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Das Gericht

Von Ranas-sur-mer nach der alten Römerstadt Fréjus sind es hundert Kilometer, hin und zurück also zweihundert.

Diese Strecke, ihre tägliche Pilgerfahrt, legte Juliette am Ende der ersten Woche in vier Stunden zurück. Auch ein geübter Fahrer wäre nicht viel schneller vorwärtsgekommen, und Juliette fuhr zu kurze Zeit, um sich der Gefahren bewußt zu werden. Den Friedhof betrat sie nur die ersten beiden Tage, von da an begnügte sie sich, die vier Mauern zu umfahren.

Und während sie die vier Mauern umfuhr, betete sie. Im Friedhof konnte sie nicht beten. Da war ein Grabhügel wie der andre, man versank zwischen Toten. Der Tod wurde zur gemeinen Angelegenheit, er gehörte allen. Mit dem Tod aber mußte man allein sein ... Sie sagte sich: Die Erde ist geschwollen von ihren Toten wie eine diebische Köchin, die unter ihren Kleidern Sachen für ihre Familie wegschafft. Der lange, von Marius abgerissene Schleier war durch einen kürzeren ersetzt worden, statt einer Fahne zeigte nur ein Wimpel den rasenden Grabengel an, aber man kannte ihn weit und breit, ihn und den blauen Wagen. Die Straße von Ranas nach Fréjus ist geteert und meist ordentlich instand. Sie weist in der Ebene lange Geraden, im Gebirge scharfe, gut gebaute Kurven auf, und wen es mit dem Tode zu buhlen begehrt, der mag da grimmig und in mancherlei Formen seiner Sinnenlust frönen.

Die Straße führt erst durch fruchtbares, für den Blick eintöniges Küstenland, um darauf eine Gebirgskette zu durchqueren, die bis zu rund siebenhundertundfünfzig Metern aufsteigt. Sie trägt die Namen der Mauren, die hier vor tausend Jahren ihre Schlupfwinkel hatten, den Baumbestand bilden hauptsächlich Pinien und Korkeichen. Aus dem aufgeschlitzten Stamm der Pinien rinnt das Harz in kleine Tongefäße, und der Aderlaß scheint ihnen gut zu bekommen. Hingegen befinden sich die Korkeichen in kläglicher Verfassung. Zu ihrem unordentlichen Wachstum tritt noch ein verwahrlostes Blattwerk, und so erinnern sie an schlampige Frauenspersonen, die das Korsett abgelegt haben – der Abdruck des Panzers ist noch deutlich auf ihrem Körper abgezeichnet, sie sind schlechtweg anstößig. In Wahrheit handelt es sich um schwere Wunden, die man den Bäumen beibringt. Man schneidet einen breiten Gürtel aus ihrer Rinde und stellt daraus Korkwaren her.

Wenn du von einer Anhöhe über die reichgegliederte Bergkette siehst, könntest du meinen, du seiest im Schwarzwald und dort, wo die Sonne untergeht, fließe der Rhein.

Große Teile der Wälder sind durch die häufigen Brände zerstört. In den lichten Zwischenräumen und an den Südhängen gedeihen Edelkastanie, Orange, Zitrone, die Dattel, die an besonders geschützten Stellen die volle Reife erreicht, die Maulbeere, zahllose Blütensträucher und eine heißduftende Blumenwelt. Der Lavendel bedeckt ganze Hügel, im Unterholz wachsen seltene Pflanzen. Du hättest Monate zu tun, wolltest du die unzähligen, alle Sinne ansprechenden Schätze des Maurenwaldes erforschen.

Im Gebirge berührt die Straße keine namhafte Siedlung, vorher und nachher nur wenige, weit auseinanderliegende Ortschaften. Es dauerte nicht lange, und Juliette war auf der ganzen Strecke unter dem Namen bekannt, den sie am Abend ihres Umherirrens in den Gassen von Ranas erhielt. Dafür sorgten Louis' Kollegen, die Chauffeure der Autobuslinien. Wenn der Wimpel des ›rasenden Grabengels‹ in den Ortschaften auftauchte, setzte ein Begrüßungsgeschrei der Kinder ein, die Erwachsenen unterbrachen Arbeit oder Weg, um sekundenlang in das grelle, verzückt lächelnde Antlitz zu schauen. Es grüßten den schwarzen Wimpel die Gendarmen zu Pferd und zu Rad, die Straßenwärter und die Steinklopfer, die Chauffeure der Lieferwagen und Autobusse. Die Köche der zwei oder drei Waldhotels, die an der Straße hockten und Luft und Weltweite schöpften, standen stramm und legten die Hand an die hohe, weiße Mütze. Ihnen allen antwortete Juliette mit einem kurzen Nicken, der schwarze Wimpel flatterte in die Höhe, dann war der Spuk vorbei.

Die fruchtbaren Äcker versammelten sich eilig, sobald sie in ihrem Befehlswagen auf der Straße auftauchte, die Bastiden und Pächterhäuser rückten und begaben sich in Gehorsamstellung, der Wald erwachte, der große Wald voller Geheimnis, wo einsam zwischen Schatten ein Sonnenstrahl thronte gleich einem Engel, streng und silbergepanzert bei der mittäglichen Hinfahrt, rosig und schmachtend bei der Rückfahrt am Abend.

