Anna Schieber
Gesammelte Immergrün-Geschichten
Anna Schieber

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Viel Wenig macht auch ein Viel.

Von der Straße herein drang durch das geöffnete Fenster fröhliches Lachen und Lärmen der spielenden Kinder, lautes, lustiges Schwatzen der Spatzen, die sich am Kirschbaum gütlich taten, und die goldenen Strahlen der Abendsonne fielen auf geöffnete Bücher und Hefte.

Ein blondhaariger Schüler saß davor und war beschäftigt, aus einem ausgerissenen Blatt Papier kleine Kügelchen zu drehen und diese nach dem gegenüberliegenden Scheunentor zu werfen. Er sah ein wenig mürrisch und unzufrieden aus, und er glaubte, großes Recht dazu zu haben.

Denn war es nicht hart vom Vater, daß er ihm nicht gestattete, den herrlichen Nachmittag ganz im Freien zuzubringen? Bernhard hatte so viele Pläne, an deren 60 Ausführung ihm gelegen war, und nun sollte er hier sitzen und ein so langweiliges lateinisches Exerzitium ausarbeiten, als es nur geben konnte. Die Dorfbuben ließen Papierdrachen steigen, die kleinen Schwestern spielten mit Hacke und Schaufel am Sandhaufen, die Spatzen taten sich gütlich, wie sie wollten, warum sollte er allein am Lernen sitzen? Bernhard hätte seiner Gefangenschaft ein schnelles Ende bereiten können, er hätte nur einmal mit rechtem Eifer an seine Arbeit gehen sollen, dann hätte er bald gesehen, daß sie gar nicht so unüberwindlich sei. Aber dazu hatte er nun gerade am wenigsten Lust.

»Lateinisch lernen ist das Allerärgste, was es gibt,« stöhnte er, als die Mutter einmal ins Zimmer kam, »ich kann's ja doch nicht lernen, du wirst's schon sehen, es ist viel zu schwer! Und Lernen ist überhaupt schon so gräßlich, ich möchte lieber der Handbub sein bei den Maurern da drüben. Der pfeift den ganzen Tag.«

Die Mutter wußte wohl, wie es dem Bernhard zumute gewesen wäre, wenn er hätte Tag für Tag die Backsteine zu dem hohen Kaminbau hertragen müssen, und sie wußte auch, daß es ihrem Sohn nur an der Geduld fehlte, mit der man einen Tag um den andern seine Aufgabe anfangen und vollenden und seine Pflicht erfüllen muß, sie heiße nun, wie sie wolle.

So sagte sie jetzt nur: »Der Handbub kann gut pfeifen. Und du könntest auch, wenn du wüßtest, was der weiß!«

»Was weiß er denn?« fragte Bernhard begierig, denn das wunderte ihn doch sehr, was der kleine Bursche, der kaum aussah, als ob er das Brett mit den Ziegelsteinen schleppen könne, mehr wisse als er, der Bernhard, der in die Stadtschule ging und eine grüne Mütze trug mit schwarzweißrotem Bändchen.

61 Die Mutter lächelte ein wenig. »Frag ihn,« sagte sie. »Wenn du endlich dann fertig bist mit Lernen, dann kannst du hinüberlaufen und ihn fragen. Du könntest längst fertig sein.«

Es war schon Feierabend auf dem Bauplatz der großen Bierbrauerei, wo das hohe, neue Kamin erstellt werden sollte, als Bernhard drüben ankam. Er hatte noch eine Stunde vor sich bis zum Abendessen, nun wollte er schnell den Handbuben um sein Geheimnis aushorchen. Der hatte soeben den schmutzigen Arbeitskittel ausgezogen und sein reines Blusenhemd übergestreift, und er pfiff richtig eine fröhliche Melodie vor sich hin. »Warum pfeifst denn immer?« begann Bernhard das Verhör. Der kleine Maurer machte ein Gesicht, als ob man ihn gefragt hätte, warum er atme oder warum die Sonne scheine. »Ha, das kommt mir so von selber,« sagte er endlich, nachdem er sich besonnen hatte. »Mir ist's nicht nach Pfeifen,« sagte Bernhard etwas kläglich. »Ich muß soviel lernen, so eine dicke Grammatik voll Wörter und Sätze,« und Bernhard gab das Maß der Grammatik ungefähr einen halben Meter stark. »Auf einmal?« fragte der Handbub erschrocken, denn das kam ihm so ungeheuerlich vor, als ob man ihm gesagt hätte, er solle das ganze Kamin allein bauen, und zwar sofort.

