Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Abschied von der kleinen Braut

»Schade, daß es immer die Unrichtigen trifft«, beendete Louis seinen Bericht über den Unfall. Nach einem verächtlich forschenden Blick in die Augen der Frau Notar, die, ein Bild bewußtlosen Schmerzes, dasaß und Großvater Burguburu, den ersten Notar der Familie, anstarrte, als sei sie mit ihm in eine geheime Beratung vertieft, die das Begriffsvermögen eines Chauffeurs überstieg, erhob sich der Unglücksbote und schlich auf den Fußspitzen aus dem Zimmer.

Er tat dies mehr aus angeborenem Takt als mit Überzeugung. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte an Stelle der armen Kleinen diese Jahrmarktsschönheit – still, mit gefalteten Händen, ein Taschentuch auf dem Gesicht – in der Totenkammer des Spitals gelegen ... Was auch im einzelnen geschehn sein mochte, Louis blieb überzeugt, der Anfang und letzte Grund des Unheils sei bei dem finstern Weibsbild zu suchen, das nach seiner Ansicht gar nicht anders konnte, als den Tod um sich zu verbreiten.

Kaum war die Haustür hinter ihm ins Schloß gefallen, sprang die dicke Juliette mit der Behendigkeit eines Mädchens auf und eilte in den Keller. Sie machte Licht, holte hinter einem Stapel Konservenbüchsen einen Schlüssel hervor und öffnete den alten Kleiderschrank an der gegenüberliegenden Wand.

Ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket unter dem Arm, verließ sie die Unterwelt, ohne dessen Beherrscher, dem hinter dem Schrank verborgenen Major, einen Gedanken gewidmet zu haben. Zwei Stockwerke höher schloß sie sich in ihr Schlafzimmer ein.

Inzwischen war Louis vor dem Haus Rosmarin auf die schwarze Limousine des Doktors gestoßen, neben der noch ein zweiter, ihm wohlbekannter Wagen hielt, und saß nun, eine Zigarette rauchend, auf der Schwelle des Gartentors. Er dachte an den Tag im Winter vor einem Jahr, da er, vor Sibylle kniend, zurückgeschaudert war beim Anblick des dünnen Blutstreifens, der sich eilig von ihrem Mundwinkel zum Kinn hinabgeschlängelt hatte, und an die tiefschwarzen, zu ihm emporgehobenen Augen, als sie sagte: »Es ist nichts ...« Merkwürdigerweise war ihm dies Gesicht viel gegenwärtiger als das zerquälte und geschändete Antlitz der Toten.

Von dem wußte er nur noch das Entsetzen, das es in allen hervorgerufen hatte, der gemarterten Züge selbst konnte er sich nicht entsinnen. Für ihn bedeckte jenes Taschentuch in der Totenkammer des Spitals ein Gesicht mit feinen, regelmäßigen Zügen und den herrlichsten Augen der Welt, und ein kleiner, roter Mund sprach in einer Art Verklärung: »Es ist nichts...«

Als zwei Herren aus dem Haus traten, ging er ohne weiteres auf sie zu, reichte dem ehrenwerten Doktor Blanc wie dem Touloner Arzt die Hand und erkundigte sich nach dem Befinden Pauls.

Der Doktor Blanc antwortete nur mit einem ausdrucksvollen Knurrlaut, der zumindest Selbstzufriedenheit bekundete, wohingegen der Touloner Kollege sich zu ergiebiger Auskunft herabließ. Der junge Herr Tavin, erfuhr Louis, hatte das Schlüsselbein und zwei Rippen gebrochen, der Fuß war lediglich verstaucht, aber, betonte der Chirurg, ohne Louis' schnelles und tatkräftiges Handeln wäre der junge Mann die Nacht über liegengeblieben und hätte sich höchstwahrscheinlich eine Lungenentzündung zugezogen. Es wäre ihm nicht möglich gewesen, die steile Böschung bis zur Straße hinaufzuklettern, man hätte ihn auch nicht rufen hören.

»Und wie erklären Sie als Sachverständiger sich den Unfall?« fragte unvermittelt der Arzt.

»Schwer zu sagen«, meinte Louis. »Ich war dicht hinter ihnen, als sie abstürzten. Im Licht des Scheinwerfers sah ich deutlich, wie die Kleine an seinem Hals hing, während er die Arme in die Luft warf – und das kann man nun verschieden deuten. Wahrscheinlich ist einer von ihnen versehentlich auf den Gashebel getreten. Der Gang war noch nicht heraus, das steht fest. Ein so guter Fahrer!... Sie wollten jedenfalls baden. Er machte es oft so im vorigen Jahr, daß er den Wagen an die Böschung stellte. Und dann muß ihm etwas dazwischengekommen sein... Oder –« »Oder?« wiederholte der Chirurg. Louis riß an seinem Schnurrbärtchen.

»Oder« – betonte er nachdrücklich, sagte dann aber schnell: »Sie hat ihn eine Sekunde zu früh geküßt, und er hat vergessen auszuschalten.«

»Ein so guter Fahrer?« beharrte der Arzt.

»Du lieber Gott, wenn einen die Liebste küßt!«

»Das ist auch ganz gleich«, erklärte zu beider Verwunderung Doktor Blanc ungewöhnlich heftig und schnitt mit zwei Sätzen das Gespräch ab. »Die Versicherung wird nicht bemüht«, erklärte er. »Wir wünschen keinen Prozeß.«

Seine größere Sorge, die sich um den Begriff ›Fahrlässige Tötung‹ drehte, verschwieg er.