Daheim in Ranas bewohnte sie als fürstlicher Gast die Villa Maria, von ihrem Knecht Marius gemieden und gehaßt. Er schlief in Sibylles Zimmer, den neuerdings von ihm gezähmten und verhätschelten Kater Marius zu seinen Füßen, und nachts hörte sie den Gatten stöhnen. Das war die Strafe dafür, daß er sich seit dem Tod des Mädchens weigerte, das Schlafzimmer mit ihr zu teilen. Als Vergeltung hielt sie den Salon verschlossen.

Die Ehegatten sprachen nicht miteinander. Was Juliette früher bis zur hitzigsten Angriffslust beunruhigte: Burguburus Art, zu gewissen Zeiten vor sich hinzubrüten, wahrscheinlich in Verfolgung eines geheimen, gegen sie gerichteten Planes, seine Höflichkeit, die so zerstreut war, daß sie nicht zwischen einem Stuhl und einem Menschen unterschied, eine Starrheit des Ausdrucks, womit er sie in Abstand hielt – darüber setzte sie sich jetzt in Gemütsruhe hinweg, belustigt und darauf gefaßt, eines Nachts mit Gewalt ehelich angefordert zu werden ... Er wird wie ein Gorilla hereinbrechen und mich packen, dachte sie.

In Erwartung des Unvermeidlichen erneuerte sie allabendlich die Vorkehrungen für die Rauf- und Liebesnacht und verstand es so einzurichten, daß sie Marius gelegentlich in später Stunde auf dem Gang oder im Badezimmer begegnete. Mit einem Hemd angetan, das bei aller Pracht der Ausstattung nur wie ein Hauch auf ihr lag, einem Hemd, wie er es nie an ihr gesehn, streifte sie den kalt Beiseitetretenden und hinterließ einen Duft, der im Verlauf der Nacht bis in sein Zimmer drang. Sein Nachthemd war zerknittert, er hatte unsaubere Füße, im ungefärbten Bart hingen Tabakkrümchen. Der Bart war nicht mehr aus hellen und dunklen Haaren gemischt wie zur Zeit, als er ihn noch nicht färben ließ, er war ganz weiß.

Als Marius einmal während Juliettes Abwesenheit einen Gang durch das Haus unternahm, um das wenige, was die Kleine besaß, einzusammeln und dem Anblick der ›Kindsmörderin‹ zu entziehen, fand er die Tür des Salons nicht abgeschlossen. Er trat ein und stieß unvermutet auf den Major.

»Paß auf, er kommt wieder«, hatte Frau Tavin anläßlich seines Verschwindens zu Sibylle gesagt, und die Kleine hatte es Burguburu in einer ihrer vertraulichen Sonntagsvormittagsstunden wiederholt. Und richtig, da war er! Er hing an seinem alten Platz an der Wand, der arme Mann. Und statt seiner war nun Großvater Burguburu verschwunden ... Natürlich würde sie schwören, der Major habe seine Rückkehr befohlen, aus unerträglichem Heimweh, wie sie von jeher behauptet hatte, daß er ihr alle ihre Handlungen vorschreibe. War vielleicht auch von ihm die Weisung gekommen, seine Tochter zu Tode zu quälen, sie langsam, auf unendlichen Umwegen, dahin zu bringen, daß sie sich den Tod wünschte und darüber beinahe zur Mörderin eines unschuldigen Jungen geworden wäre? Gewiß doch! Auch dies.

Burguburu lachte höhnisch und schüttelte die Fäuste in der Luft. »Einer von uns beiden muß weichen«, rief er, »sie oder ich!« Er versprach es dem Major, er nickte ihm tröstlich zu – der Blick, mit dem er ihn betrachtete, war beinahe zärtlich, jedenfalls der eines Bruders.

Im Hochgefühl, als Statthalter und Vorrichter des Schicksals zu handeln, nahm er mit der angesammelten Habe Sibylles auch das Bild des Majors mit. Während die Hinterlassenschaft der Kleinen im Kachelofen des gelben Zimmers brannte, holte er eine Hacke und eine Schaufel aus dem Keller und ging in den Garten. Dort grub er ein Loch und bestattete im Schweiße seines Angesichts den Major zur längst verdienten Ruhe ...

Zur gleichen Zeit, da Burguburu die Erde über dem Major feststampfte, machte Juliette in Fréjus eine Entdeckung. Sie betrat den Friedhof seit Monaten zum erstenmal, um nach der Fahrt in der sommerlichen Gluthitze den Meerwind zu genießen. An der Stelle, wo sie einen Grabhügel mit einem weißen Holzkreuz zurückgelassen hatte, erhob sich eine Tempelhalle. Sie war nach allen Seiten offen. Der Marmor blitzte im Sonnenlicht. Der Wind sang leise zwischen den Säulen. Geblendet trat sie näher und las im Giebelfeld eine Inschrift:

Tu, tu pèr quau ma labarido
Coume un mirau s'èro clarido. Provenzalisch. Aus Mirèio von Frédéric Mistral. Wort für Wort übersetzt: Du, du, durch die mein Schlamm – wie ein Spiegel geworden ist klar.

Zur Aussprache: der Vokal u wird im Provenzalischen wie im Französischen ü ausgesprochen, ausgenommen, wenn er [wie auch in den oben angeführten Zeilen unmittelbar auf einen Vokal folgt. Dann spricht man ihn u wie im Deutschen
.

Sie verstand die Verse nicht und eilte, von einer Ahnung gepackt, über die drei Stufen und gleich bis in die Mitte der Halle.