»Nein, nicht auf einmal; bist du aber dumm,« sagte Bernhard von oben herunter. »Das kann kein Mensch auf einmal, aber wenn ich das dicke Buch ansehe, dann wird mir's immer langweiliger und schwerer, dann muß ich immer denken, daß ich gewiß mein Leben lang nicht damit fertig werde, da will ich dann lieber gar nicht anfangen.« ^

Der Handbub hatte bedächtig zugehört, und es stieg 62 ein rechtes Mitleiden in ihm auf, daß der Bernhard so Schweres vor sich habe. Er konnte auch mit ihm fühlen, denn vor ihm war auch einmal eine große Last gestanden, die ihn ganz bedrückt hatte. Das war im Frühling gewesen, vierzehn Tage nach Ostern, als er zum erstenmal sein heimatliches Dorf verlassen hatte, um als Handbub bei dem Bau etwas zu verdienen. Da hatte ihm einer der Mitgesellen den hohen Kirchturm gezeigt, der von der Stadt herüberragte, und gesagt: »Da, guck, so hoch soll unser Bau auch werden, was meinst, das dauert schon eine Weile, so bis gegen den Herbst hin?« Da war dem Buben, der ohnehin Heimweh hatte, eine große Last aufs Herz gefallen, so, als ob mit diesem Werk nie fertig zu werden sei, und als ob es sich nun für immer vor seine Heimat und die Eltern und alle Lebensfreude stelle. Es war aber noch ein anderer Ratgeber unter den Maurern, ein älterer Mann, der auch Kinder daheim hatte. Der sah das verzagte Gesicht des Handbuben, klopfte ihm mit der rauhen Hand auf die Achsel und sagte: »Mußt nicht so dran hinsehen, wie du jetzt tust, Bub! Mußt nur an jedem Morgen denken: ›Heut kommt wieder ein Stückchen in die Höhe!‹ Und wenn du Backsteine trägst, so denkst du allemal: ›Ein jeder Stein ist ein bißchen von dem Kamin. Und viele Wenig geben ein Viel!‹ Und unterdessen steigt der Bau, du merkst's kaum, und wenn du fertig bist, für deiner Lebtag hast du dann etwas gelernt!«

Diese Belehrung fiel nun dem Handbuben wieder ein, als der Bernhard so kläglich vor ihm stand. Sie hatte damals wirklich gut getan, er hatte neuen Mut und Eifer gefaßt, die Sache anzufassen, und eh' er sich's versah, war ihm die Arbeit selbst so wichtig, als nur einem. Und als nun der Bau so fest und wohlgefügt in die Höhe stieg, 63 ein Stein auf dem andern saß wie aus einem Guß, da konnte der Bub wohl wieder fröhlich pfeifen, denn daß das Werk zu Ende komme, das war nun gar nicht mehr zu bezweifeln. Darum konnte er nun auch verständnisvoll nicken wie einer, der bereits seine Erfahrungen gesammelt hat, als Bernhard sagte: »Da möchte ich lieber gar nicht anfangen.«

Und er sagte, auf den Bau zeigend, als ob er ihn ganz allein aufgeführt hätte: »Das hab' ich auch gemeint, und jetzt wird er doch etwas! Und er ist, denk' ich, noch größer als deine Grammatik! Man muß halt eins ums andre nehmen, dann merkt man nicht, daß noch soviel daran zu tun ist.«

Dem Bernhard war diese Auffassung sehr interessant, und es kam ihm fast vor, als ob sie sich auch auf seine eigenen Verhältnisse übertragen lasse.

Als er später zum Abendessen nach Hause ging, ertappte er sich auch am Pfeifen, da fiel's ihm erst ein, daß er nun doch vergessen habe, den Buben zu fragen, was er denn so Besonderes wisse. Es war aber nun nicht mehr so nötig, es zu wissen, denn es war dem Bernhard so schon leichter geworden.

Das war vor zehn Jahren. Im letzten Herbst kam ein kräftiger, junger Mann den staubigen Weg von der Stadt her geschritten, der ging so leicht einher, als ob ihn etwas besonders Freudiges treibe. Und das war auch so.

Denn er hatte gestern sein Examen auf der Universität bestanden und nun ging's leichten Herzens der Heimat zu. Als er an der großen Brauerei vorbeikam, wo der hohe Schlot gewaltig dampfte und rauchte, zog er 64 übermütig seine bunte Mütze ab und machte eine Verbeugung vor dem Backsteinriesen.

»Wie der qualmt,« sagte Bernhard – so hieß der junge Wanderer – vor sich hin, »als ob er schon immer dagestanden hätte! Und ich weiß es doch noch wie heute, daß ein Stein auf den andern gesetzt wurde und daß viele Wenig ein Viel gegeben haben!« – Und da winkte auch schon das Elternhaus, und nun ging erst recht ein Freuen an.

Denn das ist so im Leben, bei kleinen und großen Mühen, zuerst muß man sie auf sich nehmen, ein Teil ums andere, eine Lektion, eine Regel um die andere lernen, einen Stein auf den andern setzen und nicht immer voraus seufzen: »Wenn ich doch schon fertig wäre!« Aber damit kommt dann die Zeit immer näher, wo der Turm fertig, die Schule geschlossen, das Ziel erreicht ist, und viele Wenig haben ein Viel gegeben. Und dann kann mit Recht das Freuen angehen. 65

 


 


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