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Friede über Ranas

Es war spät abends im Garten. Sie ruhten in Liegestühlen zwischen wehenden Mimosenbäumen, der Mondschein zerlegte ihre Gestalten in Licht- und Schattenteile, mischte sie durcheinander, und Frau Pauline erzählte Paul und Sibylle mit ruhiger, halblauter Stimme von ihrem Freund, dem Mann im Lazarett.

Dabei fuhr sie sich mit der schmalen, zarten Hand des öfteren über die Stirnnarbe, ein Zeichen angestrengter Gedankenarbeit oder Unruhe, und sie schilderte auch die Herkunft der Narbe.

Als sie einmal den Nachtdienst bei ihrem Kranken versah, sie hatte sich auf einem Diwan im Nebenzimmer niedergelegt und war eingeschlafen, wurde sie von einer Stimme aufgeschreckt, die ihren Namen rief. Mehr taumelnd als gehend eilte sie zu ihm und rannte mit aller Wucht gegen die offene Tür. Die Verletzung merkte sie erst, als sie sich über den Kranken beugte und Blutstropfen von ihrer Stirn auf sein Gesicht fielen. Darüber war ihr Freund, den eine kürzliche Operation sehr geschwächt hatte, ohnmächtig geworden.

Die Wunde mußte genäht werden, es war eine Kleinigkeit, doch von da an verschlimmerte sich das Befinden des Kranken, und als nach einer zweiten Operation eine Blutvergiftung auftrat, fand das überanstrengte Herz nicht mehr die Kraft, dem neuerlichen Ansturm des Todes standzuhalten ...

Zwei Wochen lang war er schon so gut wie gesund gewesen, und aus dieser Zeit stammte das kleine Bild auf ihrem Schreibtisch. Sie hatte es an einem Frühlingstag aufgenommen. Es war nicht weit von hier, in Fréjus, wo die Kolonialtruppen ihr Erholungslager und auch ein Lazarett besaßen.

»Deine Mutter, liebe Sibylle, kam zu spät. Niemand dachte, daß es so schnell zu Ende ging. Er am allerwenigsten. Deshalb wollte er auch nicht, daß man sie benachrichtige. Auf jede derartige Andeutung antwortete er: ›Um keinen Preis! Ich will nicht!‹«

Hastig, als verbessere sie sich, fügte sie hinzu:

»Verstehst du, Sibylle? Er wollte nicht sterben.«

Die Begegnung mit der Witwe verschwieg sie, verriet auch mit keiner Silbe, welcher Art ihre Gefühle für den Kranken gewesen. Sibylle, durch die frühere Erzählung ihrer Mutter vorbereitet, verstand gründlicher, als Pauline ahnen konnte, und liebte sie dafür um so mehr. Sie machte es sich nicht klar, aber was sie empfand, lief ungefähr auf die Vorstellung hinaus: daß sie lebe, daß sie leben dürfe, habe seinen Grund in ihrer Verpflichtung, die Dankbarkeit des Vaters und seine Gefühle (deren sie gewiß zu sein glaubte) über seinen Tod hinaus am Leben zu erhalten. Von Stunde an, sagte sie sich, hörte sie auf, die Tochter ihrer Mutter zu sein. Vielmehr empfand sie sich als die Frucht einer Vereinigung, die, mochte sie auch körperlich nicht bestanden haben, darum nicht weniger, und zwar nach ihrem Begriff im wörtlichen Sinne, ihre Kindschaft verbürgte.

Sie berauschte sich an diesem Gedanken, der alles um sie her verwandelte und ihr selbst eine ungeahnte Berufung lieh.

Aus der Unruhe der Mondnacht traten Bilder vor ihre Seele und bestürmten sie, verschwanden, kamen wieder, es war, als trieben sie alle drei hier auf ihren Liegestühlen wie auf einem Floß durch ein bewegtes Meer, das sie abwechselnd mit Nacht überschwemmte und ins Licht emporhob. Von allen Bildern aber war das deutlichste und am häufigsten wiederkehrende die edle Stirn Paulines, von der Blutstropfen auf ein in Kissen gebettetes männliches Antlitz herabfielen ...

Als Pauline geendet hatte, erklärte Sibylle:

»Ich werde Sie von jetzt an Mutter nennen.«

Pauline erhob sich aus ihrer liegenden Lage, wartete, bis der Mondschein Sibylles Gesicht enthüllte, blickte dann von ihr auf Paul, der sie erwartungsvoll ansah, und sagte laut und bestimmt:

»Dazu hast du kein Recht, Sibylle! Ich möchte, es wäre so, wie du denkst, aber es ist nicht wahr, du bist in keiner Weise meine Tochter.«

»So, wie ich es denke«, beharrte Sibylle, »ist es doch wahr. Für mich ist es wahr. Es sollte wahr sein, es hätte wahr sein können, vor Gott ist es wahr, und wenn mein Vater in diesem Augenblick hier unter uns treten könnte«, sie streckte die Arme aus und sah hilfesuchend um sich, die beiden andern folgten unwillkürlich ihrem Blick, »er würde bezeugen, daß er sich von keiner andern Frau ein Kind wünschte und mir keine andre Mutter. Oh! ich bin dessen so sicher wie meines Lebens...«

Die letzten Worte, obwohl halblaut gesprochen, schallten in der Stille zwischen zwei Windstößen. Als habe die Beschwörung eine höhere Bekräftigung erfahren, als sei ein Gebet sichtlich erhört, verweilten sie unbeeinträchtigt in dem gleich wieder einsetzenden Spiel von Licht und Schatten und dem Wiegen der Äste über den lauschend erhobenen Häuptern und rauschten von Gewißheit. Halb andächtig, halb ängstlich erkannten Mutter und Sohn, was die Kraft einer starken Seele vermag.

»Mutter«, sagte Paul. »Hörst du nicht? Sie spricht zum erstenmal von ihrem Vater... Der Major ist tot. Laß ihr den Vater.«

Frau Pauline ergriff entschlossen die Hand ihres Sohnes, die Hand Sibylles.

»Kinder«, sagte sie, »es muß Klarheit sein. Kein Betrug, auch nicht ein halber, nicht der Schatten einer Vermutung! Klarheit, Klarheit. Wir müssen es hell haben um uns. Du bist die Tochter deiner Mutter, Sibylle, sie hat dich geboren, du bist die Tochter deines Vaters, er hat dich gezeugt. Wenn du mich trotzdem Mutter nennen willst, so tu's. Aber ich finde es nicht richtig« – sie machte eine Pause und schloß, indem sie die Hände der Kinder drückte und die folgenden Worte mit einem festen Schütteln unterstrich:» – gar so voreilig zu sein.«

»Ach so«, meinte Sibylle im Ton kindlichen Verstehens ... Sie fühlte sich im Dunkel erröten.

»Ja, so«, bekräftigte Frau Pauline. »Ihr wißt nicht, was das Leben euch bringt. Vielleicht werdet ihr einmal ganz anders aufeinander angewiesen sein als richtige oder gespielte Geschwister.«

Wie stets, wenn Verlegenheit ihn wie ein leiser Krampf befiel, wurde Paul herausfordernd männlich, er schlenkerte gleichsam die versteiften Glieder.

»Das ist ja Kuppelei«, äußerte er. »Wir denken nicht daran, uns verkuppeln zu lassen. Nicht wahr, Sibylle?«

»Ich jedenfalls nicht«, erklärte sie, plötzlich wieder wach und wehrhaft geworden.

