Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Burguburu und ein großer König

Ausgeruht, doch immer noch unordentlich traf Burguburu zwei Stunden später in der Villa Maria ein und fand dort als einzigen Menschen die Köchin Emma.

Der Kater Marius, der das Mädchen zur Haustür begleitete, schoß zwischen seinen Beinen ins Freie.

Der Notar folgte Emma in die Küche.

Für Emma war der Notar ›der Herr‹, nicht nur, weil er sie zum Ärger der Witwe persönlich bezahlte (Juliette behauptete mit Recht, durch die ›Freigebigkeit eines noch nicht legitimierten Herrn‹ leide ihr Ansehn bei ›den‹ Dienstboten), sondern vor allem seines gesellschaftlichen Ranges wegen, von dem sie annahm, er zwinge und beuge die halbe Welt – mit Ausnahme der Witwe, die sie deshalb als eine hochmütige, undankbare Person zu bezeichnen pflegte. Vom ersten Tag an hatte sie sich als im Dienste Burguburus stehend erachtet, in zweiter Linie, und dies aus reiner Neigung, ›lebte sie für Fräulein Sibylle‹. Die Witwe ertrug sie, wie der Esel seinen Quälgeist erträgt, in unberechenbarer Abwechslung von Nachgiebigkeit und Starrsinn.

Emma, straff und aufmerksam wie ein Jagdhund im Anstand (das eine Auge schielte ein wenig, was ihrem gutmütigen Ausdruck etwas Prickelndes, Verbotenes, etwas wie eine lässige Sünde hinzufügte), hielt in der Mitte der Küche und ließ sich von Burguburu ausfragen. Ihrer Darstellung zufolge war die gnädige Frau nach Eintreffen der Gendarmerie, ohne mit der bewaffneten Macht ein Wort gewechselt zu haben, quer durch den Park davongelaufen. Dabei war der Witwenschleier an einem Schwarzdornbusch hängengeblieben und in Fetzen gegangen. Emma bot sich an, den Notar zu dem Strauch zu führen und ihm die Fetzen zu zeigen, ein Stück davon hatte frecherweise ein Bauarbeiter an sich genommen – es reiche gerade, hatte er gesagt, um daraus im Fall plötzlich eintretender Trauer einen Florstreifen zu schneiden ... Der Notar machte eine verächtliche Handbewegung, die sich auf die Gefühlsroheit des Volkes bezog.

Emma war der gnädigen Frau nachgelaufen, weil der Gendarm gesagt hatte: »Springen Sie, los, und sehen Sie zu, daß Ihre Herrin sich kein Leid antut.« Die gnädige Frau war aber gerannt wie ein wildes Kaninchen und ›den Bergen zu‹ ihren Blicken entschwunden.

Dem Notar traten Tränen in die Augen. »Mein Gott, den Bergen zu«, seufzte er, »den Bergen zu, Emma?« Hieß das nicht so viel wie in den Weltraum gefallen?

Emma blinzelte mitleidig und aufgeregt mit dem etwas scheelen Auge und fuhr dann fort. Bei ihrer Rückkehr, berichtete sie, sei auch das gnädige Fräulein weggewesen. Es habe dem Herrn Gendarm, wie dieser genau an der Stelle, wo jetzt der Herr Notar stand, ihr sagte, ungnädig zugerufen, von ihr als Tochter werde wohl die Gendarmerie keine Auskunft erwarten, was der Herr Gendarm höflich verneint habe. Darauf sei es in die Nachbarvilla zu Frau Tavin hinübergehumpelt.

Hier stockte Emma. Auf Drängen des Notars äußerte sie mit verlegener Gebärde, nun ja, was weiter, sonst nichts, der Herr Gendarm sei sehr nett gewesen, und als schließlich auch sein Kollege gekommen sei und gesagt habe, die Straße sei jetzt frei, und der Bürgermeister habe die Stangen wegnehmen lassen und die Hemden beschlagnahmt, nun ja, was weiter, da seien sie beide auf ihren Rädern davongefahren. Wohin? Soviel sie verstanden, nach dem Rathaus, ›um die Schuldigen zu ermitteln‹...

Die letzten Worte stieß Emma mit einem Ausdruck von Erbitterung hervor.

»Sie sind ein braves Mädchen«, versicherte Burguburu und tätschelte ihr die Backe.

Sie hielt still, stand kerzengerade vor ihm, und plötzlich strahlte sie. Es war ein Aufleuchten, das vom Gesicht aus die ganze Gestalt erfaßte. Das Volk, dachte er gerührt, die einzigen, die noch ein menschliches Herz in der Brust haben! Es macht sie sogar schön ... Er betrachtete sie wohlwollend, und sie hielt wehmütig lächelnd still.

Von der Küche begab sich Burguburu durch das Speisezimmer in den Salon, von einer Ansammlung scheußlicher Gegenstände in die andre. Er schleuderte einen haßerfüllten Blick auf den Major und trat auf die Veranda. Da von dort nichts weiter zu sehn war als ein Autobus, der in voller Fahrt vorüberrasselte, kam er zurück und öffnete die Tür zum Flur. Hier stand Emma, als habe sie auf ihn gewartet, und hob ihr wehmütig lächelndes Gesicht zu ihm empor.

Da sie nichts zu sagen fand, gab er das Lächeln zurück und ließ sie stehn. Aber er war ihr dankbar, er fühlte sich durch dies Lächeln mit ihr verbunden, ohne sich klar zu werden, daß Emmas Gesicht lediglich seinen eigenen Ausdruck widerspiegelte. Langsam stieg er die Treppe hinauf in den ersten Stock.