Louis wurde vom Doktor nach Ranas mitgenommen und erhielt unterwegs eine strenge Ermahnung:

»Ich erinnere dich an den letzten Skandal, Louis! Bei dem hattest du die Hand im Spiel ... Ich hoffe, das wiederholt sich nicht! Du hast dich glänzend benommen, und ich werde dafür sorgen, daß es in die Zeitung kommt.« Er machte eine Pause, kaute kräftig und fuhr dann im Befehlston fort: »Als du sahst, wie sie abstürzten, hast du gleich zwei Wagen angehalten und die Insassen veranlaßt, mit dir zusammen das Auto zu heben, unter dem das arme Fräulein mit eingedrücktem Brustkorb und Gesicht lag. Du hast sie ins Spital gefahren, während der andre Wagen den jungen Tavin, der im letzten Augenblick abgesprungen sein muß und dieser Entschlußkraft das Leben verdankt, auf seinen Wunsch und deine Anweisung zu seiner Mutter brachte. Du hast schließlich noch die Frau Notar in geziemender Form benachrichtigt und – fertig! Das ist gute Arbeit genug. Verstehst du? Alles, was darübergeht, ist von Übel. Du wünschst doch auch nicht, daß man dich mit Scheinwerfern beleuchtet, wenn du deine Liebste küßt, nicht wahr? Nun also. Und ein Ehrenmann, der unfreiwillig Zeuge davon wird, behält es für sich! Und wie und warum sie abgestürzt sind, mag der Himmel wissen, wir hier in Ranas-sur-mer, wir wissen es nicht.«

Damit setzte er Louis vor dem Café de la Marine ab, und als er, sich vorbeugend, im Büro des Notars Licht bemerkte, stieg er ebenfalls aus.

Er fand Burguburu, wie er mit krummem Rücken am Schreibtisch hockte und seine ausgestreckt vor ihm liegenden Hände sanft hin und her bewegte. Die beiden Männer umarmten sich, und der Notar sank in seinen Sessel zurück.

»Ich weiß schon«, sagte er, »man hat mich vom Spital angerufen ...« Ich traue mich nicht nach Hause, obwohl es«, er warf einen Blick auf die Stutzuhr, »längst Zeit ist zum Abendessen ... Ich habe angeordnet, die arme Kleine in die Villa Maria zu überführen ... Wir können doch das Begräbnis nicht vom Spital aus stattfinden lassen – nicht wahr, Doktor? ... Wie hat Frau Burguburu die Nachricht aufgenommen?«

»Mit sehr viel Haltung«, versicherte der Doktor.

»Ach, lieber Freund, ihre Haltung ... Sie machen sich keinen Begriff, wie es war, als die Kleine bei Frau Tavin wohnte. Gräßlich ... So wird es immer sein.« Ein klägliches Lächeln verzog seinen Mund, schüttelte leise den Sarazenenbart. »Sie war eine Spottdrossel. Sie wehrte sich nur, wie eben Singvögel sich gegen Katzen wehren. Sie fliegen einen Baum weiter und lachen das Raubtier aus ... Wer wird jetzt bei uns lachen – ohne daß sich einem die Gedärme zusammenziehn! Sie müssen wissen, lieber Freund, es gibt Lachen und Lachen, nicht alle Menschen lachen gleich ... Und unsre stillen Sonntagvormittage auf der Veranda! Eine Oase! ... Dort erholte ich mich – von einer Woche zur andern. Sie erzählte mir schließlich alles – nicht direkt, verstehn Sie, Doktor? Andeutungsweise ... Der gute Major. Er war längst nicht mehr der schwarze Mann und Nebenbuhler, wir begriffen ihn, er war mein Freund geworden ... Manchmal ging Frau Tavin, diese wunderbare Frau, durch ihren Garten, dann erhoben wir uns und plauderten mit ihr, über den Zaun hinweg, die Kleine und ich ... Für einige Minuten oder eine halbe Stunde bildeten wir drei eine richtige Familie. Und die Kleine nannte uns auch die Sonntagvormittagsfamilie ...«

Nach einem Schweigen, die Hände Burguburus glitten immerfort über die Tischplatte, mit einem Ausdruck von Hilflosigkeit und Liebkosung, ergriff der Doktor zum zweitenmal das Wort und ging dem Kummer seines Freundes Marius beredsam und feinfühlig zu Leibe. Er beklagte den Verlust Sibylles, die der Notar, alle Welt sei sich darüber einig, wie die eigene Tochter geliebt und auch so gehalten habe. Ohne es womöglich zu ahnen, sei sie der Liebling von Ranas gewesen, alte Frauen und junge Mädchen seien übereingekommen, Gott müsse zu seiner Freude auch hinkende Engel um sich haben, weil Sibylles Anmut erst durch den Leibesschaden recht deutlich geworden sei, er habe ihrem zarten Wesen etwas Überirdisches hinzugefügt.

»Wahr, sehr wahr!« murmelte der Notar.

Der Doktor streifte das jugendliche Aussehn der Gattin, ihr zuchtvolles Temperament und ging dann entschlossen zum Dringlichsten über, zu Marius Burguburu selbst.

An die Spitze stellte er die Feststellung, die alle Welt anfänglich erschreckende Abmagerung des Freundes habe sich zuletzt als ein Vorzug erwiesen, Marius zähle heute zu den angenehmsten männlichen Erscheinungen des Ortes. Sein Körper, seine Glieder seien straff und sehnig, die Züge vergeistigt, das Auge blicke lebhaft, der kahle Schädel überrasche durch einen Ausdruck von Reife und Klugheit. Von den äußeren zu den inneren Eigenschaften übergehend, erinnerte er daran, wie Marius schon vor undenklichen Zeiten von niemand geringerem als einem Präsidenten der Französischen Republik der ›Feuerwerker der provenzalischen Heiterkeit‹ genannt worden sei, wie jene in den Schullesebüchern enthaltene Schnurre von der Verteidigung der Olliouler Schlucht eine Generation nach der andern ergötzt habe, indes von ihrem Verfasser zahllose andre Ergötzlichkeiten unter seinen Mitbürgern in Umlauf gesetzt worden seien, die zwar die Welt nicht kenne, für die aber seine Vaterstadt ihm um so mehr Dank wisse.