»Na, was soll ich als Mann da erst sagen«, meinte er. »Bei mir liegt doch die Initiative.«

»Aber das Haus dort betrete ich nicht mehr«, ereiferte sich Sibylle. »Ihr werdet mich nicht in die Arme des Majors zurücktreiben! Unmöglich. Mit Notar Burguburu als Stiefvater.«

»Doch, Sibylle, du wirst!« sagte Pauline freundlich. »Sie können es mit der Gendarmerie erzwingen, daß du zurückkommst. Sicher führt sie so etwas im Schilde. Denk nur, was das wäre!... Deshalb wirst du es freiwillig tun, sobald sie von der Hochzeitsreise zurück ist und die Drohungen beginnen. Und wirst abwarten. Es läßt sich nicht erzwingen. Wir sind nach wie vor da und helfen dir aushalten.«

Paul beugte sich vor.

»Komm her, Sibylle. Ich muß dir wieder mal was ins Ohr sagen.«

Er nahm sie bei den Haaren und zog sie behutsam an sich.

»Tu brav, was sie sagt. Weitere Auskunft erteilen Herr Notar Burguburu und Agentur Ad astra!«

Er hielt sie fest, bis die Äste der Mimosen sie beide in Finsternis setzten, dann küßte er sie rasch auf das Ohr.

Nun aber hielt sie ihn ihrerseits fest.

»Ich muß dir auch was sagen.« Und lauter: »Ich liebe Frau Pauline, viel, viel mehr als dich! ... Und deshalb gehorche ich und tue überhaupt alles, was sie will ... Ich kenne sie nämlich seit undenklicher Zeit, du Wassermörder! Seit Jahren schmuggle ich ihr meine Liebe über die Zäune. Die Witwe hat nie etwas gemerkt – und du erst recht nicht. Denn du bist bei weitem nicht so klug wie die Witwe. Ja, sperr nur den Mund auf! ... Da hast du das große Geheimnis, das ich dir verkaufen wollte ... umsonst! Weil du endlich meinen neuen Vater anerkannt hast, du Scheusal, lasse ich dir deine Mutter. Was hat sie schon an einem Kerl wie dir, der so gar keine Nase hat!«

Die Jahreszeiten wechseln leise in der Nacht. Du siehst sie, du hörst sie nicht kommen. Eines Morgens wachst du auf und hast einen neuen Schatz...

In Ranas-sur-mer scheint es keine Geheimnisse zu geben, der Frühling hat sie alle an den Tag gebracht. Mit den roten Dächern ihres neuen und den grauen ihres alten Viertels liegt die Stadt breit und offen in der Sonne, der viereckige Festungsturm, neuerdings in ein Hotel eingebaut, ragt als Burgfried hervor, Kellner und Stubenmädchen bewachen ihn. Und der Sommer ist da.

Die Polizeimacht besteht aus zwei Zivilisten mit Militärmützen, sie überwachen den Markt und die lebhaft einsetzende Saison und sehn tief unglücklich aus, ihr Amt verbietet ihnen das Boulespiel. Warum? Nun, man muß immerhin die Möglichkeit eines Streites zwischen den Spielern im Auge behalten, und dann hätten sie mit der rauhen Hand der Macht und mit der Binde der Gerechtigkeit um die Ohren einzugreifen. Könnten sie das, wenn sie selbst Partei wären? So bleiben die Bedauernswerten zu lebenslänglicher Enthaltsamkeit verurteilt. Sie sind die einzigen Menschen in Ranas, die niemals lachen. Selbst an jenem denkwürdigen Markttag, als sie auf Befehl ihres Vorgesetzten, des ehrenwerten Doktors Blanc, die Hochzeitsfahnen vor der Villa Maria einholten, bewahrten sie das Aussehn von Totengräbern inmitten der lachenden Menge.

Die meisten Fensterläden in Ranas sind Tag und Nacht geschlossen, sowohl im Winter wie im Sommer. Die Leute, die bei offenem Fenster schlafen, gelten für närrische Fortschrittler, oder es sind Ausländer, meist wohnen sie auf der Colline und in Stellamare.

Seitdem Frau Marius Burguburu, geborene Witwe Bosca (von Louis so genannt), in duftigem Sommerkleid von der Hochzeitsreise heimkehrte und nach dreitägigem Aufräumen mit Hilfe des neuen Mädchens ihren Gatten in die Villa Maria aufnahm, schläft auch sie bei geschlossenem Fenster.

Der Notar hat plötzlich eine Neigung zum Lungenkatarrh an sich entdeckt, und der ehrenwerte Doktor Blanc, von Juliette als Arzt und einziger Freiluftschläfer der unteren Stadt zu Hilfe gerufen, hat ›natürlich‹ versagt. Und so findet ein jahrelanger Wettbewerb mit Frau Tavin in gesunder Lebensführung sein Ende. Juliette, auf die Gefahr hin, in der Klausur ihrer wilden Ehe zu ersticken, bringt Marius Burguburu nach vielen andern auch dieses Opfer ... Das untere Gartentor ist frisch gestrichen und hat ein ovales Messingschild erhalten: Villa Maria.

Das goldgelbe Zimmer im ersten Stock ist der Arbeitsraum des Geschichtsforschers geworden. Er schreibt an einem Werk: ›Heinrich IV. und die Provence‹.

Das Wörtlein, das Burguburu nach der Eheschließung dem ehrenwerten Doktor Blanc ins Ohr flüsterte, hat unter den Ranassern seine Wirkung getan. »Ich habe ein Grab gesprengt«, lautete es. »Im Vertrauen, Doktor, mit Hilfe einer Leiter! Wie Romeo bei Julia.«

Der Fischer mit dem Kardinalshaupt (›Wenn der Wind weht über das Meer...‹) trat vor die Theke des Cafés und fragte: »Was soll man dazu sagen, daß die Witwe in aller Stille ihr Unschuld verlor? Daß sie unsrer freundlichen Hilfe nicht bedurfte und ganz von selbst die Arme öffnete – vor einer armseligen Leiter?« Das Volk antwortete mit minutenlangen, nicht wiederzugebenden Ausrufen, die schließlich auf Befehl des Chorführers unter einem dreimaligen Handklatsch ›zu Ehren der Jungvermählten‹ begraben wurden. Der Vergleich mit Romeo und Julia blieb auf die gebildeten Kreise beschränkt. Sogar dem Pfarrer hat Juliette die Vorwegnahme des Eheglücks mit Hilfe der Leiter eingestanden, er fand die Geschichte weniger schlimm als sie selbst, aber für ihr Versprechen, die wilde Ehe durch christliches Betragen zu heiligen, fand er nur ein Achselzucken. Er könne, meinte er, das Wort ›heilig‹ nicht hören, ohne die Nähe des Teufels zu riechen. Die Erklärung, sie hoffe ihren Gatten mit Geduld und Güte doch noch den Weg zum Altar zu führen, nahm er mit Wohlwollen entgegen und sagte, vielleicht sei es dafür gut, wenn sie nicht so schwindelerregend dufte. Und als sie draußen war, vergrub er die Nase minutenlang in einem Rosenstrauß, der zwischen zwei verbürgten Heiligen auf dem Kamin stand.