Es war das erstemal, daß er diesen Teil des Hauses betrat.

Eine seltsame Aufregung durchrieselte ihn, eine Freude, die noch nach etwas anderm schmeckte als nach Neugier. Ängstlichkeit war darin, die sich selbst genoß, und eine unbestimmte Erwartung.

Behutsam wie ein Dieb öffnete er die erste Tür. In dem kleinen Raum mit dunkler Tapete wohnte augenscheinlich Sibylle. Das Zimmer leuchtete von Sauberkeit. Neben einem italienischen Renaissanceschrank stand ein Koffer ... Das Bett stammte aus derselben Zeit und demselben Land wie der Schrank, ebenso der Schreibtisch, der gleichzeitig als Toilettentisch diente. Das eine, für die Toilette bestimmte Ende des Tisches war mit einem bunten Tuch bedeckt, der andre Teil zeigte das blanke Nußbaumholz der Tischplatte, aber hier wie dort fehlten die entsprechenden Gegenstände – bis auf einen Briefbeschwerer in Gestalt einer Jungfrau von Orleans in Bronze und einen Handspiegel. Der Handspiegel hatte einen Sprung, und der Jungfrau fehlte ein Bein. Sie stand schief auf einem Zettel, und auf dem Zettel waren die Worte zu lesen:

»Lebe wohl, Hölle! Ich gehe zu Menschen. Sibylle.«

Dem Notar versetzte es einen Schlag auf die Brust – er nahm die Mütze ab und strich sich über den Schädel.

Sein Blick fiel auf den Koffer neben dem Schrank, er dachte an sein eigenes Köfferchen, mit dem er vor einigen Tagen geflohen war, ebenfalls, um der Hölle zu entrinnen. (›Die Hölle! Die Hölle!‹ hatte er der Witwe beim Abschied zugeschrien.) Auch er war geflohen, nicht gerade nach Paris, wie er dem Anstreicher gesagt, aber doch bis nach Nizza, wo eine Frau lebte, die er geliebt und der er vor Jahren, um sie loszuwerden, eine Schneiderwerkstatt eingerichtet hatte. Die Gute hatte Mühe gehabt, sich seiner zu entsinnen, und eine Einladung zum Abendessen mit der Begründung abgelehnt, daß sie verheiratet und die Mutter dreier kleiner, süßer Mädchen sei ... Mit dem Zettel in der Hand setzte er sich an das Toilettenende des Tisches und blickte auf die sanft bewegten Bäume des Parks Stellamare.

Wahrscheinlich, dachte er, verläuft es immer so, wenn man die Hölle flieht, um Menschen zu suchen. Die Menschen sind veränderlich, die Hölle aber steht fest, und deshalb kehrt man lieber zur Hölle zurück, als im Nebel nach Menschen zu suchen ... Wir lieben nichts so sehr wie die Gewißheit, gleichgültig welche ... Offenbar werden die Menschen von Wetterfahnen regiert. Teufel bleiben Teufel, wie auch der Wind wehe, bei ihnen wissen wir, woran wir sind ... Arme Sibylle! Arme Juliette! Sie liefen noch ›den Bergen zu‹, während er bereits von dort zurückkam. Er – er war so weit, daß er sich nichts mehr wünschte als die Hölle!

Zwischen den schwankenden Wipfeln von Stellamare sah Burguburu Geltung und Ehre einer alten Familie, sah er den Namen Burguburu leibhaftig in einem Meer von Lächerlichkeit ertrinken – tat es weh? Er fragte es sich ernstlich ... Doch, es tat weh, aber es tat auch wohl. So waren nun einmal Leid und Freude gemischt, daß man vom Leid nicht essen konnte, ohne Lust zu verspüren, und von der Lust nicht, ohne die Bitternis des Leids zu genießen! Im übrigen, stellte er für sich fest, waren ›Hölle‹ und ›Himmel‹, ›Glück‹ und ›Unglück‹ lediglich Namen für verschiedene Folgen der von uns begangenen Dummheiten.

Er lehnte sich vor und versuchte, von hier aus den Schwarzdornbusch ausfindig zu machen, worin die Reste eines schuldbeladenen Kleidungsstückes hingen. Es mochten nur Fetzen sein, aber jeder dieser Fetzen bestand aus ebensoviel vergeblichen Worten, Beschwörungen, aus ebensoviel Stunden des Zornes, Augenblicken großer Hoffnung und Liebe, aus ebensoviel Tagen und Nächten der Trauer, wie das Gewebe Fäden enthielt... Keiner, der die Wahrheit ahnte, fände den Mut, über ihn zu lachen! Sie lachten, weil sie es nicht besser wußten. Wüßten sie es besser, würden sie mindestens zwei der Beteiligten, Sibylle und ihn, ja, warum es verschweigen, auch ihn, auf den Schultern tragen wie jene schwermütigen Gestalten der Märtyrer in ihren Prozessionen. Über die hatte auch er einst gelacht, er mit allen andern aufgeklärten Geistern von Ranas-sur-mer und Umgebung, als er noch nicht ahnte, wie traurig und ehrwürdig in Wirklichkeit das meiste war, worüber die Menschen spotteten ... Es kam ihm vor, als wäre ihm dies alles in einem früheren Leben geschehn, als wäre er es nicht selbst, vielmehr sein Vater oder gar der Großvater, törichte, unter ihrer Torheit begrabene Geschlechter ...