Zum erstenmal zeigte sich Burguburu unzugänglich für Schmeicheleien.

»Sie wollen damit sagen«, behauptete er, »ich bin der größte Aufschneider, den Ranas hervorgebracht hat ... Da haben Sie recht, mein Lieber! Zu meiner Entschuldigung muß ich hinzufügen, daß ich selbst dabei hereingefallen bin. Waren nicht Sie es, der Juliettes Freundin Madelon Plaisir sagte, meine beste Schnurre sei meine Ehe mit der Witwe Bosca?«

»Es ist unter meiner Würde«, erklärte Blanc, »auf eine solche Verleumdung einzugehen, um so mehr, als über die Glaubwürdigkeit der beiden in Betracht kommenden Damen in meiner Gemeinde nur eine Meinung besteht. Ihr Unglück, lieber Freund, trübt Ihr Urteilsvermögen.«

»Sicher nicht?« forschte Burguburu argwöhnisch. »Sie haben es nicht gesagt?« Statt zu antworten, begann der Doktor mit grimmiger Miene zu kauen. »Sie treiben Schindluder mit mir«, beteuerte Burguburu traurig. »Was soll das alles! Eine Lüge mehr oder weniger ... Hier sitze ich und traue mich nicht nach Hause. Ich traue mich nicht ohne die Kleine ... Glauben Sie mir doch, bitte!«

Der Doktor kaute schweigend, er war noch immer beleidigt. Mit einmal stand Burguburu auf und sagte:

»Fahren Sie mich zum Spital! Ich hole sie – wie sie ist. Dann geht es vielleicht – einen Tag oder zwei.«

Als der Notar, die Hand am Lichtschalter, die Tür öffnete, stand im dunklen Gang eine Frauengestalt.

»Juliette!« rief er und taumelte zurück. Er hatte das Licht gelöscht, ob vor Schrecken oder absichtlich, wußte er selbst nicht.

Der Doktor, der bereits mit einem Fuß im Gang stand, begab sich auf die Suche nach dem Schalter. Zuerst war nichts zu hören als das Tasten einer Hand, dann das Rauschen eines Kleides, und dem folgte ein Seufzer. Er stieg aus Burguburus tiefster Brust und verbreitete sich langsam im finstern Raum.

»Ich will sie nicht im Hause haben«, erklang plötzlich Juliettes Stimme. Die Stimme war leise, beschwörend, etwas heiser.

»Hörst du?« fragte sie – wie dem Doktor schien, diesmal aus ganz andrer Richtung.

»Was hast du«, schrie Burguburu plötzlich auf, »was hast du – für ein Kleid an! Du riechst ja nach Mottenpulver ... Ach, du lieber Gott!« Gleich darauf vernahm der Doktor einen vorsichtig über den Kachelboden tastenden Schritt.

»Hörst du?« wiederholte Juliette lauter. »Ich will nicht!... Wir lassen sie nach Fréjus überführen. Sie wird bei ihrem Vater begraben.«

»Es ist ein Kriegsfriedhof«, antwortete Burguburu, und der Doktor, der noch immer die Wand nach dem Schalter absuchte, vermutete ihn jetzt nach dem Klang der Stimme im Gang: »Du hast mir selbst erzählt, in Befolgung seines letzten, ausdrücklichen Willens sei er dort beigesetzt worden. Er wollte unter seinen Soldaten bleiben. Gönne ihm um Himmels willen seine Ruhe! Du hast ihn auch bisher nicht gestört. Laß ihn, den Guten!... Auf dem Kriegerfriedhof kann niemand mehr beigesetzt werden, auch nicht seine Tochter – obwohl sie ein Kriegsopfer ist. Das Begräbnis muß von uns aus stattfinden. Es gehört sich so.«

»Sie wird bei ihrem Vater begraben« zischelte Juliettes gar nicht mehr sanfte Stimme. »Es ist seine Tochter, nicht die deine. Sie wird, sage ich dir – und wenn ich den Kriegsminister persönlich aufsuchen muß!«

Es erfolgte keine Antwort.

»Hörst du?« fragte sie mühsam mit verhaltenem Zorn.

»Warten Sie bitte bis wir Licht haben«, schlug der Doktor vor.

Sie fragte: »Marius, macht die Dunkelheit dich taub? Der Doktor scheint ganz gut zu hören.«

Endlich hatte Doktor Blanc den Schalter gefunden. Mit einem Schlag wurde es hell. Aber Burguburu war nicht mehr im Zimmer.

»Guten Abend, Herr Doktor«, sprach Juliette und blinzelte den in geringer Entfernung vor ihr Stehenden an. »Wie Sie sehen, ist mein Gatte ausgerückt. Wissen Sie vielleicht, wohin?«

Doktor Blanc betrachtete sie mehrmals von Kopf bis zu Füßen.

Sie trug ihre Witwentracht. Nur der Schleier fehlte.

Sie war frisch geschminkt. Sie roch nach Mottenpulver und abgestandenem Parfüm.

»Zu ihrer armen Tochter«, versetzte der Doktor und kehrte ihr den Rücken.

Juliette wartete, bis sie den Wagen des Doktors abfahren hörte. Dann eilte sie die Treppe hinunter ...

Im Wagen saß Burguburu, Doktor Blanc fuhr ihn zum Spital. Sie sprachen kein Wort, aber die Kiefer des Doktors gingen wie ein Mahlwerk.

»Sie haben Hunger, lieber Freund«, äußerte endlich Burguburu.

Der Doktor nickte mit dem Nachdruck ehrlicher Entrüstung.

»Ich auch«, tröstete ihn der Notar.