Der bäurische Polterabendspaß kam nicht in die Zeitung. Die Gendarmen aus Ollioules verließen damals das Amtszimmer des Bürgermeisters mit einem übermäßig beherrschten Ausdruck, als kämen sie aus einem Lachkabinett, in dem es verboten ist, das Gesicht zu verziehen, vor der Tür schütteten sie sich aus, und der Chauffeur Louis, der am gleichen Tag nach Feierabend in der Privatwohnung des Doktors erschien, zeigte sich am darauffolgenden Sonntag mit einem neuen Sommerhut. Der Hut ging von Hand zu Hand und wurde viel bewundert. Ihm ist es auch zu verdanken, daß das Ehepaar bei seiner Rückkehr eine freundlich gesinnte Bevölkerung vorfand. (In der Folge befestigte Juliette die Stimmung, indem sie ihre Einkäufe nicht mehr in Cantal besorgte, sondern in Ranas. »Auf ein paar Francs im Monat kommt es nicht mehr an.«) Nach Emma befragt, gab Louis die Auskunft: »Die einfältige Person ist wie ein Vogel auf und davon, wir Jungen sind um einen würzigen Happen betrogen.«

Von dem Mädchen, das Emma ersetzt hat, weiß man nicht, ob sie schielt, ihre Äuglein liegen in Fettpolstern versteckt, weder prickelnde Anmut noch sonst ein Reiz berichtigen den Fehlgriff der Natur.

»Was für eine Mühe mußt du gehabt haben, so etwas ausfindig zu machen!« rief Marius, als dieser im Küchendunst verschwimmende Fleischberg sich ihm vorstellte.

Worauf Juliette erwiderte:

»Es soll dafür gesorgt sein, daß deine Sünde dir gegenwärtig bleibt. Du wirst dich an keiner unmündigen Köchin mehr vergreifen.«

Von Unmündigkeit kann freilich bei dem neuen Mädchen noch weniger die Rede sein als bei Emma, es ist ein älterer, stark mitgenommener Marinebesen aus Toulon. In seiner Jugend stand er in Dienst bei einem Admiral und ist allmählich die Rangliste rückwärts gerutscht bis zum Magazinverwalter, aber er fegt, heißt es, immer noch gut. Juliettes Behauptung, so werde Emma in zehn Jahren aussehen, betrachtet der Notar als überflüssige Drohung, er hat nicht die Absicht, Emma in zehn Jahren wiederzusehn. Der Kater Marius ist in der Villa Rosmarin geblieben, nachts erscheint er bisweilen zu kurzem Besuch bei Sybille. Emmas Nachfolgerin hat er ein einziges Mal berochen und ist nicht wiedergekehrt.

Sibylle bewohnt ihr altes Zimmer. Sie ist gleich nach dem ersten Brief Burguburus, der sie unter wörtlicher Wiedergabe eines Gesetzesparagraphen zur Rückkehr aufforderte, in die Villa Maria übergesiedelt. Den Tisch hat der Geschichtsschreiber weggenommen und ihr statt dessen aus einer Kiste und einem alten Vorhang einen richtigen Toilettentisch gerichtet (»ein Schmuckkästchen, liebes Kind!«), auf dem sie auch schreiben kann, wenn sie ihn aufräumt. Sie hat die Erlaubnis, mit Paul Tavin auszugehn unter der Bedingung, daß er nicht die Villa Maria und sie nicht das Haus Rosmarin betritt. Die Entschädigungssumme der Autobusgesellschaft verwaltet bis zu Sibylles Mündigkeit der Notar. Je nach Laune versichert die Mutter, mit dieser Mitgift könnte Sibylle ganz gut einen älteren Notar heiraten oder, alles Gold der Erde mache einen Hinkefuß nicht gerade, und auf nichts seien die Männer so versessen wie auf tadellose Frauenbeine.

»Dick dürfen sie aber sein?« fragt Sibylle anzüglich, und Juliette antwortet: »Dick wie Blutwürste, mein Kind – aber gerade.«

Jedermann weiß, und Sibylle behauptet dasselbe: sie wird ihr Leben lang hinken – schwach nur, »wie ein Engel«, tröstet sie Frau Pauline, »der noch nicht an die harte Erde gewöhnt ist«. Aber »natürlich«, sagt Juliette beim Frühstück zu Marius, als dieser von einer hinkenden Millionärin erzählt, die aus Liebeskummer Gift genommen, »natürlich ist es nicht angenehm, wenn eine Frau zu ihrem Mann ins Bett hinkt. Es nimmt beiden den Schwung.«

Sibylle, die gerade ins Zimmer tritt, hört es und glaubt im Boden zu versinken.

Das Bild des Majors hängt nicht mehr an der Wand des Salons. Keiner außer Juliette ahnt, wo es hingekommen ist. Auch sie behauptet, es nicht zu wissen. »Während unsrer Hochzeitsreise hat er sich sein Bild geholt«, vermutet Burguburu. »Er ist ein Mann von Takt. Er weiß, was sich schickt.« Den Platz des Majors nimmt ein fast lebensgroßes Ölgemälde ein, das den Großvater Burguburus, den ersten Notar des Geschlechts, in sitzender Haltung darstellt. Die eine Hand hält den aufgeschlagenen Code Napoléon, die andre das Amtssiegel. Marius hat von ihm lediglich die starke Nase und den Kahlschädel geerbt – »und«, verkündet er mit erhobenem Zeigefinger, »einiges andre, was sich schlecht abbilden läßt«.

Der ovale Spiegel im Betthimmel ist mit hellblauer Seide bezogen und auf diese Weise unschädlich gemacht. Marius hat herausbekommen, daß die Natur Juliette bei Inanspruchnahme des Spiegels bevorzugte. Überdies verstieg sich Juliette zu der Behauptung, der Bettspiegel sei nicht von wollüstigen Orientalen, sondern von den französischen Königen erfunden – eine Lästerung, die wesentlich zum Entschluß Burguburus beitrug, das Ärgernis zu unterdrücken.

Nachts brechen im ehelichen Schlafzimmer furchtbare Kräche aus, und Sibylle muß sich unter die Bettdecke verkriechen, um nicht mit anzuhören, wie aufrichtig die beiden einander beurteilen. Allerdings ist meist nur Burguburu deutlich zu verstehn, er brüllt wie ein Stier, jedoch in wohlgesetzter Rede, als spräche er vor den über Nacht taub gewordenen Mitgliedern der Touloner Akademie. Juliette antwortet mit leisen, kurzen Sätzen, in einem Zischton, der ihn absichtlich reizt und, wie er glaubhaft versichert, bis nahe an den Rand des Wahnsinns treibt. Dann folgt die katastrophale Versöhnung. Nach solchen nächtlichen Auftritten pflegt das Ehepaar eine Stunde oder zwei länger zu schlafen. Die Laune beim Frühstück ist glänzend.

 

Der Notar magert ab. Juliettes ›Blutwürste‹ drohen zu platzen, und ihre übrigen Körperteile wollen nicht hinter den Beinen zurückbleiben.

Unter der Einwirkung der Sonne Korsikas (oder Porquerolles') sind ihre schwarzen Haare leuchtend blond geworden. Der Haarboden bleibt schwarz, was man indes nur sieht, wenn sie nach einer Sturmnacht ungekämmt zum ersten Frühstück kommt ... Der babylonische Schlafrock hat die Färberei blau verlassen – Blau paßt besser zu Blond als Rot ... Ihre Kriegsbemalung besteht unverändert aus zwei karminroten Inselchen auf weißem Grund. Die Wirkung ist weniger beängstigend, seitdem sie die Haare blond färbt und farbige Kleider trägt. Auch der kurze, viereckige Sarazenenbart Burguburus hat die Farbe gewechselt, kein weißes oder graues Strähnchen ist mehr darin, er leuchtet rabenschwarz wie bei einem jungen Mauren. Hingegen ist Marius, der eine Zeitlang in Schlafanzügen auftreten mußte, längst zum Hemd seiner Vorfahren zurückgekehrt. Manchmal erscheint er morgens in Nachthemd und Hose und erzählt allerhand vom ›Negligé eines großen Königs‹, wozu Juliette, die an solchen Morgen auffallend nachsichtig ist und zu Zärtlichkeit neigt, eine zweideutige Schmollschnute zieht. »Was soll das Kind von uns denken!« lispelt sie, und Marius lacht, daß die immer länger werdenden Halsfalten wie Glockenstränge baumeln. »Was sie denkt?« ruft er. »An die schlanken Hüften ihres Pauls wird sie denken, woran sonst!«

Sibylle wird blaß, der lackrote Mund scheint zu schreien, und das Ehepaar platzt von neuem los.

