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Eine harte Werbung

Die Jahreszeiten wechseln leise in der Nacht. Du siehst sie, du hörst sie nicht kommen. Eines Morgens wachst du auf und hast einen neuen Schatz.

Paul und seine Mutter hatten noch im Dezember gebadet, um Weihnachten war Herbstwetter gewesen, bald danach aber hatte sich ohne vorhergegangene Warnung ein Tag eingestellt, grau und kalt, dem man gleich seine Langlebigkeit ansah. Er hatte etwas so Entschlossenes in seiner Trägheit! Er war mürrisch nach der Art alter Leute, die in ihrer Weltabgeschiedenheit wie in einem behaglichen Vorhof des Todes herumgehn und sich durch keine noch so freudigen Signale der Lebenden herauslocken lassen. Er tat nicht weh, er zeichnete sich durch keinerlei Gewalttaten, wie Frost, Sturm und Sintfluten, aus, es regnete nur verhältnismäßig viel und so gleichgültig, als würde ein Wasserhahn geöffnet und geschlossen.

Es war eine große Zeit für Burguburu. Im Schutze seines Schirmes empfand er den Stolz des weißen Mannes, der sich bei Blitz und Donner unter verängstigten Negern einen Gott wähnt, weil er einen Blitzableiter auf dem Dach hat. Hinter den Fenstern verschanzt, sahen die Ranasser täglich ihren regenfesten Notar durch die Gassen marschieren, die vom Schritt seiner Nagelschuhe klirrten. Manchmal hob er seitlich den Schirm und ließ sich vom Regen anspritzen und winkte einem Gesicht zu, das, durch die Scheibe entstellt, mit wechselnden Grimassen des Entsetzens auf ihn herabglotzte. Und manchmal lachte er, daß die Leere wie von Fußtritten gegen alte Benzinkannen widerhallte.

Ihre Krönung fanden Burguburus Regen- oder Waffengänge mit der Wanderung um das Kapitol, den Rundweg des Parkes Stellamare. Von hier schaute er ins Land hinaus, auf all die Hügel, die sich ängstlich unter dem Regen duckten, und pfiff Kavalleriesignale.

An einem regnerischen Januarmorgen aber fühlte er sich wie trunken von unbezwinglicher Kühnheit, zumal da er seinem Regenliebchen seit einigen Tagen nicht begegnet war. Und so entschloß er sich zu einem Schritt, der sein Leben von Grund aus ändern sollte.

Vor dem Haus der Witwe Bosca angelangt, sah er sich argwöhnisch um, klopfte an der Haustür, schloß den Schirm. In Gedanken an den Major stützte er sich unwillkürlich auf den Schirm wie auf ein Schwert, und das Bewußtsein schicksalvollen Beginnens entriß ihm einen Seufzer. Der Unterschied zwischen den vorausgegangenen Besuchen und dem heutigen war nicht geringer als zwischen dem Austausch diplomatischer Noten und einer Kriegserklärung von Großmächten.

Es war Schwester Louise, die öffnete. Den zur Stille mahnenden Zeigefinger auf den Lippen, führte sie ihn in den Salon, und hier gab sie ihm mit leiser Stimme bekannt, daß die Witwe noch schlafe. Er hatte es erwartet. Aus verschiedenen Anzeichen ging hervor, daß der geliebte Totenvogel in der Mauser war. Nunmehr erfuhr er, Juliette nehme seit kurzem, nämlich seitdem die Schwester neben der Pflege Sibylles auch den Haushalt besorgte, ihr Frühstück im Bett ein und ruhe darauf noch ein Stündchen. Auch besuchte sie wochentags nicht mehr die Messe (was er bereits von seiner Haushälterin wußte). Es sei das erstemal in ihrem Leben, daß die gnädige Frau sich eine Erholung gönne, bemerkte mit ernster Miene Schwester Louise, und sie stellte ihm anheim, entweder im Salon zu warten oder später wiederzukommen.

Er mißtraute der Beständigkeit seines Mutes und zog es vor, zu bleiben. Schwester Louise ließ ihn auf dem Sofa Platz nehmen, wo er sich, nachdem die anmutige Person verschwunden war, ungestört sowohl in die möglichen Vorzüge des Majors vertiefen als auch die eigene Würdigkeit überdenken und beide gegeneinander abwägen konnte.

Das Kreuz der Ehrenlegion besaß auch er, außerdem die ›Palmen‹, mit deren Verleihung der Unterrichtsminister neben seinen Untergebenen schlichte, um die Volkserziehung verdiente Mitbürger auszeichnete. Das rote und das lila Bändchen im Knopfloch erhoben den abgetragenen Rock, der sonst wohl ein Beweis von Geiz hätte sein können, mit einem Ruck zur Uniform der nationalen Tugend, der Sparsamkeit. Obwohl erst fünfzig Jahre alt, war Burguburu kahlköpfig, sein Bart, ziemlich kurz und waagerecht geschnitten nach Art der kriegerischen Sarazenen, leuchtete schlohweiß, die Augen blitzten verwegen. Wenn er bei Maskenfesten als Scheich auftrat, den weißen Turban mit dem Nackentuch auf dem Kopf, den flatternden Burnus um die Schultern, hielt nicht nur er allein sich für unwiderstehlich ... Das einzige, was an diesem Feind der Kirche Frömmigkeit atmete, war ein wendiges Bäuchlein, soweit man es im Ruhestand antraf und auf dem er dann die Hände zu falten pflegte. In dieser Lage wurden die mächtigen, erdroten Tatzen aus Löwen zu Lämmern, es konnte auf der Welt keinen vertrauenerweckenderen Notar geben. Er gehörte der Akademie von Toulon an und genoß den Ruhm, der Verfasser ›vielbemerkter Abhandlungen‹ über wenig oder gar nicht erforschte Ortschaften der Provence zu sein. Allgemein bekannt, weil in die Schulbücher als Beispiel einer Galégeade oder provenzalischen Schnurre aufgenommen, wurde seine Erzählung von der Verteidigung des Ranas-sur-mer benachbarten Städtchens Ollioules während der Religionskriege.