Juliette raste in ihrem Wagen kreuz und quer durch das Städtchen. In der Postgasse hielt sie an und kaufte einen langen Trauerschleier, den sie von der Ladnerin gleich rückwärts an der Haube festmachen ließ. Mit wehendem Schleier setzte sie ihre Fahrt durch die Straßen und Gäßchen fort und hinterließ Mitleid, Bestürzung, Lachen und Grausen, wo immer sie im Licht der Straßenlaternen und Schaufenster auftauchte. Wie ein schwarzes Gespenst fegte sie im Sturm durch Ranas. »Früher ritten sie auf dem Besenstiel«, meinte der Anstreicher in der Kirchgasse. »Heutzutage haben sie Autos.« Seine junge, sonst so lachlustige Frau aber sagte leise: »Still! Sie ist verrückt geworden vor Schmerz.«

Madelon Plaisir, bei der sie zuletzt einkehrte, kannte sie besser.

»Wie schrecklich, du Arme«, empfing Madelon die wirr und heißhungrig in ihre Wohnung eindringende Freundin. »Schon wieder der Tod!... Aber nun hat ja ganz Ranas gesehn, daß du wieder die alte bist – die Witwe Bosca! Das tröstet dich vielleicht ein wenig, meine Liebe ... Nun hast du doch recht behalten, nicht wahr? Ja, die Witwe Bosca weiß alles! ... Sogar das Kleid hast du aufbewahrt! Erlaube, daß ich dir von meinem Maiglöckchenparfüm gebe, ich sehe, oder vielmehr ich rieche: du verstehst keinen Spaß mit den Motten ... Der gute Burguburu! Was sagt er denn? Wie hat er es aufgenommen, der Arme? Er hat so viel Herz! Sicher hält er sich irgendwo mit seinem Kummer versteckt...«

»Du bist meine beste Freundin

»Deine einzige«, verbesserte Madelon.

»Ich merke es«, sprach Juliette sanft. »Und ich danke dir, Madelon, du trägst mit an meinem Leid. Wenn man bedenkt, es soll Menschen geben, die eine über das Grab ihrer einzigen Tochter gebeugte Mutter ins Gesicht hinein verspotten! ... Tugendhafte Frauen, die vor Schadenfreude aus ihrem Sonntagskleid platzen, wenn ihre beste Freundin ... Ich danke dir, Liebe, dein Mitgefühl ist um so rührender, als du selbst unfruchtbar bist und nicht aus Erfahrung weißt, was ein Kind für die Mutter bedeutet. Aber dein Herz verrät es dir, dein Herz. Gute Nacht, meine Liebe. Ich will jetzt zu ihr.«

Madelon hob die Augenbrauen bis unter die Haare und fragte gedehnt: »Jetzt erst?! ...«

Zum Abschied umarmten sie sich, und Madelon mußte alle ihre Seelenkräfte ins Werk setzen, um sich vom Opfer ihres Mitgefühls zu trennen. Sie gab Juliette das Geleit bis vor die Haustür, an den Fenstern erschienen die Köpfe der Nachbarn, und als Juliette sich endgültig losriß, brach die Freundin mitten auf der Gasse in Schluchzen aus.

 

In der Totenkammer allein gelassen, setzte sich Burguburu auf einen Stuhl und wandte lange nicht den Blick von der Kindergestalt, die, in ein Leichentuch eingehüllt wie eine Mumie, auf der eisernen Bettstatt ruhte.

Ein grobes Taschentuch bedeckte das Gesicht. Darauf tummelten sich die Fliegen.

Bei seinem Eintritt hatte die Tür laut geseufzt – er hatte den Ton noch im Ohr. Die Stille, die ihn umgab, wuchs mit jedem seiner einsamen Atemzüge und wurde ungeheuer. Jemand schien seine Atemzüge zu zählen, deshalb fiel ihm das Atmen so schwer. Schließlich rang er stoßweise nach Luft, und dann kamen die Tränen.

Hastig liefen sie die Backen hinunter und sammelten sich im kurzen Bart. Der Bart war schwarz gefärbt und erwies sich nun deutlich als Fremdkörper in dem fahlen, von langen Hautfalten durchfurchten Gesicht. Burguburu sah es, als blickte er in einen Spiegel, er schämte sich und tat das Gelübde, zukünftig wie in jeder anderen, so auch in dieser Hinsicht der Wahrheit zu dienen. Der armselige Rest des Liebenswerten, der da eingemummt auf dem Feldbett lag, fremd und unverständlich wie ein Schriftzeichen, dessen Bedeutung er nur zufällig kannte, bezeichnete das Ende einer Lüge – ihre Selbstvernichtung. Er fühlte es mit dumpfer Gewalt, ohne daß er imstande gewesen wäre, den Gedanken bis in sein Bewußtsein emporzuheben.

Der dunkle Drang nach Wahrhaftigkeit stärkte sein Selbstgefühl und machte ihn tapfer. Er stand auf. Er hob das Tuch von Sibylles Gesicht. Er biß die Zähne zusammen, und indes die zitternden Hände das Tuch ausgebreitet in der Luft festhielten, zwang er sich, in das gemarterte Antlitz hineinzusehen, so lange, bis er dennoch Zug um Zug als jener Sibylle zugehörig erkannte, in deren Antlitz er oft, Erholung und Zuversicht schöpfend, geblickt hatte.

Erst als die Fliegen auf die wachsgelbe Schreckensmaske niederstiegen, gab er das Tuch feierlich seiner Bestimmung zurück.

Dann saß er wieder da und ließ die Tränen fließen, die mächtigen, erdroten Hände lagen flach auf seinen Knien und bewegten sich leise. Er nickte vor sich hin und sah blöde zu, wie seine Beine vor Schwäche zitterten.

Als er vor der Türe Schritte hörte, warf er sich ohne Besinnen zu Boden und kroch mit unglaublicher Flinkheit unter das Bett. Er lag auf dem Rücken, die Arme an die Flanken gepreßt, an dem der Tür abgewandten Bettende ragte sein Kopf hervor.