»Sibylle ist ein liebes Kind!« sagt mit Überzeugung der Notar, seine Kugelaugen bitten Sibylle um Verzeihung ...

Zuweilen fährt das Ehepaar abends nach Toulon, zu einem Konzert oder einer Vorstellung der Sommerbühne. Hierauf gibt es jedesmal nächtlichen Krach. Juliette ist eifersüchtig »wie ein Drache, der einen Schatz bewacht«, meint Marius geschmeichelt. »Sie wird mich bestimmt noch einmal verschlucken.«

»Das liegt ausschließlich am gnädigen Herrn«, gibt sie zu bedenken und hebt die ausrasierten Augenbrauen.

Das erste Frühstück dient dem Austausch von Vertraulichkeiten und Urlauten, man befindet sich gleichsam noch in den Anfängen der Menschheit. Später am Tag ist jeder in seine Rolle hineingewachsen, die Mittags- und Abendmahlzeiten finden statt wie vor einem Kreis ehrfürchtiger Zuschauer – und damit sind die Gelegenheiten erschöpft, bei denen Sibylle mit dem Ehepaar zusammentrifft.

Juliette bleibt aus Gesundheitsrücksichten weiterhin vom täglichen Besuch der Messe befreit. Sonntags sieht man sie im Hochamt an ihrem alten Platz, danach nimmt sie an der Beratung des Damenkomitees teil, Burguburu kauft inzwischen die Sonntagskuchen ein und schreitet zum Honoratiorenschwätzchen beim Apéritif im Café de la Marine. Sein Haus am Kai ist frisch gestrichen, im königlichen Goldgelb der Heimat. Er hat es vermietet und nur das untere Stockwerk für sich behalten, zwei Zimmer und eine Küche. Hier ist er geschäftlich zu sprechen, sei es in den Stunden, die man auf dem Messingtürschild ablesen kann, sei es nach besonderer Vereinbarung. In der Küche wohnt die alte Haushälterin. Juliettes arme Kranke und Gebrechliche finden zuletzt doch ihren Glauben an die allverwandelnde und bessernde Gewalt der Liebe bestätigt. Ihre ›Dame‹ bereitet sie nicht mehr so eilfertig auf den Tod vor, sie bringt ihnen Näschereien (abgestandenen Kuchen, den sie bei den Bäckern einsammelt) und erzählt ihnen Märchen von Porquerolles und Korsika, wobei die korsischen Bilder etwas blaß wirken. Beide Inseln scheinen von einer Völkerschaft bewohnt, die in ihrer Kultur tausend Jahre hinter den Leuten von Ranas zurücksteht. Korsika erhält den mildernden Umstand zugebilligt, daß dort Napoleon geboren ist – »der bekannte Eroberer von Toulon«, erklärt Juliette.

Die Wahrheit jedoch über die Leiter, die ahnt in Ranas kein Mensch – kein Mensch außer Juliette, dem plötzlich und scheinbar so leicht entzauberten Grabengel, die auch als einzige weiß, wo der Major steckt. Es gibt eben, allem Anschein zum Trotz, immer noch Geheimnisse in Ranas, zumindest zwei, von denen das eine die Gefahren eines Blindgängers in sich birgt.

Ein Zufall kann ihn zur Entladung bringen, und dann fliegt womöglich jemand mit in die Luft. Gerade so gut kann er für alle Zeiten vergraben bleiben, unschädlich wie eine Gewissensangst, die allmählich in todähnlichen Schlaf versinkt.

 

Monatelang folgte ein blauer Tag dem andern, es war ja Sommer, der märchenhaft verläßliche Sommer der Provence.

Tagsüber glühten die geteerten Straßen, und wer an kalten Füßen litt, fand auch um Mitternacht noch Gelegenheit, sie zu wärmen, einfach, indem er sich mit ihnen an die Straße setzte. Wo die Straßen nicht geteert waren, auf den Feldwegen, sogar auf den steilen Pfaden an der Küste und im Gebirge, genügte es, daß ein Vogel über den Weg hüpfte, um eine Staubwolke in Gang zu setzen.

Trug der Meerwind den Staub in mikroskopischer Feinheit unmerklich überall hin und schmuggelte ihn durch die Ritzen der Fenster in die Zimmer und dem Wanderer in alle Taschen und bis unter das Hemd, so erwies sich der Mistral als eine schnauzbärtige Schleiertänzerin, die mit jedem Satz eine ganze Gemeinde der Sinne beraubte. Die Kirchenglocken schlugen an, die Kirchenglocken wimmerten, ohne daß eine menschliche Hand den Glockenstrang berührte.

Der Staub verzog sich, dann war die Erde sauber und blank wie die gute Stube am Sonntagmorgen.

In den Felsen, im Steingeröll, an allen Böschungen flammten Riesenbüschel des Centranthus, zu deutsch Spornblume, sie hatten, etwas verfärbt, den Winter überblüht, im Frühling neue Kraft gesammelt und versinnbildlichten nun mit ihrem Purpurschaum an allen Wegen die Kraft und Ausdauer des Sommers. Um die Bäume war ein Strahlen, das der Wind mit lässiger Gebärde verstreute. Dem Meer entstiegen verjüngt die alten Götter, sie mischten sich unter die Menschen, und wer sie nackt sah, erkannte sie in ihrer Unsterblichkeit.

Die Küste wimmelte von Kindern. Sie wurden mit jeder Woche brauner und lauter, ihr Ansehn wuchs mit ihrem Selbstvertrauen, sie setzten sich am Rande des Meeres fest und benahmen sich als Eroberer. Manchmal kam die Hexe auf ihrem Besenstiel angeritten, dann gab es für die anerkannten Herren des Strandes keine Rettung als Flucht – wilde, verwegene Flucht. Denn dieser Person war sehr wohl zuzutrauen, daß sie einen am Wickel packte und durch die Luft nach Afrika entführte. Das war der Mistral – der Mistral für Kinder.

In der übrigen Zeit fühlten sich die Erwachsenen gerade noch geduldet, und wenn sie für eine Weile den Unternehmungen der kleinen Sieger zusahen, machten sie das Nachsicht heischende oder übertriebene Bewunderung heuchelnde Gesicht von Dienstboten, die den Vergnügungen ihrer Brotgeber als Zaungäste beiwohnen.