Nur eines wollte ihm nicht in den Kopf, er konnte es drehen, wie er wollte. Er begriff es nicht, wenn er sich auch manchmal in Sekunden blitzhafter Erleuchtung der Lösung des Rätsels nahe glaubte, er begriff nicht, was Juliette mit dem zähen Festhalten an ihrem Witwentum und der Versessenheit auf das Symbol dafür, diesem furchtbaren Schleier, ernstlich bezweckte, nein, in hundert Jahren würde es ihm nicht in den Kopf gehn. Denn – von allem andern abzusehn – sie liebte ihn ja, das Stück Natur in ihr hatte es ihm verraten, oh, vielleicht gegen ihren Willen, in diesem Fall aber um so glaubhafter.

Burguburu hörte in Gedanken ein gewisses grobes Wort, das sie ihm in seinen Armen zugeflüstert, und ein Schauer überlief ihn vom Nacken bis in die Kniekehle. Ja, und schließlich, Burguburu erhob sich und legte den Zettel an seinen Platz zurück und stellte mit festem Griff die Jungfrau von Orleans darauf, schließlich hatte die Natur selbst sich empört und hatte den Schleier in Stücke gerissen ...

Aber schon saß er wieder, kleinmütiger als zuvor. Die Natur hatte zu spät eingegriffen! Die Natur, bedachte er, kam fast immer zu spät. Sonst stände es besser um die Menschen.

Burguburu, der eine große Wahrheit entdeckt zu haben meinte, stand nun endgültig auf und ging weiter, nicht ohne sich über die kostbaren alten Möbel gewundert zu haben – sie waren viel zu groß für das Zimmer, wahrscheinlich hatten sie dem Vater gehört, und das Gerät im Erdgeschoß war von der unglücklichen Mutter in die Ehe eingebracht worden.

Vor der nächsten Tür blieb er stehn, die Klinke in der Hand. Er zweifelte nicht, daß er sich vor dem Schlafzimmer Juliettes befand, eine innere Stimme sagte es ihm, doch vermochte er nicht zu unterscheiden, ob sie auffordernd klang oder drohend. Er räusperte sich, als wollte er sich jemand hinter der Tür bemerkbar machen, dann ließ er mit einem Ruck die Klinke los, ging weiter und öffnete die nächste Tür.

Ein paar ausgetretene Bastschuhe und violette Pantinen unter dem Bett wirkten wie ein Wappenschild Emmas. Auch sie wohnte in wertvollen Möbeln. In dem Bett konnte eine Marquise geschlafen haben zur Zeit, da die Marquisen noch ihr volles Goldgewicht galten. Auf einem Spieltisch im Stil des fünfzehnten Ludwigs war ein Altar aufgebaut mit Heiligenbildchen und ausgeschnittenen Photographien von Filmgrößen. Burguburu bewunderte gerührt die einfältige Frömmigkeit des Volkes und nahm sich vor, Emma sein Bild für den Altar zu schenken.

Von der Parkseite wechselte er zur Gartenseite hinüber. Auf dieser Seite gab es nur zwei Zimmer, das Badezimmer, er guckte nur schnell hinein, und dann einen sehr großen Raum, auf dessen Schwelle er geblendet haltmachte, bevor er mit zögernden Schritten in seine Mitte trat.

Drei Fenstertüren führten auf eine Terrasse. Der seidene Überhang und die halb zur Seite geschobenen Vorhänge aus gleichem Stoff färbten das einfallende Licht goldgelb, und da auch die Wände im selben Ton gehalten waren, schwamm der ganze Raum in aufgelöster Sonne. Burguburu breitete die Arme. »Nein?« murmelte er, »ist es möglich?« Er drehte sich um sich selbst und brach in Frohlocken aus.

»Wie schade, daß ich heute traurig bin!« sagte er. »Wie schade!«

So etwas hatte er sich sein Lebtag gewünscht – ein solches Arbeitszimmer, mit dem runden Tisch in der Mitte, mit handfestem Gerät, wohin man griff, da war es – und all die Gesundheit getaucht in Glanz und Seide, mit dem großen Kamin und dem riesigen Feuerzeug, das die königliche Lilie zierte! Da war es! Und an den Wänden hingen lauter Bilder seines Lieblings, Heinrichs IV. von Frankreich.

»Sei gegrüßt!« rief Burguburu und schritt in lachender Andacht von einem Bild zum andern.

In allen Lebensaltern war der kleine, tolle Mann aus Navarra vertreten: als dreijähriges Kind, ein Dickschädel mit großen Augen, krausem Haar und vielversprechender Nase – der Mund war schmal und das Öhrchen das Ohr eines jungen Fauns. Das Kerlchen steckte in einem Wams, das eine bescheidene Halskrause abschloß, die Hände bemühten sich tolpatschig um eine würdige Haltung. Dann war aus dem Kind ein Jüngling geworden, und in Paris hatten sie ihn endlich in standesgemäße Kleider gesteckt. Die Kraushaare standen hochgekämmt über der Stirn, die Unterlippe hatte sich naschhaft gewölbt, ein Schnurrbärtchen sproß unter einer Nase, die durchaus hielt, was sie in ihren Anfängen versprochen, und dann, dann war der Mann fertig und ausgewachsen – und gleichsam nur noch Nase. Eine ungeheure, aufreizende, eine beängstigende Nase, ein kräftig gebogenes Nashorn mit zwei Löchern zum Atmen, über dem ausgestrichenen Schnurrbart hing sie beinahe bis auf den Mund. Der doppelte, leicht zusammengewachsene Bocksbart war viereckig gestutzt, aber nicht sehr ordentlich – ordentlich war der Mann überhaupt nicht. Immerhin konnte man verfolgen, wie er sich bei zunehmendem Alter um eine majestätische Erscheinung bemühte. Gleichzeitig bekam die hohe, schmale Stirn Runzeln: eine ebenso starrsinnige wie schwärmerische Stirn, Runzeln, wie mit dem Kehleisen geschnitten, und an ihnen konnte man abzählen, wie alt der gute König nun war ... Die Augen schienen kleiner geworden. Die Haut um sie herum bildete kleine Oasen, mit Fältchen gleich winzigen Kanälen. Er trug einen Zylinderhut aus weichem Stoff und mit breiter Krempe, die Krempe war über der Stirn zurückgeschlagen, und hier guckte ein Federbusch hervor, der berühmte Federbusch, woran in den Schlachten Freund und Feind ihn erkannten.