Hier stand auf einer Marmorplatte, die sich durch keinerlei Zeichen, nicht einmal durch einen Zwischenraum von dem übrigen Bodenbelag abhob, etwas höher als in der Mitte der Name SIBYLLE, darunter RUHT ENDLICH IN FRIEDEN, und noch tiefer in kleiner Schrift: BEI IHREM VATER.

Und im letzten Drittel der Marmorplatte:

La mort, aquèu mot que t'engano,
Qu'es? uno nèblo que s'esvano
Emè li clar de la campano,
Un sounge que reviho à la fin de la niue!

Ebenfalls aus dem Epos von Mistral. Wörtlich:
Der Tod, dies Wort, das dich beängstigt,
Was ist's? Ein Nebel, der vergeht
Mit dem Ton der Turmglocke,
Ein Traum und Erwachen am Ende der Nacht.

Die Buchstaben waren eingemeißelt, ohne alle Verzierung, wie auch die Worte im Giebel, aber das Korn des Steins bewirkte, daß sie schillernd aus der glatten Oberfläche hervorstachen.

Juliettes erster Gedanke war: es hat ein Vermögen gekostet, der zweite: ein Hohn auf mich, die größte Beleidigung, die ich erfahren, der dritte: darum verhielt er sich die ganze Zeit so ruhig! ... Seine Ruhe war ein geheimgehaltenes Verbrechen.

Er verhielt sich auch ruhig, als sie ihn, heimgekehrt, zur Rede stellte mit ihrer sanften, einschmeichelnden Stimme, die Augen auf die mächtigen, roten Hände gerichtet, die flach auf dem Schreibtisch lagen und sich leise bewegten. Sie saß ihm gegenüber im gelben Zimmer. Von den Wänden blickte ein großer und gütiger König einer wilden Zeit auf sie beide herab, die scheinbar gefaßt und ein wenig versonnen zum letzten Waffengang aufbrachen.

Burguburu erklärte ihr, er habe Sibylles Vermögen, die Entschädigung der Autobusgesellschaft, zur Errichtung der Gedächtnishalle und zur Abfindung der Besitzer der umliegenden Gräber verwendet – dem ›einzigen Aufwand‹, der je für sie gemacht worden sei, und er bat, das Grabmal als die Aussteuer Sibylles zu betrachten und als solche gelten zu lassen.

»Es ist eine Aussteuer für die Ewigkeit«, führte er, anscheinend zur Entschuldigung, an und fügte hinzu: Nachdem das Werk (übrigens erst seit wenigen Tagen) vollendet sei, bitte er um die Erlaubnis, die Ehescheidung einzuleiten, es bestehe nunmehr keine wie immer geartete Gemeinsamkeit mehr zwischen ihnen.

Juliette entgegnete, die allein schickliche Aussteuer für die Ewigkeit sei ein gottgefälliger Tod, und wer ihn versäumt habe, dem sei mit allem Marmor der Welt nicht geholfen. Sie hieß das Grabmal eine hirnverbrannte Idee und einen Skandal, dessenthalben der Major auf dem benachbarten Kriegerfriedhof sich zweifellos im Grabe umgedreht habe, denn er – er habe verlangt, ohne jede Auszeichnung unter seinen Soldaten zu ruhn. Außerdem handle es sich um einen Diebstahl und die Ausplünderung einer schutzlosen Kriegswitwe, ein Verbrechen, das der Notar Burguburu, Mitglied einer Akademie und Inhaber hoher Orden, vor Gericht zu verantworten haben werde.

»Verzeihung«, unterbrach sie Burguburu. »Ob Diebstahl oder was sonst, darüber mögen, wenn du es wünschst, die Gerichte befinden. Aber darf ich fragen, wann du das Grab deines armen Mannes zum letztenmal besucht hast?«

Juliette wies die Frage als Unverschämtheit zurück, der Major sei nicht ›ihr Mann‹, sondern ihr erster Mann und bedürfe nicht seines Mitleids. Darauf eröffnete ihr Burguburu, er habe, und vielleicht könne dies zur Erleichterung ihres Gewissens beitragen, das Grab des Majors gepflegt und reichlich mit frischen Blumen bedacht vorgefunden. Ferner – der Notar erhob sich und erklärte: es gebe jemand, der, nicht zuletzt durch diese Sorge um das Andenken des Verstorbenen, ein Anrecht habe, in der Sache mitzusprechen, und mit Erlaubnis dieser Person habe er die Beisetzung des Ehrenmannes neben seiner unglücklichen Tochter veranlaßt.

»Ach! so ist das gemeint«, entfuhr es ihr in Erinnerung an die Grabschrift. »Sie liegt tatsächlich bei ihrem Vater? Und –«

Sie brach ab, und auch er schwieg, und als sie von neuem das Wort nahm, erkundigte sie sich nach dem Sinn der Verse im Giebelfeld. Ihre Stimme zischte, nun war es so weit, Burguburu hielt sich auf der Hut, im nächsten Augenblick würde ihre Erregung sich hemmungslos Luft machen, und obwohl selbst aufs äußerste erregt, rüstete er sich, ihrem Ausbruch mit Würde zu begegnen. Ohne die Miene zu verziehen, übersetzte er langsam und feierlich:

»Was Schlamm in mir und Unrat war,
Durch dich stieg's auf quellwasserklar.«

Sie lachte kurz und rauh.