Er hörte, wie draußen gesprochen wurde. Nach einer Pause, er atmete noch stark, trat Juliette ein. Er roch sofort das Mottenpulver, der Maiglöckchenduft, der sich alsbald breitmachte, beunruhigte ihn. Er war ihm neu. Die Kleine schützt mich noch im Tode, dachte er voll Dankbarkeit, aber im gleichen Augenblick ließen sich die Fliegen auf ihn nieder. Geduldig bewegte er den Kopf hin und her, blies auch zuweilen in die Nüstern, um die draufgängerischen Tiere zu erschrecken. Es mußte recht vorsichtig geschehn, und daraus zogen die Tiere Nutzen. Juliette stand noch immer an der Tür. Sie schien zu lauschen. War sie erstaunt, daß hier Licht brannte? Suchte sie ihn? Hatte der Doktor, der rücksichtsvoll draußen geblieben war, ihn verraten? Er bemerkte, wie eine große Fliege wegflog und gleich darauf in Begleitung eines Schwarms von Artgenossen wiederkam. Sie hatten blaue Flügel und stürzten sich ohne weiteres auf Nase und Mund. Da er die Arme nicht bewegen konnte, setzte er sich mit Kopfschütteln und gedämpftem Nasenorgeln zur Wehr. Der Aufwand hatte lediglich zur Folge, daß die Fliegen ihre kriegerischen Maßnahmen verschärften und zum Angriff auf den verwundbarsten Teil des Platzes übergingen. Sie versuchten, sich allen Ernstes Eintritt in Burguburus Augen zu verschaffen, die wimperbewehrten Lider erwiesen sich als völlig unzureichender Schutz. Er schloß sie krampfhaft und rührte mit dem Kopf in der Luft. Darauf sammelten sich die Tiere unter den Nasenlöchern, und als Burguburu die entlasteten Augen aufschlug, erblickte er über sich das bemalte Haupt Juliettes, eingerahmt in die Witwenhaube, mit dem weißen Streifen über der Stirn. Ihre Züge waren verschwommen. Die Zähne blitzten.

»Hast du sie gesehn?«, fragte sie halblaut.

Er bejahte mit einer Bewegung des kreisenden Kopfes und entsandte aus den Mundwinkeln abwechselnd heftige Winde über die beiden Gesichtshälften zur Abschreckung der siegestrunkenen Bestien. »Wie sieht sie aus?« fragte Juliette.

Trotz der Qualen, die er litt, hielt er eine Weile still und sammelte seine Gedanken. Er stemmte sich mit dem Hinterkopf auf, um die lauernd auf ihn Niederblickende besser zu sehen, und antwortete: »So, wie dein Gewissen aussehen müßte, wenn du ein Gewissen hättest! So sieht sie aus! Genau so!«

Dann mußte er niesen. Es hallte von den weißgetünchten Wänden wider, und über seinen unwillkürlich angezogenen Knien erbebte das Bett. Juliette machte einen unhörbaren Sprung zurück und rief leise: »Sie bewegt sich!«

Gleich danach vernahm er das Seufzen der sich schließenden Tür. Und dann mußte er noch einmal niesen und ein drittes Mal.

Doktor Blanc, der ihn abholen wollte, beobachtete verwundert, wie der Notar unter dem Bett hervorkam.

»Sie hat mich geohrfeigt«, sagte Blanc trocken, als Burguburu neben ihm stand, und auf dessen fragenden Blick: »Ich wollte sie hindern einzutreten, solange Sie da seien. Es war verkehrt. Schließlich ist sie die Mutter!«

Marius legte dem Freund die Hand auf die Schulter:

»Vergessen Sie die Beleidigung! Sie leidet große Angst... Ich möchte noch ein wenig hierbleiben ... Vielen Dank für Ihre Freundschaft. Ich finde mich allein nach Hause.«

Noch einmal unterlag Burguburu. Die Leiche Sibylles wurde unmittelbar vom Spital nach Fréjus überführt und dort beigesetzt, nicht auf dem Kriegerfriedhof (Juliette hatte sich schnell von der Unausführbarkeit ihres Planes überzeugt), aber nahebei in einem Gottesacker, der über die Stadt hinweg auf das Meer blickt.

Doktor Blanc hatte Ort und Stunde des Begräbnisses in die Zeitung einrücken lassen, und so versammelten sich fast alle Ranasser Autos vor dem Friedhofstor. Die keinen Wagen besaßen, benutzten einen Autobus, den Louis fuhr.

»Die Leute von Ranas waren von jeher Tagediebe«, äußerte Juliette beim Anblick des zahlreichen Trauergefolges. Burguburu antwortete mit einem bösartigen Knurren.

»Für mich hätte sich keine Katze hergefunden«, beharrte sie.

Statt ihrem Trostbedürfnis Rechnung zu tragen, wandte Marius angewidert den Kopf, und da erblickte er Frau Tavin, die sich ehrerbietig vor Juliette und ihm verneigte.

»Frau Tavin grüßt«, meldete er.

Juliette straffte das Kreuz, drehte den Hals hoch und erwiderte den Gruß mit einem Kopfnicken. Damit hatte sie die den Umständen angemessene Haltung gefunden, sie behielt sie bis zum Ende bei.

Als der Pfarrer von Fréjus (Burguburu übersah ihn geflissentlich) das Grab geweiht hatte und unter dem regelmäßigen Aufschlagen der Schollen auf den kleinen Sarg die Beileidsbezeigungen begannen, trat auch Pauline Tavin zu der hochmütig am Grabe aufgerichteten Mutter und richtete zum erstenmal in ihrem Leben das Wort an sie.