»Sei gegrüßt!« rief nochmals Burguburu. Kleinlaut fügte er hinzu: »Wie schade, daß ich heute traurig bin ...«

Indes hinderte die Trauer ihn nicht, die Wände entlang zu wandern und vor jedem Bild laut sein Sprüchlein zu sagen.

Ha! Du Psalmensänger und Schürzenjäger! Du Fechtmeister im Stehen und Liegen! Wie verstandest du's, Städte und Provinzen und andre schöne Sachen zu reiten, daß die Funken stoben! Hast uns alle in die Hürde getrieben, du braver Schäferhund, und ein großes Volk aus uns gemacht! Und zwischendurch Frankreich mit Kindern besät, du Schweißfußindianer!

Wie sagt Meister Luther? Pecca fortiter! Sündige kräftig! Den Rat hast du befolgt, mein Junge – inmitten hochherziger, entsetzlich frommer, entsetzlich zimperlicher Dunkelmänner, inmitten unsrer geliebten Hugenotten ... Das wundert mich am meisten; wie sie alles schluckten, was von dir kam, zwischen zwei Schlachten, Dünnes und Dickes! Und Dickstes! Mußt sie behext haben, du Fürstenschreck und Frauenwonne, du guter, lieber Kerl!

Du hast niemand gefoltert, du, nicht die Spur warst du grausam in einem grausamen Jahrhundert, du konntest verzeihen, als niemand, nicht einmal die Kirche, vergab. Du hattest den großen Plan, ganz Europa unter deinen Zylinderschlapphut zu bringen, du großer Schlecker und Lecker – und dann Friede mit euch!... Friede mit uns! Wie schade, daß ich traurig bin, wie würde ich dir sonst mein Herz öffnen, zwischen zwei Schlachten, und dir lobsingen aus der Tiefe der Gedärme, du Knoblauchbock mit Lilienhörnern!... Aber heute gerade, großer König, heute haben sie mein Leben zerschlagen, mich unmöglich gemacht in Frankreich und Navarra, ich müßte eigentlich fort in die Verbannung, dorthin zurück, woher mein Geschlecht stammt, nach Mas Alios, Marseille, dem Haus am Meer, in dem ich längst nichts mehr zu suchen habe. Wie du mich hier siehst, du Rächer der Unschuld, sind wir Burguburus um ein Jahrtausend zurückgeworfen, herabgefallen vom Gipfel eines Jahrtausends, um ein Jahrtausend betrogen! Warum weine ich nicht, warum raufe ich nicht mein Haar? Weil du gelebt hast, du unbändiger Bereiter Frankreichs und Navarras, und ärgere Schläge in den Nacken und sonstwohin erhalten hast, ohne, Gottverdammichnicht, das Nashorn allzu lange hängen zu lassen!

Ich bin heute traurig, und auf dem Bilde da bist du's auch, Haben sie dir deine Gabriele um die Ecke gebracht, zwischen zwei Schlachten? Sie den Bergen zu in die Ferne befördert, von wo keiner zurückkehrt? Heinrich, wir halten zusammen, ob sie heimkehren oder nicht, die verfluchten Weibsstücke! Heinrich, wir beide, wir bleiben fest!

Heinrich, seit heute bin ich ein neuer Mensch – seitdem die Schande über mich hereingebrochen ist, die große Schande, worin ich unter dem Jubel von Ranas-sur-mer und Umgebung ersaufen sollte. Was aber lehrst du mich? Es gibt keine Schande! Es gibt Leid, das süß riecht, und Freude, die stinkt – zwischen zwei Schlachten. Über dich spottete ganz Europa, als du, angeblich ein alter Mann, ein Mann in besten Jahren, ein junger Mann wie ich, über Stock und Stein hinter der fünfzehnjährigen Teufelin Montmorency hersetztest, zwischen zwei Schlachten – und doch wäre dir dieses spottende Europa mit Hallo unter deinen Schlapphut gekrochen, wie Ameisen unter einen gezuckerten Lappen, hätte nicht ein Idiot dir sein Messer in den unermüdlichen Leib gerannt! ...

 

Es hämmerte an der Haustür.

Burguburu warf sich in einen Sessel Henri IV und lauschte. Er war entschlossen, dem Unheil, wenn es hereingebraust käme, mit überwältigenden Mitteln des Körpers und der Seele zu begegnen, wie immer es beschaffen sein mochte.