»Hat wohl die anlockende Person nebenan gedichtet – wie?«

»Nein«, sagte er. »Ich.«

Nach einer Weile wurde er rot und verbesserte sich: »Ich habe die Verse ausgewählt.«

Rings um die karminroten Inselchen hatte sich Blässe angesammelt, daraus ragte die Nase spitz mit einem gelblichen Schimmer hervor (›wie bei den Toten‹, dachte Burguburu), und als sie zu lächeln versuchte, gruben sich zwei dicke Falten ein, von den Mundwinkeln zum Kinn.

»Seit wann schläfst du mit der da?« fragte sie. Kopf und Achsel zeigten hinter sich.

Burguburu schritt um den Tisch. Er befahl: »Steh auf!« Und als sie vor ihm stand mit Augen, darin Haß und Furcht durcheinanderschossen, versetzte er ihr rechts und links einen Schlag ins Gesicht. Es waren leichte Schläge, gewissermaßen nur Andeutungen einer Gewalttat.

»Das soll dich lehren, von anständigen Frauen zu sprechen, wie sich's gehört«, sagte er und schickte sich an, auf die andre Seite des Tisches zurückzukehren.

Da schrie sie: »Blöder Kastrat!«

Er drehte sich um und ging mit drohend erhobenen Händen auf sie zu. Sie spie ihm auf den Bart und sprang zur Seite. Im nächsten Augenblick lief sie wie ein Wiesel. Er stürzte hinter ihr her. Sie rannten die Treppe hinunter, durch die Zimmer des Erdgeschosses, und sie trug Sorge, überall Licht zu machen, als könnten sich mit der Helligkeit auch gleich einschüchternde Zeugen einstellen, und wieder die Treppe hinauf und wieder hinunter. Überall flogen ihm Stühle und kleine Tische zwischen die Beine. Im Keller glaubte er sie in der Falle zu haben, er ging von der Tür schnurstracks auf sie zu, aber da warf sie unter wilden Verwünschungen Konservenbüchsen nach ihm. Die eine traf ihn ins Auge, sie entkam. Im gelben Zimmer, wo sie mit einem größeren Vorsprung eintraf, sammelte sie rasch die Bildnisse Heinrichs IV. und trieb sie ihm mit flachem Wurf an den Kopf. Zwei Rahmen hintereinander zerschellten an ihm. Die Glassplitter verletzten ihn am Ohr und an den Backen. Sie sah ihn bluten und stieß ein Triumphgeschrei aus. »Ich hab's erreicht, Alter – wie? Tut's weh? Huh, der Bart ist ganz rot. Was würde die anlockende Person dazu sagen! So müßte sie dich in ihrem Bett haben, mein Alter! Da hätte sie wenigstens was zum Lachen – wenn auch sonst nichts.«

Im ehelichen Schlafzimmer holte er sie ein, als sie im Begriff stand, dem Nachttisch seinen Revolver zu entnehmen, der dort liegengeblieben war. Diesmal hatte ihr die Zeit gefehlt, Licht zu machen, der Schalter war hinter der Tür. Vom Gang fiel etwas Helligkeit herein.

Er warf sie aufs Bett und schloß die mächtigen Hände um ihren Hals, Juliette feuerte. Der Schuß ging in den Kleiderschrank.

Nach einer Weile lag sie reglos unter ihm. Vorsichtig ließ er los, stand auf, machte Licht und stellte sich vor sie hin. In lauernder Haltung drückte er die halbgeöffneten Hände an sich, bereit, sofort wieder zuzugreifen. Die karminroten Inselchen hatten sich über das ganze Gesicht verbreitet und waren blau geworden. Die aufgerissenen Augen starrten zu dem mit hellblauer Seide bezogenen Bettspiegel empor. Burguburu räusperte sich wiederholt.

Dann fuhr er mit den Händen über sein Gesicht. Und jetzt erst, als er sie, betroffen von einem Gefühl feuchter Wärme, näher ansah, wurde ihm bewußt, daß er blutete. Er stöhnte auf.

Im Badezimmer wusch er sich, verklebte die messerscharfen Wunden mit blutstillender Watte. Darauf kehrte er ins Schlafzimmer zurück, um nachzusehn, ob sie sich nicht am Ende doch verstelle. Er ging in die Ecke zwischen Fenster und Kleiderschrank und beobachtete sie scharf. Er fand sie häßlich.

Als die dumpfe Luft, die ihn wie die Ausdünstung des unbeweglichen Körpers berührte, immer drückender wurde, ging er mit starken Schritten hinaus auf den Flur und telephonierte an die Gendarmerie in Ollioules – danach in einer Aufwallung zärtlicher Gefühle, an seinen Freund, den Doktor Blanc.

»Du armer Kerl!« rief der Doktor.

»Danke!« sagte Burguburu enttäuscht und hing ab. Von einem Freund hätte er andres erwartet ...

Am Tag nach seiner Einlieferung in das Gefängnis erhielt Burguburu einen Strauß herbriechender Dahlien mit der Botschaft:

»Ich beklage die unglücklichste aller Frauen
und wünsche Ihnen Mut.«

Er setzte sich mit dem Blatt unter das Kerkerfenster und begann, Buchstabe um Buchstabe, in die Worte einzudringen wie in die Maschen eines Gitters, hinter dem eine unzerstörte Welt lag.

 

Im Herbst wurde Burguburu vor das Touloner Schwurgericht gestellt. Die Anklage lautete auf Totschlag.

