten auf der Staffel, und die Ahne schob das Wägelchen mit der kleinen Anne in den Schatten des alten Nußbaums. Es war ein friedliches, heiteres Leben um das Haus her, es war kein übles Dabeisein für den, der es zu schätzen wußte. Aber Nero kroch nur in die Hütte hinein, schloß die Augen und beschloß, die Welt zu verachten.

Da öffnete sich ein Fenster der Wirtsstube. »Adam,« rief die Bärenwirtin mit ihrer hellen Stimme, »Adam, mach den Hund los und bring ihn einmal zu mir herein. Aber paß gut auf, daß er nicht davonläuft.«

Adam war der älteste Bub, ein strammer, hellhaariger, sonnenverbrannter Junge von neun Jahren. Er kam eben aus der Schule, und nun legte er den Bücherranzen auf die Hausstaffel und kam mit wichtigen Schritten auf die Hundehütte los. Er war ernstlich gesonnen, den Hund nicht ausreißen zu lassen, und machte schon im 48 voraus die Muskeln steif, um alle Kraft einzusetzen. Aber Nero dachte nicht ans Ausreißen! Es fiel ihm gar nicht ein. Wohin auch? Zu seinem Herrn? Zu dem neuen Hund? Es konnte ihm nicht in den Sinn kommen. Es half ja doch nichts. Ja, heute morgen, da hatte er getobt und mit der Kette gerasselt. Aber das war nun vorbei. »So, jetzt komm,« sagte Adam und gab dem Hund einen leichten Schlag. »Steh auf, Fauler.« Aber dann überkam ihn ein Rühren. Er drückte den Hundekopf an sich und zupfte ihn freundschaftlich am Ohr. »Komm,« sagte er noch einmal, »sollst zur Mutter kommen.« Und dann gingen sie selbander ins Haus. In der hellen, großen Wirtsstube saß die Bärenwirtin am Fenster. Sie hatte einen Haufen zerrissener Kindersachen neben sich liegen und sah über ihre Flickarbeit weg mit munteren Augen auf die zwei. Vor ihr stand ein niedriges Stühlchen, und darauf lag, dick verbunden, ihr einer Fuß. Den hatte sie sich vor kurzem arg verbrannt; es würde schon eine Weile dauern, bis sie wieder wie sonst im Haus herumwirtschaften könne, hatte der Doktor gesagt. Eigentlich sollte sie im Bett liegen. »Aber, du liebe Zeit, das ist nichts für unsereins,« sagte sie und humpelte heraus. Und da saß sie nun und flickte und lag sozusagen auch an der Kette.

»Da komm her zu mir, Nero, du Heuler,« sagte sie. »Meinst, es geh' immer alles, wie man's will, im Leben? Da wärest du dann allein wohl dran auf der Welt. Man muß sich schicken können. Und dann, weißt du, wir brauchen dich daheim. Soll etwa der Philax das Haus hüten, jetzt, wo soviel Zigeuner in der Gegend sind, und ich nicht vom Fleck kann? Der junge Lapp, der noch von jedem Gast am Wirtstisch Brot frißt? Das wär' noch 49 schöner.« Und dabei nahm sie mit der einen freien Hand den gesenkten Kopf und sah ihm in die grimmigen Augen.

Die Rede verstand der Nero nicht so ganz. Aber, daß sie's gut meinte, das fühlte er wohl. Er stieß ein leises, klagendes Gewinsel aus, er wollte ihr gern sagen, wie es ihm zumute sei. »Es ist mir nicht am meisten um die Freiheit und um das Wandern,« winselte er. »Daß mich der Herr nicht bei sich haben will und einen andern mitnimmt und meine Freundschaft nicht achtet und mein treues Hundeherz, das ist's, was mir das Leben entleidet.«

Dann legte er sich der Bärenwirtin zu Füßen und war still. Sie verstand ihn wohl, besser als er wußte. Wenn man ein Mutterherz hat, ein rechtes, warmes, dann versteht man auch so ein Hundegeheul. Aber das mußte er nun selber lernen nach und nach, daß es nicht so schlimm sei mit der neuen Ordnung der Dinge, als es ihm jetzt vorkam. Das mußte das Leben beweisen, und so geschah es auch.