Juliette schien auf diesen Augenblick gewartet zu haben. Sie nahm die dargebotene Hand mit heftigem Druck in die ihre, beugte sich zu Paulines Ohr und sagte:

» Sie hat es getan! ... Sie wollte nicht allein zurückbleiben! ... Sie hat es mir gesagt!«

»Wirklich, gnädige Frau?« antwortete leise Pauline. »Sie haben sie nicht mißverstanden?«

»O nein, ich schwöre«, beteuerte mit schmerzlichem Lächeln Juliette. »Ich habe sie niemals mißverstanden.«

Ihre Stimme klang sanft und einschmeichelnd, zugleich bohrte sie die Fingernägel in die Hand, die sie festhielt, daß Pauline vor Schmerz zusammenzuckte.

»Nun ist sie ja doch allein zurückgeblieben«, erwiderte unfreiwillig heftig Pauline. Sie schöpfte Atem und setzte mit einem Ton der Klage wie für sich hinzu: »Die kleine Braut.«

»Ja«, flüsterte Juliette, »im Tod noch ist sie betrogen.«

Es standen schon mehrere Personen neben ihnen und warteten, daß sie bei der Beileidsbezeigung an die Reihe kämen.

Burguburu, der hart und abweisend an der Seite Juliettes hielt, ergriff kurz entschlossen Paulines Hand, zog sie an sich und umarmte die Frau, die er in Gedanken mit Betonung die ›Mutter‹ nannte.

»Dank«, sprach er. »Ich weiß, wie sehr ... Ich weiß auch, was sie an meiner Stelle sagen würde.« Er stotterte: »Dank und Verzeihung!«

Pauline neigte sich tief und küßte ihm die Hände.

Eiligen Schrittes ging sie hinweg.

Da der Notar selbst keine Anstalten dazu traf, reichte Doktor Blanc statt seiner Juliette den Arm und führte sie zu ihrem Wagen.

Burguburu blieb beim Grab, bis es zugeschaufelt war. Dann pflanzte er das weiße Holzkreuz darauf.

Es stand nur noch ein Wagen vor dem Friedhofstore.

»Du hast Manieren wie ein Bauer«, sagte Juliette freundlich von oben herab. Wortlos setzte er sich neben sie.

»Wenn du willst, können wir uns gleich trennen«, erklärte sie.

Er bat gleichgültig: »Fahr womöglich nicht zu schnell.«

Sie sauste die Anhöhe hinunter, und auf der Landstraße erhöhte sie die Geschwindigkeit. Die Straße war spiegelglatt, die Bäume zu beiden Seiten rannten in spitzen Winkeln auf sie zu. Sooft sie einen Wagen kreuzten, gab es einen Ruck, wie wenn sie ein plötzlich greifbar gewordenes Stück Luft entzweirissen.

Die schwarze Fahne ihres Schleiers flatterte hinter ihr – das Feldzeichen des rasenden Grabengels, dachte Burguburu.

»Wenn du nicht langsamer fährst«, sagte er, »kostet es deinen Schleier.« Sie duckte sich kichernd in die Schultern und fuhr schneller.

Da drehte er sich halb um, legte die eine Hand fest auf ihre Haube, mit der andern riß er ihr den Schleier ab und ließ ihn fliegen.

Eine Sekunde lang hob sie den Fuß vom Gashebel. Dann kehrte sie zur früheren Geschwindigkeit zurück.

»Danke«, sprach sie ruhig. »Es fährt sich besser so.«

Zum nächsten- und letztenmal auf dieser Fahrt nahm sie das Wort, als sie in der Forêt du Dôme Doktor Blancs Wagen und damit Frau Tavin überholte.

»Ich hätte große Lust, sie umzufahren«, sagte sie. »Zahn um Zahn ... Doch das – besorgt die Vorsehung – allein.«

Und plötzlich verkündete sie und hielt das Haupt hoch in die brausende Luft: »Ich überlebe euch alle!«

Burguburus Gesicht neben ihr wurde zu Stein.

 

Ärger noch als die körperlichen Schmerzen plagte Paul die Vorstellung, er habe mit Sibylle die Vertreibung aus dem Paradies erlebt, und dieser sei durch seine Schuld eine noch grauenhaftere Strafe auf dem Fuße gefolgt.

Die Vorstellung hatte etwas Gespenstisches, das seine Schatten auch in die Zukunft vorauswarf. Sie hatte sich zum erstenmal eingestellt, als er hilflos, aber dankbar für Errettung aus so großer Not am Strande lag und vergeblich bemüht war, sich vom Boden zu erheben. »Sibylle«, rief er, erst nur wie um Hilfe, dann in ahnungsvoll dämmernder Angst um sie. Aber Sibylle antwortete nicht auf seine Rufe, die sich vom zaghaften Frageton allmählich bis zum Gebrüll steigerten. Dann kam Louis. Von ihm erfuhr er, daß Sibylle tot war, und während sie ihn wegtrugen, wünschte er sich aufrichtig, an ihrer Stelle zu sein. Sowie er sich aber in Gedanken vom Wagen erdrückt auf den Kieseln liegen sah, weigerte er sich, den Tod anzunehmen, den er sich soeben noch als gerechte Sühne zugesprochen hatte. Zur Rechtfertigung seines Widerrufs beschwor er den furchtbaren Augenblick herauf, da sie mit ihrem Mund und ihrer entblößten Brust über ihn hergefallen war dicht über dem Abgrund. Es entlastete ihn nur für kurze Zeit und endete damit, daß er sich gegen sich selbst empörte und in Scham und Reue verging. Die Wucht der Tatsache, daß Sibylle tot war und er lebte, konnte kein Spiel der Gedanken verringern.

