Johannes Scherr
Größenwahn
Johannes Scherr

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Die Gekreuzigte.
Historie einer Heilandin

Erstes Kapitel

Ort

Im Staatsarchiv der Republik Zürich findet sich ein dicker Aktenstoß, welcher die Aufschrift führt: »Volumen 166, Cahier 1044. Akten betreffend die Gräuel-Scenen in Wildisbuch.« Diese Akten, deren Prüfung und Benutzung mir mit einer Zuvorkommenheit gestattet wurde, die mich zu aufrichtigem Danke verpflichtet, bilden die Hauptquelle der auf nachstehenden Blättern erzählten Geschichte. Es ist im Text fortlaufend darauf verwiesen und bezeichnete ich in diesen Verweisungen die Akten der Voruntersuchung samt Beilagen mit W.A.I, die der Prozedur mit W.A.II. Die arabischen Zahlen, welche diesen römischen beigegeben sind, beziehen sich auf die Reihenfolge der einzelnen Aktenstücke und entsprechen den Nummern derselben. Man wird mich also leicht kontrollieren können, wem das belieben sollte. Als Nebenquelle benutzte ich authentische Notizen, welche sich in den Schriften finden, die bald nach der Wildisbucher Katastrophe von den beiden Geistlichen Meyer und Schoch darüber veröffentlicht wurden. Die wichtigeren dieser Notizen sind übrigens auch zu den Akten gekommen, in Form von Berichten, welche die genannten Geistlichen als amtlich bestellte Gewissensräte der Wildisbucher Gefangenen erstatteten. Einiges brauchbare, freilich mit Kritik zu behandelnde Material haben mir endlich noch die Nachrichten geliefert, welche ich zu Wildisbuch selbst und in der Umgegend aus dem Munde solcher sammelte, welche die Katastrophe mit erlebt und mit angesehen haben.
Über den Titelbeisatz »Passionsspiel«, welchen die beiden früheren Auflagen hatten, für Nichtgelehrte folgendes. Wie das antike Drama, so ist auch das moderne aus dem Gottesdienste hervorgegangen. Nach einem langen vergeblichen Kampfe gegen die »heidnische Augenlust« ihrer Gläubigen mußte sich nämlich die christliche Kirche damit zufrieden geben, diese Lust von heidnisch-mythologischen Gegenständen ab und auf christlich-mythologische hinzulenken. Zu diesem Zwecke benutzte sie die schon im Kultus der Urkirche vorhandenen dramatischen Elemente (die Wechselreden des Priesters, des Diakonus und der Gemeinde) und bildete dieselben im Verlaufe der Zeit zu einem vollständigen liturgischen Drama aus, genannt die Messe und noch heute in der Übung. An dieses gottesdienstliche Schauspiel reihten sich dann bald andere kirchliche Dramen an, die biblisch-mythologischen »Mysterien«, so geheißen, weil sie sich vorzugsweise mit den sogenannten Geheimnissen des christlichen Dogmas beschäftigten. In den großen christlichen Festzeiten, besonders zur Weihnacht und zu Ostern, wurden die Szenenkreise, welche die Geburt, die Passion und den Tod Jesu umschlossen, von den Geistlichen in den Kirchen oder auf den Kirchhöfen theatralisch dargestellt, anfänglich pantomimisch, später dialogisiert, so daß der Dialog zuerst im kirchlichen Latein, dann in den verschiedenen Landessprachen verfaßt war. Diese Mysterien, aus welchen das Drama der sämtlichen europäischen Literaturen sich entwickelt hat, hießen in deutschen Landen Weihnachtsspiele, sofern sie zur weihnachtlichen, und Passionsspiele oder Osterspiele, sofern sie zur österlichen Zeit aufgeführt wurden. Bekanntlich wird so ein Passionsspiel im mittelalterlichen Stil noch jetzt in Oberammergau in Bayern von Zeit zu Zeit feierlich tragiert. Es wird aus meiner Erzählung erhellen, weshalb ich dieselbe ein Passionsspiel genannt habe.

Das Dauerndste oder vielmehr das einzig Dauernde in den irdischen Dingen ist der ewige Kreislauf von Geburt und Tod, von Entstehen und Vergehen, dessen Eintönigkeit schon vor zweiundzwanzig Jahrhunderten einen hebräischen Poeten weltekelvoll ausrufen ließ: »Alles ist eitel!« Ja, die Weltgeschichte, die Summe des Gewordenen und Gestorbenen, ist nur ein unendlicher Totentanz. Während die hinteren Paare desselben den vorderen lebensfreudig noch ihr »Macht uns Platz!« zujubeln, werden auch sie ihrerseits schon wieder von nachfolgenden Generationen beiseite geschoben, und über die Gräber der Vorfahren hin geht weiter der bunte Reigen von Lust und Weh, Hoffnung und Enttäuschung, Torheit und Leidenschaft, Arbeit und Genuß, Hochsinn und Gemeinheit, genannt Menschenleben. Wandellos bleibt nur der Wandel selbst.

Die römischen Kohorten, welche auf den Römerstraßen von Althelvetien einhermarschierten, ließen es sich gewiß nicht träumen, daß eine Zeit kommen werde, wo diese wohlgepflasterten, »für die Ewigkeit« gebauten Heerwege verschollen unter Feldern und Forsten liegen würden. Für die Ewigkeit! Die weltgeschichtliche Entwickelung sorgt dafür, alle diese »Ewigkeiten«, womit der menschliche Größenwahn sich brüstet, bedeutend abzukürzen. Können wir, die wir im Zeitalter der Eisenbahnen leben, nicht täglich uns überzeugen, daß die schönen makadamisierten Straßen, die noch vor dreißig Jahren für das Nonplusultra der Verkehrsvermittelung, für halbe oder ganze Wunderwerke galten, vielerorten bereits mit einer Grasdecke sich zu überspinnen anheben? Noch eine Spanne Zeit, und lange Bodenstrecken, welche entlang die Viergespanne der »Eilwagen« rollten, werden dem Pfluge zurückgegeben sein. Das Posthorn ist vor dem grellen Schrei der Lokomotivpfeife demütig verstummt, aber auch das Dampfroß wird eines Tages auf dem letzten Loche pfeifen und seine eisernen Glieder in den Gerümpelstall der Weltgeschichte vom Roste verzehrt sehen. Die Ewigkeit Stephensons wird gerade so ewig sein, wie die der römischen Straßenbaumeister und die Makadams gewesen ist. Es wird eine Zeit kommen, wo die Menschen mit demselben aus Mitleid und Verachtung gemischten Gefühl, womit wir heutzutage die da und dort noch umhergespensternden Postkutschen betrachten, auf rasselnde Eisenbahnzüge herabsehen. Dann wiederum eine Spanne Zeit, und die »ewigen« Eisengeleise werden, gleich ihren Vorwegen, mählich hinabsinken unter die Rasendecke der ungeheuren Gruft, welche sich um die Sonne schwingt und Erde heißt – eine Gruft freilich, die nur verschlingt, um wieder zu gebären, und welche der Tod selber mit neuem Leben befruchtet.

Die Menschen nennen dieses unendliche Blühen und Welken, dieses Kommen und Gehen eine himmlische oder aber eine höllische Komödie, je nachdem ihre Augen durch eine rosenfarbene oder durch eine schwarze Brille schauen. Wer jedoch gar keine Brille aufhat und die Welt nimmt, wie sie in seinen armen bloßen Augen sich spiegelt, dem erscheint sie als ein wunderbares Geheimnis, vor dessen sieben Siegeln selbst ein Humboldt ehrfurchtsvoll stillgestanden. Ist die Erde etwa weniger ein Rätsel, seit die Geologie die Urkunden ihrer Urgeschichte aus dem Schutt von Millionen von Jahren hervorgegraben hat? Oder das Buch der Gestirne, seit die Astronomie die Fügung seiner Lettern nachgewiesen? Unsere ganze Weisheit reicht nicht aus, die Frage: Warum ist die Milbe? genügend zu beantworten; gerade so wenig genügend wie die Frage: Warum ist der Mensch? Die »praktischen« Leute freilich werden mit alledem leicht fertig. Sie sagen: Wir sind einmal in der Welt und werden wohl nicht hinausfallen. Was kümmern uns die Sterne? Wir nehmen sie als eine hübsche Dekoration des Theaters, auf welchem das Drama unserer Interessen und Leidenschaften sich abspielt. Wozu versuchen, den Schleier des Bildes von Sais zu heben? Es ist ja am Ende doch nichts dahinter.

Man muß gestehen, die praktischen Leute hätten vielleicht recht, falls es nur dem in die Schranken der Endlichkeit gebannten wunderlichen Wesen, genannt Mensch, gegeben wäre, das »schmerzlich-süße« Gefühl der Unendlichkeit loszuwerden. Aber treten nicht sogar dem Gedankenlosesten wenigstens einmal in seinem Leben in dieser oder jener Form die Fragen nahe: Wozu bin ich eigentlich da? Woher? Wohin? Warum? Regt sich nicht selbst in dem Denkträgsten mitunter eine über dieses Dasein, über die menschliche Tragikomödie hinausgreifende, auf ein Zukünftiges gerichtete Sehnsucht oder Ahnung? Die Ritter vom Stoff mögen das immerhin öffentlich leugnen, daheim bei sich geben sie es zu, wie noch manches andere von ihnen Geleugnete. Aus der beregten Ahnung oder Sehnsucht oder »Illusion« quillt aber der unaustilgbare idealistische Hang der Menschen. Solange es solche gibt, werden sie nicht aufhören, sich Götter, d.h. Ideale zu schaffen – lauter Versuche, die Rätsel der Welt und des Daseins zu lösen. Anders freilich gestaltet sich das Ideal, die Vorstellung von Göttlichem, in der Seele eines hellenischen Dichters, anders in der Seele eines indischen Jogi, anders in der eines hebräischen Patriarchen oder arabischen Propheten, anders in der eines nordischen Skalden und wieder anders in der eines christlichen Kirchenvaters. »In seinen Göttern malt sich der Mensch«, hat ein großer Denker und Seher gesagt und damit den Nagel auf den Kopf getroffen.

Auch das arme, unglückselige Weib, dessen Geschichte ich erzählen will, tastete in seinem dunklen Drange nach einer Antwort auf das ewige Warum? alles Daseins. Auch diese Verirrte wurde durch einen in seinem Ursprung reinen idealistischen Trieb auf eine Bahn voll Wirrsal geworfen, welche in einer Blutlache endigen sollte. Auch sie schuf sich ihren Gott, einen Gott, welcher so, wie die Umstände waren, zu einer schrecklichen Fratze sich gestalten mußte, zu einem Moloch, dessen Grimm sie in ihrem zuletzt bis zu völliger Verzweifelung hinaufgesteigerten Wahn nur mittels einer in ihren Einzelnheiten beispiellosen Selbstopferung – einer furchtbaren Parodie der Passion Christi – sühnen zu können glaubte. Doch genug der einleitenden Betrachtungen. Verschreiten wir dazu, zuvörderst die Hauptstätte des in seiner Katastrophe entsetzlichen, aber in dieser wie in dem ganzen Gange der Handlung höchst lehrreichen Dramas zu zeichnen.

Bevor der Schienenweg gelegt wurde, welcher, hart oberhalb des Rheinfalls den Strom überbrückend und dann den Laufenfelsen durchbohrend, den Reisenden jetzt binnen zwei Stunden von Schaffhausen nach Zürich bringt, waren diese Städte durch zwei Poststraßen verbunden, deren eine am rechten Ufer des Rheins über Eglisau, deren andere, linkshin von dem Fluß abbeugend, über Andelfingen und Winterthur nach der Limmatstadt führte und noch führt, wenngleich beide heutzutage sozusagen nur noch zum Hausgebrauche dienen. Die letztere dieser Straßen geht über die Rheinbrücke bei Schaffhausen, an deren südlichem Ende sie in das züricherische Grenzdorf Feuerthalen eintritt. Dann wendet sie sich an der westlichen Abdachung eines südostwärts streichenden Bergrückens, genannt die Kohlfirst, hinauf bis dem Dorfe Uhwiesen, von wo sie sich gegen das Dorf Benken hinabsenkt. Am südlichen Ausgang desselben zweigt sich ein Fahrweg in östlicher Richtung von der Straße ab, und dieser zwischen Rebengeländen ziemlich steil ansteigende Weg führt den gemächlich Wandernden binnen eines Halbstündchens auf eine mäßige Hochebene, von welcher herab er gegen Westen die Türme des jetzo in eine Staatsirrenanstalt umgewandelten Klosters Rheinau, gegen Süden die Häusergruppen des Dorfes Rudolfingen und weiterhin die von Oerlingen und Marthalen erblickt. Geht er in der bisher eingehaltenen Richtung am Saume des Waldzugs vorwärts, welchen die Kohlfirst zu seiner Linken herabsendet, so gelangt er, ein schattiges Tobel durchschreitend, auf eine sanftgewölbte Hügelmatte und jenseits derselben, linkshin aufwärtsstrebend, auf einen Waldpfad, welcher ihn rasch zur »Hochwacht« führt, einem südöstlichen, zur Höhe von 1607 Fuß ansteigenden Vorsprung der Kohlfirst.

Hier halte still und schau' dich um, denn du stehst da, unter den Wipfeln eines jungen Föhrenschlags, auf einem der lohnendsten Aussichtspunkte der Schweiz, vielleicht der Erde.