Zwar, es gab noch viel böse Stunden. Wenn der Herr am Abend heimkam und Nero, alle Kränkung vergessend, an ihm in die Höhe sprang und ihm die Tatzen auf die Schultern legte, und ihm auf allen Schritten und Tritten nachging, dann war dieser Philax immer auch dabei und tat gleichfalls so dazugehörig. Man konnte nie mehr so recht für sich sein. Überhaupt, dieser Philax, Nero konnte ihn nicht ausstehen. Tat er nicht, als ob er von jeher dagewesen sei? Und bellte er nicht am Morgen, sobald die Gäule im Stall wieherten, mit heller Stimme, so, als wollte er sagen: »Ja, ja, schon recht, machet nur, daß wir dann hinaus können. Ich bin längst wach, natürlich!« Das hatte sonst immer der Nero getan. Er war 50 allmählich froh, wenn sie abfuhren, die Braunen, der Herr und der Hund. Er heulte ihnen nicht mehr nach. Und wenn es ihn doch hier und da ankam, daß er die Vorderfüße auf den Fenstersims der Wirtsstube stellte und ein paar Sehnsuchtstöne ausstieß, wenn der Wagen gar so lustig durch das Tal rollte, dann durfte nur der kleine Görgel kommen und ihn hinauslocken, so fiel es ihm dann wieder ein, daß er ein Haushund geworden sei.

Ja, und nun kam seine allerbeste Zeit. Denn die beste Zeit hat man da, wo man am meisten nützt, und diese war für ihn angebrochen. Daß er es erst nach und nach merkte, tat dabei nichts zur Sache, das geht andern Leuten auch oft genug so.

Aber das muß der Reihe nach erzählt sein.

Die Bärenwirtin hatte ihren Fuß nicht so geschont, wie er es nötig gehabt hätte. Sie hatte es erzwingen wollen, aber das war mißglückt, und nun lag sie für eine Zeitlang ganz zu Bett. »Und das ist ein Zustand, wie er fast nicht auszuhalten ist,« sagte sie zum Doktor. Sie meinte nicht der Schmerzen wegen, die sie ausstehen mußte. Die waren ja freilich nicht klein. »Aber daran will ich noch gar nicht denken,« sagte sie. »Wenn ich die Kinder ansehe und denken muß, wie es jetzt in der Wirtsstube zugeht und in der Küche. Vom Stall und vom Garten gar nicht zu reden.« Ja, nun wußte sie auch, wie das war, angebunden zu sein, wenn man sich fröhlich tummeln möchte. Aber nun stellte der Nero seinen Mann. Kochen und flicken und das Haus rein halten, das konnte er freilich nicht. Das taten auch zur Not die Ursel und die Ahne miteinander, und hier und da kam noch die bucklige Dorfnäherin zur Hilfe. Aber repräsentieren konnte er, den Herrn und die Frau vertreten. Er ging mit 51 wedelndem Schwanz hin und her, wenn sich am Abend die Wirtsstube mit Gästen füllte, kannte alle Einheimischen, und beroch mit leisem, wachsamem Knurren die Fremden, bis er sich überzeugt hatte, daß sie ungefährlich und harmlos seien. Ja, als ein wenig später zwei Sommergäste aus der Residenz in das obere, blautapezierte Zimmer einzogen, half er beim Vermieten, indem er sich breit und preislich unter die Haustüre stellte und ein paarmal kurz kläffte, so, als wollte er sagen: »Daß das Haus so allein am Waldrand steht, das hat durchaus nichts zu sagen. Denn ich bin stets zur Hand und sorge für die nötige Sicherheit.« Die Fremden verstanden es auch so und begaben sich sorglos in seine Obhut.

So ging ein Stück des Sommers hin.