Später, in seinem Bett, empfand er die körperlichen Schmerzen als den Ausdruck von Qualen, die wesentlicher waren als jene, und wunderte sich, daß die seelische Qual sich einer künstlichen Linderung ebenso zugänglich zeigte wie der körperliche Schmerz und zugleich mit ihm in Gefühllosigkeit hinabzusinken vermochte. Andrerseits wurde sie von ihm auch wieder emporgehoben. Durch die Gespenstigkeit seines Dämmerzustandes wandelte fern und einsam die Mutter. Bestürzt, dann wieder wehmütig verträumt, suchte er ihre seltsamen Wege zu erkennen. Sie, die sonst immer half, dachte kaum daran, ihm beizustehn. Wie die leibhaftige, durch einen verhängnisvollen Einbruch aufgestörte Einsamkeit ging sie umher, mit Augen, die durch alles hindurchblickten, als hätten Menschen und Dinge ihre Festigkeit verloren.

»Wer hätte es gedacht!« äußerte sie, als sie wieder einmal am Kopfende des Bettes auftauchte. »Unser harmloser, kleiner Wagen!... Paul, wirst du je wieder Auto fahren?«

»Nein«, antwortete er. »Es ist eine Mordwaffe.«

Sie nickte bestimmt, offenbar hatte er ausgesprochen, was sie selbst dachte, und eilte weiter. Wohin? Nie war es im Haus Rosmarin so still gewesen und nie so unruhig.

Daran änderte sich auch nichts, als Marianne, von gemeinsamen Bekannten aus dem ›Lande der Freunde‹ benachrichtigt, im Haus Rosmarin eintraf und sich erbot, Frau Pauline bei der Pflege ihres Sohnes behilflich zu sein.

»Selbstverständlich«, sagte Frau Pauline. »Nur bitte ich Sie, mich zu entschuldigen, ich kann Sie nicht einladen, bei uns zu wohnen.«

Sie sei bereits im Hotel abgestiegen, bemerkte Marianne.

»Und ich bitte Sie«, fuhr Pauline fort, »sich in diesen vier Wänden lediglich als Krankenschwester zu betrachten.«

»Selbstverständlich«, sagte Marianne.

Als sie aufblickte, erschrak sie. Pauline sprach zwar mit ihrer gewohnten, etwas singenden Altsimme, aber sie schien Marianne völlig zu übersehn. In ihren Zügen war ein Kommen und Gehn von Gedanken, die nicht das geringste mit ihrem Gespräch gemein haben konnten, dazu waren sie viel zu heftig. Pauline blieb noch eine ganze Weile vor Marianne stehn, ohne etwas zu sagen, und entfernte sich plötzlich wie auf Anruf. Ein Besuch des Chauffeurs Louis brachte Beruhigung und in der Folge eine entscheidende Wendung zum Guten.

Louis versicherte Paul, Sibylle habe im Tod feine, regelmäßige Züge und die herrlichsten Augen der Welt gehabt, nur wie erstarrt vor Schrecken, genau wie an dem Tag, als sie, auf dem weißen Stein sitzend und an Pauls Schulter gelehnt, in einer Art Verklärung gelächelt hatte: »Es ist nichts ...« Und diesmal war es Louis, der Paul die Hand auf die Schulter legte und beteuerte: »Du kannst nichts dafür, mein Junge. Ich habe es gesehn. Du bist völlig unschuldig.«

Etwas freilich blieb Louis unklar an der Geschichte, und im Gedanken an Marianne, die er im vorigen Jahr oft mit Paul zusammengesehn hatte, setzte er für alle Fälle hinzu:

»Hör mal, mein Junge! Man kann seinen Gefühlen befehlen, einverstanden, man kann. Aber was will man tun, wenn sie den Gehorsam verweigern? Man kann sie nicht standrechtlich erschießen wie beim Militär.«

»Man kann schon«, sagte Paul nachdenklich. »Warum nicht? Du bist ja der Herr ... Aber die Kugeln gehn durch sie hindurch wie durch Luft. Sie leben einfach weiter. Und was hast du erreicht? Gar nichts, als daß sie dir den Mordversuch nachtragen und bösartig und verschlagen werden und auf Rache sinnen. So ist es mit den Gefühlen.«

»So ist es«, bekräftigte Louis.

Er war stolz auf die Klugheit seines einstigen Vizechauffeurs und begab sich stracks in das Café de la Marine, um für ihn Zeugnis abzulegen vor dem Volk.

Paul blieb sinnend in seinem Bett zurück.

»Es ist nichts ...« Der Augenblick des Absturzes, der ganze letzte Tag im Wald und die Heimfahrt, alles rückte, je länger Paul den Einzelheiten nachging, in eine Ferne, wo Wirklichkeit und Täuschung kaum noch zu unterscheiden waren. Was er sich zur Schuld anrechnete, kindische Ungeduld, Großmannssucht, mangelnde Liebe, ein Herz, das sich teilen wollte und nicht konnte, kehrte dort in die Hände des Schöpfers zurück, der diese Eigenschaften in ihn legte, ohne ihm Zeit zu lassen, die fragwürdigen Geschenke durch Gebrauch und Erfahrung zu läutern oder aber zu verwerfen. Paul wollte nicht glauben, daß sie alle ohne Unterschied ihm zu eigen seien. Angeboren vielleicht, aber nicht angemessen, waren es vielfach Eigenschaften, deren Bestimmung sein sollte, den Eigenwillen in ihm zu wecken, um allmählich unter der Einwirkung nachströmender Säfte abzusterben und den natürlichen Bildungen seines Charakters Platz zu machen. »Es ist nichts ...« Gewiß wäre er mit der Zeit geworden, wie Sibylle ihn haben wollte, wie er gerechterweise hätte werden müssen, um ihrer unteilbaren und anspruchsvollen Leidenschaft würdig zu sein ... Es war ihm nicht vergönnt gewesen, aus dem Zwielicht der Liebe herauszutreten in den lichten Tag – in eine Schlichtheit, Deutlichkeit und Helle, ähnlich jener, die sein Zusammensein mit Marianne umgab.