Paul und Sibylle führten mit List, Bestechung und Gewalt den Kampf gegen die Überschwemmung ihres Badeplatzes durch die Zwergenwelt. Um zu ihrem Platz zu gelangen, mußten sie die eine Hälfte des allgemeinen Strandes in seiner ganzen Länge durchqueren, und diesen Umstand benutzte ein boshaftes kleines Mädchen, um jedesmal laut auszurufen: »Sieh mal, Mama, wie die schöne Dame da hinkt!«

Von der Mutter erst zurechtgewiesen, dann gestraft, lief das Kind beim Erscheinen Sibylles dieser entgegen und rief nun statt der einen Mutter gleich ein Dutzend Leute zu Zeugen an, wie die schöne Dame da hinke. Sein Benehmen änderte sich, als Paul ihm in genügender Entfernung von der Mutter Süßigkeiten zusteckte. Von da an lauerte es zwei- oder dreimal am Tag den beiden am Fuß der steilen Böschung auf und nahm mit herzhafter Selbstverständlichkeit sein Schweigegeld entgegen. In der Folge sorgte die Kleine auch dafür, daß Angriffe auf den versteckten Badeplatz unterblieben. Zur Erbauung ihrer Mutter belehrte sie die Zwergenwelt mit wichtigtuerischer Miene, es sei streng verboten, Krüppeln und Kranken vorsätzlich weh zu tun.

So geringfügig der Anlaß war, Sibylle litt darunter bis zu Tränen, deren Salz sich, unbemerkt von Paul, weit draußen mit dem Meerwasser vermischte. Gleichwohl traf sie keine Anstalten, sich nach einem ungestörten Winkel umzusehn, einmal weil sie befürchtete, überall auf ein boshaftes, kleines Mädchen zu stoßen, das zum Schweigen bekehrt werden müßte, aber auch aus Anhänglichkeit an ihren Strand. Denn der ließ sich in keiner Weise ersetzen, diese mit Erinnerungsbildern behangenen Felsen gab es nirgendwo anders, und gesetzt den Fall, es fände sich etwas Ähnliches wie die Ankleidehöhlen in der Böschung, und auch sie würden rauschen wie eine Muschel, die man ans Ohr hält – konnten sie denn erzählen, was sie nicht wußten!

Alles, was Sibylle von der neuen Felsenmuschel hätte hören wollen, wäre hier zurückgeblieben in diesem halbdunkeln, gewundenen Schacht, der in das Strahlen des Meeres eingebettet schien, von tausend Gedanken erfüllt, die seine Luft waren, seine Stille und sein Licht, gesegnet von der Nähe des unsichtbaren Geliebten, der, eben erst allein gelassen, sich bald wieder zu ihr gesellte. Diese summende Stille und Einsamkeit war zu eingewohnt, um ohne Schaden verlegt zu werden.

Eher wollte sie sich weiterhin von dem Kind demütigen lassen (seine Rücksichtnahme war fast ebenso kränkend wie die vorhergegangene Frechheit) und täglich von neuem an das grausame Wort erinnert werden und daran würgen: »Natürlich ist es nicht angenehm, wenn eine Frau zu ihrem Mann ins Bett hinkt...«

Wenn sie nur den Mut hätte, es Paul oder wenigstens seiner Mutter wiederzusagen – vielleicht würden sie ein Gegenwort finden, stark genug, sie von der Schmach der Beschimpfung zu heilen! Aber da sie Frau Pauline nicht aufsuchen durfte, hätte sie es ihr mit der ›Mittagspost‹ schreiben müssen, und dies Wort, sichtbar geworden, hätte durch nichts mehr ausgelöscht werden können, es hätte mit Gliedern und einem Gesicht vor ihr gestanden, vor ihr – und seiner Mutter.

Sie hatte sich vorgenommen, es Paul anzuvertrauen, wenn sie einmal weit draußen nebeneinander schwämmen und sehr vergnügt wären. Als einen frechen, törichten Scherz der Witwe wollte sie es hinstellen, damit er es ohne Umstände mit einem Fluch oder, noch besser, mit wortloser Verachtung hinnähme. Es genügte, wenn er es wußte, damit es seine Gefährlichkeit einbüßte, ganz gleich, wie es sich ihm darstellte, als ungeheuerlich oder als belanglos. Nur genau mußte es sein, genau im Wortlaut, sonst konnte er sie nicht davon befreien... Sibylle brauchte sich den Wortlaut nur vorzusprechen, um zu fühlen, wie im gleichen Augenblick ihre Kräfte versagten.

Dann wiederum gedachte sie es ihm mittelbar beizubringen, indem sie etwa äußerte: »Was denkst du von einer Mutter, die zu ihrer Tochter sagt: ›Es war ein Schwindel, auf den er, bei voller Erkenntnis der Wahrheit, ebenso ausweichend antworten würde. Er war in solchen Dingen sehr bequem, ›von einer mimosenhaften Bequemlichkeit‹, wie Frau Pauline zu sagen pflegte.«

Ein einziges Mal, und zwar am Tag, nachdem Paul sein Abitur bestanden – sie schwammen, wie sie es sich zurechtgelegt hatte, weit draußen und wechselten törichte Redensarten, wie nur zwei in Liebe Verschworene sie richtig verstehn –, ein einzigesmal war sie nahe daran gewesen, ihm ihre Schmach zu bekennen, aber schließlich hatte sie doch nur, nach langem inneren Kampf, völlig unvermittelt ausgerufen:

»Welch eine Schande, eine Mutter zu haben wie die meine! Wie soll man sich davon reinigen!«

»Kind«, hatte er nach einer Pause sichtlicher Verwirrung geantwortet, »warum hängst du dich so an deine Mutter – wo du jetzt einen famosen Vater hast!«

Ja.

Der Vater hätte sie gerächt ... Aber der Vater war tot.

Niemand fand sich, der an seiner Statt eingreifen wollte ... Ihre Gedanken überstürzten sich, und zum Schluß war sie wieder bei Pauls ›mimosenhafter Bequemlichkeit‹ angelangt ... Der Junge leugnete den Schmerz, wo er konnte, bei sich wie bei den andern ... Ein Leichtfuß neben einem Hinkefuß – welch ein Gespann!

Und auch Frau Pauline, dachte sie, wollte es ernstlich nicht wahrhaben, daß sie zu Hause in einer Hölle lebte. Sonst hätte sie die Wehrlose nicht dorthin zurückgeschickt, sie hätte sie an die Hand genommen und wäre mit ihr, die angeblich nur so leicht wie ein Engel hinkte, geflohen – irgendwohin, von wo keine Gendarmerie und erst recht kein Ehepaar Burguburu sie zurückholen konnte ...

Seit Sibylles Haßausbruch weit draußen im Meer waren Wochen vergangen, immer mehr Sommergäste hatten sich eingefunden und unter andern sonderbaren Gestalten auch jenes Kind, das ein erbarmungsloses Schicksal bestimmt hatte, Sibylles Hilflosigkeit aufs äußerste zu steigern, ohne daß ihr darüber die Kraft zugewachsen wäre, sich innerlich von ihrer Mutter freizumachen, wie Paul es verlangte.

»Mein Hinken, das ist die Mutter!« äußerte sie zu ihm. Er verstand sie nur halb. Sie meinte, ihr Hinken sei gleichbedeutend mit der Qual, die sie durch die Mutter erleide. Ja, sie ging so weit, darin bis zu einem gewissen Grad die nachträgliche Rechtfertigung der Verfolgung zu sehn, der sie von Seiten der Mutter ausgesetzt war. War etwa ein Krüppel liebenswert? Und war sie nicht von allem Anfang zum Krüppel bestimmt?

»Unglückseliges Kind!« hatte Burguburu einmal ausgerufen. »Was kann deine Mutter dafür, daß du hinkst!«

Und zu Sibylles Verblüffung war Juliette die Behauptung entschlüpft: »In ihrem völligen Mangel an Gerechtigkeitsgefühl gleicht sie ihrem Vater.«

Bis vor kurzem war der Major ein makelloser Held gewesen, ›dem keiner dieser Halunken unter die Augen hätte treten dürfen!‹ Verblaßte sein Bild, seitdem er nicht mehr an der Wand des Salons hing?