Ollioules, im Hinterland gelegen, eine Wegstunde von Toulon, war katholisch und galt als Schlüssel der Hafenstadt. Wer von Nordwesten kam und nach Toulon wollte, mußte über Ollioules, und nach Ollioules gab es keinen andern Weg als durch eine enge, sehr tiefe, bewaldete Schlucht, die Gorges d'Ollioules. Diese Schlucht besteht aus einer Folge von Einzelschluchten, die zwischen ihren Steilhängen völlig in sich abgeschlossen scheinen. Ihre Eingänge und Ausgänge bleiben dem Blick so lange verborgen, bis man in die quergestellte Kulisse einbiegt, die das eine Stück mit dem andern verbindet.

Als zur Zeit der Religionskriege Flüchtlinge in der Stadt eintrafen und von einem hugenottischen Soldatenhaufen erzählten, der plündernd südwärts ziehe, beschlossen die Olliouler, dem Unheil zuvorzukommen. Um sicher zu gehn, boten sie auch die Bauern der Umgebung auf. Drei Tage und eine halbe Nacht (dies letzte für den Fall, daß der Feind im Schutz der Dunkelheit heranschleiche) übten sich Männer und Frauen in der Verteidigung des Engpasses. Felsblöcke wurden vom Erdboden gelöst und bis dicht an den Abgrund geschoben, es bedurfte nur eines Handgriffes, um den eingeklemmten Pflock herauszuziehen und den Felsen die Schneise herabsausen zu lassen. Die schießkundigen Männer suchten sich Plätze aus, von wo sie die Abschnitte der zur Falle gewordenen Schlucht bestreichen konnten, und überlegten sorgfältig die Umstände des bevorstehenden Überfalles. Wie sich's im Kriege gehört, wurden Klugheit und Manövrierkunst des Feindes denkbar hoch angeschlagen und für jeden möglichen Zug der Hugenotten der Gegenzug erwogen und an Ort und Stelle festgelegt.

Ollioules verfügte zwar über eine ganze Anzahl Schützen, aber insgesamt nur über ein Dutzend Musketen. Dieser Mangel fand seinen Ausgleich durch die Einrichtung eines Schnelläuferdienstes, der es ermöglichte, die Musketen, ohne daß die Schützen außer Atem gerieten, jeweils an den Ort zu befördern, wo man ihrer im Gewoge der Schlacht bedurfte – einer Schlacht, in der die Olliouler sich von vornherein derart überlegen fühlten, daß sie ihr sogleich für die Geschichte den Namen der ›Kaninchenschlacht‹ gaben. Ein schwarzer Tag nahte für die hugenottische Sache!

Tatsächlich brauchten die Musketiere nur in den Abgrund hinabzudonnern, ohne das Fehlgehen eines einzigen Schusses befürchten zu müssen. Die Kinder allein hätten genügt, die Steinblöcke zu entfesseln und die Feinde damit niederzuschlagen. Und angenommen, der Teufel selbst hätte die Hugenotten in höllisches Eisen oder dergleichen Zauber gekleidet, so war da noch immer der zu dieser Jahreszeit ausgedörrte Pinienwald, der die Hänge der Schlucht bedeckte. Ein Funken aus dem Feuerstein in das Unterholz, und die tapferen Olliouler konnten nach Hause gehn, ohne sich weiter um die eingeräucherten Kaninchen zu kümmern. Niemals, solange die Welt stand, war ein Sieg so sicher gewesen. Ein schwarzer Tag für die hugenottische Sache!

Nachdem sie Posten aufgestellt hatten, begaben sich die Olliouler an die gewohnte Arbeit, und wenn sie sich auch scheuten, das nach dem Sieg fällige Tedeum jetzt schon anzustimmen, so lebten sie doch so stark im Vorgenuß des Ereignisses, daß sie es, halb unbewußt, vor sich hinsummten.

Mit den Bauern der Umgegend war als Zeichen der Gefahr ein Feuer von Rebholz verabredet, das auf dem Kirchturm abgebrannt werden sollte. Vom Läuten der Sturmglocke hatte man abgesehen, um nicht die Aufmerksamkeit des Feindes zu erregen. Alles war bedacht, keine Vorsichtsmaßregel übergangen. Ein schwarzer Tag für die hugenottische Sache!

An einem heitern Morgen, von Toulon her zogen Sommerwölkchen über den Himmel, kamen die Späher angerannt und meldeten das Nahen des Feindes. Sofort machten sich die Olliouler unter Zurufen und Späßen von Haus zu Haus für die Abschlachtung der bibelfesten Kaninchen bereit, und das Feuer auf dem Kirchturm wurde angezündet. Da ereignete sich etwas, was niemand hatte voraussehn können. Von den Sommerwölkchen herab begann es zu regnen. Nicht stark, nein, nur ganz leise, aber Regen, gleichviel von welcher Stärke, macht naß. Die Olliouler, Mann, Frau und Kind, standen unter der Haustür und schworen einander zu, der Regen werde bald aufhören, und dann solle die Kaninchenschlacht unverzüglich beginnen. Keinem einzigen kam der Gedanke, es könnte vielleicht Soldaten geben, Ungeheuer aus regnerischen Gebieten, die auch im Wasser marschierten. Vielmehr nahmen sie als selbstverständlich an, daß die Wartezeit für beide Parteien gleich sei, ja, auf die Bemerkung eines ganz Klugen hin begannen sie in heftigen Besprechungen kreuz und quer über die Gasse den Vorsprung zu schätzen, den die nordwärts ziehenden Wolken den Ollioulern gewährten – weil der Regen logischerweise bei ihnen früher aufhören mußte, als er bei den Hugenotten einsetzte, und sie demnach marschieren konnten, wenn die andern sich noch vor dem Regen versteckten. Niemand fiel ein, daß die Hugenotten ihrerseits ja im Trockenen marschierten, während die Olliouler noch unter der Haustür standen und also die Entfernung die gleiche blieb!

»Bald hört es auf!« riefen die Anführer und streckten einen prüfenden Finger aus. Beim ersten Tropfen, der den Finger traf, zogen sie ihn erschrocken zurück und schrien:

»Seid ihr bereit, ihr Männer?«

»Wir sind bereit!« kreischten die Frauen und Kinder hinter dem Rücken der Männer, und an einigen Türen drückten sie dabei so stark nach vorn, daß die Männer mit rückwärtsgeführten Ellenbogenstößen arbeiten mußten, um nicht von der eigenen Familie in den Regen hinausgeschleudert zu werden.

»Wir haben die Männer gefragt!« rief erbost einer der Anführer, den die Familienbrut gleichfalls im Rücken bedrohte.