Auf den Wiesen war die Heuernte im Gang. Zu allen Fenstern wehte der Duft herein, und von fern und nah her kam der helle, fröhliche Klang des Sensenwetzens. Der Bärenwirt hatte jetzt auf seinen eigenen Wiesen zu tun, seine Buben, soviel ihrer schon etwas mehr als krabbeln konnten, halfen beim Heuen, und natürlich war Philax mitten drunter mit läppischen Sprüngen und lustigem, leichtsinnigem Gebell. Nero haßte ihn nicht mehr. Er war ihm einerlei, er konnte ihm ja eigentlich nicht gefährlich werden. Er hatte selber soviel Ernsthaftes zu bedenken; nicht jeder Haushund hatte so viel wie er.

Da war unten am Nesselbach, grad vor dem spitzen Ausläufer des Igelslocher Waldes, eine kahle, geschwärzte Platte. Es hatte im vorigen Jahr ein Kohlenmeiler dort gestanden. Jetzt wirbelte wieder ein heller Rauch dort unten auf. Dunkle Gestalten huschten hin und her, an Stangen hing ein Kessel über dem Feuer. Zwischen den letzten Tannen schimmerte es gelb hervor. Dort stand ein 52 klappriger Wagen, die Heimat der fahrenden Leute, die hier rasteten. Ein mageres Rößlein fraß von dem Waldgras, das um die versengte Platte her wuchs, und von dem Wiesengras, das ihm die Weiber in der Schürze holten.

Nero lag quer vor der Hausstaffel und schnoberte mit der Nase in der Luft herum. Er roch etwas Verdächtiges, etwas, das sich mit dem süßen Duft des frischen Heues und mit dem Geruch des stattlichen, wohlansehnlichen Düngerhaufens mischte. Und er beschloß, auf seiner Hut zu sein. Sein Schwanz klopfte leise den Boden, und zwischen blinzelnden Lidern hervor guckte er nach dem kleinen Annele, das im Korbwagen lag, und nach dem dreijährigen Fritz, der seinen Nachmittagsschlaf im Sitzen auf der Steinstaffel abhielt, den Kopf ans Geländer gedrückt. Nero würde ihnen beiden nichts geschehen lassen, dessen war er sicher; ihnen nichts und niemand im ganzen Hause. Und dann senkte sich auch auf ihn die einschläfernde Wärme des Sommertags. Nur von fern her hörte er noch die lebendigen Töne von den Heuwiesen, ums Haus herum war alles still.