Zur Linken, gerade unter dir, liegt das Dorf Schlatt, bei welchem am 7. Oktober 1799 Russen und Franzosen ein mörderisches Treffen ausfochten. Von da an schweift dein Blick über eine weite fruchtbare Niederung bis hinüber zu der Rebhügelwand, welche am nördlichen Ufer des Rheins aufspringend, den Lauf des Stromes bis gegen den Untersee hinauf markiert. Über das Gelände ragt eine dunkle Kuppe herein, der Klingsteinfels Hohentwiel, allwo vor neunhundert Jahren die schöne, gestrenge und gelehrte Herzogin Hadawig in ihrer Kemenate durch den allzu schüchternen St. Galler Mönch Ekkehard sich den Virgilius erklären ließ. Gegen Süden breitet sich der gesegnete, zwischen der Thur und dem Rhein gelegene Gau vor dir aus, welcher das Weinland oder landesüblich das Wyland heißt und wohl so zu heißen verdient; denn wo da nur immer eine sonnige Halde ansteigt, klimmt wohlgepflegt die Rebe daran empor. Gegen Westen hin erkennst du jenseits des Rheins die badischen Ortschaften Lottstetten und Jestetten, hinter welchen der Mannenberg aufdunkelt; gegen Süden hin streckt sich die Bergwand des Irchel lang und blau zwischen den Talgebieten der Töß und der Thur. Den Spiegel der letzteren siehst du da und dort zwischen im Gelände zerstreuten Laubholzwäldern hervorblitzen. Aber du achtest dessen, was sich zu deinen Füßen breitet, nur wenig. Mächtigeres hat dich ergriffen: dein Blick hängt an dem grandiosen Amphitheater der Alpen. In einem ungeheuren Halbkreis ist es vor dir aufgetan, von den Fernern Tirols und Vorarlbergs im Osten an bis hinab zur Kuppe des Moleson im Westen, vorausgesetzt, daß Luft und Licht dich begünstige. Sind dir die Bergkolosse alte vertraute Bekannte, so kannst du unbewaffneten Auges alle »die Häupter deiner Lieben« zählen, von Säntis an rechtshin Ammonsberg und Mürtschenstock, Glärnisch, Tödi, Scheerhorn und Windgelle, den Bristenstock und die Gotthardszinken; weiterhin den Urirothstock, den Titlis und alle die stattlichen Urner und Unterwaldner Gesellen, vor deren Lager der Rigi wie eine unscheinbare Vedette steht. Hinter den Zacken des Pilatus türmt sich die dunkle Pyramide des Finsteraarhorns empor und daran reihen sich die Schreckhörner, die Engel-, Well-, Wetter- und Viescherhörner, dann Eiger, Mönch und Jungfrau, Tschingelhorn, Doldenhorn und die schimmernden Firnschneefelder der Blümlisalp – Riesensäulen im Allerheiligsten des Alpenprachttempels – ein Anblick, wohlgeeignet, die Seele zu weiten und zu heben, so daß du nicht etwa bloße Hornhäute oder bloße Augengläser, sondern rechte, wirkliche Augen besitzest, fähig, das Erhabene zu fassen und zu fühlen. Vermögen sie das, so kannst du hier auf der Hochwacht eine schönste und beste Stunde deines Daseins verleben.

Wendest du, voll von dem Geschauten, endlich die zögernden Schritte wieder hügelabwärts, so siehst du unmittelbar dir zu Füßen eine kleine Talmulde, welche ein schmaler Fahrweg der Länge nach durchschneidet. Gegen Osten führt dieser Weg in das eine halbe Stunde entfernte Pfarrdorf Trüllikon, gegen Westen nach Benken, während gegen Süden ein anderer Weg durch einen prächtigen Buchen- und Eichenwald nach Rudolfingen hinabsteigt. Mitten in der Talmulde liegt im Schatten seiner Nußbäume das Dörfchen Wildisbuch.Ich folge in der Schreibweise dieses Namens der trefflichen Karte des Kantons Zürich von I.M. Ziegler. Gewöhnlich wird der Name des Ortes »Wildenspuch« geschrieben. Daß aber die Schreibweise Wildisbuch mehr Sinn hat, liegt auf der Hand, indem der Name des Ortes sich offenbar von den Buchengehölzen in seiner Umgebung herleitet. Man kann sich eine herzigere Lage kaum denken. Sie hat etwas »Heimeliges«, Anheimelndes. Gegen Morgen, Mitternacht und Abend durch die waldbekrönten Höhen der Kohlfirst geschützt, ist das aus zwanzig Häusern bestehende Örtchen auch gegen Mittag durch den schon genannten Buchen- und Eichenwald gedeckt und inmitten seiner Felder, Matten, Obst- und Weingärten gar behaglich in eine idyllische Abgeschiedenheit gebettet. Es macht einen durchaus ländlichen Eindruck, wie überhaupt die Dörfer des Wylands, welches noch heute ein rechter, vom Fabrikwesen unberührter Bauerngau ist. Eine Kirche besitzt Wildisbuch nicht, denn es ist nach Trüllikon verpfarrt; wohl aber ein Schulhaus, denn wunderlicherweise halten seit der großen Reformperiode von 1830 die Bewohner des Landes, welches im Konversationslexikon der Diplomatie herkömmlicherweise unter der Rubrik »Anarchie« paradiert, strengstens darauf, daß selbst kleinste und abgelegenste Gemeinden Schulen haben, wogegen in Staaten der »Ordnung« solche anarchische Anstalten keineswegs überall für nötig erachtet werden.

Jahrhundertelang hatten die Bewohner von Wildisbuch ihr Korn gesäet und geerntet, ihre Weinberge geharkt und ihre Trauben gekeltert, ohne daß der Name ihrer Ortschaft über die nächste Nachbarschaft hinausreichte. Was wußten sie von der Welt und was wußte die Welt von ihnen? So ein verborgenes bäuerliches Dasein spinnt sich in unglaublicher Beschränkung hin und ab. Nur einmal alljährlich, zur Weinlesezeit, ging es in dem stillen, im Schoße der Kohlfirst gebetteten Weiler etwas belebter her. Da schleppten die fetten Pferde Sr. Gnaden des Abtes von Rheinau keuchend die Klosterkutsche den Hohlweg von Benken herauf, und in der Kutsche saß der Pater Kellermeister mit dem frommen Bauch und der untrüglichen Weinzunge. Der wußte, daß die reformierten Ketzer da oben in Wildisbuch einen wenn nicht gerade alleinseligmachenden, doch immerhin sattsam orthodoxen Wein bauten, von dessen bester Qualität der hochwürdige Herr eine ausgiebige Quantität in die Keller seines Klosters zu schaffen pflegte. Ein Pater Kellermeister kam zu diesem Zwecke bis vor etlichen Jahren im Herbste immer noch nach Wildisbuch; aber er war ein dünnleibiger Mensch, sozusagen nur das Gespenst seiner Vorkellermeister, wie ja Rheinau auch nur noch das Gespenst eines Klosters war, ein recht harmloses Gespenst. Warum sollte so eine Mumie des Mittelalters in der Raritätenkammer der Welt nicht da und dort geduldet werden? Es wäre doch gar zu trostlos langweilig auf Erden, wenn es nur noch Fabriken, Kasernen und Bahnhöfe gäbe. Freilich, wo sie sich mausig machen, die Klostermumien, wo sie sich alles Ernstes einbilden, ihre spukhafte Existenz sei eine berechtigte, wo sie Grimassen à la Dominikus und Torquemada schneiden, da laßt die Toten ihre Toten begraben und gebt ihnen den ganzen Konkordatsplunder als Viatikum mit ins Jenseits. Das Diesseits wird wahrlich nicht schlechter daran sein, wenn es einmal die ganze anmaßliche Gespensterwirtschaft los ist. Ich fürchte sehr, wenn man die mittelalterliche Plunderkammer nicht beizeiten sachte und säuberlich ausräumt, wird ein Tag kommen, so ein rechter dies irae, wo alle die Mumien und andern Raritäten sehr unsanft und tumultuarisch auf die Gasse geworfen und zu Müll zerschlagen und zerstampft werden. Und dann? Dann wird man sie durch andern Plunder ersetzen, denn allzeit werden die Menschen sich Götter machen und – Götzen. Der Kongoneger prügelt heute seinen Fetisch, aber morgen opfert er ihm einen gefangenen Mitneger, und Kongo liegt nicht nur in Afrika, sondern auf dem ganzen Erdboden sehr zerstreut, sehr!

Deshalb ist auch kaum ein Fleck Rasen auf der weiten Erde, der nicht durch Menschenblut gedüngt worden wäre. Konnten doch selbst die versteckten Matten von Wildisbuch diesem Schicksal nicht entgehen. Ja, auch in dieses Idyll fuhr einmal der Wirbelsturm der Weltgeschichte hinein: damals, als 1799 die Franzosen unter Massena den von der Limmat an den Rhein zurückweichenden Russen unter Korsakow nacheilten und sie sich mitsammen auf und unter der Kohlfirst herumschlugen. Ein alter Bauer von Wildisbuch, der unter seinem verschossenen »Zwillich-Tschopen« die bürgermeisterliche Würde eines »Gemeindepräsidenten« barg – die Eidgenossenschaft wimmelt im eigentlichen Sinne des Wortes von, gottlob! wohlfeilen Präsidenten und Obersten – hat mir von jenen Schreckenstagen erzählt, etwas bunt übereck freilich. Aber was er noch ganz genau wußte und worauf er immer wieder zurückkam, war, daß er an dem Tage, wo die Franzosen, die Russen vor sich hertreibend, von Marthalen heraufkamen, seine ersten »Hösli« getragen habe. Die Namen der russischen und französischen Generale, welche bei Schlatt kommandierten, hatte er längst vergessen, aber seiner ersten Hösli und sogar ihrer Farbe erinnerte er sich noch ganz frisch. Ein, wie mir scheint, charakteristischer Zug, wie der Bauer sich zur Weltgeschichte stellt.

Der Sturm fuhr jedoch vorüber. Wildisbuch versank wieder in sein arbeitsames Stilleben, baute und verzehrte seine »Herdäpfel« (Kartoffeln), fütterte Kälber und Schweine groß und erfuhr durch seinen guten Freund, den Pater Kellermeister von Rheinau, mit Befriedigung, daß Se. Exzellenz, der regierende Herr Bürgermeister von Zürich – damals gab es noch solche Exzellenzen – bei gelegentlicher Einkehr in der Abtei dem Wildisbucher »B'sönderten« (Ausbruch) alle Ehre widerfahren ließ. Das alles und noch anderes Dorfgeschichtliche verlief so im gewohnten Geleise, bis plötzlich im Lenzmond des Jahres 1823 von der stillen Talmulde in der Kohlfirst ein unerhörter Rumor ausging in die weite Welt. Wildisbuch wurde zum Staunen, zur Fabel, zum Abscheu der Menschen, obzwar einzelne Fanatiker es zu einem neuen Mekka zu machen suchten. Alle Zeitungen waren voll von dem, was dort geschehen war; Bücher wurden darüber geschrieben, auf Jahrmärkten wurde die »erschreckliche Moritat« in entsprechend erschrecklichen, durch nicht minder erschreckliche »Gemälder« illustrierten Reimen zur Drehorgel gesungen; ja, es wurde der »Wildisbucher Greuel« beförderlichst in volkstümlicher Plastik fixiert und ich selber hatte als kleiner Junge Gelegenheit, in einem Wachsfigurenkabinett durch die »Wildisbucher Kreuzigung« mich gehörig »angruseln« zu lassen. Erinnere mich auch, daß neben diesem wächsernen Passionsspiel ein wächserner Kaiser Napoleon stand, welcher bedenklich den Kopf dazu schüttelte. Das kam aber nur von dem Uhrwerk in seinem Bauche her. War doch der lebendige Napoleon keineswegs so blutscheu gewesen, er, welcher nach Besichtigung der furchtbaren Zerstörung von Menschenleben auf dem von Blut starrenden Schlachtfeld von Borodino an einen seiner Marschälle schrieb: Die Walstatt war prächtig (»le champ de bataille a été superbe!«). Die guten Leute von Wildisbuch waren aber durch die »europäische Berühmtheit«, zu welcher sie ihr Dörfchen mit einmal gelangt sahen, keineswegs erbaut. Noch jetzt, nach Verlauf von sechsunddreißig Jahren, sagte der schon erwähnte Präsident im Zwillichwams entschuldigend zu mir: »Ja, 's ist ne große G'schicht gsi; aber wir konnten doch nichts dafür.«

Wir – ach, damals war die noch mir zur Seite, welche das Licht und der Trost meines Lebens gewesen! – wir saßen mit dem alten Mann in der Stube seines Hauses, welches so ziemlich im Mittelpunkt der nicht sehr zerstreuten Häusergruppen des Örtchens gelegen ist. – »Wo stand denn das Petersche Haus?« fragte ich. – »Da, gerade da, unter der gleichen Dachfirst mit dem meinigen,« erwiderte er und zeigte auf das in die östliche Wand der Stube eingelassene Fenster, welches auf einen vernachlässigten Rasenplatz hinaussieht. Ich ließ mir das Haus, wie es gewesen, beschreiben und habe dann auch die bei den amtlichen Akten, aus welchen ich schöpfte, liegenden Zeichnungen desselben eingesehen.

Es war ein einfaches, nach ländlichen Bedürfnissen nicht unbehaglich eingerichtetes Bauernhaus. Auf steinerner Unterlage erhob sich das Untergeschoß, aus Holz aufgeblockt, und darüber ein Obergeschoß aus Fachwerk (»Riegelwänden«). An der rechten Ecke, der mit den vier hart nebeneinander stehenden Fenstern der Wohnstube nach Süden gekehrten Hauptfronte, befand sich ein bedeckter Eingang zum Keller (»Kellerhals«). Zu der an der Ostseite befindlichen Haustüre führte eine kurze, überdachte Holztreppe empor, an deren Ende eine offene Galerie von Holz rechtshin zu einem Anbau fortlief, welcher das neue Haus hieß. An die Nordwand des alten und eigentlichen Wohnhauses stieß zunächst die »Futtertenne«, an diese der Stall und an diesen die Scheune. Rechts am Wege zur Haustüre lag ein umzäunter Gemüsegarten, woran sich nordwärts ein Baumgarten anschloß, von welchem ein Fußpfad zwischen den Rebenpflanzungen gegen die Hochwacht emporführte. Von der Haustüre gelangte man über eine kurze Flur zunächst in die Küche, wo, wie es in Bauernhäusern bräuchlich, außer dem Herd auch ein Backofen sich befand. Zur Seite des Herdes öffnete sich die Türe zur Wohnstube, deren Decke und Wände durchaus mit Holz getäfelt waren. In der nordwestlichen Ecke der Stube stand der landesübliche, weitvorspringende Kachelofen, an zwei Seiten mit der unvermeidlichen Ofenbank eingefaßt. In der südöstlichen Ecke hatte der Tisch seinen Platz und in der südwestlichen das »Büffert« (Büfett), ein Geschirrschrank mit dem ebenfalls unvermeidlichen Apparat zum Händewaschen (»Handgieße«). Eine in die Ostwand der Stube eingelassene Türe führte in die »Stubenkammer«, wo neben einem Schrank und einem sogenannten »Trog« (eine Art bäuerischer Kommode) das Bett des Hausvaters stand. Das Obergeschoß enthielt außer der »Laube« (Flur) nur drei Kammern, von denen die nordöstlich gelegene als Vorratskammer diente. Das gegen Südwesten schauende Gelaß war die Schlafkammer der Töchter des Hauses, das gegen Südosten und gerade über der Stubenkammer gelegene konnte für das Gastzimmer des Hauses gelten. In der Südwand mit einem Fenster und mit einem zweiten in der Ostwand versehen, enthielt es, links von der in der nordwestlichen Ecke angebrachten Türe, ein großes Himmelbett, ferner einen Schrank und zwei »Tröge«.