»Wir sind bereit«, antworteten jetzt auch die Männer, und wie auf Befehl drehten sie sich um und prügelten Frauen und Kinder in den Hausgang zurück.

Während diese Plänkeleien das Städtchen bei kriegerischer Laune erhielten, marschierten die Hugenotten singend durch die unbewachte Schlucht. Sie sangen über die Maßen laut und vergnügt, weil es von den Steilwänden widerhallte und der Regen sie erfrischte. Wild behaart und bibelfest, wie sie waren, sangen sie abwechselnd Psalmen und Dirnenlieder, beides mit echtem Gefühl.

In der Stadt hatte inzwischen das Signalfeuer, vom leichten Regen mehr ermuntert als belästigt, das Gebälk des Glockenstuhles ergriffen. Aber dies bemerkten nur die nächsten Anwohner der Kirche, und sie einigten sich mit wenig Worten, daß es unnütz wäre, zu den Löscheimern zu greifen und Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, da dieses Wasser das gleiche sei, das ohnehin vom Himmel herabfalle. Entweder, meinten sie, werde der Regen den Brand löschen, oder es sei logischerweise dem Feuer überhaupt nicht mit Wasser beizukommen. Und als der Befehl an die Musketenbesitzer, das Pulver vor dem Regen zu schützen, von Tür zu Tür weitergegeben wurde, traten auch diejenigen in die Tiefe des Flurs zurück, die keine Flinte besaßen. So verstrich eine beträchtliche Zeit.

Bisweilen erscholl der gedämpfte Ruf:

»Seid ihr bereit, ihr Männer?«

Ebenso hohl klang die Antwort aus Flur und Stube:

»Wir sind bereit!«

Denn die Männer hatten sich ausnahmslos in das Innere der Häuser verkrochen, teils um zu helfen, das Pulver im Umkreis trocken zu halten, teils um nicht von den aufgeregten Frauen, die mit Bratspießen und Feuerzangen fuchtelten, ins Wasser getrieben zu werden. Endlich fand der Regen ein Ende. Hinter den abziehenden Sommerwölkchen kamen gemächlich die Bauern daher. Sie glaubten so wenig wie die Städter an die Möglichkeit, bei Regen Krieg zu führen. Und der ganze Haufen setzte sich, leise das Tedeum summend, gegen die Schlucht in Bewegung. Der Pfarrer marschierte in der ersten Reihe und hielt eine Zimmermannsaxt geschultert. Ein schwarzer Tag für die hugenottische Sache!

Zur gleichen Zeit verließen die letzten Hugenotten die Schlucht, und als sie die Stadt zu Gesicht bekamen, wunderten sie sich, daß die Kirche brannte. Gewöhnlich brannten die Kirchen erst, wenn sie die Ortschaften verließen.

Schon wollten sie haltmachen und auskundschaften, ob es Freunde oder Feinde der Bibel seien, die ihnen bei der Brandschatzung zuvorgekommen, als der kümmerlich bewaffnete Haufen Spießbürger und Bauern vor ihnen auftauchte. Sie brachen in ein furchtbares Gelächter aus, und die Olliouler rannten, als sei die Hölle gegen sie losgelassen. Kein Zweifel, riefen sie einander zu, die Teufel waren im Regen marschiert. Man sah es von weitem, sie waren noch ganz naß... Diese Schmutziane wälzten sich im Regen wie die Ferkel im Dreck ... Danach mußte man auf das Schlimmste gefaßt sein! Der Pfarrer warf die Axt weg und sang im Laufen das Miserere. Und die zu Jägern gewordenen Kaninchen setzten lachend hinter ihnen her. Vive le Christ! schrien gewohnheitsmäßig die Hugenotten, als sie in die Häuser eindrangen.

Ein heiterer Tag begann für die hugenottische Sache! Ein unheimlich heiterer Tag, ein Tag, der vor Heiterkeit platzte. Die Sonne über Ollioules lachte schamlos wie ein Barbar!... Wie der Geschichtsschreiber weiter berichtet, büßte niemand das Leben ein, im Gegenteil. Neun Monate später brachten die schönsten Frauen des Städtchens kräftige Hugenottenkinder zur Welt.

Soweit die Galégeade Burguburus. Obgleich der letzte Satz in den Schulbüchern fehlte, konnte Ollioules ihm die Schnurre nie verzeihen. Burguburu litt darunter und unternahm zahlreiche Versöhnungsversuche, die aber alle scheiterten, nicht zuletzt daran, daß die Olliouler, um ihn Lügen zu strafen, sich zur Zeit des Fremdenverkehrs gezwungen sahen, furchtlos im Regen spazierenzugehn.

 

Nun saß er bereits eine halbe Stunde auf dem Sofa der Witwe und maß sich in Gedanken mit dem Major. Der bewaffnete Krieger herrschte ihn von der Wand herab an, als durchschaute er die Absichten des Eindringlings und stellte ihn zur Rede – an der Schwelle des Schlafzimmers, erkühnte sich der Notar zu denken: dessen Schlüsselbewahrer und Gebieter dieser Mann einst gewesen und immer noch war und, wie es schien, in Ewigkeit zu bleiben wünschte.

Burguburus Gedanken wechselten die Farbe wie die Sommerbeine der Tänzerinnen auf dem Leuchtboden der Tanzdiele in Cantal. Bald sah er sich als den unerschrockenen Kerl, wie er den Ollioulern einst bei ihrer Unternehmung gefehlt hatte, bald machte er, zwischen Sieg und Niederlage pendelnd, alle Wandlungen eines herzlich besorgten Jünglings durch. Er blickte in den Regen, dessen Rauschen nach und nach beruhigend auf ihn wirkte wie eine leichte Dosis Brom, und hielt die Hände auf dem Spitzbauch gefaltet.

Plötzlich stand sie da, die Witwe, in Schwarz gekleidet, einen schmalen, weißen Einsatz an der Haube, jedoch ohne Schleier. Burguburu sah ausdrücklich hin. Heute fehlte der ›Krönungsmantel der Trauer‹, von dem der Pfarrer gesprochen, als er seine Gemeinde, hauptsächlich aber eine bestimmte Person, vor dem ›Götzendienst des Todes‹ gewarnt hatte (zwei Worte, die, von der Haushälterin überbracht, Burguburu bewogen, den Pfarrer tagelang als einen erhabenen Mann und Bekämpfer des Aberglaubens zu preisen, der ein besseres Los verdiente, als in Ranas den aufgeklärten Medizinmann zu spielen), der Krönungsmantel fehlte wirklich, und sieh da, die Erscheinung Juliettes war zum Staunen des Notars um ein Stück Majestät betrogen.