Aber dann fuhr er in die Höhe. Ja, wenn alle Schläfer so feine, hellhörige Ohren hätten! Dann brauchte man gewisse Schulbuben nicht nach dem dritten Wecken mit kaltem Wasser zu spritzen, damit sie wach werden. Aber sie fühlen's auch nicht als ihren Beruf, das Haus zu bewachen. Einen kurzen, bellenden Ton stieß er aus, und dann ging er auf die Ankömmlinge zu wie ein Polizeiwachtmeister. Wichtig und gemessen und sehr würdevoll ging er auf sie zu. Es waren merkwürdige Leute, die da von der Waldecke herkamen. Braune Gesichter, von wirrem, glänzendem Haar umgeben, fremdartige Gestalten, 53 in Gewändern, die aus aller Herren Länder zusammengetragen schienen. Da war ein barfüßiges Weib, das in einem bunten, zerfetzten Tuch ein kleines Kind auf dem Rücken trug, ein brauner Junge, dem die dunkle Haut zu unzähligen Löchern herausguckte, ein junger, starker Mensch mit blitzenden Augen und Zähnen, dem irgendein schweres Bündel aufgeladen war, und ein alter Mann, der unter buschigen, weißen Augenbrauen hervorsah und dem Nero etwas in einer fremden Sprache zurief. Es war dem Hund nicht übel zumute. Wie einem Polizeidiener, der seit Stunden an seiner Ecke steht, getreu, aber ohne Wirkungskreis, und dem ein fechtender Handwerksbursche in den Weg läuft. Er fühlte sich der Sache gewachsen. Er wußte, wozu er hier stand als Wächter. »Was wollt ihr hier?« knurrte er leise. »Wo kommt ihr her? Ihr seid ganz ungewöhnlich, und ihr riechet nicht ganz unverdächtig. Indessen, wir wollen abwarten. Frau, Leute,« hier schwoll das leise Knurren bedeutend an, »hier sind Fremde. Ahne, heraus, ich vermag die Sache nicht allein abzuwickeln.« Die Ahne erschien unter der Haustür. In dem Fenster der Wirtsstube erschien der Kopf der Bärenwirtin. Sie war wieder außer Bett, und wenn's sein mußte, humpelte sie so ein wenig herum. Dann redeten die Fremden. Es klang merkwürdig, und nicht nur dem Hund. Sie konnten etwas Deutsch, aber es war auch danach. Doch die Bärenwirtin wußte aus Erfahrung, was solche Gäste wollten. Es war immer eine Mischung von Mitleid und Furcht, aus der heraus man den Zigeunern gab, was sie begehrten. Es gingen immer Sagen von angezündeten Scheunen und gestohlenen Hühnern um, wenn in der Gegend von Zigeunern die Rede war, die man nicht genug beschenkt hatte. Wenn 54 die Bärenwirtin das schlummernde Kindlein auf dem Rücken der wandernden Mutter sah, dann gab sie Milch und alte Leinwand und Brot aus wallendem Mitleid heraus, und wenn sie die blitzenden Augen der Männer sah, dann gab sie Tabak und Wagenschmiere und etwas Speck aus einer heimlichen Angst. »Aber 's war grad, als ob der Mann da sei,« sagte sie später, »der Nero stand dabei mit steil aufgerichtetem Kopf und straffen Muskeln und brauchte nichts zu sagen, man verstand ihn doch.« Als die braunen Leute für heute in ihr Waldlager hinuntergezogen waren, gab die Bärenwirtin dem Hund einen leichten Schlag auf den Rücken. »Bist ein braver Kerl,« sagte sie, sonst nichts. Aber Nero knurrte vor innerem Glück.

Es kamen noch mehr wandernde Gäste durch das Tal. Die einen gingen, die andern kamen. Da zeigte es sich öffentlich, was Nero schon lang wußte, daß der junge Philax noch ganz und gar keinen festen Charakter hatte. Denn er bellte die Fremden, wenn er zu Haus war, wild und wütend an und ließ sich hernach von ihnen schmeicheln und streicheln. »Das kann gut werden. Der Kalfakter.« Nero war im stillen empört, aber mehr konnte er nicht tun, und ewig knurren und streiten half doch nichts. Philax schwänzelte und tänzelte herum, schnappte auf, was ihm an guten Brocken zufiel, und dann zog er wieder mit dem Herrn aus, lustig und ohne schlechtes Gewissen. Er war eine leichtsinnige Haut, es ging ihm viel hinaus, und er machte sich keinerlei Kummer. »Aber man warte, bis es genug ist,« sagte die alte Ursel in solchen Fällen, und diesmal hätte Nero mit ihr übereingestimmt, wenn er es gewußt hätte.

Es war an einem Samstagabend, schon gegen den 55 Herbst hin. Dort unten an der Waldecke lagerte wieder eine bunte Gesellschaft, und ihre Abgesandten zogen von Haus zu Haus und kamen auch an den »Bären«. Ein altes, runzeliges Weib mit gelbem Kopftuch und struppigem Haar kam heran und wollte wahrsagen, und Männer mit Dudelsack und Geige kamen und fragten, ob sie morgen Musik machen sollten. Der Wirt war zu Hause, und Nero hatte nicht viel dabei zu tun. Er ließ sich von den Kindern zausen und sah der Ursel zu, wie sie mit dem Melkeimer aus dem Stall kam, und hörte zu, wie einer der Musikanten, der abseits von den andern stand, mit weicher, schmeichelnder Stimme mit Philax redete und ihm das Fell klopfte. »Ich würde mich schön bedanken,« knurrte er. Aber er hatte keine Gelegenheit dazu, es kam niemand, um ihm das Fell zu klopfen.