So war die Kammer, in welcher die Katastrophe unserer Geschichte spielte: – hier wurde die »Heilige von Wildisbuch« gekreuzigt, zur Seite der auf ihren Befehl zu Tode gemarterten Schwester.

Zweites Kapitel

Zeit

Sie war recht windstill. So eine brütende Sumpfzeit, in welcher Kongregationen, Laibacher und Veroneser Kongresse, Karlsbader Beschlüsse und Mainzer Untersuchungskommissionen gediehen, nicht zu vergessen die Stourdza, Haller, Kamptz und Schmaltz, die »Gesellschaftsretter« von damals. Zwar im Süden von Europa grollte es vulkanisch, aber schon war die Revolution in Italien niedergeschlagen und in Spanien begann ihr Banner vor dem der »unbefleckten« bourbonischen Lilien sich zu senken. Die heilige Allianz, deren brutal-armseliger Wirtschaft ein kurzstirniger Torysmus von England herüber wohlgefällig zusah, stand in geilstem Flor. Die Schafschurpolitik der Biedermännerfirma Metternich-Gentz triumphierte; aber damals gab es noch nicht, was es heutzutage gibt, »pragmatische« Geschichtschreiber, welche die Metterniche und Gentze zu Patrioten, zu deutschen Patrioten kanonisierten. Es steht zu vermuten, selbst die eherne Stirne eines Kotzebue würde ob solchem Unterfangen schamrot geworden sein. Doch Kotzebue ist ja längst überkotzebuet. Nun wohl, ein prophetisches Zornwort des alten Blücher war für die armen Deutschen in traurige Erfüllung gegangen: was ihre Schwerter erworben hatten, war schon wieder verdorben durch die Federn der Diplomaten. (»Eine boßhaffte rotte von Faullthieren« nannte sie der unhöfliche alte Vorwärts in seinem ehrlichen Husarendeutsch.)

Da war der Kaiser Franz, der letzte, welcher sich zu der gespenstigen Maskerade einer deutschen Kaiserkrönung hergegeben hatte. Es ist wahrlich nicht seine Schuld gewesen, daß er zu neunundneunzig Prozent ein Italiener war; auch nicht, daß man ihn, weil er so gemütlich wienerisch sprach, für einen »seelenguten« Mann hielt. »Werden 's schon machen!« Und machte der gute Kaiser auch wirklich sehr viel, freilich in seiner Art. Zuletzt vermachte er noch seine »Liebe« seinen Völkern, worüber diese ohne Zweifel sehr gerührt gewesen sind. Er hatte schon früher solche völkerliebende Anwandlungen. So Anno 1809, wo er sagte: »Schauen's, die Völker sind halt jetzunder auch was.« Aber diese Zeit jugendlich törichter Schwärmerei ging vorüber, wie alles vorübergeht in dieser Welt, und um die Zeit vom Kongreß zu Verona herum meinte der gute Kaiser: »Völker? Was ist das? Ich weiß nichts von Völkern, ich kenne nur Untertanen.« Kaiser Franz war aber nicht nur ein Mann von Grundsätzen, sondern auch ein Mann von Kenntnissen, von vielseitigen, von medizinischen sogar. Daher kann es nicht wundernehmen, daß er mitunter geruhte, seine Monarchenkunst in ärztliche Formen zu kleiden. Da hatten sich zu dieser Zeit die heillosen, vom »Nationalitätsschwindel« erfaßten Griechen erfrecht, das sanfte Joch ihres »legitimen« Herrn, des Sultans, abwerfen zu wollen, und solchem Erfrechen gegenüber äußerte der gute Franz gemütlich: »O, 's ist wohl möglich, daß eine halbe Million Griechen über die Klinge springen muß. Wenn das Land eine bewohnerleere Wüste, wird es eben nicht vieler Protokolle mehr brauchen. Die Menschheit bedarf von Zeit zu Zeit starker Aderlässe, sonst wird ihr Zustand entzündlich und bricht sogleich der liberale Wahnsinn aus.« Ein resoluter Arzt, das muß man sagen. Aber was half ihm zuletzt seine »große Medizin«? Er hat doch in die Gruft bei den Kapuzinern hinabgemußt. Schon schwankt sein dürftig Bild nur noch nebelhaft in der Erinnerung der Menschen, mehr Mitleid als Haß erregend, und sind seine roten Hosen selbst für die Tiroler kein Gegenstand der Verehrung mehr. »Eitelkeit der Eitelkeiten!« Zur Zeit aber, von der wir handeln, hatten diese roten Hosen, so mitleidswürdig dünn die darin steckenden Beine sein mochten, nicht wenig zu bedeuten in der Welt. Es gab damals überhaupt allerhand wunderliche Bedeutsamkeiten, Scheindinge und Schemen, die aber so brutal auftraten und hantierten, wie nur irgend die brutalsten Tatsachen. In jenen Tagen blühte zu Wien an der Bastei die große Schrecktheaterbude, welcher Metternich als Regisseur vorstand. Souffleur war Gentz, der »Großpensionär der europäischen Kabinette«. Hauptzugstück war: »Bange machen gilt«. Hauptmarionette der Bude war ein in der Tat sehr polizeiwidrig aussehender Kerl, Citoyen Jakobinismus genannt, dem man die Taubenflügelfrisur Robespierres und die Waden Dantons angeleimt hatte. Wann der auftrat, gegen Berlin hinauf gestikulierend und so was von 1789 und 1793 flüsternd, dann trat den Mandarinen an der Spree der kalte Angstschweiß auf die Stirnen und sie »kalmierten« drauf los, was das Zeug hielt. Selbst ein Turnläufer ersten Ranges, wie der »hurtige« Vater Jahn, war nicht schnellfüßig genug, der »kalmierenden« Hetzjagd zu entrinnen. Der Marionettendrahtführer an der Bastei hat es – in Verbindung mit seinem Souffleur, mit besagten roten Hosen seines Herrn und mit dessen »heiligen Alliierten«, versteht sich – dann auch glücklich dahin gebracht, daß die Erinnerung an ein Ding, wie die Proklamation von Kalisch, ein todeswürdiges Verbrechen und das deutsche Vaterland ein »bloßer geographischer Begriff« war oder höchstens eine »geographische Redensart«.

Nun wurde es still in deutschen Landen – wie nicht weniger in der Schweiz, wo ja das städtische Idyll der »legitimen« Patrizierherrschaft restauriert worden war – so still, daß es ganz den Anschein hatte, als sei das »korrekte« staatsmännische Ideal der Kirchhofsruhe nunmehr verwirklicht, für lange, für so lange, daß Souffleur Gentz Muße fand, statt mit dem Gleichgewicht von Europa mit Fanny Elßlers liebenswürdigen Beinen sich zu beschäftigen, während der Herr Haus-, Hof- und Staatskanzler Heines Reisebilder studierte. Wurde dadurch in so gute Laune versetzt, daß er einen Propheten, welcher ihm gesagt hätte, es würde ein Tag kommen, wo in Wien, sage in Wien, die Revolution siegreich auf den Barrikaden stünde, ein 14. März, wo er, der vergötterte Faiseur der Restaurationsperiode, in einem k.k. Wäschewagen verpackt, mit schlotternden Knien vor einer Handvoll Studenten aus der Hauptstadt Österreichs flüchten müßte – ja, er würde einen solchen Propheten nicht auf den Spielberg oder nach Kufstein, sondern bloß ins Narrenhaus geschickt haben. Freilich, er kehrte triumphierend wieder zurück in die Donaustadt, der »Nestor der Staatsweisheit«, er erteilte wieder seine weisen Ratschläge, bis Österreich das Honorar dafür abermalen zu bezahlen hatte – bei Solferino und bei Sadowa. Lehrt die Geschichte etwas? Ja wohl! Gescheite Leute meinen, sie lehre, daß sie nichts lehre und nie etwas gelehrt habe.

Wie gesagt, es war eine stille Zeit. Den allergrößten Lärmmacher hatte man auf einer Insel im fernen Ozean zur Ruhe gesetzt, wo er sich die Zeit damit vertrieb, zu dem ungeheuren Lügenspiel seiner Laufbahn einen entsprechenden Epilog hinzuzulügen, jenes »Memorial von St. Helena«, in welchem der große Völkerwürger und Bulletinist der Welt vorlog, er sei der friedliebendste aller Menschen und sein Dasein eigentlich ein gemütliches Stilleben gewesen, wenigstens habe er stets sehnlich gewünscht, daß es ein solches sei. Aber leider habe man ihn immerfort zum Kriegführen gezwungen. Während so der größte Komödiant, welcher jemals die Bretter der Weltgeschichtebühne beschritten, bis zu seinem letzten Atemzug Komödie spielte, duselte die europäische Gesellschaft in den Dämmerungen der Mystik, in der »mondbeglänzten Zaubernacht« der Romantik umher. Es lag etwas wie Einkehr bei sich selbst, etwas wie Zerknirschung in der Luft. Nicht nur die Völker, auch ihre Herren – die in Frivolität ertrunkenen Metterniche und Gentze natürlich ausgenommen – erinnerten sich wieder der alten heiligen Sage von »himmlischen Mächten«; denn auch Könige und Königinnen hatten erfahren, was es hieße, »sein Brot mit Tränen zu essen.« Man hatte die letzten fünfundzwanzig oder dreißig Jahre her so Ungeheures erlebt, so beispiellose Schicksalswechsel mit angesehen und selbst erduldet, die Wagschalen von Niederlagen und Siegen waren so toll auf- und abgeflogen, die Kulissen des Welttheaters hatten sich mit so rasender Schnelligkeit hin- und hergeschoben und verändert, so viele Illusionen waren zerstoben, so viele Hoffnungen geknickt, so viele große Sachen hatten so »lächerlich klein« geendigt, daß einem das alte, das ewige »Vanitas vanitatum« von allen Ecken und Enden her in die Ohren gellte, und wie! Anders freilich in den Salons der Erdengötter, anders in der Bauernhütte. Aber überall hat es sich laut gemacht.

War da der Zar aller Reußen, Alexander I., der unter dem Zujauchzen von Europa zum Besieger Napoleons ausgerufen worden, obgleich zum Sturze des Tyrannen das Volk und Heer Preußens weitaus das Meiste und Beste getan hatten. Aber unter den Mittelmäßigkeiten seiner Verbündeten reichte der Zar wenigstens um eine Linie über das Mittelmaß hinaus. Neben der schlichten, mehr oder weniger langweiligen deutschen Hausvatergestalt Friedrich Wilhelms III. stand er wie ein Agamemnon – nämlich wie ein Agamemnon, welcher zu Byzanz in die Schule gegangen – neben der strohfiedeltrockenen Figur Franz I. wie ein Apollon. Hat doch bei seinem Anblick sogar eine Altburgerin von Zürich entzückt erklärt, »der Kaiser würde vollkommen sein, so er ein Bürger der Stadt Zürich wäre«. Er hatte alles genossen, was ein Mensch zu genießen vermag: die Aufregungen eines Spiels, wo der Einsatz ein Erdteil, Ruhm, Macht, den Besitz des Entscheidungswortes über eine Welt, den enthusiastischen Hurraruf von Millionen und die raffiniertesten Wohlgerüche der Schmeichelei. Frauen, deren Reize graubärtige Philosophen verrückt machen konnten, hatten zu den Füßen des Zaren gekniet, um eine Umarmung, einen Kuß, einen Blick bettelnd. Er konnte wohl, ja er mußte fast auf den Einfall kommen, zu sagen: Her mit der Erdkugel, daß ich Ball damit spiele! Aber der Weihrauchdampf wirkt mehr noch betäubend als berauschend, mehr verdumpfend als erheiternd; er berußt das Hirn und dörrt das Herz. Die Götter aller Religionen bezeugen das: wie viele derselben sind nicht schon an der Weihrauchkrankheit verdorben und gestorben! Hat nicht selbst Jupiter Goethe zuletzt »wunderlichst« daran gekränkelt?

Und dann, der Zar Alexander hatte, wenn auch ein dreifach destillierter byzantinischer Grieche, dennoch ein Stück von einem Gewissen. Ja, wunderbar zu sagen, es gab damals in der Politik noch ein Gewissen. Vergebens hatte des nun auch allbereits verwichenen angeblichen Neffen vorgeblicher Onkel, dessen ganzes Walten eine fortgesetzte, zu den Sternen emporschreiende Gewissenlosigkeit gewesen ist, vergebens hatte er gewütet, Scham, Gewissen, Rechts- und Ehrgefühl als Narreteien der »Ideologen« aus dem Wörterbuch menschlicher Begriffe herauszureißen. Es gelang ihm nicht. Gelang es dem Neffen des Onkels? Schwarzsichtige sagen: Ja. Sie meinen, seitdem Prinzen und Prinzessinnen, Könige und Königinnen – et tu, Victoria regina! – in hellen Haufen nach Babylon geströmt, um sich dort huldigend zu neigen und den glücklichen Meineid im Chorus anzusingen: »Heil sei dem Tag, an welchem du erschienen!« – seitdem sei das Gewissen offiziell abgesagt und abgeschafft. Aber es steht geschrieben: »O, Nemesis, der nie die Wag' entfallen!« und geschrieben steht auch:

... »Der Mensch, der stolze Mensch,
In kleine, kurze Majestät gekleidet,
Vergessend, was am mind'sten zu bezweifeln,
Sein gläsern Element,
Spielt solchen Wahnsinn, gaukelnd vor dem Himmel,
Daß Engel weinen.«

Nicht umsonst, nein, nicht umsonst! Ihre Tränen fallen glühend in den Abgrund und wecken die dort schlafenden Mächte der Vergeltung: –

»Eherner Füße
Rauschen vernehm' ich,
Höllischer Schlangen
Zischendes Tönen;
Ich erkenne der Furien Schritt.«

Ein Tag wird kommen, wo das zu Tode gemaßregelte Gewissen der Menschheit wieder erwacht, den Sargdeckel sprengt und alle die schnöden Schergen, welche seine Gruft bewachen, mit schlotterndem Entsetzen schlägt – ein Tag, wo wir andern, die wir nicht vor dem Erfolg in den Kot der Schande knieten und das glückliche Verbrechen nicht als »rettendes Genie« begrüßten, singen:

»Lasset die rächenden Göttinnen ein!«

Und wenn wir es nicht mehr erleben? Nun, dann tut uns auch kein Zahn und kein Zorn mehr weh.Und wir haben es doch erlebt, denn wir erlebten ja den 2. September von 1870, den Tag von Sedan. Anmerk. zur 3. Auflage. Zorn? spottlächelt Magister Ironikus. Welche Dummheit! Und vollends Zorn über einen Mann, welchen man erfinden müßte, wenn er nicht schon da wäre! Über den Mann, welcher so rastlos die Dämme anbohrt und so geschickt die Schleusen aufzieht, daß die Sündflut hereinbrechen könne über eine in charakterloser Geld- und Karrieremacherei einer furchtbaren Katastrophe sich zuschwindelnde Gesellschaft, die nur noch das Recht der faits accomplis anerkennt. Dieses »Recht« wird sie zermalmen.