Dafür wirkte sie schlanker, frischer, unbekümmerter in ihren Bewegungen. Burguburu mußte an die Ringkämpfer denken, die beim Betreten des Gerüstes den Mantel ablegen. Hastig griff er nach einem Stuhl, um ihr das Sofa zu überlassen. Sie zwang ihn aber, neben ihr auf dem giftiggrünen Samt Platz zu nehmen. Er war ihr noch nie so nahe gekommen. Sie duftete köstlich nach Hyazinthen, nicht nach einer einzelnen, wie sonst, nein, nach einem ganzen Beet. Es war fast zuviel für einen Mann allein. Beunruhigt musterte er sie von der Seite.

Die Leichenwange, frisch geschminkt, bildete eine kreisrunde Scheibe, karminrot mit einem faserigen Rand, der kunstvoll den Übergang zum Weiß des Gesichts vermitteln sollte, statt dessen aber den Eindruck erweckte, als sei es einer Schar Fliegen gelungen, von dem roten Leimpflaster in die Freiheit zu gelangen. Ferner bemerkte der Notar, daß sie die Augenbrauen zu einem schmalen Strich ausrasiert hatte. Geschmeichelt nahm er die Neuerung zur Kenntnis.

Nach einer Weile spürte er, wie seine Verlegenheit durch ihre körperliche Nähe Zuspruch erfuhr, er verschloß sich ihr nicht. Von ihren rundlichen Formen, diesen Erweckerinnen aller möglichen Zweifel, von ihrer einschmeichelnden, süßlich frommen Sprache ging eine Ermunterung aus, etwas wie ein Ruf des Lebens aus einem offenen Grab. Er warf einen raschen Blick auf den Major, und siehe da, auf einmal verstand er ihn und seinen wachsamen Grimm. Der Bursche übertrieb nicht, wenn er die Augen rollte und sich in unmißverständlicher Weise auf seinen Säbel stützte ...

Burguburu hob den Finger und behauptete mit bebender Stimme:

»Man sieht, er war ein Mann!«

»Er war ein Held«, versetzte leise die Witwe.

»Natürlich, auch das«, stimmte er bei ...

»Kommen wir zu unseren Geschäften!« sagte sie nach einer Anstandspause.

Sie dankte ihm, daß er sich in den Auseinandersetzungen mit der ›roten Linie‹ einer alleinstehenden Frau angenommen und die für eine Dame und Offizierswitwe doppelt peinliche Angelegenheit zu einem halbwegs befriedigenden Ende geführt habe, und erklärte, seine Güte auch weiter in Anspruch nehmen zu wollen. Und dann bat sie ihn für die Verwertung der Entschädigungssumme um seinen Rat. Die Vorsehung, sagte sie, habe ihr in ihm einen heiligen Georg und Drachentöter geschickt, der, um das Wunder voll zu machen, zugleich auch Notar sei und sich demnach in der Anlage von Vermögenswerten beruflich auskenne. Zuvor aber müsse er ihr ehrenwörtlich versichern, daß eine höhere Summe unter keinen Umständen, auch nicht durch einen Prozeß, aus der Gesellschaft herauszuholen sei.

»Unter keinen Umständen, gnädige Frau«, versicherte er und entfaltete feierlich die Hände über dem Bauch. »Niemals, seit Menschengedenken, ist für einen derartigen Unfall eine solche Summe bezahlt worden. Der gütliche Vergleich stützt sich übrigens, woran ich Sie aus Gewissensgründen erinnern muß, auf die Annahme, daß Ihre bedauernswerte Tochter einen lebenslänglichen Schaden behält.«

»Gott, sie wird ein bißchen hinken«, sagte die Witwe, und ein nachsichtiges Lächeln huschte über ihre Züge.

»Stützt sich auf die Annahme«, fuhr er unbeirrt fort, »daß Fräulein Sibylle keine Aussicht hat, sich zu verheiraten, jedenfalls nicht, wie es ohne den Unfall im Hinblick auf ihre Herkunft, ihren Stand, ihre körperlichen sowie seelischen Vorzüge mit Gottes Hilfe zu erwarten gewesen wäre. Andererseits sind dreihunderttausend Francs in diesen Krisenzeiten keine verachtenswerte Mitgift.«

Die Witwe hob sanfte, runde, etwas absichtlich staunende Augen.

»Sagten Sie nicht ›mit Gottes Hilfe‹, Herr Notar?«

»Ich sagte es, gnädige Frau«, bestätigte er kräftig.

Sie schlug die Augen nieder und schien einer inneren Stimme zu lauschen. Dann sagte sie sehr mild:

»Sie gelten als ein Gottesleugner, Herr Notar.«

»Ich weiß, sogar für einen Freimaurer.«

Sie hob den Kopf und fragte, ohne ihn anzusehn: »Sind Sie das?«

Es klang einschmeichelnd, beschwörend, es war klar, daß sie sich bereit zeigte, der inneren Stimme keinen Glauben zu schenken.

»Ich habe die Frage erwartet und danke Ihnen für Ihr Vertrauen«, erwiderte er. »Gnädige Frau«, er reckte sich, »sieht so ein Gottesleugner aus?« Zögernd gehorchte sie und senkte den Blick in seine Augen. Es waren gutartige Augen, braun und sanft wie die eines Rehes, fand Juliette, die niemals ein lebendes Reh gesehn hatte. Sie verweilte länger in ihnen, als ihre Absicht war, da begann es in den Augen zu brauen und zu blitzen, sie wandte sich schnell ab und errötete flammend vom Hals bis in die Haare ... Die karminroten Kreise schwammen wie Inseln in einem leicht bewegten rosa Meer.

»Gottverdammichnicht!« murmelte Burguburu, er bekam einen steifen Hals, und die fromm gefalteten Hände verzogen sich sündhaft.

»Ich bin kein Gottesleugner«, sagte er, »ich war es nie ... auch ein Kirchenfeind war ich nicht, ich verlange nur, daß die Kirche in ihren Grenzen bleibt ...«

Er stockte.