Da er sich geweigert hatte, einen Rechtsanwalt mit seiner Verteidigung zu beauftragen, wurde ihm einer von Amts wegen zugeteilt. Es war ein Anfänger. Durch den Umstand, daß er die Bevölkerung nicht nur von Ranas, sondern auch von Toulon und dem ganzen Département du Var hinter sich wußte, nahm sein Eifer Formen an, die Burguburu durch ihre Roheit und Einfähigkeit erbitterten. Der junge Mann hatte es sich in den Kopf gesetzt, ›seinen‹ Angeklagten freizubekommen.

Er behauptete, Burguburu habe in Notwehr gehandelt! »Sie hat doch geschossen«, versicherte er hartnäckig. »Es hilft Ihnen nichts, zu leugnen. Wir haben die Kugel im Kleiderschrank gefunden. Sie können sich auf den Kopf stellen – Sie haben, Sie haben in Notwehr gehandelt.«

Traurig über so viel Unmoral bei einem jungen Mann und Rechtsbeflissenen, antwortete Marius:

»Aber so begreifen Sie doch! Sie hat in Notwehr gehandelt! Ich verfolgte sie, ich fiel über sie her, um sie zu töten. Ich – sie! Ich – sie!«

Bevor noch die öffentliche Verhandlung begann, waren der Notar und sein Anwalt erklärte Feinde, und vor Gericht kämpfte der Angeklagte Schulter an Schulter mit dem Staatsanwalt gegen seinen Verteidiger. Auf Mord, erklärte Burguburu, wolle er selbst nicht bestehn, ob er gleich nicht nur einmal, sondern hundertmal mit dem Gedanken umgegangen sei, die Frau zu töten. Aber um bewußte Überlegung habe es sich eben doch nicht gehandelt, also könne auch nicht die Rede von Mord sein. Er sage, wie es sei. Um so mehr aber müsse er verlangen, daß die Geschworenen die unzweifelhaften Merkmale des Totschlags nicht außer acht ließen.

Der große Schwurgerichtssaal war gefüllt mit Ranassern, die der Vorsitzende nur mit Mühe in Zaum hielt – am liebsten hätte das Publikum bereits in der ersten Stunde die Anklagebank gestürmt und den Notar auf den Schultern hinausgetragen. Vor dem Gerichtsgebäude hielten die Menschen in der Hitze vom Morgen bis zum Abend aus, Meldegänger, mit Beifall und Zurufen begrüßt, unterrichteten zusammenhängend über den Fortgang der Verhandlungen.

In der ersten Reihe der Zuschauer saß der Chor der Fischer unter seinem Anführer, dem Alten mit dem Haupt eines Kardinals. Sie bildeten den Stoßtrupp der Verteidigung und das Ärgernis des Angeklagten. Sie gehorchten dem Anwalt auf einen Augenwink, einen Tonfall, sie waren die Register der Publikumsorgel, und der Verteidiger handhabte sie mit so viel Unbedenklichkeit wie Geschick. Louis auf der Zeugenbank half mit der Mundharmonika seines Mienenspiels nach. Wenn Burguburu das Wort ergriff, geschah es fast nur, um die Ausschließung der gesetzesfeindlichen Bande zu verlangen, eine Maßnahme, die regelmäßig an der zurückhaltenden, aber unverkennbaren Parteinahme der Geschworenen scheiterte. Das große Ereignis des Prozesses war das Auftreten des bretonischen Fischers Emil Kerhostin.

Den Emil hatte in seinem bretonischen Fischerdorf die Schlagzeile der Zeitung Ein Notar erwürgt seine Frau wie ein persönlicher Anruf gepackt, und er hatte sich sofort als Zeuge gemeldet. Dabei bewegte ihn weniger der Gedanke an die Hauptgestalten der finsteren Tragödie als die fröhliche Aussicht, Toulon und das Torpedoboot E 124 wiederzusehn. Später erst begann sich sein Gewissen mit der Frage zu beschäftigen, wem in so gefährlicher Lage beizuspringen sei, dem Schatz einer Urlaubsnacht, dem er eine natürliche Dankbarkeit bewahrte, oder dem gefährlichen, aber Bewunderung einflößenden Gegenstand eines mißglückten Abenteuers.

Als Emil den Sitzungssaal betrat, hing die Gewissensfrage noch in der Schwebe. Nach der ersten Verhandlungspause, die ihn mit Louis und den Fischern zusammenbrachte, war sie zugunsten des Angeklagten entschieden. Man hörte ihn im Zeugenzimmer und Flur beteuern, er habe die weite Reise lediglich unternommen, um einem Ehrenmann gegen eine leichtfertige Frauensperson beizustehn, die es noch im Tode jucke, den ausgepumpten Mann vollends zu verderben.

Tief und nachhaltig errötend, trat er in den Zeugenstand, der ihn an eine Kommandobrücke erinnerte. Seine Befangenheit, sein treuherziges Aussehn und nicht zuletzt die soldatisch ehrfürchtige Haltung sicherten ihm das Wohlwollen des Gerichts und der Geschworenen, bevor er noch ein Wort gesagt hatte. Emil, im Gefühl, von seinem achtunggebietenden Platze aus Wichtiges zu vollbringen, gewann rasch sein Selbstvertrauen zurück. Er schilderte unter wiederholtem Erröten, aber so deutlich, daß die Öffentlichkeit vorübergehend ausgeschlossen werden mußte, wie die Witwe ihn, der irrtümlich in ihr Zimmer eingestiegen sei, ohne viel Umstände willkommen geheißen und für die Verwechslung mit der ahnungslos im Nebenzimmer schlafenden Emma, seiner jetzigen Frau, schadlos gehalten habe.