Jemand schlich die Treppe herauf, und da so keinesfalls der Tritt des Schicksals klang, wartete er beruhigt, bis es an der Tür klopfte, und rief: »Herein!«

Emma, in weißen Bastschuhen, glitt bis dicht vor seinen Sessel.

»Das Mädchen von nebenan soll den Koffer des gnädigen Fräuleins holen. Darf ich ihn herausgeben?«

Burguburu erteilte großmütig die Erlaubnis.

»Kind, wie ist das herrlich hier«, rief er ihr nach. »Ich habe es nicht geahnt.«

Sie drehte sich in der Tür um und sagte:

»Ich bin gleich wieder da, wenn der Herr Notar erlaubt.«

In seiner Verlegenheit strich er sich rasch über den erglühenden Schädel. »Oh, bitte!« murmelte er.

Sie schien gar nicht mehr wehmütig, vielmehr so, als habe auch sie aus dem Kelch Heinrichs des Fröhlichen getrunken.

Genau gesehn war sie köstlich in ihrer Harmlosigkeit, sie fraß aus der Hand wie ein Kaninchen. Burguburu machte sich das Kaninchen vor, indem er die Lippen rollte und damit schnüffelnd im Innern seiner riesigen Tatze herumfuhr. Dann faltete er die Hände auf dem Bauch und lächelte in den blauen Himmel, durch den ein Flugzeug brummend seines Weges zog ... Er kannte einen großen König, der ein Mädchen wie Emma nicht verschmäht hätte – zwischen zwei Schlachten.

Er wollte aufstehn, um rasch das vorhin übergangene Zimmer zu besichtigen, da klopfte es bereits wieder, und das Kaninchen kam auf flaumigen Pfoten gelaufen.

»Schade, verflixt schade, daß wir heute so traurig sind, Emma!« sagte er, als sie stramm und aufmerksam vor ihm stand.

»Ach, Herr Notar! Denken Sie nur, ich bin schon gar nicht mehr so traurig.« Sie atmete tief. »Und Sie auch nicht, Herr Notar.«

»Doch, Kind, ich doch! Ich zeige es nur nicht.«

Da verkündete Emma mit großer Entschiedenheit, fast herausfordernd:

»Ich habe einen Wunsch!«

Burguburu ergriff mit beiden Händen die Armlehnen des Sessels und sah gespannt zu ihr auf. Er war auf alles gefaßt, und dementsprechend machten die Kugelaugen einen kleinen Satz nach vorn.

»Nämlich?« fragte er mit einem Lächeln, das sich zaghaft aus dem Sarazenenbärtchen herausschlängelte.

»Ich möchte Sie gern ein bißchen putzen. Sie haben etwas im Bart.« Er griff an den Bart, mit einem Ruck stand er auf, überragte sie wie ein Gebirge.

»Auch das noch!« rief er – und sie, einen Schritt zurückprallend:

»Gott, wie groß Sie sind, Herr Notar!«

»Entschuldigen Sie, Emma! Es gehört sich nicht, in solchem Zustand vor einer Dame zu erscheinen.«

»Oh!« sagte Emma. »Die Dame ist weit weg und kommt so bald nicht zurück.« Sie tat einen tiefen Atemzug. »Ich habe auch die Küchentür abgeschlossen.«

In ihrer Einfalt nahm sie den mächtigen Mann ohne weiteres an die Hand und führte ihn in Juliettes Zimmer. Sie öffnete die Tür, als sei dies gar nichts Besonderes, und benahm sich auch weiterhin wie zu Hause. Während sie ihn im Sessel vor dem Toilettentisch Platz nehmen ließ, sagte sie:

»Jetzt ist es an mir, um Entschuldigung zu bitten, Herr Notar. Das Zimmer ist noch nicht aufgeräumt. Ich hatte bisher keine Zeit.«

Im Spiegel des Toilettentisches sah er das ungemachte Bett, er räusperte sich, unter Emmas Augen lief der Schädel blutrot an.

»Aber«, meinte er, »Fräulein Sibylles Zimmer ...«

»Die Arme muß ihr Zimmer selbst aufräumen«, unterbrach sie ihn hastig, »die Witwe besteht darauf. Das gnädige Fräulein soll sich in Demut üben.«

Er wollte ihr die landläufige Bezeichnung für seine Braut schonend verweisen, da arbeitete sie schon mit Juliettes Kamm und Bürste an seinem Bart.

»Einen Augenblick! Bitte, sitzen bleiben!« befahl Emma. Sie eilte in das Badezimmer und brachte ein frisches Handtuch und eine Flasche Kölnisch Wasser, damit wusch sie ihm Gesicht und Hände. Darauf rückte sie mit auffallender Kraft den Sessel, kniete nieder und löste mit zwei Griffen die Halbschuhe von seinen Füßen. Sie schüttelte sie, klopfte sie auf dem Irakteppich aus und machte sich sogleich an das Bürsten der Strümpfe. Sprachlos verfolgte Burguburu die Verwandlung der Köchin Emma in eine gelernte Sklavin des Serails.

Seine Blicke kehrten zu dem Bett zurück, hauptsächlich zu einem dunkelroten Tuch, das sich kräftig von der weißen Wäsche und der blauen Seidendecke abhob. Er suchte zu erraten, was es bedeutete, und entschied sich, weil er ein dunkelrotes Hemd für eine Unmöglichkeit hielt, nach längerem Besinnen für eine Schärpe.