Gleich kam sie ihm flüsternd zu Hilfe:

»Sprechen Sie weiter, Herr Notar.«

Er dankte mit einer Verbeugung und rief:

»Jawohl, ich will sprechen, mich aussprechen vor Ihnen bis auf den Grund meiner Seele! Habe ich nicht bei den letzten Wahlen denselben Kandidaten unterstützt wie unser guter Pfarrer?«

Sie kehrte inbrünstig lauschend zu der inneren Stimme zurück, und es dauerte lange, bis sie antwortete:

»Man erzählt sich von Ihrem Kandidaten, er habe Ihnen das Geld seiner unmündigen Kinder zu verwalten gegeben ... Seine verstorbene Frau soll reich gewesen sein.«

»Nein, gnädige Frau! Ich habe aus meiner Tasche zu den Wahlkosten beigetragen.«

Sie lächelte. Es war ein deutlich wahrnehmbares, ein irdisches Lächeln, das man greifen konnte. Er betrachtete es mißtrauisch.

»Hierzulande erwartet man von den Männern nicht, daß sie die Kirche besuchen«, sagte sie.

»Nein, die Kirche besuche ich nicht«, versetzte er gekränkt.

»Schade«, hauchte sie.

»Ich würde mich lächerlich machen, wenn ich die Kirche besuchte«, erklärte er. Es klang wie ein Vorwurf. »Ich würde die Hälfte meiner Kundschaft verlieren.« Und dies war bereits eine Drohung.

Als sie nicht antwortete, brauste er auf: »Ich bin nämlich nicht nur ein heiliger Georg und Drachentöter, ich bin auch Notar.«

Sie wartete eine ganze Minute, dann sagte sie ruhig:

»Sie müssen es mit Ihrem Gewissen abmachen. Niemand verlangt von Ihnen, daß Sie sich ruinieren.«

»Am allerwenigsten Sie«, entfuhr es ihm.

Er hatte es nicht überlegt, er riß verblüfft die Augen auf, als er seine Worte hörte, aber er war es satt, in seinem Alter und seinen Vermögensverhältnissen, mit Ruhm bedeckt und mit zwei Orden im Knopfloch, wie ein Jüngling gleichsam vor dem Haus der Geliebten herumzulungern und die unmißverständlichsten Zeichen zu machen, auf die nichts erfolgen wollte.

»Ich?« sagte sie, »wieso am allerwenigsten ich? Was kümmern mich Ihre Einkünfte?«

Sie blickte ihn voll an, und Burguburu fiel in sich zusammen. Ihre Augen, schwarz und groß, sahen durch ihn hindurch in jene Ferne, von der er schon immer vermutet hatte, es müsse dort das Paradies liegen oder sonst ein Ort unsäglicher Wonnen. Ihr Gesicht strahlte gleich einer leibgewordenen Seele, und diesem zarten Ding verliehen die ausrasierten Brauen einen Ausdruck heilloser Festigkeit ...

Da war sie wieder, die er bereits überwunden, unter seinen Bemühungen in Luft aufgelöst und vergessen wähnte, und diesmal erreichbar, im Bereich seiner Hände – und unangreifbarer als zuvor! Da war sie wieder, die rätselhafte Erscheinung ohne Alter, ohne Geschlecht, die Abgesandte und Botschafterin der Seligen! Die roten Kreise in ihrem Gesicht glichen den Sektenzeichen, womit die Inder sich bemalten, sie gehörten zu ihrem Ornat, wie das schwarze Kleid, wie die auf der Stirn mit Weiß eingefaßte Haube, wie die rosa bemalten Nägel ihrer Patschhändchen – sie war eine Fremde, eine Wilde, ein weiblicher Häuptling aus dem Urwald ...

Als er nicht antwortete, wandte sie sich langsam von ihm ab und zum Major hin, der nun, Burguburu bemerkte es mit Schrecken, nicht länger als sein Verbündeter dastand. »Halten Sie meine Frau für eine – für käuflich?« schien er zu fragen ... Wahrscheinlich fletschte er die Zähne unter dem herabhängenden Schnurrbart, und jedenfalls ließ er den Nebenbuhler seine Strenge fühlen. In voller Uniform beteiligte er sich an dem peinlichen Auftritt.

»Sind Sie sich bewußt, was Ihre grobe Bemerkung für einen Sinn hatte?« fragte sie in einem Tonfall, der teils schmeichelte, teils drohte, und Burguburu nahm an, daß die Drohung ihm galt, die Schmeichelei aber dem Major.

Er sprang auf, zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das Bild und schrie die Witwe an:

»Gottverdammichnicht! Was stellen Sie sich denn so an! Schließlich hat er uns doch nicht bei einem Ehebruch erwischt!«

Die Witwe Bosca sank hintenüber.

»Schwester!« kreischte sie. »Schwester! Zu Hilfe!«

Schwester Louise kam angestürzt, wurde aber bereits an der Tür vom Notar aufgehalten, der ihren Arm packte und mit ruhiger, fester Stimme sagte:

»Machen Sie, daß Sie rauskommen, Schwester! Ich habe hier eine geschäftliche Auseinandersetzung mit der Witwe. Verstanden?«

Damit schob er sie durch die Tür und schloß hinter ihr ab.

Mit drei Schritten war er am Sofa, setzte sich und fragte:

»Gnädige Frau, darf ich Sie bitten, mich anzuhören? Ich gedenke, Sie einzuweihen, ich meine, ich will Ihnen meine Verhältnisse auseinandersetzen, ganz gleich, zu welchem Schluß Sie danach gelangen. Ich bitte, das Vertrauen zu würdigen, das ich Ihnen erweise.«

Juliette lag rücklings in der Ecke des Möbels, die Hände auf dem Gesicht, die Beine von sich gestreckt, und erging sich in einem Glucksen, das nach Beendigung von Burguburus kurzer Rede zu einem Geheul anschwoll.

Er legte die Hände auf den Bauch, faßte sich in Geduld.

Draußen fiel der Regen in Strömen. Burguburu sah zu, wie er senkrecht herabsank und, plötzlich zutraulich geworden, über die Veranda bis an das Fenster fegte. Es beruhigte ihn. Durch freundliche Gedanken förderte er die Wirkung des Geräusches. Unvermittelt, wie es begonnen, hörte das Geheul Juliettes wieder auf.

Als es nur noch ein herzhaftes Wimmern war, räusperte er sich und ergriff das Wort.

Er sprach laut und ausgesucht deutlich, wie wenn er vor der versammelten Akademie von Toulon den von den Statuten geforderten jährlichen Bericht erstattete.