Als er nach Beendigung seiner Aussage wegtrat, erhob sich Burguburu. Er war totenblaß. Am ganzen Leibe zitternd, erforschte er mit rot unterlaufenen Augen abwechselnd die Saaldecke, wo sein verdunkelter christlicher Sinn den Sitz der Gerechtigkeit vermuten mochte, und den leeren Zeugenstand. Er schien lange zu brauchen, um sich zu vergewissern, daß Emil nicht mehr dort stand. Dann suchte er ihn, langsam und schwerfällig, auf den verschiedenen Bänken. Er fand ihn und hob die Faust gegen ihn. Es war schrecklich anzusehn, wie der Mann verzweifelt nach Worten rang, die seine Kehle nicht durchließ. Endlich schrie er:

»Schäme dich, Emil Kerhostin!«

Der Saal blieb atemlos. Man hörte diese Fistelstimme zum erstenmal. Von einem Weinkrampf geschüttelt, brach Burguburu zusammen. Die Sitzung wurde unterbrochen.

Draußen, vor dem Gerichtsgebäude, wurde Emil mit Händeklatschen empfangen. Die Kunde, durch seine Aussage habe die Anklage den Todesstoß erhalten, war ihm vorausgeeilt, gleichzeitig verbreitete sich aber auch die Befürchtung, daß durch den erschütternden Ausruf des Notars die Wirkung von Emils Erzählung auf die Geschworenen zunichte gemacht, ihr anfängliches Wohlwollen in das Gegenteil verkehrt werden könnte. Es wurde darüber hin und her gestritten, bis in der Gruppe, die sich auf der Freitreppe um Emil gebildet hatte, eine Stimme durchdrang, die erklärte, die Geschworenen seien insgesamt Ehemänner und würden sich über den Eigensinn des Angeklagten hinwegzusetzen wissen, dessen Ausruf »Schäme dich!« (die Stimme überschlug sich meckernd) allerdings den Gipfel der Uneigennützigkeit darstelle. Nachdem das Gelächter sich gelegt hatte, behauptete ein altes, völlig verwittertes Frauchen, hier gäbe es nichts zu lachen, für sie sei der arme Notar ein Held – worauf die einmütige Antwort erfolgte, gerade deshalb müsse er freikommen. Unter zuversichtlichem Gemurmel der Menge begab sich der bevorzugte Teil des Publikums in den Gerichtssaal zurück.

Das Schlußwort Burguburus war kürzer, aber auch eindrucksvoller als die Rede des Staatsanwaltes.

Gebieterisch und, im ersten Teil seiner Rede, mit großem juristischen Scharfsinn verlangte er, des Totschlags für schuldig befunden zu werden. Er habe Juliette durch das ganze Haus verfolgt, um sie zu erwürgen. (Dabei hob er die mächtigen, erdroten Tatzen und zeigte sie nach allen Seiten.) Sie habe erst geschossen, als er sie auf das Bett warf und die Hände um ihren Hals legte ... Die vom Staatsanwalt angeführten mildernden Umstände wies er einen um den andern zurück.

Juliette, schloß er, habe ihm einmal eine sehr simple und einleuchtende Erklärung ihres Wesens gegeben. Ihr erster Mann sei viel zu sehr verliebt gewesen und habe in ihr den Ausbund geradezu überirdischer Eigenschaften gesehn. Selbstverständlich habe die Enttäuschung nach so überspannten Erwartungen nicht auf sich warten lassen, und da sei, dem gleichen Gesetz einer maßlosen Einbildungskraft folgend, aus dem reinen Engel über Nacht ein vollkommener Teufel geworden. »Und siehst du«, hatte Juliette gesagt, Burguburu hob den Zeigefinger, »wir werden stets das, wofür man uns hält ... Solange ich für ihn das Muster einer guten und edlen Frau war, bemühte ich mich, es zu sein, und ich war es bis zu einem gewissen Grade auch – und wäre es vielleicht mit der Zeit durch und durch geworden. Es ging ja um mein Glück! Als ich aber durch eine Reihe von lächerlichen Zufällen in seinen Augen herabsank und er mich in der Folge für schlecht und unverbesserlich hielt, wurde ich schlecht, wollte ich mich nicht bessern ... Aus Stolz ... Aus Trotz ... Aus Rache. Zugleich mit mir sollte auch er gestraft sein.«