Das Bettgestell war rahmweiß mit hellblauen Streifen an den Kanten, ebenso der eirunde Aufbau, ›Himmel‹ genannt, zwei Putten hielten ihn über das Lager. Ein Besatz aus hellblauen Seidenspitzen rahmte den Betthimmel ein. Emma bürstete fest an den Strümpfen, wobei sie mit der einen Hand seine Wade festhielt, und dieser Handgriff wärmte wie ein Senfpflaster. Burguburu kannte einen großen König ...

»Das beste wäre«, erklärte Emma, »der Herr Notar legte den Anzug ab und ließe ihn mich in der Küche reinigen. Der Herr Notar könnte inzwischen den Schlafrock der gnädigen Frau anziehen.«

Sie trat ans Bett und hob das dunkelrote Tuch auf, das sich nun also als der Schlafrock Juliettes herausstellte.

»Ei, ei«, sagte Emma kichernd mit einem Wink des etwas scheelen Auges. »Ei, ei, Herr Notar – das Hemd hat sie weggeräumt. Es war wohl nicht mehr ganz frisch.«

»Hm!« machte Burguburu. Es sollte abweisend klingen.

Emma sprang zum Fenster, lehnte sich, den Schlafrock über dem Arm, ein wenig hinaus und meldete heuchlerisch:

»Und die Leiter ist auch nicht mehr da ...«

Zu ihrem Schrecken fuhr er sie an: »Schon wieder die Leiter? Ich hab' schon gehört von der Leiter. Was ist das für eine Leiter?«

Statt zu antworten, warf sie ihm den Schlafrock zu: »Reichen Sie mir, bitte, die Kleider hinaus, Herr Notar! Ich warte vor der Tür.«

Er tat, was sie wünschte, hüllte sich, nachdem er ihn von allen Seiten betrachtet und berochen, in den Purpur, verzeichnete für sich, das Ding sei der großen babylonischen Hure würdig, und legte sich auf das Bett unter den hellblauen Himmel.

Hier jedoch erwartete ihn eine neue, beispiellose, eine tolle Überraschung. Als er über sich in die Höhe blickte, sah er sich fast in ganzer Größe im Bett liegen, niedlich eingerahmt vom hellblauen Spitzenbesatz des Ovals, abgeschlossen von der Welt gleich einer Haremsdame – ein unheimlicher Anblick! Der Betthimmel, eirund und von lächelnden Putten getragen, an denen alles ebenfalls rundlich war, bestand aus einem Spiegel. Burguburu sagte es sich vor:

»Ein Spiegel ... Na ja, was denn, ein Spiegel!«, ohne daß die Erklärung ihn zu ernüchtern vermochte, denn dieser Spiegel hob die Erde zu sich empor und versetzte die Menschen unter die Götter.

Als er endlich seine Fassung wiederfand und den einen Notar Burguburu daliegen und den andern Notar Burguburu in der Höhe offenen Mundes anstaunen sah, klappte er das Gebiß zusammen und murmelte:

»Dieser verteufelte Major! Er muß das aus den Kolonien mitgebracht haben ...!«

Langsam rückte er sich in eine vorteilhaftere Lage zurecht, nickte sich zu, lächelte, machte sich auf jede Weise anziehend und zuversichtlich. Diesmal klopfte Emma gar nicht erst an, sie huschte barfüßig ins Zimmer und flüsterte, indes ihre flinken Hände Burguburus Kleider über einen Stuhl ausbreiteten:

»Ich habe gedacht, vielleicht schläft der Herr Notar, da wollte ich leise sein, um ihn nicht zu wecken.«

»Komm her!« schrie Burguburu und hob die Tatzen. »Ich kenne einen großen König«, knirschte er ...

Erst stellte Emma sich, als habe eine Naturgewalt die Überraschte ergriffen und jählings hingerafft, und nun müßte sie, im letzten Augenblick zur Besinnung gekommen, gegen weitere Überschwemmungen des Elements einen Damm errichten. Der Widerstand war von kurzer Dauer, und als Burguburu entdeckte, daß die Antilope sich vorsorglich damit abgefunden hatte, vom Löwen gefressen zu werden, und er dies entzückt mit den Worten feststellte: »Kind, du hast ja nichts mehr an als das bißchen Schürze«, streckte Emma die geringen Waffen, die ihr die Natur mitgegeben, und stürzte sich in die Erfüllung ihres Traumes: auch einmal in dem Himmel mit hellblauem Spitzenbehang zu schwimmen, dessen irdischer Untersatz ihrer Pflege anvertraut war. Burguburu versicherte wiederholt und mit wechselnder Tonstärke, er kenne einen großen König, er fand sich überwältigend in seiner Macht, die er so fröhlich ausübte, und fand den Gegenstand seiner Regierung köstlich in seiner Einfalt... In der ärgsten Bedrängnis fiel es dem Volk nicht bei, den Anstand zu verletzen, Emma entfuhr kein grobes Wort, vielmehr erklomm sie heiß und fromm, wie ihr Atem ging, den Gipfel der Beglückung unter kleinen, harmlosen Rufen: »Oh, Herr Notar!« ... »Jawohl, Herr Notar!«, um erst zum Schluß und ganz gegen ihren Willen sich von einem » Lieber Herr Notar!« über die Grenzen der guten Sitte hinwegreißen zu lassen und gleichzeitig in die mit hellblauen Seidenspitzen behangene Seligkeit einzugehen. Sie roch nach Pferd und billiger Seife.

Auf die Erde und Juliettes Lagerstatt zurückgekehrt, verlangte Burguburu Auskunft über die Leiter.