»Gnädige Frau«, begann er, »ich habe die Ehre, Ihnen die Umstände meines Lebens darzulegen, und zwar sowohl hinsichtlich meiner Herkunft und Familie, meiner Gesundheit und Gemütsart, ererbten sowie erworbenen Gutes und der Eigentümlichkeiten meines Berufes als auch hinsichtlich meiner Versuche und Verdienste auf einem Gebiet, wo ich selbst einem König Midas nichts in Gold verwandelt hätte – denn dort wächst einzig und allein der Lorbeer.«

Hier machte er eine Pause, und obwohl die Witwe nichts sehn konnte, weil sie über ihren geschlossen Augen auch noch die Fensterläden ihrer Hände zuhielt, deutete er nachdrücklich auf die Ordensbänder im Knopfloch. »Wo nur der Lorbeer wächst«, wiederholte er und fuhr fort:

»Wer ihn pflückt, wird bis zu einem gewissen Grade unsterblich ...

Der Name meiner Familie ist Burguburu, mein Vorname Marius.«

Es war nicht seine Absicht, schon wieder eine Pause eintreten zu lassen, vielmehr wünschte er in der Leichenrede auf sein Junggesellentum so schnell wie möglich zum Ende zu kommen. Er stockte nur ein wenig, weil der Anblick Juliettes ihn bestrickte – wie sie dasaß, mehr lag als saß, den Rumpf hintenüber gebeugt, die Beine von sich gestreckt. Wahrscheinlich, überlegte er, war dies als plastische Darstellung des Witwenjammers, als Sinnbild weiblicher Verzweiflung und Hilflosigkeit gemeint. In diesem Fall hatte die Darstellerin nur nicht bedacht, daß sie dazu unbedingt den Gesichtsausdruck heranziehen mußte, daß erst der Gesichtsausdruck und er allein die gewünschte Wirkung gewährleistete. Ohne die Erklärung, ohne die Beleuchtung durch Miene und Augen des Opfers machte der hingegossene, mächtige Körper einen ganz andern Eindruck als den der Hilflosigkeit und Verzweiflung, und die Hände, mit denen Juliette ihr Gesicht bedeckte, erlaubten dem Beschauer, sich dieses so verschiedenartigen Eindrucks ungestört zu versichern. Um so lieber wäre er in einem Lauf ans Ziel gelangt, alles, was in ihm und außer ihm vorging, drängte mächtig dahin.

Aber Juliette benutzte die kurze Stockung, um hinter den Händen hervorzurufen:

»Mein Gott, Marius! Wie jeder Briefträger!«

Burguburu lachte in sich hinein, ein lautloses Lachen, das nur den Bauch in Bewegung setzte.

»Marius?« rief er, »Marius? Gnädige Frau, auf die Knie vor Marius, jeden, der seinen Namen trägt, sollten Sie tief grüßen, und wäre es Ihr Briefträger!«

Erhobenen Hauptes zählte er ihr, die sich noch immer in ihrem sinnbildlichen Grab zurückhielt, die Gründe auf, warum jeder Provenzale, um nicht zu sagen, jeder Franzose, vom Präsidenten der Republik bis herab zu dem viel nützlicheren Briefträger, durch die Jahrtausende dem römischen Konsul Marius auf den Knien danksagen, immerzu danksagen müßten. Marius! Obwohl Marius nur drei Jahre in Marseille regierte, war unter ihm ein Reich des Lichtes entstanden, dessen Wohltaten bis auf den heutigen Tag fortwirkten. Marius vernichtete die Barbaren, die das Leben der Marseiller nur schonten, um sie gründlicher auszusaugen als die Ameisen die Blattläuse, und ebenso rottete Marius das böse Fieber aus, indem er die Sümpfe entwässerte und sie obendrein in wogende Kornfelder verwandelte und in Wiesen, auf denen nunmehr friedliche Kühe weideten statt Auerochsen und Wildschweine. Marius baute Straßen. Marius baute Wasserleitungen. Marius baute Tempel für die Götter und Bäder für die Menschen, Marius lehrte die wilden Vorfahren ein Leben, weiträumig und des Menschen würdig, und wenn Marseille nach rund zweitausend Jahren noch immer als eine reiche, als eine freie, sich selbst regierende Stadt in unvermindertem Glanze weiterlebte, so lag das an dem ungeheuren Vorsprung, den es dank Marius vor dem übrigen Festland gewonnen hatte und den es durch die Jahrhunderte zu bewahren wußte: Marseille, Mas Alios, das Haus am Meer!

»Überhaupt wundere ich mich«, versicherte Burguburu, »daß zwischen Rhone und Var Menschen leben, die nicht Marius heißen. Es ist die krasseste Undankbarkeit!«

Damit waren der römische Konsul Marius und seine Folgen in der Hauptsache erledigt, und Burguburu gedachte unter Anknüpfung an seinen Taufnamen auf sein eigenes, gleichfalls denkwürdiges Leben zu kommen.

Aber der Witwe wurde ihre Haltung auf die Dauer unbequem, die Rippen schmerzten, sie sehnten sich nach Veränderung. Auch wußte sie nicht genau, ob der Notar mit dem römischen Konsul fertig sei, und so entschloß sie sich, seine Aufmerksamkeit von der alten auf die neue Geschichte zu lenken, um dann im schicklichen Augenblick ans Licht zu tauchen.

Sie sagte eindringlich leise:

»Sie haben mich schrecklich beleidigt, Herr Notar ... Ihre Bemerkung gab zu verstehn, daß ich es auf Ihr Geld abgesehn habe ... Meine Lage hat sich aber verändert. Sie vergessen –«

»Was vergesse ich?« sagte er und neigte sich teilnahmsvoll zu ihr.

Seine Frage klang bekümmert, mit einem Nebenton zärtlichen Vorwurfs. In Wirklichkeit fühlte er sich vergnügt und obenauf, ja grausam belustigt. Denn hier war der Punkt, wo er sie bis auf den Grund durchschaut hatte, sie konnte ihm nichts vormachen, hier war er ihrer so sicher wie der Formeln eines Kaufvertrages.

Juliette seufzte.

»Die letzten Worte meines Mannes waren: ›Sagen Sie meiner angebetenen Frau, Gott wird sie nicht im Stiche lassen.‹«

»Na, und?« fragte Burguburu.