»Es ist nichts ...« Das Wort, verbunden mit der leibhaftigen Vorstellung jener, die es auf dem weißen Stein gesprochen, gewann eine große Kraft der Beschwörung. Paul sagte es sich vor, erst bewußt, später unbewußt und selbst noch während des langen, von Beruhigungsmitteln herbeigeführten Halbschlafes, aus dem es in das Wachsein überging. Das Zwielicht um ihn und Sibylle erhielt eine neue, tiefsinnige Bedeutung – manchmal, im Dämmerzustand, verschmolz er mit ihm, wie er vor langer Zeit mit Sibylle und dem dunkelgoldenen Abendlicht zwischen den Pinien und dem gleichfarbigen Waldboden verschmolzen war, und wenn er daraus erwachte, konnte er aus der Ferne auf die Dämmerwelt bücken, in der Paul und Sibylle weiterlebten, abgeschieden von der Welt, jedem Eingriff entrückt. Es war, wie es immer gewesen ... Was an Glück fehlte, hatte immer gefehlt, was damals schmerzte, schmerzte auch jetzt ... Aber niemand drängte, niemand verlangte nach mehr, immer nach mehr, und deshalb gab es auch weder Anspruch noch Verzicht, weder Vorwurf noch Reue. »Es ist nichts ...«

Am ersten Tag, den Paul außerhalb des Bettes verbrachte, lagen Marianne und er nebeneinander im Garten, vielmehr Paul lag im Gras, und Marianne saß daneben.

Sie hatte ihn, eingedenk ihres Versprechens, bisher nicht geküßt und wagte es auch jetzt noch nicht. Sie schaukelte mit dem Oberkörper auf und ab und fragte schließlich, über ihn gebeugt, ob er sie noch liebe. Er antwortete: »Liebe? ... Es ist nichts!«

»O doch!« meinte sie und küßte ihn kräftig auf den Mund.

»Ja, du – du bist!« sprach er lächelnd.

Er betrachtete ihre starken Schultern, von denen das Strahlenbüschel der Haare abstand, den feuchten, gewölbten Mund, den ihr Blut mit seiner Farbe und Wärme füllte bis an den Rand, das gebräunte Gesicht, worin das Leben wohnte, aufgeräumt und dem Lichte weit geöffnet. »Welch eine Gesundheit!« sagte er mit Bewunderung und Arglist zugleich.

Aber Marianne nickte fröhlich mit Kopf und Schultern.

»Ja, gesund wie ein Tier! Haarsträubend gesund! Zumal der Appetit – geradezu verächtlich! Ich spüre einen Heißhunger, zum Beispiel nach Austern ... Wenn dich meine Brutalität beleidigt, mußt du es sagen.«

Er behauptete zwischen Scherz und Ernst:

»Es fehlt dir an Zartgefühl, Marianne.«

»Recht hast du. Aber siehst du, dazu habe ich meiner Lebtage zu wenig Zeit gehabt.«

»Küß mich, Marianne!«

Sie küßte ihn, die Fäuste rechts und links auf den Boden gestemmt, in ihrer geraden saftigen Art, und fühlte, wie durch die aufgestemmten Arme die Kräfte der Erde in sie strömten. Sie warf den heißen Kopf zurück, riß ein Grasbüschel aus, rieb es zwischen ihren Händen und roch daran. »Ah!« machte sie. »Riecht gut... Frühling!«

Weit fort im Dämmerlicht schwamm eine Insel mit einem verwunschenen Wald. Schatzgräber wohnten dort, die gruben nach Glück und verkauften es an liederliche Jungens ...

»Leider gehöre ich nicht zu ihren Kunden!« sagte Paul vor sich hin.

Marianne hob die schmale, gerade Nase aus den Händen und fragte, von wem er spreche.

»Von den Schatzgräbern«, sagte er.

»Was für Schatzgräber?«

»Wirst du nie erfahren! Ein Geheimnis ...« Aber auch für Geheimnisse hatte Marianne ihrer Lebtage zu wenig Zeit gehabt, sie zeigte keinerlei Neugier und lachte nur, weil eine Geschichte, die von Schatzgräbern handelte, unweigerlich komisch sein mußte.

Eine Woche später kehrte Marianne in ihr kleines, gelbes Haus oberhalb La Cadières zurück. Vor dem Herbst wollten sie und Paul sich nicht wiedersehn.

Die Jahreszeiten wechseln leise in der Nacht ...

Es wurde Sommer. Kurz vor Beginn der Ferien ging Paul nach Paris, um seine dortigen Angelegenheiten zu ordnen. Mit Rücksicht auf die vereinsamte Mutter hatte er sich entschlossen, das Wintersemester in Marseille zu verbringen.

Bei seiner Abreise, die Mutter und er gingen vor dem Pariser Wagen des Zuges auf und ab, fragte Paul:

»Du hast mir nie gesagt, ob Marianne dir gefällt. Also? Aufrichtig?«

Und da die Mutter zögerte, drang er in sie:

»Vorwärts, Mutter. Gesund wie ein Apfel?«

Sie blickte zu dem großen Jungen auf.

»Wie ein kalifornischer Apfel«, antwortete sie.

»Schön und saftlos, wie? ... Merkwürdig, früher bildete ich mir ein, du und sie, ihr hättet viel Ähnlichkeit, nur sei bei ihr alles kräftiger – und natürlich auch einfacher.«

»Wahrscheinlich tue ich ihr unrecht, Paul ... Ich sehe neben ihr immer die kleine Braut.«

Nach einem Schweigen erklärte er:

»Siehst du, Mutter, das ist es eben! Auch ich bin nur ein kalifornischer Apfel... Aber wie schön, daß du wieder munter bist, Mutter! Ich glaube fast, du warst kränker als ich.«

Der Zug fuhr an, Pauline trabte einige Schritte nebenher, da rief sie:

»Soll ich einen neuen Wagen kaufen?«

Paul lehnte sich aus dem Fenster, schleuderte die Arme in die Luft und rief zurück: »Ja, Mutter. Ja. Bald!«


 << zurück weiter >>