Alexander I. besaß ein Gewissen. Erwies sich dasselbe zuzeiten sehr dehnbar – wie zum Beispiel in den Tagen von Tilsit, wo der Zar nicht errötete, sich eine seinem unglücklichen »Freund auf Leben und Tod«, welchem er kurz zuvor am Sarge Friedrichs des Großen den Bruderbundschwur geleistet hatte, von dem Eroberer geraubte Provinz schenken zu lassen – so zog es sich dagegen an einem Punkt mit furchtbarer Zähigkeit zusammen, da, wohin der düstere Schatten fiel, welchen die Nacht vom 23. auf den 24. März des Jahres 1801 in das Dasein Alexanders warf. Wir wollen in Liebe annehmen, der damalige Großfürst-Thronfolger habe nur vergessen gehabt, wie sein sogenannter Großvater, der arme querköpfige dritte Peter, gestorben, habe bloß nicht genugsam bedacht, daß einem Zaren aller Reußen die Krone nur vom Haupte fiele, falls man ihm mittels einer Serviette oder einer Offiziersschärpe den Hals zuschnürte, und daß demnach die Pahlen, Bennigsen, Zubow und Skariatin die Thronentsetzung Pauls I. mittels derselben Handgriffe zuwege bringen würden, womit die Orlow, Borjatinsky und Engelhardt die Thronentsetzung Peters III. zuwege gebracht hatten: genug, in die Thronentsetzung seines Vaters hatte Alexander gewilligt, und der düstere Schatten war da in seinem Leben, unbannbar, unerbittlich.

Zwar eine Weile schien er gewichen zu sein. Zuerst, als der jugendliche Zar, edler Entschließungen voll, mit bestem Willen daran ging, sein Volk aus dem Schmutze der Sklaverei zur Menschenwürde zu erheben. Dann, als der strahlende Nimbus, in welchen ein fast beispielloses Glück den Mann gehüllt hatte, der zweimal in dem eroberten Paris Europa den Frieden diktierte, die unheilvolle Erinnerung zurückdrängte. Aber als die Jugendideale »zerronnen« waren, als der Zar die Frau, welcher er am meisten vertraut, welche er am innigsten geliebt hatte, die Polin Narischkin, in den Armen eines Nebenbuhlers überraschte, als ihm das Kind, welches diese Frau ihm geboren, sein einziges Kind, wegstarb, als er mehr und mehr den bittern Nachgeschmack der Hefen des Bechers, welchen Genuß und Ruhm ihm kredenzt hatten, auf seinen Lippen fühlte, als er von der Weihrauchskrankheit ergriffen ward, da kam der Schatten wieder, kam mit verstärkter Macht, finster, drohend, unerbittlich, und Europa sah mit Staunen, wie sein Abgott sich an die Brust schlug, aufseufzend: »Eitelkeit der Eitelkeiten!« und wie er, in den mystisch-pietistischen Zauberkreis der Juliane von Krüdener geraten, im nicht sehr verschwiegen gehüteten Oratoire bußfertig auf den Knien sich wand. Aber weder dieses noch auch die Stiftung der »heiligen Allianz«, die zu einem der unheiligsten Dinge ausschlug, welche die Welt gesehen, vermochte den Schatten zu bannen, dessen schwarze Fittiche, sagt man, noch das Sterbelager des armen Autokraten zu Taganrog umrauschten.

Juliane von Krüdener – welches Wirrsal von Vorstellungen und Eindrücken weckt dieser Name! Er haucht den Eaudemillefleursduft einer Boudoir-Orgie aus den Zeiten des Direktoriums und zugleich, in abenteuerlichster Vermischung, den dumpfen Geruch eines ländlichen Konventikels. Das wunderliche Amalgam von Deutschem, Russischem und Französischem, von einer Weltdame und einer Bußpredigerin, von einer sündigenden und einer bereuenden Magdalena. Man hat sie die Sibylle, die Veleda der Restauration genannt. Aber sie war keine Prophetin. Sie war nur die von einem ebenso unklar als rastlos tastenden Ehrgeiz verzehrte Gelegenheitsmacherin der von Enttäuschungen aller Art genährten Zwielichtstimmung, welche nach dem wahnsinnigen Getöse der Napoleonschen Kriege herrschend wurde. Man fertigt jedoch diese Frau nicht damit ab, daß man ein sehr bekanntes Sprichwort auf sie anwendet. Die Frau, welche ihre von dem dankbaren Händedruck des Kaisers von Rußland noch warme Hand einem Bauernmädchen von Wildisbuch reichte, die Frau, welche, um eine Mission durchzuführen – und wäre es auch nur eine Mission der Eitelkeit gewesen – sich der ganzen Polizeibrutalität der Restaurationszeit aussetzte, die Frau, welche ihren Roman »Valérie« gelebt und geschrieben hatte, und welche, durch Geburt und Stellung berechtigt, an dem Bankett der Erdengötter teilzunehmen, sich dennoch so an demselben verekelte, daß sie ein lautes Wehe! in das wollüstige Girren und genußsatte Gähnen hineinrief – diese Frau war keine gewöhnliche Erscheinung.

Droben in Kurland wurde Juliane von Vietinghoff im Jahre 1766 zu Riga geboren, als Tochter eines alten und reichen Hauses. Damals war der »Philosoph von Ferney«, der Apostel, nein, der Messias der lustigen Botschaft des Spottes, das A und O der vornehmen Gesellschaft Europas. Die kleine Juliane wurde gleichsam mit Voltaireschem Esprit aufgepäppelt, denn schon in Kinderschuhen kam sie mit ihrem Vater nach Paris, wo dieser ein gastfreies Haus machte und alle die spöttelnden, höhnenden, lachenden, wenn nicht in Glacéhandschuhen, so doch in Muffs Revolution machenden Schöngeister des damaligen Frankreich bei sich sah. Der enzyklopädistische Same fiel nicht auf dürres Erdreich: Backfischchen Juliane bezauberte Messieurs les Voltairiens durch ihre wie im Fluge aufgeschnappten Kenntnisse, ihren schnellfertigen Witz, nebenbei auch durch ihr zartschönes Gesichtchen und eine Taille, deren Feinheit die üppig knospende Büste noch mehr ins Licht stellte. Summa: ein reizendes, witzig plauderndes, körperlich frühzeitig, vorzeitig entwickeltes Persönchen, nicht wenig begierig, zu erfahren, was denn eigentlich hinter den Geheimnissen des Lebens sei; noch um einen Reiz bereichert durch einen gewissen Hang zu schwermütiger Träumerei und Grübelei, vielleicht veranlaßt durch die Neugier, welche Bewandtnis es denn wohl mit der wunderlichen Geschichte von der Mutter Eva und dem verbotenen Baum im Paradiese habe. Die geistige Begehrlichkeit jedoch prickelnder in dem jungen Ding als die sinnliche – für jetzt. Deshalb ließ sich denn auch die noch nicht Vierzehnjährige sorglos willfährig an einen sehr viel älteren Mann verheiraten, an den Freiherrn von Krüdener, einen Livländer in russischen Diensten, welcher seine junge Frau auf seine Gesandtschaftsposten erst nach Kopenhagen und dann nach Venedig mitnahm. Die Stadt des heiligen Markus hatte damals das Szepter im Reiche der Ausschweifung bereits an die Stadt der heiligen Genoveva abgetreten, aber noch immer bot die »Heimat der Wollüste« an der Adria hinlängliche Gelegenheit, zu verführen und verführt zu werden. Die junge Mutter Juliane, denn sie hatte ihrem Gatten einen Sohn und eine Tochter geboren, entdeckte jetzt erst, was es hieße, ein Weib zu sein, ein schönes, junges Weib mit glühenden Sinnen und einer verhätschelten Phantasie. Der arme Herr von Krüdener scheint nicht gerade zu den philosophischen Gatten gehört zu haben, welche mit weltmännischer Fassung zusehen, wenn ihre Gattinnen einen vielseitigen Kursus in der Kunst, zu lieben und sich lieben zu lassen, mit mehr oder weniger Skandal durchmachen. Die Ehe wurde getrennt, und Freifrau Juliane, die sich als eine sehr freie Frau manifestiert hatte, kehrte in das elterliche Haus nach Riga zurück. Da hielt sie es aber nicht lange aus, denn schon waren ihr »Emotions« sozusagen zum täglichen Brot geworden. Sie ging solche in Petersburg, in Paris suchen. An letzterem Orte gaben damals die Barras und Garat den Ton an, das heißt, es herrschte eine Frivolität, welches Wort man, um seinen Sinn wiederzugeben, hier nur mit Liederlichkeit übersetzen kann. Juliane warf sich in die allgemeine Orgie, deren vornehmer Hautgout durch den Beigeschmack häßlicher Geldverlegenheiten eher verstärkt als vermindert wurde. Allein auf die Länge genügte ihr die Rolle einer Koketterie, wie andere Koketten sie auch durchführen konnten, nicht mehr. Sie empfand das Bedürfnis, diese Rolle zu potenzieren, zu spiritualisieren. Sie dürstete danach, in der menschlichen Tragikomödie etwas mehr zu bedeuten zu haben als eine galante Dame. War es denn nicht eine Epoche der wunderbarsten Möglichkeiten? Hatte sich nicht ein korsischer Abenteurer zum Herrn von Frankreich machen können? Und dann die Lorbeern der Staël, der Genlis! Es ward für Juliane nachgerade unerträglich, eben weiter nichts zu sein als die Maitresse eines Garat. So setzte sie sich denn hin und schrieb ihren Roman »Valérie«, in welchem sie ihre Erlebnisse und mehr noch ihre Empfindungen, die Quintessenz ihrer Erfahrungen sehr geschickt in Szene setzte. Das Buch, 1803 erschienen, ist noch jetzt merkwürdig, weil es die Signatur jener Zeit getreu wiedergibt. Nicht so fast die Sophistik der Leidenschaft als vielmehr die der Koketterie und zwar einer durchgeistigten Koketterie bildet den Inhalt, welcher sich, um einen von der Verfasserin anderweitig erfundenen Ausdruck zu gebrauchen, mit einer vollendeten Grazie der Sünde (»les graces du péché«) darlegt. Der Zweck des Buches wurde vollauf erreicht, um so mehr, als unsere Autorin die in Paris studierte Blague und Claque meisterlich zu handhaben verstand: – Juliane war jetzt eine berühmte Frau.

Sie wollte jedoch mehr sein. Denn Dirne Ehrsucht ist die unersättlichste aller Messalinen. Juliane wollte auf ihre Zeit wirken, unmittelbar, persönlich. Schon in »Valérie« war die Wendung von der Weltdame und Liebeskünstlerin zur Prophetin und Missionärin deutlich genug gezeichnet. Es war in diesem Buche gesagt, nachdem die Jugend bis zur Übersättigung in den sinnlichen Freuden geschwelgt, werfe sie sich der Kunst in die Arme, um endlich, auch der ästhetischen Genüsse überdrüssig, sich dem Himmlischen zuzuwenden. Mit andern Worten: der Roman der Liebe wie der Roman der Kunst war für Juliane durch- und ausgespielt, und der Roman des Glaubens hob an. Im Jahre 1806 nach Berlin gegangen und in die vertraute Umgebung der Königin Luise zugelassen, gab sie sich als »Erweckte«, knüpfte Beziehungen zu den Herrnhutern an und suchte die Königin zu »bekehren«. Diese hatte aber eine Bekehrung gar nicht nötig, und außerdem wurde Julianes Debüt als Prophetin durch die politischen Katastrophen der Zeit vereitelt. Von jetzt an war Julianes Leben ein unstetes Wandern. Sie ging wieder nach Paris, von da nach Genf, von da nach Karlsruhe, wo sie mit dem Geisterseher Jung-Stilling pietistelte. Sie hatte sich jetzt schon glücklich in den Zustand der Ekstase, der Visionen hinaufphantasiert, um nicht zu sagen hinaufgeschwindelt, und begann den »Armen das Evangelium zu predigen«. Die Prophetin war fertig. Natürlicherweise fand sich denn auch der geistliche Größenwahn ein. Überzeugt, daß sie vermöge spezifisch inniger Verbindung mit Gott berufen sei, Entsagung aller weltlichen Triebe und Lüste zu predigen, verwarf sie alles menschliche Wissen als eitel und die Erforschung der Naturgeheimnisse als frevelhaft.