»Er hat Wort gehalten ... Wir kriegen was ...«

»Sie sprechen von der Entschädigung?«

Sie nickte mit dem ganzen, noch immer gesichtslosen Oberkörper. Dabei rutschten die ausgestreckten Beine ein wenig vor, und als er den Kopf zur Seite neigte, sah er ihre Beine bis an die Knie, kräftige, ebenmäßige Beine mit runden Knien. Die Knie lachten ihn an.

»Gnädige Frau, Sie vergessen, daß die erwähnte Summe Ihrer Tochter Sibylle gehört – vorausgesetzt, daß die Gesellschaft festbleibt.« Und sehr bestimmt fügte er hinzu: »Es ist noch nichts unterschrieben.«

»Ebendeshalb«, hauchte sie.

Im nächsten Augenblick fuhr sie in die Höhe, ihre Hände fielen vom Gesicht auf die Brust und krallten sich dort fest. Mit einem Satz hockte sie hinten in der Ecke und beugte sich abwehrend vor. Er hatte ›Gottverdammichnicht!‹ gerufen und die Hände nach ihr ausgestreckt.

Jetzt ließ er die großen, erdroten Tatzen sinken, Juliettes Blick folgte ihnen wie behext, er sagte kleinlaut:

»Wie gut! Da sind Sie wieder ... Eine Frau ohne Kopf ist furchtbar ... Man vergißt, daß man es mit einer Dame zu tun hat.«

Und dann warf er sich über sie.

Mit der einen Hand stieß sie ihn vor die Brust, mit der andern ergriff sie sein Sarazenenbärtchen und riß daran.

»Gnädige Frau«, stöhnte er, »gnädige Frau!«

Er umschlang sie kräftiger und drückte sie an sich.

Eine ungeheure Wärme stieg aus ihr auf, zugleich mit einer Flut betäubenden Hyazinthenduftes, und in ihm war etwas, was sich öffnete und die Wärme siedendheiß einströmen ließ, in alle Adern zugleich. Sein Schädel glühte, die Unterlippe krümmte sich.

»Gnädige Frau, ich bitte um Ihre Hand!«

Sie inzwischen wickelte das Sarazenenbärtchen zwischen zwei Finger und den Daumen und zog an. »Alles!« rief er schmerzverzerrt, während seine Hände über ihren Rücken tasteten. »Alles für Sie!«

Strahlend hob sich ihr Gesicht ihm entgegen, in ihren Augen tauchte, noch weit entfernt, ein Schimmer heller Seligkeit auf, sie zog die Daumenschrauben fester und sagte mit leiser Stimme:

»Ich verliere vielleicht meine Witwenrente, wenn ich Sie heirate ...«

Wie der Karpfen auf dem molligen Grund des Teiches schaukelte er von einer Seite auf die andre und wäre gern dabei ungestört geblieben. Aber sie vollzog eine weitere Drehung mit der Schraube und fragte:

»Haben Sie gehört?«

Da kam er hoch und versprach, ihr die gleiche Summe im Ehevertrag als Nadelgeld auszusetzen.

»Schwören Sie!« verlangte sie.

Die Hand in seinem Bart riß wie an einem Pfropfenzieher.

Er behauptete, niemals zu schwören, und gab statt dessen sein Ehrenwort.

»Na, warte!« flüsterte sie glückselig.

Sie rückte sich unter ihm ein wenig zurecht, und während sie ihn an einer Halsfalte festhielt, holte sie sein Gesicht am Sarazenenbärtchen näher an das ihre heran.

»Schwören!« flüsterte sie kurzatmig. »Schwören!«

Er rief: »Ich schwöre!« und schnappte nach ihrem Mund.

Es gelang ihm nicht, sie zu küssen, aber sie ließ Hals und Bart fahren, ihre Arme umschlagen ihn, feste, runde Arme, sie glühten durch den Stoff des Kleides – wie eine einzige Masse sanken sie in die Sofaecke.

Und da murmelte sie ein Wort, ein Wort, wie es in solcher Lage und als Kosenamen nur einer gemeinen, völlig aufgewühlten Natur entschlüpfen konnte, ein Wort, das aus tierischer Bewußtlosigkeit hervorquoll.

»So, jetzt kenne ich dich!« frohlockte er. »Das war das letzte.«

Schonungslos riß er ihr den Kopf herum und küßte sie, als wollte er den stammelnden Mund zerfleischen.

Sie verstand nicht, was er meinte, und wiederholte das Wort, sooft sie zu Atem kam.

»Mein dickes Sch...! O du mein dickes Sch...!«

Plötzlich entriß sie ihm ihren Mund und schob ihn rasch an sein Ohr.

»Wirst du die Entschädigung auf meinen Namen schreiben?«

Sie gurrte ein leises Lachen.

»Die Kleine kriegt ja doch nie einen Mann! ... Sag, wirst du?«

Er ächzte:

»Wenn es geht, meine Liebe. Das Gesetz –«

»Sprich nicht vom Gesetz, dafür bist du da. Sag, wirst du? Wirst du?«

»Ja.«

»Schwöre!«

»Ich schwöre.«

»Sprich mir nach.«

Als er zögerte, verschob sie ihre Beine und drückte ihn von neuem an sich.

»Wirst du?«

»Ja«, stöhnte er. »Ja! Ich spreche nach.«

Dazu kam es aber vorläufig nicht, weil ein kleines, folgenschweres Ereignis eintrat.

»Hallo!« kreischte plötzlich die Witwe. »Wer ist da?«

Es hatte an die Tür geklopft.

Mit einem Stoß rollte sie den Notar, der den Sieg schon zu halten glaubte, über sich hinweg auf den Boden.

Hinter der Tür nannte Schwester Louise ihren Namen.

»Herein!« rief die Witwe. Burguburu mit seinem wendigen Bäuchlein war bereits auf den Beinen, er schloß auf.

»Der Mann mit der Elektrizitätsrechnung«, meldete die Schwester.

Jetzt bewährte sich Burguburu wieder als der Mann, der den Ollioulern einst bei ihrer Unternehmung gefehlt hatte. Schwer atmend, doch mit verbindlichem Lächeln nahm er die Rechnung in Empfang und zog seine Brieftasche.