»Und ich, meine Herren Geschworenen, und ich«, rief Burguburu und krallte inbrünstig die Hände an die Brust, als wollte er sich das Herz herausreißen, »ich habe genau denselben Fehler begangen, nein, einen viel schlimmeren! Ich hielt meine arme Frau von vornherein für gefährlich und nichtswürdig, ich glaubte mich einzig durch die Sinnenlust, und zwar in ihrer rohesten Form, an einen solchen Satan gebunden, und ich ließ es sie merken und nicht selten auch ausdrücklich wissen. So habe ich das unglückselige Werk meines Vorgängers weitergeführt – mit dem Erfolg, meine Herren Geschworenen, den Sie kennen. Statt auf diesem mörderischen Wege, sie zu erniedrigen und in der Erniedrigung zu erhalten, umzukehren und Vertrauen und Geduld und wirkliche Liebe zu beweisen, bin ich ihn verstockt bis zu Ende gegangen ... Ein Freispruch wäre ein Freibrief für den Henker, der in jedem Manne steckt, ein Aufruf an jeden ungeduldigen Liebhaber, kurzen Prozeß zu machen, wenn die Geliebte sich herausnimmt, auf eine Bosheit mit einer Bosheit zu erwidern. Ihr Freispruch, liebe Freunde, wäre eine Rechtfertigung tierischer Bosheit und außerdem eine Schmähung des Gesetzes! Wozu das Gesetz, wenn die Beredsamkeit eines streberischen Anwalts und die Parteinahme einer Menge, die heute Hosianna ruft und morgen Ans Kreuz mit ihm, genügen, um es wegzublasen wie einen Strohhalm! Ein Freispruch würde besagen: Das Gesetz gilt nicht, ein Totschlag ist kein Totschlag, er ist eine unverantwortliche Regung des Gemüts, ein Freispruch würde allem Volk verkünden: Es gibt keine Gesittung! Sei ein reißendes Tier, stiehl, foltere, brandschatze und morde, aber richte dich so ein, daß du nicht ruhigen Blutes dabei scheinst und einem Menschen ähnlich siehst, sondern benimm dich wie ein reißendes Tier, das der Blutgeruch benebelt, und dann, es klingt verrückt, aber es ist die Wahrheit, dann wirst du für schuldlos befunden und kannst von vorn anfangen – immer, wohlgemerkt, unter Befolgung der erwähnten Regeln aus dem Tierreich ... Ich aber muß und will büßen. Machen Sie mich nicht ganz unglücklich, indem Sie der Gasse gehorchen und mich freisprechen. Tolle Hunde macht man unschädlich! Was fällt Ihnen ein«, rief er in ausbrechendem Zorn, »was unterstehn Sie sich, Gesetze, die für Menschen gemacht sind, lediglich auf Tiere anzuwenden, und das Tier, das es wirklich nicht besser weiß, strenger zu behandeln als den vernunftbegabten, im Gesetz erzogenen und ausreichend gewarnten Menschen! Wagt es und jeder von euch, jeder einzelne, du, Milmorin, André, du, Doktor Veillon, François« (gewichtig, mit einer Pause nach jedem Namen, las er die Liste der Geschworenen von einem Blatt Papier) »wagt es, und jeder von euch, jeder einzelne, wird es an seinem eigenen Leben büßen!«

Danach setzte sich Burguburu und wischte mit den Ärmeln den Schweiß aus dem Gesicht. (Es wäre ihm ein leichtes gewesen, das Gericht noch viel tiefer in Juliettes Wesen hineinblicken zu lassen, in den ›Götzendienst des Todes‹, in ihren dunkeln Trieb, von dem er heute mehr wußte als selbst die armen Kranken und Gebrechlichen, die sie mit so viel Leidenschaft auf den Tod vorzubereiten pflegte. Er hätte sagen können, daß sie nur eins wahrhaft fürchtete und begehrte, aus ganzer Seele nur eines liebte: den Tod. Daß sie leben und die andern überleben wollte, um ihn nicht zu verlieren, um ihn bei sich zu behalten, ihn zu besitzen, ihn, ihren einzigen, furchtbaren Geliebten – den Tod. Von allen Geheimnissen, die ihn je hatten erschauern lassen, war es das einzige, das den Namen verdiente. Dies alles war Burguburu im Gefängnis aufgegangen. Er verschwieg es. Das Volk hätte kein Wort davon richtig verstanden. Juliettes Bild wäre in den Augen der Menge nur noch mehr verdunkelt worden. So, sagte er sich, verwahrten früher die Priester ein Geheimnis in ihrer Brust, als es unter Priestern noch Geheimnisse gab.)

Der Freispruch erfolgte einstimmig.

Als der Notar, vom ehrenwerten Doktor Blanc und einem Gendarmerieoffizier begleitet, den Saal verließ, wußte die Menge schon von der kurzen Ohnmacht, die ihn angesichts des tobenden Beifalls nach Verkündung des Urteils befallen hatte. Der weißhaarige Fischer und Chorführer legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief von der obersten Stufe der Freitreppe:

»Er kommt gleich! Wir haben gesiegt! ... Ruhe jetzt! Ruhe! Man wird gebeten, sich still zu verhalten! Er will es so. Er ist halb tot.«

Beim Erscheinen des Notars auf der Freitreppe nahm Louis, der vor ihm herging, die Mütze ab, und sogleich entblößte sich die Menge. Burguburu schritt durch eine Gasse ehrfürchtig verstummter Menschen zum Wagen des Doktors.

Am Ende des Weges trat Madelon Plaisir auf ihn zu und wollte ihm Blumen überreichen.

»Im Namen der Frauen von Ranas!« rief sie laut.

Er stieß die Hand zurück und stieg in den Wagen, gefolgt vom Doktor und dem Gendarmerieoffizier. Die Blumen fielen auf die Erde und waren im Nu zertreten, ohne daß jemand es merkte. Der Wagen rollte davon, und Louis hielt sich für verpflichtet, den Umstehenden zu erklären: »Die Dame war die beste Freundin der – Frau Notar.«

Man sah sich nach Madelon um, sie war verschwunden.

Der Wagen fuhr zum Gefängnis. Nach Erledigung der Entlassungsförmlichkeiten verabschiedete sich der Offizier mit kräftigem Händedruck von Burguburu.

»Unsre Gesellschaft gräbt sich ihr eignes Grab«, vertraute Burguburu ihm an. »Nehmen Sie dies Wort als Vermächtnis eines schuldigen Freigesprochenen, eines vom eigenen Staat vorsätzlich mißhandelten Bürgers.«

Der Offizier antwortete: »Eine starke Gesellschaft kann sich großmütig zeigen, Herr Notar.«

Für solchen Unsinn hatte Burguburu nur ein verächtliches Achselzucken.