Was auch mit dem alten Schreckgespenst geschehn sein mochte, Sibylle war es klar, daß sie in der Vorstellung nach dem ausdrücklichen Willen der Mutter durch das Hinken für ihren ›Hochmut‹ ›bestraft‹ sein sollte, daß die Mutter auf ihre bald lauernde, bald zupackende Weise das abgründige Glück der Schadenfreude genoß und zweifellos fest überzeugt war, ihre Schadenfreude werde von einer gerechten Vorsehung geteilt.

»Ich kenne sie«, stöhnte sie nachts in ihr Kissen. »Ich kenne sie!...«

Am stärksten beunruhigt über Sibylles Zukunft war Frau Pauline. Doch baute sie beharrlich auf die Gläubigkeit des Mädchens und seine Liebe. Für Frau Pauline war Liebe der Inbegriff aller Seelenkräfte, ein ›Mauer um uns baue‹, zu dem jeder Herzschlag beitrug.

Sibylle selbst, die wie die Kinder am Strand mit jeder Woche brauner und schöner wurde, setzte im Grund wenig Zweifel in ihren Lebens- und Liebeswillen.

Dies zeigte sich besonders, als der Chirurg in Toulon, zu dem Paul sie führte, ihr die Hoffnung auf völlige Wiederherstellung ihres Knies endgültig nahm. Wäre es nicht gerade das Knie, erklärte er, würde er einen neuerlichen, künstlichen Bruch des Beines vorschlagen und dann eine Heilung einleiten, die diesmal besser verliefe. Beim Knie seien die Erfolgsaussichten eines solchen Verfahrens sehr gering, um nicht zu sagen aussichtslos. Sibylle erklärte, sie würde keinesfalls in einen künstlichen Bruch eingewilligt haben, auch nicht, wenn dadurch eine Heilung gänzlich verbürgt wäre. Etwas Derartiges fände sie ekelhaft und lästerlich obendrein – und beim Wort ›Bruch‹ schon würde ihr schlecht. Als Paul später auf ihre Frage, ob er unter Umständen in einen künstlichen Bruch eingewilligt hätte, ohne weiteres ja sagte, meinte sie, und er sah, wie sie erblaßte: dann hätte sie es auch getan – wenn es ganz sicher wäre ... Sie hielt ihn fest: »Sieh mich an, Paul! Wirst du dich – glaubst du, du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen?«

Er antwortete, er könne sich Sibylle gar nicht mehr anders denken, als ein ganz klein wenig hinkend, es verleihe ihr etwas Ängstliches und zugleich unglaublich Mutiges, es käme ihm vor, als habe schon das Mädchen, das stets ganz allein auf dem weißen Stein am Rundweg saß, einen verdächtigen Fuß gehabt wie ein kleiner Faun, aber erst seitdem sie hinke, wisse er, wie schön gewachsen sie sei, schlank und knapp – eine kleine Säule.

»Säulen haben den Vorzug, nicht gehn zu müssen«, sagte Sibylle lächelnd, und nach einer Weile erklärte sie:

»Du, Paul! Ich fürchte, ich möchte sogar ohne Beine leben – wenn ich nur eine Hand hätte, um den einen oder andern Menschen gelegentlich anzurühren. Oh, nur ein ganz klein wenig!«

»Gelegentlich, du Gutes!« rief Paul mit ungewohnter Innigkeit, und er legte den Arm um ihre Hüfte – nur flüchtig, aber lang genug, um zu spüren, wie stark in der kleinen Säule das Leben sich rührte ...

Den ganzen Tag war Sibylle so fröhlich wie nach dem Besuch des Arztes in Marseille, obwohl sie diesmal nicht die große Verkündigung heimbrachte. Aber die Erklärung Pauls hatte den befreienden Spruch des Arztes ersetzt, und man starb nicht an einem schlechtverwachsenen Knie, man konnte sogar sehr glücklich damit werden.

Das ›gelegentlich‹ hieß, solange Pauls Ferien dauerten: ›sehr oft‹. Und wenn er dann nach Paris ginge, um Medizin zu studieren, konnte es unmöglich die gleiche Einsamkeit sein wie früher. Sie war Einsamkeit gewohnt, schätzte sie als eine Festung, die Starke und Schwache in gleicher Weise beschützt und einzig durch den Hunger eingenommen werden kann. Hunger aber brauchte sie nicht zu befürchten, dies allein schon stimmte sie dankbar, weil Hunger zu den Dingen gehörte, mit deren Schilderung die Witwe sie als Kind am meisten geschreckt hatte (abgesehn vom Major, der in der Nacht kommen, sie strafen oder gar in die Hölle schicken sollte). Seitdem sie denken konnte, war die geheimnisvoll in einer fremden Welt lebende Mutter ihr fremd geblieben, ihre Kindheit und erste Jugend waren, was Liebe anlangt, ein öder Wüstenweg, auf dem saftig grün und immer noch anziehend eine Oase funkelte: der Tag ihrer ersten Kommunion. In der Erinnerung erschien ihr der Tag als eine einzige Himmelfahrt, vom Morgen, als die Mutter sie mit der Verkündigung des größten irdischen Glücks geweckt hatte, das ihr bevorstehe, bis zum Abend, da sie unter ihren großen, stillen, fernher lächelnden Augen eingeschlafen war.

Dann hatte sich in ihrer Einsamkeit eine laubgrüne Türe aufgetan, und durch die Türe waren unendliche Frachten von Zärtlichkeit und Vertrauen auf Schmuggelwegen hin und her gegangen. Allerdings blieb der Glanz auf die Schmugglerpfade beschränkt und auf die Erinnerung an sie – die übrige Zeit lebte Sibylle nach wie vor im Schatten des Majors und seiner finsteren Witwe, deren Erscheinung durch den Vergleich mit Frau Pauline nicht heller wurde.

Und eines Tages begann die Tür der Einsamkeit zu wachsen, wie du im Traum tote Dinge lebendig werden und wachsen siehst, bis sie Zeichen machen und dich ansprechen, und als die Tür ein gewaltiges Tor geworden war, entdeckte Sibylle in seinem Ausschnitt ein weites Land, den ›Garten‹ und das ›Land der Freunde‹, und wenn man es durchschritt, ertönte in den Lüften Musik. Zuletzt durfte man sich sogar erlaubterweise darin ergehn, denn, sagte Juliette zu Marius: »Wer weiß, vielleicht ist der kleine Tavin so dumm und heiratet sie.«

Da aber war Marius böse geworden. »Du solltest dich schämen, Juliette«, rief er. »Manchmal frage ich mich, ob ich nicht ein Ungeheuer zur Frau habe.« Worauf Juliette eines ihrer beliebtesten Rückzugsgefechte geliefert hatte, indem sie an Hand zahlreicher Beispiele nachwies, daß er nicht den geringsten Spaß verstehe, während sie selbst mit dem Schalk im Nacken geboren sei... Solche Rückzugsgefechte verfolgte Sibylle mit der tückischen Freude eines Kenners. Burguburu fürchtete sie. Juliette brachte dabei eine seiner Meinung nach gesetzwidrige Waffe ins Feuer, nämlich eine Ironie, die stach, ohne daß man das Tierchen zu fassen bekam. Er wußte sich nicht anders zu helfen, als indem er auf seine abgemagerten Backen klatschte und an den Händen kratzte und, plötzlich vom Stuhl springend, ausrief: »Ein Königreich für ein Moskitonetz!« Dauerte der Spaß zu lange, wurde er allerdings wütend und brüllte wie ein Stier, der seine Sätze mit akademischer Genauigkeit zu setzen versteht. Er tat es nicht gern, es strengte ihn an. Leider kam es dann so, daß Burguburu ›des lieben Friedens halber‹, den er mit der Zeit über ganze zwei oder sogar drei Tage ausgedehnt haben wollte (Friede entsprach seinem innersten Bedürfnis), allmählich, und ohne daß er sich dessen versah, zum Spießgesellen von Juliettes Bosheit herabsank, beglückt genug, wenn nicht er, sondern andere die Zielscheibe abgaben, darunter das Mädchen, das er ›beinahe wie die eigene Tochter liebte‹. Sibylle faßte den Zustand in das Urteil zusammen: »Marius ist nett zu mir, aber er muß die Witwe das Gegenteil glauben lassen.«

 

Am letzten Tag des August verfinsterte sich die Sonne, das Licht auf der Erde wurde fahlgelb, es roch durchdringend und aromatisch, wie wenn man einen frischen Pinienzweig ins Feuer wirft.