Aber die neue Prophetin war nicht umsonst die Frau eines Diplomaten gewesen. »Seid klug wie die Schlangen!« Wenn es ihr gelänge, den Zaren Alexander zum Jünger zu gewinnen? Und es schien wirklich zu gelingen. Sie wußte sich im Sommer von 1815 zu Heilbronn Zutritt zu dem Kaiser zu verschaffen und folgte ihm nach Paris, wo sie jetzt in den vornehmen Kreisen als Religionskünstlerin auftrat. Sie ließ sich im Hintergrunde von mehreren dunkeln Gemächern in priesterlichen Gewändern auf den Knien liegend als Beterin und Hierophantin sehen und die von ihr eröffneten Konventikel erfreuten sich eine Weile bedeutender Frequenz – es war ja etwas Neues. Dennoch wurde der Hauptzweck verfehlt: der Zar ist der Visionen, Orakel und Weissagungen seiner Mystagogin in Bälde satt geworden, fast so schnell, als er der »petites-filles de toutes les nations« überdrüssig wurde, welche im raschesten Wechsel mit den fortgesetzten zarischen Bußübungen wechselten. Nach diesem mißglückten Versuch, von oben herab alle menschlichen Wesen in einen »göttlichen Liebesbund« zu sammeln, übernahm Juliane das schwierige Experiment von unten herauf. »Electere si nequeo superos, Acheronta movebo.« Zu deutsch: »Wenn die Kaiser und Könige mich nicht hören wollen, will ich den Völkern predigen.« Gepredigt mußte nun einmal sein. Es ist auch nur billig, zu sagen, das Gepredige sei recht zeitgemäß gewesen. Denn es wurde wieder gar viel gesündigt in der Welt. Was war denn aus den zarischen Leibeigenschaftsaufhebungsplanen, aus dem Inhalt der Versprechungen von Kalisch und der »Aufrufe an mein Volk« geworden? Makulatur. Will der »beschränkte Untertanenverstand« sich erfrechen, an die Hoffnungen zu erinnern, wofür die deutschen Jünglinge und Männer auf den Feldern von Lützen, Bautzen, Großbeeren, Dennewitz, von der Katzbach, Leipzig, auf allen den Walstätten vom Rhein bis zum Montmartre ihr Leben hingegeben haben? Laßt die ganze Hundemeute der Kotzebue, Stourdza, Kamptz, Schmaltz und Tschoppe auf die »Demagogen« los! Ei, wenn die Könige sündigen, müssen die Völker, die ewigen »Prügelknaben«, Buße tun – die alte Geschichte!

Frau von Krüdener verhüllte, was alles sie vordem in den Salons der Direktorialzeit sehen zu lassen kaum weniger sich beeifert hatte als Madame Tallien, welche es bekanntlich verstanden, nackter zu gehen als die Natur, ja, sie verhüllte ihre nahezu fünfzigjährigen, aber immer noch nicht ganz verschwundenen Reize streng mit einem bis zum Halse hinaufgehenden Kleid von grauer Seide und trug statt Federn, Blumen und Schmuck ein kleines Kreuz auf der Brust. So kam sie, »mit dem zauberhaften Schimmer einer sehnsuchtsvollen Magdalenenbüßerin übergossen«, 1815 nach Basel, der Stadt der Traktätchen und der frommen Millionäre. Hier schlossen sich der Prophetin der Genfer Empeytaz und der Baseler Professor Lachenal, von welchem wir weiterhin hören werden, als Jünger an. Das Missionswerk im großen Stil begann jetzt, aber zugleich das Martyrium. Denn die Krüdenersche Bewegung, welche rasch einen sehr populären Anstrich, sozusagen eine Massenhaftigkeit gewann, widersprach durchaus dem von seiten der heiligen Allianz dekretierten Ideal der Kirchhofsruhe. Selbst den weisen Vätern von Basel erschien die Arbeit am Reiche Gottes »von unten herauf« so bedenklich, daß sie nicht zögerten, die Prophetin aus der gottseligen Stadt hinauszumaßregeln. Juliane nahm außer dem kleinen Kreuz, welches sie vor der Brust trug, auch noch das große Polizeikreuz auf sich. Standhaft zog sie bis zum Ende des Jahres 1817 in der Schweiz und an der Nordgrenze derselben umher, oft von tausenden gläubiger Seelen umgeben. Die Polizei wollte behaupten, die Wirksamkeit von Julianes Predigten sei hierbei sehr verstärkt worden durch die von der Prophetin gespendeten Almosen; aber die Polizei ist, wie weltbekannt, ein prosaisches Institut, welches von »erwecklichen« Dingen nichts versteht. Auf einer jener Grenzfahrten ist Juliane, wie wir sehen werden, auch in die Nähe von Wildisbuch gekommen und hat da eine Zusammenkunft mit der Heldin unserer Geschichte gehabt.

Ihre Sendung in diesen Gegenden war jedoch zu Ende, das heißt die Polizei trennte sie zu Anfang des Jahres 1818 von ihrer weiteren und engeren Jüngerschaft und brachte sie mehr oder weniger sanft nach Leipzig und von da nach Rußland. Die Erinnerungen des Kaisers Alexander an seine Pythia von 1815 scheinen keine angenehmen gewesen zu sein, denn es ward der Prophetin der Aufenthalt in Petersburg oder Moskau untersagt. Als sie später dennoch in die russische Residenzstadt kam und sich durch ihre geräuschvolle Teilnahme an der Sache der »rebellischen« Griechen unangenehm machte, wurde sie nach Livland verwiesen. Der süßen Gewohnheit des öffentlichen Predigens und Segenspendens hatte sie schon zuvor entsagt, auf gewisse nicht mißzuverstehende Winke hin. Aber stillsitzen konnte sie nicht: noch immer war der »Geist« in ihr mächtig. Sie wollte ihr »Werk« ganz von neuem beginnen, wollte das Reich Gottes, nachdem ihr dessen Bau in der zivilisierten Welt mißlungen war, in der Wildnis aufrichten. Zu diesem Zwecke ging sie in Begleitung ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns im Sommer 1824 nach der Krim, um dort eine Kolonie nach Krüdenerschen Ideen zu gründen. Aber statt eines neuen Zion fand die Rastlose im alten Taurien nur ein Grab, indem eine schmerzhafte Krankheit sie vor Jahresschluß zu Karasubazar wegraffte. Frieden ihrem Andenken! Es war in dieser Frau doch etwas, »was nicht irdisch«, etwas vom himmlischen Feuer, ohne dessen Helle und Wärme das Leben nicht der Mühe wert wäre, gelebt zu werden. Der Rauch ist stärker gewesen als die Flamme, ja, und er hat einen mißlichen Mißduft hinterlassen; aber trotz alledem stammte der Funke von jenem »Zentralfeuer« der Begeisterung, welches die intellektuelle Welt in Schwang und Gang und Trieb erhält.

Oft, nur zu oft spritzt so ein Funke in so eine arme, schwache, enge Seele, deren Stickluft ihn tötet. Da entsteht dann freilich nur ein stinkender Qualm und noch dazu ein Qualm, der sich für was Rechtes, ja für das einzig Rechte ausgeben möchte und wirklich ausgibt. Keineswegs ohne Erfolg. Denn in der menschlichen Tragikomödie ist doch immer wieder Primadonna jene Macht der Dummheit, gegen welche, wie wir alle wissen, selbst Götter vergebens kämpfen. Nur Adler vermögen in die Sonne zu blicken, nur Auserwählte das Licht zu ihrem Gespielen zu machen, ohne sich an demselben zu versengen. Der Pöbel, dessen Zahl Legion ist und in dessen Scharen Bettler neben Fürsten und Waschweiber neben gnädigen Frauen von sechzehn Ahnen oder von hundert Geldsäcken vertraulich stehen, der Pöbel liebt es, sich bequalmen, sich mittels Dunstes berauschen zu lassen. Ihm ist wohl in dieser trübseligen, übelriechenden Atmosphäre. So komm denn für eine kleine Weile wieder hervor aus dem Grabe deiner Verschollenheit, putziger Dunstmacher von Embrach, arme Schneiderseele, personifizierter Qualm, der du dereinst so viele deiner Mitmenschen und Mitmenschinnen angequalmt und benebelt hast; komm hervor! Es muß sein, ich kann dir nicht helfen.

Zur selbigen Zeit nämlich, wo Juliane von Krüdener die heidnische chemise grecque mit dem bewußten grauen christlichen Seidenkleide zu vertauschen und also symbolisch und faktisch ihre Metamorphose von der galanten Dame zur Bußpredigerin zu vollziehen sich anschickte, saß oder hockte zu Embrach im »Züribiet« ein junger Mensch, Jakob Ganz geheißen, auf dem Schneidertisch, Großes im Busen wälzend. Und warum nicht? Hatte es nicht ein Schneider, der Derfflinger, zu seiner Zeit zum brandenburgischen Generalfeldmarschall gebracht? Und im vorhergegangenen Jahrhundert ein anderer Schneider, der Jan Bockelson, gar zum König von Zion im neuen Tempel zu Münster und überdies zu nicht weniger als fünfzehn Frauen, von denen er einer aus lauter Liebe gelegentlich eigenhändig den Kopf abschlug? So hoch freilich verstieg sich die Phantasie unseres Embracher Schneiderjungen nicht; doch aber fühlte er sich berufen, anstatt bäuerische Hosen und Tschopen vielmehr das Reich Gottes zurechtzuflicken. Bei so bewandten Umständen war es kein Wunder, daß ihm die Tschopen und Hosen sehr schlecht gerieten. Man kann nicht zugleich ein Apostel in spe und ein Kleiderkünstler in re sein. Wenn aber Jakobs spärliche Kunden über die Machwerke seiner Schere und Nadel murrten, schenkte er ihnen zum Ersatze Predigten, die er eigenhändig verfaßte und worüber den guten Embracher Bauern der Verstand stillstand. Begreiflicherweise, denn unser strebsamer Jüngling hatte in diesen frommen Stilübungen neben den Eingebungen des eigenen Geistes auch noch die Resultate seiner Lesung Jung-Stillingscher Schriften zusammengequalmt. Eines schönen Tages sprang Jakob mit einem verhängnisvollen Satz von seinem Schneidertische herab, lief zum Ortspfarrer und erklärte diesem frischweg, »Gott habe ihm eingegeben, die Schere an den Nagel zu hängen und Geistlicher zu werden, weil er als solcher am meisten zur Ehre Gottes und des Heilandes wirken könne«. Der Pfarrer – ich bemerke schon hier, daß zu jener Zeit die überwiegende Mehrzahl der züricherischen Geistlichen der rationalistischen Richtung zugetan war – der Pfarrer schüttelte zu diesem unerforschlichen Ratschlusse Gottes den Kopf und riet seinerseits, der nadelmüde Jüngling sollte versuchen, sich zum Schulmeister zu bilden, da er zum theologischen Studium weder das Zeug noch die Mittel habe. Was? Nicht das Zeug? Kann ich nicht schon jetzt Predigten machen, worüber die Leute Maul und Augen aufsperren? Der Pfarrer hat nicht den »rechten Geist«, soviel ist sicher. Er ist nur ein Mietling im Weinberg des Herrn oder wohl gar ein Ungläubiger, ein Heide.

Sprach's, wenn auch vorerst nur ganz stille bei sich, und machte sich auf nach Zürich, frommere Seelen und Gönner zu suchen. Es wollte anfangs nicht gelingen, dann gelang es doch. Der heilige Schneidereifer schlug durch. Zudem hatte sich Jakobus mittels angestrengtesten Privatstudiums schon gehörig eingepaukt, wie der Kopf liebfüßchristlich zu hängen sei, wie die Augen im schärfsten Winkel himmelan zu drehen seien. Es hat der guten Stadt Zürich zu keiner Zeit an Liebhabern solcher Symptome des Durchgebrochenseins zur Gnade gefehlt, von den Liebhaberinnen gar nicht zu reden, und so wurde zu gunsten Jakobi der »Säckel der Barmherzigkeit« aufgetan. Unser Exschneiderjunge war dadurch in den Stand gesetzt, bei einem Pfarrer im Aargau die Humaniora zu studieren und dann in Basel die Theologie. Hier gewann seine Bildung, falls nämlich die Anwendung dieses Wortes statthaft ist, den rechten Bogen durch seine Verbindung mit Bekennern des Evangeliums von Herrnhut. Er brachte in Basel seine »Wiedergeburt« vollständig zuwege: die Entpuppung des Schneiders zum »Streiter des Herrn« war vollendet. Ich sage: zum Streiter, denn unser durchgebrochener und wiedergeborener Jakobus ging alsbald tapferlichst an gegen den Widersacher und Erzfeind, der »da umgehet und brüllet«. Er, der Jakobus, war wahrlich nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Er begann zu brudeln und zu qualmen wie ein rechter Schlammvulkan. Zunächst in einer zahlreichen Gemeinde des Aargaus, deren gutherziger Pfarrherr ihn zu seinem Vikar angenommen.

Arme Aargauer Bauernseelen, welche unser junger Eiferer mit der Schere seines Glaubens zuschnitt, ihr fuhret gerade so schlimm, wie früher die Embracher Tschopen und Hosen gefahren. Ganz-Qualm schneiderte nämlich an besagten Seelen und zwar mit besonderer Energie an den in »Weiberjüppen« steckenden herum, bis er die Gemeinde unter sich und gegen ihren Seelsorger, seinen Wohltäter, glücklich verhetzt hatte, natürlich nicht deshalb, weil er statt Vikar Pfarrherr zu sein begehrte, behüte, sondern nur »zur größeren Ehre Gottes«. Was hat das: »Ad majorem dei gloriam« nicht alles schon zudecken müssen in dieser Welt! Es ist eine so blutige Ironie, wie die Weltgeschichte keine zweite ersonnen hat. Aber die Minen, welche der Vikar in den von ihm geleiteten Winkelkonventikeln gegen seinen Prinzipal angelegt hatte, sprengten nur ihn selber. Nicht in die Luft zwar, aber in eine andere Gemeinde. Hier qualmte er sich als Bußprediger von erstaunlicher Lungenkraft richtig zu dem Rufe eines Elias, ja eines Johannes des Täufers hinauf, schrieb Traktätlein und knüpfte nach allen Seiten hin Verbindungen an mit den »Stillen und Gottseligen«. So auch mit der damals im Lande grassierenden »Heiligen Krüdener«, zu welcher er in Begleitung von dreißig Weiberjüppen samt Inhalt wallfuhr.