Emma berichtete hinterhältig und neckisch – wie man jemand eine Geschichte erzählt, von dem man zu wissen glaubt, daß er sie gerade so gut oder besser kennt. Erst als sie an der ungeheuchelten Bestürzung Burguburus ihren Irrtum erkannte, änderte sie den Ton, wurde ängstlich, ausweichend, er mußte mit strengen Worten in sie dringen, bis sie, in seinen Arm verkrochen, stockend zu Ende erzählte.

»Gottverdammichnicht!« rief er und setzte sich auf, sie kam ihm nachgekrochen, er stieß sie zurück. »Laß gut sein, Kind, es ist zu furchtbar! Stell dir vor, sie treibt mich beinahe in den Selbstmord, und währenddessen läßt sie hier fremde Kerle ein. Ich war es nicht, mein Kind, der bei ihr schlief, ich nicht! Es ist, um den Verstand zu verlieren.«

Emma wollte ihn beruhigen und schwur bei allen Heiligen, es sei heute nacht zum erstenmal geschehn, sie wisse es genau, sie schlafe ja nebenan und höre alles.

»In dieser Nacht«, fuhr er sie an, »in der ich mich zu Tod gequält habe! In einem einsamen Hotelzimmer, einer wahren Grabkammer, die außerdem zwanzig Francs die Nacht kostete – ohne Frühstück ... Kind, ich wollte mich töten! Hast du nicht den Revolver in meiner Hosentasche gefunden? Die schrecklichste Nacht meines Lebens – die gerade hat sie sich ausgesucht.«

Aufstöhnend brach er neben Emma zusammen.

Sie warf sich über ihn und versicherte, am ganzen Leibe zitternd, sie habe sehr wohl den Revolver gesehn, ihn auch, damit er nicht losginge, auf den Küchentisch gelegt, bis sie mit der Hose fertig gewesen, es sei eine schreckliche Waffe, aber nun habe er ja seine kleine Freundin im Arm und erfreue sich, dem Himmel sei Dank, seines Lebens. Und sie nannte die Witwe eine hochmütige, undankbare Person, die er am besten davonjage.

Er antwortete nicht, aber in seinen Zügen las Emma einen Ausdruck finsterer Entschlossenheit, den sie zu ihren Gunsten auslegte. Sie bettete den Kopf auf seinen wogenden Bauch und glaubte ihn getröstet, jedenfalls gefestigt. Er wird die andre davonjagen, dachte sie – wenn sie zurückkommt. Und vielleicht kommt sie gar nicht zurück. Emma entsann sich, von der Frau eines Schuhmachers in Ranas gehört zu haben, die ihr Mann geprügelt hatte und die daraufhin spurlos verschwunden war. Mit dem Ausblick auf die vertrauenerweckenden Füße Burguburus, die am Ende des Lagers wie zwei Weinberghacken aufrecht standen, hing Emma allerhand verlockenden Gedanken nach.

Sie wurde daraus aufgestört durch einen gewaltigen Seufzer Burguburus, dem er die Behauptung folgen ließ, er werde es sich nie verzeihn, heute nacht sein Leben geschont zu haben, denn was Emma ihm jetzt offenbart habe, das sei hundertmal schlimmer als alles Vorhergegangene, schlimmer als der Tod, dies erst sei die wirkliche Katastrophe, der Zusammenbruch, das Ende. Nie würde es ihm gelingen, sich von einem solchen Schlag zu erholen.

Und nun faßte Emma einen Entschluß – den uneigennützigsten ihres Lebens.

Sie gab, erst nur vermutungsweise, darauf mit wachsender Bestimmtheit zu erkennen, daß sie alles nur geträumt habe. Sie schilderte noch einmal den Vorgang, diesmal jedoch ernsthaft, genau, mit ganz neuen Einzelheiten. Emma schlief, wie die Witwe, bei offenem Fenster und herabgelassenem Drahtgitter, wie sie im Süden verwendet werden, um die Schnaken abzuhalten. Für jemand, der sich nicht auskannte, war es gar nicht leicht, das Gitter hochzuschieben, er mußte es zerschneiden, um ins Zimmer zu gelangen. Das Gitter war aber unbeschädigt, wie der Herr Notar sich überzeugen konnte ... Emma, die einen leichten Schlaf hatte, erwachte, als der Kater Marius in ihr Zimmer sprang. Er besuchte sie oft, er verbrachte gern einen Teil der Nacht beim gnädigen Fräulein, den andern bei ihr. Im Park lief wieder einmal der Wasserturm über, es war ein Geräusch, wie wenn Fett ausgelassen würde und die Flüssigkeit auf die heiße Ofenplatte spritzte. Angenommen, es wäre wirklich jemand zu der gnädigen Frau eingestiegen – Emma hätte es bei dem Lärm gar nicht gehört! Was sie hörte, war das Geräusch des Wassers im Wald, und daraus war dann, als sie wieder einschlief, der Traum von dem Einbrecher geworden ...

»Aber du hast sie doch schreien gehört«, erinnerte sie Burguburu.

»Einen einzigen Schrei – und dann nichts mehr«, sagte sie eifrig.