»Ein Waldbrand«, sagte gleich Frau Pauline zu ihrem Sohn, und als sie sich umsahn, gewahrten sie über dem Vorgebirge und der Colline einen bläulichen Rauch, und auch zwischen den Bäumen des Parks Stellamare hinter dem Haus schwebte ein Stückchen aromatischen Nebels. Rauch und Brandgeruch kamen mit dem Mistral aus der Richtung von Cantal.

Nach zwei Stunden hing die Sonne wieder klar im Himmel, der Mistral hatte sich gelegt, zurückblieb ein feiner Gewürzduft.

In der Nacht zum 1. September, sie kamen aus dem ›Land der Freunde‹ und hatten bereits die Wälder bei Cassis brennen sehn rund um die Krone Karls des Großen, erblickten sie im Südosten eine riesige Feuerwolke, der in gleicher Richtung eine Rauchfahne vorauswehte. Die Rauchfahne war in Blutschein getaucht. Obgleich nur ein schwacher Wind ging, rückte die Wolke verhältnismäßig schnell von der Stelle, und es war, als marschierten die brennenden Wälder auf die Festung Toulon.

In Stellamare angelangt, konnten sie von der Nordseite des Parks den Weg verfolgen, den das Feuer vor und hinter einer ziemlich weit entfernten Hügelkette nahm. Die vom Feuer noch nicht erreichten Bäume des Kammes hoben sich scharf ab, man hätte sie zählen können. Beide Höhenzüge der Gorges d'Ollioules waren abgebrannt, eine dritte, langgestreckte Anhöhe dahinter ebenfalls. Über dem restlos verzehrten Unterholz flammten nur noch die höchsten Bäume, fast alle einzeln, in girlandenhaft auf- und niedersteigenden Reihen.

An einigen Stellen bemerkte man Häufchen bis ins Mark erglühter Holzkohlen, etwas tiefer streng bemessene Feuerstellen, der Form nach an die Kohlenroste erinnernd, wie man sie winters auf den Terrassen der Kaffeehäuser sieht – das waren kleine und größere Häuser, die bis auf die Grundmauern brannten. Und während die Feuerwolke hinter den Bergen einen furchterregenden Anblick bot, zumal da man sich bewußt blieb, daß sie nur der Widerschein einer unsichtbar wütenden Zerstörung war, boten die diesseitigen Hänge, die das wandernde Feuer bereits hinter sich gelassen, das großartige und, wenn unbefangen betrachtet, friedliche Bild einer Festbeleuchtung ... Frau Pauline, Sibylle und Paul standen im Wagen, der Junge auf dem Klappsitz, rechts und links auf dem Weg die Anwohner des Parks, und alle starrten sie schweigend auf das Schlachtfeld des Feuers.

Von Ranas klangen Musik und Lärm herauf. In Ranas war Kirmes. Die Lustbarkeit füllte den Raum zwischen Hafen und Stadtfront bis auf den letzten Platz, die Buden strahlten, die Karusselle wirbelten, die Schiffsschaukeln flogen, zu einer Blechmusik tanzten die Paare den landesüblichen schnellen Trippelwalzer, auf der Straße stauten sich Autobusse und Wagen. Die Gemeindepolizisten gingen umher und schrien um die Wette mit den Autohupen. Niemand schien die Nähe des Unheils zu ahnen, das Städtchen schäumte über von Fröhlichkeit und Sinneneifer ... Oben in Stellamare war es still.

Bisweilen fiel der Name einer Ortschaft, eines Berges. Erst als jemand seitlich hinter dem Brandherd, weit im Osten, einen blasseren Feuerschein am Horizont wahrnahm und darauf hinwies, machte sich die Ergriffenheit der Versammelten in überstürzten Worten Luft.

»Das muß bei Hyères sein, zwanzig Kilometer hinter Toulon ...« – »Und im Westen rund um Marseille ...« – »Es brennt in Cassis ...« – »Und hinter Hyères ist der Maurenwald ...« – »Und der Wald des Esterel ...« – »Und die brennen ohnehin fast jeden Sommer ...« – »Die ganze Küste steht in Flammen!«

Darauf war es wieder still – bis plötzlich eine Gestalt vor Paulines Wagen ausrief: »Oh! Mir ... mir ... Es reißt mir das Herz entzwei!«

Frau Pauline erkannte die Stimme, sie bückte sich.

»Schäfchen!« rief sie leise.

Schäfchen drehte sich um und hob im schwachen Licht der Nacht ihr Gesicht zu Pauline empor. Und zum erstenmal, seitdem sie sich kannten, war Schäfchens Gesicht ohne die Spur eines Lächelns und nackt vor Entsetzen ...

Pauline fuhr mit Sibylle das kurze Stück bis zum Haus Rosmarin, Paul und Schäfchen folgten zu Fuß. Er gab sich Mühe, das Mädchen, diesen kleinen, aus der Bahn gerissenen Wandelstern, mit heitern Worten in den gewohnten Umlauf zurückzulocken, es gelang ihm nicht. Sie kamen an Herrn und Frau Notar Burguburu vorbei, Paul grüßte beflissen. Im Weitergehn hörte er Juliette hinter sich sagen:

»Es gibt Herrschaften, für die ist selbst eine so furchtbare Prüfung eine Augenweide. Es gehört für sie zur Kirmes.«

Auch Schäfchen vernahm die Worte, und das Lächeln kehrte ihr wie gerufen zurück. Im Gegensatz zu dem Feuer war dies eine faßbare Bosheit, eine von jenen, die in ihrer Jugend massenhaft aufschossen wie Disteln auf einem schlechten Feld, die Stimme war ein Jagdruf, den sie längst nicht mehr fürchtete, ein Nachhall von Mißhandlungen in einem Herzen, das still und schmucklos war wie eine Dorfkirche. Und Schäfchen lächelte.

Die folgenden Nächte träumte sie wiederholt vom Feuer. Sie sah Häuser und Stallungen, brandrot hinter verschlossenen Fenstern. Menschen und Tiere irrten auf den Straßen, sie hatten die Sprache verloren, die Frauen hielten Kinder oder neugeborene Ziegen im Arm, lautlos rückte von allen Seiten das Feuer auf sie zu. Es lief dicht am Boden, sobald aber ein Hindernis kam, eine breite Straße, Steingeröll, das Bett eines Baches, schwang es sich wütend auf und setzte mit einem Sprung hinüber, von Baum zu Baum wie die Affen, die Schäfchen im Film gesehn hatte, nur daß die Affen jetzt vor Freude lichterloh brannten, als wäre dies in der Brunstzeit so ihre Art. Und sie sah auch große Herden hügelauf, hügelab vor dem Feuer fliehen, immer im gleichen Abstand mit ihm, und aus dem demütig gebeugten Nacken des Hirten quoll Blut und floß in Strömen über den wehenden Mantel.