Die Regierung der Republik Aargau sah aber den Ganzschen Schlammvulkan mit profanen Augen an, sonderlich, nachdem sich herausgestellt, daß der aus besagtem Vulkan aufwirbelnde Dunst einem früher wackeren Familienvater den Kopf so jammervoll verrückt hatte, daß er sich, um ins »Himmelreich einzugehen«, die Kehle abschnitt. Jakobus wurde polizeilich über die Grenze des Kantons gebracht und drüben, im Heimatkanton Zürich, unter strenge polizeiliche Aufsicht gestellt; da half kein Abbitten, kein Augenverdrehen, kein Wimmern und Winseln. Aber bald besann er sich, indem er sich jetzt nicht nur als Apostel, sondern auch als Märtyrer suhlte. Zwar mit seiner öffentlichen Wirksamkeit von der Kanzel herab war es aus – die unheilige Polizei! – aber im Dunkeln läßt sich ja so schön munkeln. Man sah den Schlammvulkan nicht mehr brodeln und brudeln, aber man spürte dennoch seinen Qualm. Zunächst vermehrte Jakobus die Jüngerschaft der Frau von Krüdener. Nachdem die Prophetin jedoch genötigt worden, den Staub der Schweiz von ihren Schuhen zu schütteln, trieb Ganz das Apostelgeschäft auf eigene Hand, schlau im geheimen schleichend, aber rastlos und mit reichem »Segen«. Auch für seine irdischen Bedürfnisse, denn auch ein Heiliger muß doch sozusagen leben, und die guten Sächelchen dieser Welt schmecken so gut. Unermüdlich, für das Reich Gottes Seelen einzufangen, rührte Jakobus wacker seine Beine, seine Zunge und seine Feder. Auf frommen Winkelpressen wurden seine Sammelrufe, Stoßseufzer und Posaunenstöße gedruckt und in Tausenden von Exemplaren heimlich verbreitet. Unter diesen Qualmoffenbarungen tat sich besonders eine hervor, betitelt »Das Geheimnis der Gottseligkeit«, im Jahre 1820 erschienen.Ein Exemplar liegt bei den Wildisbucher Akten. I, 78. Die Wahrheit zu sagen, es ist etwas von populärer Beredsamkeit in dem Ding, etwas von jener nebelnden Suade, welche so recht geeignet ist, verbohrte Gemüter total zu vernebeln. Den Inhalt angehend, ist dieser ein mit willkürlich gebrauchten und gedeuteten Bibelworten gewürzter Brei, in welchem Teufelsglaube und Molochsdienst, Jung-Stillingsche Fühlsamkeit und muckerische Sinnlichkeit, Eitelkeit und Hochmut, herrnhutscher Lämmleinschweiß und baalsche Blutopfertheorie zum erwecklichsten Unsinn zusammengequirlt sind. Wir werden gelegentlich davon hören.

Und solcher Unsinn konnte auf die Menschen wirken? O Leser, der du diese Frage tust, du mußt noch sehr jung sein! Sonst wüßtest du, daß das Hexeneinmaleins in Goethes Faust, sei es in dieser oder in anderer Form, das Kredo der ungeheuren Mehrzahl der Menschen ist. Warum sonst knetet sich der Goldküstenneger seinen Gott aus Palmenharz und der »hochzivilisierte« Europäer aus Oblatenmehl? Nur nicht denken, keine fünf Minuten lang! Nur nicht an das wirkliche Einmaleins glauben, beileibe nicht! Dreimal eins macht nicht eins, sondern drei, und zweimal zwei macht vier: – das schlägt alle Dogmatiker aufs Maul und stopft alle Schlammvulkane zu, gründlich! Aber wir sagen lieber: dreimal eins macht eins und zweimal zwei macht fünf. Wir wollen es so haben, wir, der souveräne Unverstand, die von vielen, vielen Jahrhunderten mumisiert uns überlieferte Gedankenlosigkeit. Hat doch Luther gesagt: »Die Vernunft ist des Teufels Hure.« Kompromittieren wir uns also nicht durch einen, wenn auch noch so schüchternen Umgang mit derselben! O, es hat keine Not, ihr Lieben, ihr Guten. Feierlich stelle ich euch das Zeugnis aus, daß ihr niemals, auch nicht aus entferntester Ferne mit der gefährlichen Schönen geliebäugelt habt, und daß ihr demnach auch nie und nimmer in eine Denkprozedur verwickelt worden seid. Aber wo ist denn unser Geheimnisler der Gottseligkeit, Jakobus Ganz-Qualm geblieben? Auf Apostelpfaden, schlangenklug und schlangenleise durch die von seiten einer unheiligen Polizei ihm gelegten Fußangeln sich durchwindend. So durchschleicht er, überall die »Brüder« und »Schwestern« in der Heiligkeit steifend, das Land vom Bodan bis zum Leman und vom Säntis bis zu den Vogesen – ein wandelnder Kleister, welcher die Momiers von Genf und Lausanne mit den Stündlern von Bern, mit den Traktätlern von Basel, mit den Pietisten von Zürich und Schaffhausen zusammenpappt. Jetzt ruht er sich von seinen apostolischen Strapazen bei seinem Herzensfreund und Krüdenerschen Mitjünger Lachenal in Basel aus, dann spukt er wieder plötzlich »auf der Platte« bei Zürich, im Kempttal, auf dem Rafzer Feld und schleicht aus dem Flaachtal hinüber nach dem einsamen Dörfchen im Schoße der Kohlfirst. Das war ein sich Ducken, Drehen und Winden! Aber allenthalben wurde der schleichende Qualm von seinen Schafen und Lämmlein liebevoll empfangen als »ein köstlicher Ruch vor dem Herrn«. Wir werden im Verlauf unserer Geschichte seinen Spuren da und dort begegnen. Es wird unlieblich, aber nötig und lehrreich sein, diesen Fährten nachzugehen. Ziehe, günstiger Leser, für einen Augenblick das Register deiner Erinnerungen, wo genossene Theaterfreuden nachsummen. Als du zum erstenmal den Freischütz sahest, weißt du? merktest du mit jugendlichem Schauder, daß unter jedem der schlurfenden Fußtritte Samiels der Boden phosphoreszierend aufstank. Übel zu riechen das, aber merkwürdig anzusehen für so einen Grünling im Parterre. Nun wohl, siehst du, so eine übelriechende, wie faules Holz oder Leichengas unheimlichbläulich leuchtende Fußspur ließ mehrbesagter Jakobus überall hinter sich zurück, als er einer unheiligen Polizei zum Trotz reisepredigcnd und traktätelnd im Schweizerland umschlich. Wir werden darauf achten müssen.

Drittes Kapitel

Personen

Sir John Falstaff einerseits und König Friedrich der Große andererseits sind sicherlich sehr verschiedene Erscheinungsformen des Begriffes Mensch gewesen. Und doch haben der große Sektvertilger und der große Menschenvertilger, welcher seine armen Teufel von Kanonenfutter mittels des Anschreis: »Ihr Racker, wollt ihr denn ewig leben?« zum Fechten und Sterben für ihn begeisterte, über Ehre und Ruhm so ziemlich übereinstimmend philosophiert. Wie weltbekannt, monologisierte der Stammgast der Frau Hurtig, seinen Wanst vorsichtig über das Schlachtfeld von Shrewsbury schleppend: »Ehre beseelt mich, vorzudringen. Wenn aber Ehre mich beim Vordringen entseelt? Kann Ehre ein Bein ansetzen oder einen Arm? Nein. Oder den Schmerz einer Wunde stillen? Nein. Was ist Ehre? Ein Wort. Was steckt in dem Wort Ehre? Luft.« – Und der Sieger von Leuthen? Er, der in jüngeren Jahren sich den Voltaire gehalten hatte, sozusagen als die Trompete seines Ruhms – eine Trompete freilich, die mitunter spottdrosselunartig geblasen – räsonnierte nicht auch er zuletzt ganz falstaffisch? In späteren Tagen, als dem alten Fritz die Zähne ausgefallen waren, merkte er, daß ein gutes Gebiß ein viel liebliches Ding sei als eine Trompete Voltaire, und da setzte er sich grämlich hin und schrieb brummend an seinen Bruder Heinrich: »Was ist der Ruhm? Ein Nichts. Alexander, Cäsar und so viele andere Helden alter und neuer Zeit haben alles Menschenmögliche getan, um von sich reden zu machen, und doch hat ein Jude, welcher auf dem Kalvarienberg hingerichtet worden, einen größeren Namen davongetragen, als sie alle mitsammen. Was kümmert sich das Universum darum, wer in Europa herrscht? Macht ein Mensch auch noch so viel Geräusch auf der Erde, so ist und bleibt er für das Weltall doch immer nur ein unerkennbares Atom.« Ja, ja, es ist dafür gesorgt, daß die Menschen nicht in die Sterne hinaufwachsen: selbst die großen Fritze, selbst die Napoleone nicht. Da hilft keine Philosophie von Sanssouci und kein Komödienspiel von St. Cloud oder von St. Helena. Spektakelt eine Weile, ihr Helden oder – ihr Komödianten, und dann »Staub zu Staub«. Droben im Sirius weiß man so wenig von euch wie von uns andern allen. Aber Spektakel, Geräusch, Ehre, Ruhm, Trompeten und Pauken müssen sein. Wäre es sonst doch gar zu langweilig still in dieser Welt und müßte der ungesalzene und ungeschmalzene Brei einer allgemeinen Gleichheit und Gleichgültigkeit für die Menschheit bald so ungenießbar werden, daß sie sich aus Überdruß zu Tode hungerte.

Das wäre auch kein Schaden, brummt Dominus Pessimismus, und wenn man betrachtet, welche Rolle die Nero und Konstantin, die Attila und Dschingiskhan, die Iwan Wasiljewitsch und Alba, die Borgia und Torquemada, die Guisen und die Wohlfahrtsausschüßler, die Napoleon und Nikolaus, die Haynau und Hassenpflug usw. in infinitum in der Welt spielen konnten, spielen durften, so könnte ein Mensch, welcher sich in den Kopf gesetzt hat, zu glauben, Wahrheit, Recht und Menschlichkeit seien mehr als Wortdunst, unschwer zu der Ansicht kommen, besagter Dominus habe nicht so ganz unrecht. Ja, selbst ein kaltblütiger Mann könnte beim schaudernden Zuklappen des von Wahnwitz gellenden, von Blut und Tränen triefenden Buches der Weltgeschichte in jenes verzweifelnden Philosophen Aufschrei verzweifelnd mit einstimmen, das ganze Menschenleben vom Anfang der Zeiten sei nur eine überflüssige, eine störende Episode »in der seligen Ruhe des Nichts«, es trage ganz den Charakter einer »großen Mystifikation, um nicht zu sagen einer Prellerei«. Freilich, der nächste beste Hofhistoriograph, vorausgesetzt, daß er mit Pensionen gehörig vollgestopft und mit »pour Ie mérite«- und anderem Bänder- und Klingelwerk sattsam behängt sei, wird entschieden anderer Meinung sein, wird mit »wenig Witz«, aber »viel Behagen« diese unsere Welt, wie sie nun einmal ist, für so vortrefflich erklären, daß man sie erfinden müßte, wenn sie nicht schon da wäre. Wer hat nun eigentlich recht? Der morose, hagere, grimmblickende Pessimismus, welcher, vermut' ich, einen sehr fadenscheinigen Rock an hat, oder aber der wohlbestallte, wohlgenährte, ewiglächelnde, Prinzen und Prinzessinnen die Weltgeschichte so sanft, süß und glatt, als wäre sie Himbeerengelee, einstreichende wirkliche Geheimrat und ordentliche Hof- und Staatsprofessor? Und wäre nicht vielleicht eine dritte Meinung möglich? Doch. Einer, der die menschliche Tragikomödie nach ihrem wirklichen Werte schätzt, kann und wird mit dem Dichter sagen: »Das Leben ist Sorg' und viel Arbeit.« Darum, geliebte Mitspieler, faßt an und rührt die Hände wacker! Das bloße Zusehen ist in die Länge gar nicht auszuhalten, wenigstens für jeglichen, welcher Mensch zu heißen verdient. Nämlich in höherem Sinne als in dem jenes Humoristen, welcher den Menschen als eine oben und unten mit einer Öffnung versehene Röhre definierte. Allerdings gibt es solcher Röhrenmenschen oder Menschenröhren eine hinlängliche Zahl, eine sehr hinlängliche. Auch Goethe hat davon zu singen und zu sagen gewußt:

»Was ist der Mensch?
Ein hohler Darm,
Mit Furcht und Hoffnung angefüllt –
Daß Gott erbarm'!«

Logik ist bekanntlich ein Ding, welches über die Schulbänke nicht hinausreicht, und also ziehe ich aus dem Gesagten keck den Schluß: Das Dasein ist keine monotone schiefgeneigte Fläche, auf welcher die Geschlechter der Menschen unterschiedslos zu Grabe rutschen, sondern es zeigt vielmehr diese Fläche prächtige Berge und anmutige Hügel auf, wie nicht minder groteske Höcker, häßliche Kröpfe und garstige Warzen. Denn neben einem Achill steht ein Thersit, neben einem Cromwell ein Wilmot, neben einem Pitt ein Bute, neben einem Washington ein Marat, neben einem Goethe ein Kotzebue, neben einem Schiller ein Schinderhannes, neben einem Blücher und Stein ein Tzschoppe und Wittgenstein. Es ist auch ganz in der Ordnung, daß bei der Menge, bei der vornehmen wie bei der geringen, die Höcker und Warzen mehr Staunen und Teilnahme erregen als die himmelan ragenden Berge: jene sind ihr wahlverwandter als diese. Und nicht nur das. Die ungeheure Mehrzahl der Menschen, das eigentliche Volk, hat keine Zeit, um die Ferne sich zu kümmern. Sein Schauen und Denken geht im Nächstliegenden auf. Daher hat jedes Dorf sozusagen seinen großen Fritz oder Napoleon, seinen Demosthenes oder Jean Paul. Gewöhnlich sehr wunderliche Helden oder Heilige freilich, aber doch immer eigentümliche Spielarten der Gattung Mensch – Höcker oder Warzen, welche über die Fläche des Dorflebens sich erheben.