Und dann kam jener Sonntag, auf den eine so denkwürdige Nacht folgte, die den Nero stolz darauf machte, ein rechter Haushund zu sein. Sie hätte ihm einen Orden eingetragen, »für Treue und Wachsamkeit«, wenn er für dergleichen Sinn gehabt hätte. Aber sie band ihn ein für allemal ans Haus, und als Philax einen Nachfolger bekam, da ließ er ihn leichten Herzens hinausziehen mit dem Fuhrwerk. »Denn,« sagte er, so in seiner Sprache, »für derlei habe ich keine Zeit, ich muß hier am Platz sein.« Es wäre hier eine schöne Gelegenheit, ein bißchen Lebensweisheit anzubringen, aber es kann sie jeder selbst herausfinden, wenn es ihm nämlich nicht zu gering ist, die Moral einer Hundegeschichte zu suchen.

Den Tag über geschah nichts so Besonderes. Wenn man nicht das zählen will, was mit Philax geschah.

Der machte sich nämlich ein Vergnügen draus, eine Katze über die Wiese hinzujagen. Dabei kam er ein gutes 56 Stück vom Haus weg, und da geschah es, daß sich eine Gestalt aus einer Bodensenkung aufrichtete und pfiff, genau so, wie der Bärenwirt zu pfeifen pflegte. Es war der junge Musikant von gestern abend. Er war dem Philax schon nicht mehr ganz fremd, er sah nicht ein, warum er sich nicht hier ein wenig vergnügen solle, und noch weniger, warum er den fetten Wurstzipfel verschmähen solle, den ihm sein neuer Freund hinhielt.

Ja, und da hatte denn nun die Ursel recht gehabt, als sie sagte, daß der Leichtsinn am Ende in die Grube falle, um die er immer herumtanzte. Der Philax kam nie wieder in den »Bären« zurück, und man kann gar nicht wissen, was aus ihm geworden ist. Denn es war eine bloße Vermutung, und nicht einmal eine schöne, die die Magd Ursel aussprach, als man ihn nirgends fand: daß ihn die Zigeuner wohl gebraten und gegessen hätten.

Am Nachmittag kamen die Musikanten und taten, als ob nichts geschehen sei, und bliesen und fiedelten drauflos, bis in die tiefe Nacht hinein. Die Wirtsstube saß voll bis in den Ecken, und oben im Saal trampelte es von tanzender Dorfjugend, und was Hände hatte im Haus, mußte mithelfen. Nero trieb sich als aufmerksamer Beobachter in dem Gewimmel herum und legte einmal eine Weile alle Wächterwürde ab. Der Herr war ja da, und es ging alles sehr fröhlich zu. Er zeigte zwar einmal drohend das Gebiß, als ihn der alte Zigeuner, der in den Pausen mit dem Sammelteller herumging, sachte hinter den Ohren kraute. Aber er meinte es nicht so böse; der alte Mann hatte so eine beruhigende Stimme. »Kusch, kusch, mein Hund,« sagte er. Da war er still und muckte nicht weiter auf.

Und dann kam der Abend. Nero lag vor seiner Hütte. 57 Drinnen schmeichelten noch die Geigen und der Dudelsack, hier draußen war es still, und Nero wunderte sich, daß Philax nicht kam. Dann hörte auch die Musik auf, und die letzten Gäste gingen; es war nach Mitternacht, als der Bärenwirt die letzten Lichter löschte. »So eine Hopphei kommt mir nicht leicht wieder vor,« sagte er zu seinem Weib, »es paßt mir nicht recht ins Haus,« und dann wurde es bald auch in der Schlafstube still.