Trotz ihres wiedergefundenen Lächelns blieb Schäfchen tagelang elend. Dann hörten die Träume auf, und Schäfchens Herz war wieder dämmerig und friedlich wie eine Dorfkirche.

 

An einem dieser Spätsommertage erhielt Frau Pauline eine Botschaft durch einen Jungen. Sie lautete:

»Soeben sind wir am Kai dem Ehepaar begegnet, wie es vergnügt unter vergnügten Menschen lustwandelte. Wir grüßten, und Herr und Frau Burguburu grüßten zurück, als wären wir der Prinz von Wales und seine Braut. Bitte, Frau Pauline – unser Stolz! Paul lud mich unaufgefordert zum Aperitif im Café de la Marine ein. Drüben am Kai wandeln sie noch immer, Bein an Bein, Arm in Arm, sie hat hellblaue Hosen an, während er unverkleidet als Notar Burguburu geht, beide scheinen für den bevorstehenden Wettbewerb um den Preis des schönsten Paares zu trainieren. Kommen Sie gleich! Sibylle.«

Es war die Stunde, in der die Erwachsenen für die Kinderherrschaft Rache nahmen.

Während die Zwergenwelt zum Essen getrieben wurde, versammelten sich die Großen am Hafen und vor den Cafés und wechselten mutige Reden. Sie trugen bunte, sehr lange, sehr breite Hosen und kurzärmelige Hemden, über die sie, wenn es kühl wurde, nachlässig einen Sweater legten, die Ärmel vorn auf der Brust zusammengebunden, was schick aussah und sportlich wirkte, erinnerte es doch an Champions, die nach beendetem Wettkampf ihrem kostbaren Körper ein Mindestmaß von Schutz angedeihen lassen. Männer und Frauen waren nur darum nicht zu verwechseln, weil die Frauen in leuchtenden Hosen, gelb, hellblau, rosa, grün einhergingen, Farben, die ein Rest von Schamgefühl den Männern unzugänglich machte.

Wenn nach Sonnenuntergang der Hafen im Arm der sauberen weißen Mole ruhte, die paar Signallichter wie rote und gelbe Tropfen im lichten Abend hingen und draußen die Leuchttürme zu spielen begannen, in dieser schönsten, dieser zärtlichsten Stunde für Himmel und Erde und alle lichtliebende Kreatur, schalteten die Cafébesitzer die Lautsprecher für Rundfunk oder Grammophon ein, die Gemeinheit der Zeit öffnete heulend den Rachen, und wer nicht verschlungen sein wollte, tat gut, sich aus dem Staub zu machen. Aber alle wünschten sie sich ja nichts andres, als verschlungen zu werden mit Haut und Haaren. Ein Tag Nichtstun und verhältnismäßiger Stille hatte sie halb verrückt gemacht, sie waren zu jedem Lärm bereit, wenn er nur nach Tätigkeit aussah. Als Frau Pauline am Kai eintraf, grölten die Lautsprecher in wirrem Durcheinander vom Café de la Tour am einen bis zur Melodia am andern Ende des Hafens. Sie warf sich mutig in das Getriebe, eroberte einen Stuhl und setzte sich zu Paul und Sibylle. »Ist das nun der Frieden?« fragte sie und folgte mit den Blicken dem eindrucksvollen Paar, das sich jenseits des Fahrdammes auf dem schon fast menschenleeren Kai zur Schau stellte. Die beiden gingen sehr aufrecht, ein zerstreutes, erstaunlich gleiches Lächeln auf den Gesichtern, der erpreßte Romeo in weißem Leinenanzug und Panamahut, die falsche Julie in hellblauer Bluse und Hose, mit einem breiten, weißen Gürtel um die Hüften. Sie schritten Arm in Arm auf dem Hintergrund des Meeres, weit draußen stand der Leuchtturm und nickte ihnen lustig zu.

Eine wohlverpackte Blutwurst mit Leibbinde, dachte Sibylle, behielt es aber für sich und sagte statt dessen:

»Wenn sie mich mit Ihnen sieht, Frau Pauline, bekommt Marius heute nacht zu dem üblichen Ausgehkrach noch etwas über die hochnäsige Person zu hören, die er beinahe wie seine eigene Tochter liebt. Der arme Patent-Blitzableiter Marius.«

»Jetzt fühlt er sich jedenfalls sehr sicher«, meinte Frau Pauline. »Übrigens«, fügte sie lachend hinzu, »sehn nicht die Schiffsmasten dort alle wie Blitzableiter aus?«

»Richtig!« rief Sibylle. »Jeder von ihnen hat einen Blitz gespießt.«

Die Masten der Fischerbarken, von ihren Segeln entblößt, glänzten im Abendlicht, an der Spitze trugen sie die vorschriftsmäßige Laterne. In der Laterne brannte kein Licht, es war nur das Glas, das so spiegelte, und da ihre Form auf die Entfernung unkenntlich blieb, war tatsächlich nichts als ein klarer Funken an der Spitze des Mastes zu sehn. Ähnlich verhielt es sich mit der Laterne am Ende der Mole, sie schwebte als rubinrotes Flämmchen frei in der Luft.

Mit einem Schlag war der Tag erloschen. Ein Frösteln überlief das Wasser und den Kai und die Menschen darauf, die Häuser. Das rote Licht am Ende der Mole und die Kugelblitze an den Spitzen der Mäste hörten auf zu flimmern und wurden hart wie Stein.

Indessen schlängelte sich der Chor der Fischer mühsam durch die vollbesetzten Tische der Caféterrasse.

Im Innern saßen nur Einheimische, die Fremden blieben im Freien nicht der guten Luft wegen, sondern um gesehen zu werden. Erst als sie unter sich waren, begannen die Fischer ihr Lied zu summen: »Wenn der Wind weht – über das Meer ...«

Vor der Theke machten sie Front zum Volk, und der Chorführer mit dem Kardinalshaupt fragte:

»Habt ihr das Ehepaar Burguburu gesehn? Es geht auf dem Kai spazieren, der Notar ist mager wie ein Maikater. Was ihm fehlt, hat unsre Witwe ihm genommen. Dementsprechend platzt sie aus ihren hellblauen Hosen.«

Unter kräftigen, nicht wiederzugebenden Ausrufen drängte das Volk auf die Terrasse, ohne der erstaunten Fremden zu achten, und dann verstummte es minutenlang in Betrachtung des einstigen Grabengels und seines Erlösers.

»Das ist der Frieden«, erklärte der Chorführer, und alle eilten gestärkt zu ihrem Kartenspiel zurück.

Marius und Juliette erstiegen Stellamare auf dem Weg, der die Kurven der Landstraße abschneidet und dabei über freies Feld führt. Als sie an der einsamen Pinie vorbeikamen, sagte Marius:

»Da hättest du mich damals sehen sollen – mich Armen!«

Sie erinnerte sich an die Schilderung jenes Morgens, die er ihr auf der Hochzeitsreise gemacht hatte, und antwortete:

»Es war der Tag der Entscheidungen ... Und nun ist alles gut.«

Sie drückte seinen Arm und blickte mit ihrem sanftesten Lächeln zum Himmel.

Dort hing eine schmale Mondsichel und dicht darunter der Abendstern.

Und beides zusammen ergab ein Fragezeichen.


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