So hatte unser Wildisbuch, zu welchem wir endlich zurückkehren, seinen »Judenschießer«. Eigentlich hieß der Mann Johannes Peter und war Besitzer des Hauses, welches wir früher vor den Augen des geneigten Lesers wieder aufzubauen versucht haben. Seinen nom de guerre Judenschießer hatte er sich schon als junger Mensch erworben. Nach eigener Angabe so: Seine Mutter hatte drei Stiere an zwei Juden verkauft. Die Juden wollten das Vieh wegtreiben, ohne den vollständigen Kaufpreis zu bezahlen. Der junge Peter, welcher, da es Herbstzeit war, an diesem Tage gerade die Traubenwacht hatte und demnach, wie bräuchlich, mit Schießgewehr und Säbel bewaffnet war, kam zu dem Handel und widersetzte sich dem Wegholen der Stiere. Im Verlaufe des homerischen Zankes, welcher darob zwischen dem Wächter der Weingärten und den Kindern Israel entstand, gab eins der letzteren dem ersteren einen Stockstreich auf die Hand, worauf der Geschlagene seinen Säbel zog und dem streitbaren Nachkommen der Patriarchen einen Hieb über die Finger versetzte.Wildisb. Akten, II, 3. Der Verwundete erhob Klage beim Landvogt zu Kyburg. Die Herren Landvögte und Oberamtmänner, welche damals (1770) und noch lange nachher das Züribiet regierten, machten in solchen Fällen in der Regel kurzen Prozeß. Ehnabe Peter – die ledigen Burschen heißen in der Schweiz Chnaben, Knaben – wurde »an der Stud« mit Ruten gestrichen, um Geld gebüßt und für einige Tage »an den Schatten« getan. Die Wildisbucher Tradition, wie ich sie am Orte selber vernahm, gibt freilich eine andere Lesart, nicht in betreff der Bestrafung, aber in betreff des Vergehens, und es scheint die Tradition hier einmal mehr Wahrheit als Mythenbildnerei zu enthalten. Ihr zufolge lauerte Chnabe Peter besagten Juden in einem Hohlwege der Kohlfirst auf und zwang sie, indem er sein Gewehr auf sie anschlug, dem für die Stiere ausbedungenen Kaufpreis noch ein Stück Geld beizufügen. Von da ab hieß er für sein ganzes Leben der Judenschießer, obgleich er nicht wirklich geschossen hatte. Die Volksepik ließ den Willen für die Tat gelten, wie ja das auch in der Kunstepik und Kriegsgeschichte oft geschieht. Napoleon wußte gar wohl, warum er die ganze Weltgeschichte eine »fable convenue« nannte, er, welcher es sich auf St. Helena so angelegen sein ließ, wenigstens seinen Anteil an derselben zu einer Fabel umzulügen.

Wohl, Chnabe Peter wurde ein Mann, übernahm sein väterlich »Bureg'werb«, führte i. J. 1779 von Rudolfingen herauf die Magdalena Müller als sein Eheweib heim, baute emsig seine Äcker, seine Wiesen und seinen Weinberg, lud und entlud fleißig seine »Friedenskanone« – wie das entsetzlich duftende »Güllenfaß«, der Stolz, die Wonne, die erste und letzte Liebe eines in der Wolle gefärbten Zürichbauers, dichterisch genannt wird – mästete Stiere und Schweine, zeugte daneben mit Zeit und Weile seine Kinder, einen Sohn und fünf Töchter, und wurde i. J. 1806 Witwer. Er hatte etwas vor sich gebracht in der Welt, denn er hielt nicht nur fest, was er ererbt, sondern mehrte es in aller Weise, maßen seine Rechtsbegriffe mitunter sehr unklar und schwankend waren. Hieß und war ein »hablicher« Mann, ein sparsamer Haushalter, schund – wie mir mein Freund sagte, der Herr Gemeindepräsident im Zwillichwams – »schund die Laus um den Balg«, rackerte sich ab früh und spat, und da seine Kinder, mit Ausnahme des Sohnes, den Geist der Arbeitsamkeit von ihm geerbt hatten, so befand sich die Familie Peter um das Jahr 1817 in Umständen, welche zu den besten der ganzen Gegend gehörten. Ein markierter Bauernkopf, Peter der Judenschießer. Mochte in seiner Jugend ein recht stattlicher Chnab gewesen sein, denn noch in seinen alten Tagen wies sein Gesicht eine schöngeformte Stirne und eine wohlgebildete Schnabelnase. Viel bäuerische Schlauheit in den Falten um die Augen her lauernd, ein vorstehendes, gedrungenes, energisches Kinn, die ganze Physiognomie ein merkwürdiges Gewirre von zur Schau getragener Einfalt und listiger Zurückhaltung, von Indolenz und hagebuchener Zähigkeit.

Hielt also, wie gesagt, seinen »G'werb« gut im Stande, der Vater Peter, und stellten er und seine Töchter vor der Zeit, wo durch eine derselben ein furchtbares Verhängnis über das Haus kam, eine so »huslige« und »hebige«Huslig, d. i. häuslich, sparsam. Hebig von haben, mundartlich für halten, also zusammenhaltend, will sagen knickerig, geizig. Bauernfamilie dar, als nur je eine in dicksohligen und schwerbenagelten Schuhen stand. Alles in Ordnung soweit. Hatte aber die Sache doch einen Haken. Stand nämlich die Familie Peter in der kleinen Dorfgemeinde ganz isoliert und abgeschlossen da. Mochte in Wildisbuch niemand gern mit den Peterschen zu tun haben, was sie ihrerseits damit vergalten, daß sie sich, selbst von den nächsten Nachbarn, schroff abschlossen und auswärts Beziehungen und Verbindungen suchten. Diese Vereinsamung der Familie inmitten ihres Heimatdorfes, welche dieselbe unter sich fest verkittete, namentlich Vater und Töchter, hatte ausreichende Ursachen. War nämlich der Judenschießer ein gefürchteter und gehaßter Mann, Johann Kaspar Simmler, der Pfarrherr von Trüllikon, wohin, wie erwähnt worden, Wildisbuch verpfarrt war und ist, hat amtlich von ihm bezeugt: »Solange man sich des Johannes Peter zu erinnern weiß, ist er als ein verschlagener, betrügerischer und gewalttätiger Mann bekannt, als ein streitsüchtiger Erztröler (Prozeßkrämer), als ein hartherziger Geizkragen, dessen Türe den Hilfebedürftigen und Armen streng verschlossen blieb, ferner als ein mitsamt allen den Seinigen dem Lügen unglaublich ergebener Mensch, endlich als ein dem finstersten Aberglauben so Zugetaner, daß er einen ›Lachsner‹ (Wunderdoktor, Hexenmeister) anging, die verhaßte Ehefrau seines Sohnes mittels ›Vernagelung‹ aus der Welt zu schaffen.«W, A. I, 28, 34, 41, 64. Hinsichtlich der »Vernagelung« und anderer zauberischer Praktiken, welche im Volksglauben, wie vor alters, so noch heute eine größere Rolle spielen, als die Herren Philosophen sich einbilden, verweise ich auf meine Deutsche Kultur- und Sittengeschichte, 6. Aufl., S. 363 ff., und meine Geschichte der deutschen Frauenwelt, 3. Aufl., II, 144 ff.

Pfarrherr Simmler war ein strammer Rationalist, wie damals die meisten seiner Amtsbrüder im Lande gewesen sind. Zwar die Homunkula, genannt »spekulative Theologie«, war zur Zeit schon aus der Schleiermacherschen Retorte hervorgekrochen, lag aber noch in den Windeln und sog sich am Lutschbeutel der Dialektik erst allgemach zu einer alles Widerhaarigste versöhnenden Vermittlerin empor. Also der Pastor von Trüllikon war kein spekulativer Allerweltsvermittler und haßte demnach mit Recht redlich-einseitigem Haß alle abergläubischen Ränke und Schwänke, allen Krüdener-Ganzschen Qualm, alle konventikelnde Schielerei und Muckerei. Hielt viel auf den gesunden Menschenverstand, der gute Pfarrer, hatte auch schweren Ärger an seinen Peterschen Pfarrkindern erlebt und war, als die Wildisbucher Greuelblase zum Platzen gekommen, so gereizt, daß er in seinen bezüglichen Berichten mitunter über das Ziel strenger Tatsächlichkeit hinausschoß. Wie das so geht beim Platzen derartiger Blasen, der Mißduft war so entsetzlich, daß in dieser Atmosphäre zunächst keine ruhige Prüfung möglich war und auch das Gräßlichste als selbstverständlich zur Sache gehörend geglaubt wurde. So nahm denn auch unser Pfarrherr keinen Anstand, in seine Berichte solches aufzunehmen, was früher über den Judenschießer geraunt und gemunkelt worden, jetzt aber laut ausgesprochen wurde. Nämlich, der Judenschießer sei nicht nur ein schamloser Ehebrecher, nicht nur ein grausamer Mißhandler seiner Ehefrau, sondern auch der Vergifter derselben gewesen. Ebenfalls habe er einen Schwager vergiftet, um denselben zu beerben, und endlich habe er mit seinen Töchtern blutschänderischen Umgang gepflogen. Lauter Bezichtigungen, welche als unerwiesen in das Gebiet der Wildisbuch-Trüllikon-Rudolfingenschen Volkspoesie und Mythenbildnerei zu verweisen sind.

Kein Mythus dagegen, sondern wüste Wirklichkeit war das Gebaren von Kaspar Peter, dem einzigen Sohn des Judenschießers. Als einen schändlichen, lügenhaften, diebischen, unzüchtigen Menschen bezeichnete ihn Ehren Simmler. Der junge Bauer hatte i. J. 1812 die Anna Möckli aus Schlatt geheiratet, und sein Eheleben war ein Idyll, wenn man will, aber ein ländlich-schändliches. Wir sehen da in einen Abgrund hinein, von welchem unsere geschniegelten Dorfnovellisten keine Ahnung haben. Da drunten stoßen und balgen sich Geiz, Neid, Wollust, kurz alle die gemeinsten Instinkte und Leidenschaften – garstig, über alle Maßen garstig! Die Frau bezichtigt den Mann, daß er seine ehelichen Rechte zu »viehischem« Mißbrauch ihrer Person gesteigert und sie dadurch »ganz ruiniert und in Unordnung gebracht habe«. Der Mann dawider, seine Frau habe ihn schon als Braut messalinisch in die unsaubersten Mysterien der Unzucht eingeweiht.W. A. I, 71 b. – Der unheilige, ärgerliche Ehebund wurde nach etlichen Jahren durch gerichtlichen Scheidungsakt getrennt, und einige Zeit darauf wollte Kaspar Peter zu einer zweiten Ehe schreiten. Aber seine zweite Auserwählte, Elisabeth Ott von Basadingen, merkte beizeiten, welches Los ihr bevorstünde, und brach den Handel ab. Freilich nicht ganz beizeiten. Aber sie wollte doch lieber ein uneheliches Kind gebären und erziehen, als ihres Verführers Frau werden. Der Kaspar war nämlich inzwischen ein vollendeter Taugenichts geworden, der, statt zu Hause seiner Arbeit obzuliegen, müßiggängerisch umherzog und den – Bußprediger spielte; aber keineswegs etwa im Gefühle der eigenen Bußebedürftigkeit. Er war wie seine ganze Familie in den Knäuel der Sektiererei verstrickt worden.

Diese Verstrickung hatte i. J. 1817 stattgefunden.W. A. II, 4. Es war ja, wie oben zu schildern versucht worden, die Zeit der »Umkehr« und der »Erweckung«. Die Stahl, Hengstenberg, Vilmar, Wichern und Konsorten von damals waren an allen Ecken und Enden, in hohen und niederen Kreisen tätig. Der Weinberg des Herrn wurde heftigst bearbeitet. Die Konventikellockpfeife tönte gar süß und erbaulich. Es wurde im Dunkeln gar warmbrüderlich und brünstigschwesterlich gemunkelt und gemuckert. Die Munkler und Mucker von damals, die leitenden nämlich, sahen gerade wie die von heute im Christentum nur eine große zweckdienliche Völkerverdummungsanstalt, während die geleiteten dasselbe in blutigem Ernste für eine Satanosophie und Molochologie – stolpere nicht über das Wort, lieber Leser! – nahmen. In blutigem Ernste, jawohl. Wir werden es erfahren. In Wahrheit, es war eben kein Wunder, daß die Theologie des Volkes damals wieder ganz entschieden eine Teufelslehre wurde. Hatte nicht die Restaurationspolitik den Teufel der Dummheit, welchen die Aufklärungsperiode leidlich gebannt hatte, wieder mit aller Macht heraufbeschworen? Er ging zwar nicht brüllend, wohl aber munkelnd und muckernd um, zu suchen, wen er verschlänge. Und er fand Verschlingbares genug.

Besagter Teufel war auch in unserem Wyland eingekehrt, in allerfrommster Gestalt natürlich, im schäfigsten Schafpelz, und hatte daselbst ein herrnhutersches Konventikel aufgetan im Dorfe Örlingen. Orakelte da ein Schneider Moser als erster Lämmleinbruder in der kleinen Brüdergemeinde, welche mit den Frommen der Umgegend in engeren oder loseren Beziehungen stand. Schaffhauser Erweckte, wie die Herren Professor Weiß, Boßhardt zur Schwedenburg, Peyer im Rosengarten, Zündel im Oberhaus, ferner ein für eine Weile gar heftig erweckter und erwecklicher Arzt Graf in Rafz bildeten Ringe dieser frommen Kette, in welche sich selbstverständlich auch der würdige Qualm-Ganz ab und zu einfügte. Armer Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, es ist in Liebe anzunehmen, daß du die Konsequenzen deines Tuns nicht ermaßest, nicht ermessen konntest, als du dein Herrnhut gründetest. Es war dir ernst mit deiner Frömmigkeit, wenn auch der Lämmleinschweiß- und Lammblutgeruch derselben übel duftete. Sie hatte auch ihre Berechtigung gegenüber der Frivolität deiner Zeit, keine Frage. Du warst doch ein Wahrheitssucher! Was konntest du dafür, daß du sie nicht gefunden? Oder wäre es wahr, was die Zweifler und Spötter raunen, daß deine bodenlose Lümmelei nur eine absonderliche Erscheinungsform bodenlosester Eitelkeit gewesen? Soviel steht fest, daß du ob dem Christen den Grafen nie vergessen hast, auch nicht eine Stunde lang, selbst damals nicht, als du im Winter von 1734 zu Tübingen unter die Kandidaten der Theologie gegangen, deine Jungfernpredigt zu halten, die Kanzel beschattest. Es ist, denk' ich, ein wahres Kabinettsstück der kontrastvollen Sittengeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, wie du, gefolgt von einem Heiducken, welcher dir die Agende nachtrug, im schwarzen Sammetkleide mit Mantel und Überschlag, Stern und Ordensband ja nicht zu vergessen, auf die Kanzel gestiegen bist. Deine erwählte Braut hattest du, um ein Exempel der herrnhuterschen »Gattenwahl« oder vielmehr Nichtwahl zu statuieren, einem gleich aufgespannten Mitbruder in Christo abgetreten; aber Stern, Ordensband und Heiducken wolltest du doch nicht dahinten lassen. Scharfe Zungen behaupten deshalb, du hättest dich allen den süßlich-anschmiegerlichen Reimen zum Trotz, womit du den Heiland behelligtest, dem Zimmermannssohn von Nazareth gegenüber doch allzeit in deines Herzens Grunde als des Heiligen Römischen Reiches Grafen gefühlt.