Da war denn Nero allein noch wach. Er lag und spitzte die Ohren. Es raschelte allerlei, er konnte nicht recht ruhig werden. Im Tal fuhr ein Wagen, er glaubte von ferne den Philax bellen zu hören. Es knackte etwas in der Scheuer, der Nachtwind sauste leise in den Bäumen, und dann kamen sachte, sachte Tritte heran. Der Mond leuchtete über die Gegend hin und in seinem Schein schlich der alte Mann heran, der mit dem weißen Haar, der den Nero am Nachmittag gestreichelt hatte. Nero fuhr auf und knurrte; drohend und verwundert zu gleicher Zeit, seine Haare sträubten sich; er war nun wieder verantwortlicher Wächter des Ganzen, da ließ er nicht mit sich spaßen. »Su, su, Nero,« sagte der Zigeuner leise, »sei still; mein Hund. So, so, wir kennen uns doch. Sei still, ich tu' dir nichts.« Dem Nero war es wunderlich. Er ließ sich sonst von keinem Fremden anrühren. Früher, ja, als er soviel unterwegs war, eher, aber nun schon lang nicht mehr. Und dieser hier hatte so eine Art, eine weiche, einschmeichelnde. Das hatte er am Mittag schon bewiesen. Nero war einen Augenblick schwach; er ließ den Alten herankommen und ließ sich von dessen Hand über den Rücken fahren, sachte und leicht. »So, mein Hund, und da hast du einen guten Brocken,« sagte der Alte. »Nun friß, so, nun friß.«

58 Da knackte es wieder irgendwo, da war so ein ungewohntes Geräusch im Haus unten, da in der Gegend der Speisekammer. Da war wohl etwas nicht in Ordnung. »Still, still,« sagte der Alte, »da, so nimm doch die Wurst.«

Aber Nero schnappte ihm nach der Hand. Und dann richtete er sich zu seiner vollen Höhe auf und war mit einem Schlag wieder Haushüter, Amtsperson sozusagen. Was wollte der Fremde da von ihm? Er wollte ihn wohl bestechen? Er glaubte wohl, er sei ein elender Kalfakter? »Wau, wau,« schrie er ihn an, und dann noch lauter, daß es durch die Nacht hallte. »So still doch den Hund,« wisperte es aus dem Fenster der Speisekammer. Ja, stillen! Das ging nicht nur so. Einen anderen vielleicht, den Nero nicht. Die glaubten wohl, er hätte nichts gelernt all die Zeit daher? Das war sein Bärenwirtshaus mit allem, was drum und drin war. »Still, still,« sagte der alte Mann noch einmal, da hatte er schon die Tatzen des Tieres auf den Schultern. Es war alles so schön vorbereitet gewesen. Der Philax war auf die Seite geschafft, die zwei Zigeuner waren so gut im Haus versteckt, und der Nero würde leicht zu gewinnen sein. Er war ein friedlicher Hund, der Alte hatte mit Lachen gesagt: »Den nehm' ich auf mich, das ist mir ein leichtes.«

Sie hatten nur so ein wenig die Speisekammer ausräumen wollen. Und etwa das Geld, wenn sie das gefunden hätten, so in aller Stille, das wäre auch nicht übel gewesen.

Aber das war nun alles nichts.

»Wau, wau,« schrie der Hund, daß die Fenster zitterten; und dann wurden die Leute wach und kamen herunter und taten nun auch ihren Teil an der Sache, wie sich's gehörte.

59 Wie es im übrigen vollends ging, das stand am andern Tag in der Zeitung, und Adam setzte sich hin, um dem Nero alles gebührlich vorzulesen. Aber der drehte ihm den Rücken und ging hinaus. Was wollte er von all dem! Daß er sich wacker gehalten hatte, das wußte er selbst, und sein Herr hatte es ihm noch extra gesagt. Und daß dem Bärenwirtshaus mit allem Drum und Dran nichts geschehen war, daß mußte er auch nicht aus der Zeitung erfahren. »Ja,« sagte die alte Ursel, wenn sie diese Geschichte weitererzählte: »Bergab ist auch gefahren, und an der andern Seite geht's wieder hinauf.« Aber wie gesagt, Nero verstand sich nicht auf Sprichwörter, damit mochten sich die Menschen befassen, er hatte Wichtigeres zu tun.

 


 


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