»Hier, liebe Schwester!«

Dann ergriff er väterlich ihre Hand und sagte mit einem Blick auf die Witwe, die hoch aufgerichtet in der Sofaecke saß, Auge in Auge mit dem Major, und nicht zu sehn schien, was um sie her vorging:

»Ich bitte Sie, liebe Schwester, Frau Juliette Bosca und Herrn Notar Burguburu als Verlobte zu betrachten und die Herrschaften zu beglückwünschen ... Sie sind die erste Seele, die es erfährt ... Wollen Sie unser Glück, bitte, eine kurze Weile geheimhalten. Sie verstehn, es gibt da, wie immer, erst noch einiges zu regeln.«

Nachdem die flatterhafte Person, allem Anschein nach nicht ohne Ironie, sich ihres Glückwunsches entledigt und das Zimmer verlassen hatte, deutete Juliette auf das Bild an der Wand und rief mit erstickter Stimme:

»So hat er mich nie kompromittiert! Es ist furchtbar.«

»Sie sitzen in der Falle, gnädige Frau«, versetzte höflich Burguburu.

»Daran kann er nun auch nichts mehr ändern.«

Er nahm artig in einer Ecke des Sofas Platz und faltete die gewaltigen Tatzen. Sie, in der andern Ecke, legte die Patschhändchen in den Schoß, und beide bemühten sich, ihres Atems Herr zu werden.

Sie fand, seine Hände seien die häßlichsten, die sie im Leben gesehn. Er bemerkte zum erstenmal die Plumpheit ihrer Nase. Er wagte ihr nicht zu sagen, wie komisch die Haube auf der Seite saß, wie zerzaust ihr die Haare um das Ohr hingen, wie naturgetreu die Erdballhälfte auf ihrer Wange die Umrisse der östlichen Kontinente hervortreten ließ. Sie ihrerseits blickte verschämt von dem Sarazenenbärtchen weg, dessen eine Hälfte wie ein Haken herausstand, und verschwieg, daß auf seiner Hemdbrust zwei Knöpfe fehlten und sein Bauch an ein überkochendes Waschfaß erinnerte.

Ebensowenig wagte er aber auch zu widersprechen, als sie ihn aufforderte, feierlich zu beschwören, was er für sich unverbindliche ›Schlafzimmerversprechen‹ nannte, obwohl davon noch nicht die Rede sein konnte. Er, ein Enkel Voltaires, mußte die Hand heben und bei allen Heiligen schwören, sein Versprechen zu halten, bis einen von ihnen der Tod erlöse. Während er schwor, überlegte er, daß er ihr das Nadelgeld tatsächlich aussetzen könne, sofern sie sich bereitfände, ihr Vermögen auf ihn zu übertragen. Die ›Kleine‹ um ihre Entschädigung zu betrügen? Für nichts in der Welt – und wenn sie den ganzen Himmel in Bewegung setzte.

»Bis einen von uns der Tod erlöst«, wiederholte sie und streifte den Major mit einem Blick, den Burguburu als Ausbund der Schadenfreude im Gedächtnis behielt, ohne auch lange nachher noch ergründen zu können, auf wen sich die Schadenfreude eigentlich bezog, auf ihn oder den Major.

Um sich auf jeden Fall zu rächen, sagte er leichthin:

»Gnädige Frau, nun muß ich schnell hinüber zu Ihrer liebeswürdigen Nachbarin, Frau Tavin ... Als Notar, versteht sich. Sie müssen wissen, meine Liebe – wenn Frau Tavin und ich uns zusammentäten, würden wir wohl die stärkste Kapitalmacht von Ranas und Umgebung darstellen.«

Darauf fand sie zuerst keine bessere Antwort, als in die Ferne den unsäglichen Wonnen entgegenzuwandern. Sie kehrte jedoch gleich wieder um und gab ihm den schlichten Rat:

»Da sollten Sie sich lieber erst Ihre Hemdknöpfe annähen lassen.«

»Da liegen sie!« fügte sie hinzu, als er sich verlegen an die Hemdbrust faßte. Stolz aufgerichtet, zeigte sie mit der Hand unter das Sofa. »An Ihrer Stelle würde ich sie aufheben, Herr Notar. Man läßt so etwas nicht im Salon einer Dame herumliegen.«

»Im Haus einer Witwe«, verbesserte er wütend und stand auf. Es kostete ihn Mühe, nicht fortzufahren: »deren Stimmumfang von den Schweinen bis zu den Heiligen reicht«. Statt dessen sagte er nur: »Es hat Ihnen Spaß gemacht, wie ich am Boden lag – wie? Nun möchten Sie mich auch noch wie ein Hündchen hier herumkriechen sehn?«

»Nein« antwortete sie. »Ich liebe zweibeinige Männer.«

»Dann ist ja alles in Ordnung«, meinte er mit einem wegwerfenden Blick dorthin, wo angeblich die Hemdknöpfe lagen.

Zum Abschied lehnte sie anscheinend widerwillig, dann aber für die kurze Minute doch recht innig den Kopf an seine Schulter und flüsterte:

»Seit fünfzehn Jahren hat mich kein Mann berührt. Vergessen Sie es nicht!«

»Ich will lieber vergessen, daß Sie überhaupt je ein Mann berührt hat«, gab er großmütig zur Antwort.

Gleichzeitig wünschte er sie der ganzen Welt an den Hals.

Sie begleitete ihn bis an die Haustür, lautlosen Schrittes, das Antlitz verklärt, als entschwebe sie in die Ferne. Ob sie lächelte, konnte er nicht unterscheiden, manchmal kam es ihm so vor, dann wiederum nicht.

Sie roch nach einem ganzen Beet faulender Hyazinthen, das war gewiß.

Und so ließ er sie stehn.

Es regnete noch immer.

Juliette sah, wie er unter seinem Schirm den Hof des Hauses Rosmarin betrat, hörte, wie er klopfte und Einlaß fand, und wollte die Tür schließen, als sie neben sich einen struppigen Kater bemerkte. Sein Fell schimmerte von Nässe.

Sie hatte ihn im Park herumstreifen sehn, wiederholt war er ihr, mit kurzen Sprüngen hinter dem Schleier her, bis zum Haus gefolgt. Sie wußte nicht, wem er gehörte.

Nun hob er den Schweif und strich ihr um die Beine. Sie folgte gespannt seinen Bewegungen, und an die Stelle des himmlisch verschwimmenden trat ihr irdisches Lächeln, das anzüglich und herausfordernd war, und sie sagte:

»Du kannst hierbleiben – Marius!«


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