Vor Burguburus Haus am Hafen saß seine alte Haushälterin.

Neben ihr stand ein Eimer Wasser und darin ein Strauß kleinblütiger Staudenastern. Sie waren weiß, mit goldgelben Herzen. Die Alte hatte keinen Augenblick gezweifelt, daß ihr Herr freigesprochen würde, so wenig wie das ganze Département du Var. Als sie ihn jedoch aus dem Wagen des Doktors kriechen sah, ein Knochengerüst, verhärmt, mit schlohweißem Bart und der umständlichen Betulichkeit eines Greises, stieg ihr etwas in die Kehle, und sie begann leise zu wimmern. Mit der Schürze trocknete sie die Stiele der Astern und ging auf ihn zu. Sie hielt den Strauß vor sich wie einen Schild.

»Von Frau Tavin«, lispelte sie und erschrak nicht wenig über die Heftigkeit, mit der Burguburu ihr die Blumen aus der Hand riß.

In diesem Augenblick trat der Pfarrer aus der Kirche, und seine und Burguburus Blicke begegneten einander. Beide standen still und starrten sich über den Platz hinweg in die Augen.

Der Pfarrer legte die Hand an den Hut, drehte den Kopf weg und grüßte. Gleichzeitig zog auch Burguburu mit abgewandtem Gesicht den Hut. Die Frau des Anstreichers, die rechts aus der Kirchgasse kam, bezog den Gruß des Pfarrers auf sich und dankte. Der Gruß des Notars traf links den Zeitungsverkäufer. Verwundert sah der halbwüchsige Junge sich um, wem der Gruß gelte.

Dann setzten beide Herren mit gesenkten Augen ihren Weg fort. Wenige Schritte entfernt sprangen die Fischer aus dem Autobus. Sie stellten sich auf und marschierten im Gänsemarsch zum Café de la Marine. Die Mütze saß ihnen schief im Genick, die Zigarette saß ihnen angewachsen im Mundwinkel, die Hände wurzelten in den Hosentaschen, sie hatten gutmütige, verwitterte Gesichter. Ihr Summen schwebte über den stillen Kai:

»Wenn der Wind weht
Über das Meer...«

Vor dem Café blieben sie mit zurückgeworfenen Köpfen stehn und beobachteten ein Luftgeschwader, dreimal drei Flugzeuge, keilförmig gestaffelt, denen je ein Flugzeug voranflog und folgte. Das Geschwader flog funkelnd und schimmernd in die Feuersbrunst des Sonnenuntergangs.

Die Fischer schlängelten sich durch die Tischreihen der Terrasse und nahmen Aufstellung vor der Theke.

Nachdem das Volk versammelt war, drehte der Chorführer sich um und fragte:

»Was meint ihr? Verurteilt wurde heute die Witwe. Sollen wir sie nicht von uns aus begnadigen?«

Das Volk schwieg unschlüssig. Die Augen sahen zu Boden. Allmählich aber, unter großen Vorsichtsmaßregeln, hoben sich die Blicke und tasteten die Runde ab, und dann riefen die Männer:

»Ja. Wollen wir. Lassen wir sie laufen. In Ewigkeit Amen. Mag der Himmel mit ihr fertig werden – oder die Hölle.«

»Auf ihr Andenken!« befahl der Chorführer.

Der dreimalige Handklatsch mit abschließendem Tusch klang gedämpft und ein wenig düster, wie es dem Anlaß entsprach.

 

Und jetzt? ... Was möchtest du noch erfahren?

Die Jahreszeiten wechseln leise in der Nacht, du siehst sie, du hörst sie nicht kommen ...

Ja, richtig! Die Villa Maria erwarb der ehrenwerte Doktor Blanc von den Erben Juliettes. Solange der Zeitungslärm um die Verstorbene anhielt, hatte man die Familie nicht zu Gesicht bekommen – jetzt war sie auf einmal da und nahm Geld.

Und Juliette? ... Man hatte sie, beinahe heimlich, in Ranas begraben, zu einer Zeit, da Burguburu sich noch als Statthalter und Vorrichter des Schicksals fühlte und dementsprechende Weisungen gab. Nach seiner Heimkehr wurde sie mit Einverständnis Pauline Tavins in aller Stille nach Fréjus überführt und in der Tempelhalle beigesetzt. An diesem Tag lasen Marius und Pauline Seite an Seite die Verse im Giebelfeld:

»Tu, tu pèr quau ma labarido
Coume un mirau s'èro clarido ...«

Marius gestand:

»Jetzt ist es wahr geworden...«

»Es geht nicht schneller«, murmelte Pauline.

Sie nahm den Notar in ihren neuen Wagen auf. Er war beinahe ein Greis. Aber war sie nicht selbst schon alt genug? War sie etwa noch jung? ... Sie fuhren den gleichen Weg, den der rasende Grabengel oft zurückgelegt hatte. Sie fuhren ihn langsam und mit Bedacht und fühlten ihre Verwandtschaft mit den erntebereiten Feldern, ihre Verwandtschaft mit den müden Wolken, die nicht mehr von der Stelle wollten und sich lieber auflösten in der Bläue ... Aber als sie in den Maurenwald kamen, sahen sie auch, wie die Pinien auseinanderrückten, um die Milde und die verklärten Farben des Abendhimmels einzulassen bis auf den dunkeln Grund.

 

Eines Morgens wachst du auf und hast einen neuen Schatz.


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