»Und dann nichts Unfreundliches mehr, hast du gesagt.«

»Im Traum, Herr Notar! Es geschah doch alles nur im Traum.«

Burguburu lag da, ausgestreckt, mit geschlossenen Augen. Er wußte nicht, sollte er ihr dankbar glauben oder die Lügnerin entrüstet hinauswerfen ... Er dachte jetzt geringer vom Volk, das ebenso geläufig log, wie es die Wahrheit sagte ... Er horchte in sich hinein, um dort die Stimme der Wahrheit zu vernehmen, fand aber nur, daß es sowohl für ihn wie für Juliette vorteilhaft wäre, wenn er die Traumerklärung annähme, wenigstens vorläufig. Später, in den vertraulichen Auseinandersetzungen mit der Witwe, würde es sich zeigen, was der ›Einbruch‹ als Waffe und Druckmittel wert sei... Vor allem mußte Emma auf ihren Traum festgelegt werden. Nötigenfalls lag es an ihr, Juliettes Ruf in Ranas-sur-mer mit Hilfe ihres – angeblichen oder wirklichen – Traumes zu retten und ihn selbst vom Fluch der Lächerlichkeit zu befreien. Zwar war auch Heinrich IV. ausgiebig gehörnt worden, doch geschah dies zu einer Zeit, da sogar Kirchenfürsten es nicht unter ihrer Würde hielten, sich öffentlich im Schmuck ihrer Hörner zu zeigen, und ein Konklave einer Sammlung von Hirschgeweihen glich. Lauernd fragte er:

»Ja, aber – und die Leiter? Der Anstreicher hat sie mit eigenen Augen gesehn.«

Die Leiter? Natürlich hatte der Anstreicher sie gesehn. Warum auch nicht? Sie stand ja am Fenster! Es war eine Leiter vom Neubau, von denselben Spaßvögeln aufgestellt, die auch die Flaggenmasten am Gartentor errichtet hatten ...

»Ich glaube dir, Kind«, sagte er nach kurzem Besinnen und nahm ihren Kopf zwischen die mächtigen Hände. »Wenn ich dich so ansehe – die Wahrheit steht dir auf der Stirn geschrieben.«

Er küßte sie väterlich dorthin, wo die Wahrheit geschrieben stand, und sie umschlang ihn, und dabei blickte sie zum erstenmal bewußt über sich in den Spiegel, unterschied aber nur undeutliche Formen.

»Ach«, sagte sie und sprang auf, »die Hauptsache haben wir vergessen.« Sie knipste ein Licht an, und als sie sich wieder an ihn warf, sah sie sich und den Notar und alles um sie herum oben im Himmel – wie ihr schien, ein wenig verkleinert, aber sehr deutlich. Der Notar und sie lagen wie in einem Osterei. Der blauseidene Spitzenbehang schaukelte noch von ihren Sprüngen. Während sie sich im Spiegel beobachtete, drängte sie sich dichter an ihn heran und küßte ihn leidenschaftlich hinter das Ohr. Es kränkte ihre Scham, daß er nur halb entkleidet war, sie dagegen ganz.

Als Antwort auf ihre Zärtlichkeit tätschelte er mit seiner Pranke ihren Leib, wie man einen braven Hund klopft:

»Kind«, seufzte er, »ich bin müde. Ich würde ganz gern ein bißchen nicken«, und dabei sah er zerstreut über sich in den Himmel, als ob das, was er dort sah, ihn nicht das geringste anginge.

»Ja, schlafen Sie, Herr Notar. Sie haben es verdient nach der bösen Nacht – in der Grabkammer zu zwanzig Francs. Ich helfe Ihnen.« Sie begann ihn mit fleißigen Händen zu entkleiden, hüpfte aus dem Bett, schloß die Läden, schwebte heran, schlüpfte zu ihm unter die Decke. Und während sie leise und eindringlich »Schlafen, Herr Notar, schlafen!« sang, liebkoste ihn ihr sehniger, biegsamer Körper so lange, bis unter dem Wiegenlied zugleich mit der Erinnerung an einen großen König in Burguburu der Löwe erwachte und Emma die erträumte Himmelfahrt diesmal übersichtlich erlebte ...

Emma war im Begriff einzuschlafen, als er sie schüttelte und ihr mit dumpfer Stimme mitteilte:

»Kind, Sie wissen nicht, was Liebe ist.«

Emma schnellte empor, strich sich das Haar aus dem Gesicht, sah ihn mit geweiteten Augen an, und während sie wie abwehrend die Hände faltete, schluchzte sie auf:

»Und was war denn das vorhin – was wir gemacht haben?«

»Schmerz«, antwortete er. »Wilder Schmerz!«

Vor Staunen hörte sie auf zu weinen, sie schluckte noch ein paarmal und blieb dann, wie abwesend, neben ihm sitzen.

Er schloß die Augen und sagte:

»Ich liebe Juliette!« Darauf wartete er, daß ihm das betrogene Volk ins Gesicht schlage.

Als er die Augen öffnete, weil ihr Schweigen ihn über die Erwartungen körperlicher Züchtigung hinaus beunruhigte, erklärte Emma:

»Nein, Herr Notar, Schmerz war es nicht. Sie irren sich. Aber ich weiß, wie Sie's meinen.«

Mit ihrem Schürzenkleid in der Hand verließ sie das Zimmer. Gleich danach hörte er sie nebenan fassungslos weinen.

Es rührte ihn. Schade, dachte er, gerade heute, wo ich ohnehin traurig bin ... Sie hätte ihn lieber schlagen sollen! Dann wären sie halbwegs quitt gewesen ...

Er griff hinter sich und löschte das Bettlicht.

Er schlief ein.

Die Jahreszeiten wechseln leise in der Nacht. Du siehst sie, du hörst sie nicht kommen. Eines Morgens wachst du auf und hast einen neuen Schatz.


 << zurück weiter >>