Der lämmelnde Schneider von Örlingen bekehrte auch seinen Mitdörfler und Namensvetter, den Schuster Johannes Moser, zum Herrn, was eben in solchen Kreisen so zum Herrn bekehren heißt. Der »Herr«! Es liegen Anzeichen, nein, tatsächliche, brutal tatsächliche Beweise vor, daß der gemeinte Herr kein anderer war als jener alte böse Bekannte der von Religionsgeschichte Wissenden, jener syrisch-phönikische Baal-Moloch, dem die syrisch-phönikisch-karthagischen Mütter ihre Kinder auf die glühenden Erzarme legen mußten, während die Pfaffen mit Zimbeln und Pauken und Posaunen einen großen Jubellärm aufschlugen über dieses fromme Tun. Ein leiblicher Vetter dieses »Herrn« war jener hebräische El Schaddai, der sich später zum Jahve oder Jehova hinaufhumanisierte, jener El Schaddai, welcher gewesen ist wie »fressend Feuer«, dem der fromme Jephta seine einzige Tochter zum Opfer schlachtete, dem Samuel zu Gilgal den Agag opferte, dem, wie das entsetzliche Buch Josua triumphierend erzählt, in den eroberten Städten der Kanaaniter »alles, was Odem hatte«, zum Cherem geweiht, d. h. zum Blutopfer gebracht wurde.

Du wendest dich schaudernd ab, human gebildeter Sohn des neunzehnten Jahrhunderts? Aber die Baalspfaffen, deren Geschlecht unausgerottet und, wie es scheint, unausrottbar ist, lachen deines Schauders; denn sie wissen, mit dem Blutopferdogma steht und fällt ihr ganzes Baaltum. Haben sie nicht den großen Propheten der Humanität, den schlichten Zimmermannssohn von Nazareth, welcher aufgestanden war, »zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die wunden Herzen, zu predigen den Eingekerkerten, daß sie los sein, und den Blinden, daß sie sehen, und den Unterdrückten, daß sie frei und ledig sein sollen« – haben sie ihn nicht zum Sohn jenes blutgierigen El Schaddai gemacht? Haben sie nicht diese achtzehnhundert Jahre her den Satz, daß »Gott sich Gott zum Opfer bringen mußte, um Gott zu versöhnen«, zu einem »heiligsten Mysterium« gestempelt, an welches zu rühren die menschliche Vernunft nicht wagen dürfe? »Credo, quia absurdum est.« Ströme von Blut und Tränen sind um des fressenden Feuers dieses Dogmas willen geflossen, ohne dasselbe zu löschen. Noch in unsern Tagen haben wir es erlebt, daß ein Pietist, dem Abraham und Jephta nacheifernd, seine fünf Kinder dem El Schaddai zum Opfer schlachtete.Georg Hiller zu Oberjettingen in Schwaben, im März 1844. Wahnwitz, sagt ihr? Jawohl! Aber sagt uns, ihr Prediger der Umkehr, ihr Baalspfaffen und Pharisäer unserer Zeit, sagt uns, wo ist die Grenzlinie zwischen eurem Bibelbuchstabengötzendienst und dem Wahnwitz? Ihr könnt es nicht, denn diese Grenzlinie existiert nicht! Oder doch? Ja, für euch selbst existiert sie. Denn ihr hütet euch klüglich, ihr, aus Opferern zu Opfern zu werden. Ihr seid nicht wie jener heldische Franz Junius, welcher i. J. 1566 zu Breda den in seiner Stube Versammelten das Evangelium predigte, während drunten auf dem Marktplatz eine Anzahl von Ketzern verbrannt wurde. Die Flammen der Scheiterhaufen lohten in das Gemach herein, aber er predigte weiter, auf die Gefahr hin, im nächsten Augenblick selber ergriffen und verbrannt zu werden. Ihr wißt euch zu wahren, nicht allein vor den Flammen des Scheiterhaufens, sondern vor jedem ungnädigen Blick allerhöchster Patrone. Ihr seid lange nicht so dumm, wie ihr ausseht. Ihr wißt recht gut, was die guten Sächelchen des Diesseits, sowie, was die von euch dem »armen einfältigen Volk« auf die Firma Jenseits und Komp. ausgestellten Wechsel zu bedeuten haben. O, wir kennen euch, Brut Ahrimans, wir kennen euch! Nicht eine Silbe eurer Titel, nicht ein Tausendstel eurer Pfründen, nicht ein Endchen eurer Ordensbänder würdet ihr eurem »Herrn« zum Opfer bringen.

Wenn du mit fester Hand die süßlichen Liebesphrasen entfernst, in welche das herrnhutsche Gesangbuch seinen Gott eingekleistert hat, so wird dir der blutdürstige Rachen des alten Moloch-Schaddai entgegendräuen. Nun wohl, für diesen süßlich verkleisterten Molochismus wurde der Schuster Johannes Moser gewonnen, welcher Magdalena Peter, die viertälteste Tochter des Judenschießers, zur Frau hatte und bei welchem sein unverheirateter jüngerer Bruder, Konrad Moser, im Hause lebte. Ein nicht übel aussehender Mann, der Johannes Moser. Aber sein runder Kopf mit dem breiten Kinn, der steil vorspringenden Nase und der zurückfliegenden Stirne trug ganz entschieden den Stempel jener Borniertheit, die mit eiserner Zähigkeit einmal Erfaßtes festhält, und wäre es auch Absurdestes und Unheilvollstes. Wann und wie Moser zuerst in das Labyrinth der Sektiererei, in dessen Hintergrunde Minotaurus Moloch lauerte, eingeführt worden sei, machen die Akten nicht klar. Der herrnhutsche Schneider von Örlingen scheint aber nicht sein erster Bekehrer gewesen zu sein, sondern wahrscheinlich war dies unser qualmender Ganz. Auch Mosers Frau hat an der Seele ihres Mannes herumgequacksalbert, denn sie war als schon Erweckte in sein Haus gekommen. Nachdem ihr und andern die Erweckung ihres Gatten gelungen, äußerte sich diese Erweckung zunächst dadurch, daß das erweckte Ehepaar die Mutter Mosers aus dem Hause trieb. Die arme alte Frau konnte es nämlich nicht zum »Durchbruch« bringen und war des unheiligen Dafürhaltens, ihr Sohn täte besser, auf der Schusterbank zu hantieren oder seines kleinen Bauerng'werbs fleißig zu warten, als in träumerischem Müßiggang den Herrn zu suchen und in Konventikeln herumzulungern. Darum mußte sie aus dem Hause und in ihren alten Tagen unter fremden Leuten eine kümmerliche Existenz hinfristen. Ihr jüngerer Sohn Konrad konnte den ihm von Rechts wegen gehörenden Platz in seines Bruders Hause nur dadurch behaupten, daß er dem Bruder und der Schwägerin ein demütiger Knecht war. In Wahrheit, der gutmütige, aber mehr als billig einfältige junge Mensch wurde wie ein Sklave behandelt. Auch in Glaubenssachen. Phlegmatisch von Natur war der Jüngling, wie sein Bruder und seine Schwägerin behaupteten, »verstockt« gegen das Heil, d. h. ihm kamen die Phantasmen der beiden unbegreiflich und überflüssig vor. Der Konrad war ein praktischer Mensch, »werchte« gern und aß nach getaner Arbeit mit vortrefflichem Appetit. Deshalb machten Bruder und Schwägerin den Magen des jungen Menschen zum Hauptmotiv seiner Erweckung. Ja, er wurde durch kärgliche und immer kärglichere Zumessung seiner Nahrung in die Schwärmerei förmlich hineingehungert. Da fing denn auch zuletzt der arme Junge an »Erscheinungen« zu haben, und einmal so weit, tat er »zur größeren Ehre Gottes« alles, was man von ihm haben wollte.W. A. I, 108.

Die älteste Tochter des Judenschießers, Barbara, war 1780 geboren und 1803 an den Schmied Heinrich Naumann in Trüllikon verheiratet worden. Die Eheleute hatten friedlich mitsammen gelebt, bis die Frau von dem schwärmerischen Dunst, welcher ihr väterlich Haus drüben in Wildisbuch erfüllte, benebelt wurde. Es gelang ihr aber nicht, den Gatten ebenfalls zu bedunsten. War ein Mann der Wirklichkeit, unser Schmied Naumann. Hielt standhaft an dem Glauben, daß zweimal zwei gleich vier sei, und ist das eine wundervolle Schutzformel gegen allen Dunst und Qualm, wißt ihr? Mochte Schmied Baumann auch an das Sprüchlein denken: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.« Denn die Erweckung seines Eheweibes zeitigte gar wunderliche Früchte, unter andern einen Nachschlüssel, womit unsere erweckte Barbara das Geldkästchen ihres Mannes öffnete, um ihn zu bestehlen, zu frommen Zwecken, vermutlich. Bestahl ihn also und brachte andere in den Verdacht des Diebstahls.W. A. I, 34, 97. – Der alte Abraham a Santa Klara würde sagen, das Gebaren seiner Ehefrau habe auf den guten Schmied mehr erschrecklich als erwecklich gewirkt, und so tat es wirklich. Schmied Baumann schmiedete wacker drauf los, wollte nicht »mit in dem Ding sein«, und es wäre ihm wohl zu verzeihen gewesen, falls manchmal einer seiner Streiche, wenn nicht seines Hammers, so doch seiner Hand, auf den Rücken seiner Frau gefallen sein sollte, die »in allen Stücken untreu an ihm handelte«.

Des Judenschießers zweitälteste Tochter, die ledige Susanna, hatte den Leumund einer stillen, gutmütigen und arbeitsamen Person. Sie scheint aus reiner Rührseligkeit in die blutige Familientragödie hineingerissen worden zu sein. Wie diese ganze Tragödie, wird auch die Beteiligung des von Natur herzensguten »Züsi«Mundartlich für Susanna. daran nur erklärlich durch den beispiellosen, gleich einem Zauberbann wirkenden Einfluß, welchen, wie wir sehen werden, das jüngste Kind des Hauses auf die ganze Familie übte. Unter diesem Bann stand auch die drittälteste Tochter, Elisabeth, die Märtyrin für den Glauben an ihre Schwester. Der Pfarrherr von Trüllikon bezeugte, daß sie »schwach von Verstandeskräften« gewesen, jedoch einen »stillen, unklagbaren« Wandel geführt habe. Aber durch die Sektiererei sei sie wie »umgewandelt« worden.

Nicht nur gab sie sich jetzt als eine »arge Schwätzerin und Verleumderin«, sondern auch schlug das in ihr brennende »christliche Liebesfeuer« häufig in das aus, was die Kinder der Welt ordinärerweise Lüsternheit nennen. Der gute Pastor wußte davon zu erzählen. »Eine Unterredung« – schrieb er am 26. März 1823 – »die ich mit der Elisabeth vor etwa vier Jahren auf meinem Museo hatte, zeigte mir, auf welch einen Grad der gröbsten Sinnlichkeit ihre Liebe zum Heiland gestiegen war, so daß ich mich alles Ernstes wehren und zurückziehen mußte.«W. A. I, 34.

Das Gesinde des Peterschen Hauses bestand aus dem Knecht Heinrich Ernst und der Magd Margareta Jäggli. Jener, ein armer Junge, war ziemlich hinterwäldlerisch aufgewachsen und als Knabe rauh genug unter fremden Leuten herumgestoßen worden. Im Jahre 1814 trat er beim Judenschießer in Dienst und wurde so gut behandelt, daß er sich zum erstenmal in seinem Leben glücklich und heimelig fühlte. Der alte Peter vertraute ihm mehr als dem eigenen Sohn, die Töchter des Hauses bezeigten ihm Wohlwollen, und so war es denn kein Wunder, daß der gutartige junge Mensch mit ganzem Herzen an die Familie sich anschloß und auch der dieselbe beherrschenden religiösen Strömung widerstandslos folgte. So tat auch die Magd Margareta Jäggli, welche aus einer Sünderin der gemeinsten Art eine Büßerin zweifelhafter Gattung geworden war. Ihr heimatlicher Seelsorger bezeichnete sie als eine »dumme«, aber doch in manchen Dingen »listige und verschlagene« und »im höchsten Grade wollüstige« Person. Nachdem sie ein uneheliches Kind geboren, hatte ihre Liederlichkeit sie ins Spital geführt. Später war sie aus der Gemeinde Schöfflistorf polizeilich weggewiesen worden, weil sie nicht nur mit ihrem dortigen Dienstherrn in einem ärgerlichen Verhältnisse stand, sondern auch kaum den Knabenschuhen entwachsene junge Leute »zur Unzucht zu verleiten suchte«.W. A. I, 55, 62. In kümmerlichste Umstände und zugleich mit »Stündlern« in Verbindung geraten, war sie von epileptischen Zufällen befallen worden, welche sie für Anfechtungen des Teufels nahm. Sie hielt sich für besessen und das Petersche Haus für den rechten Ort, den Streit mit dem Satan siegreich durchzufechten.

Neben dieser Person, deren Züge den Charakter einer tierischen Stupidität trugen, tat im Peterschen Hause die im Jahre 1817 neunzehnjährige Ursula Kündig aus Langwiesen Magddienste, ohne eine wirkliche Magd zu sein. Vielmehr lebte sie als die Lieblingsjüngerin der Heiligen von Wildisbuch unter dem väterlichen Dache derselben. Dieses Mädchen, welches aus reinstem, wenn auch furchtbar irregeleitetem Enthusiasmus eine zweifache Mörderin werden sollte, war das sanfteste, gutartigste Geschöpf von der Welt. Das bezeugte der Pfarrer von Feuerthalen, zu welchem Kirchspiel Langwiesen gehört, und er fügte hinzu, Ursulas Wandel sei so gewesen, daß »selbst schmähsüchtige Leute nie etwas an ihr auszusetzen gehabt hätten«.W. A. I, 48. Ein sanfteres, gutherzigeres Gesicht als das der armen Ursula, läßt sich kaum denken. Ihre Physiognomie hatte etwas Intelligentes, Nobles, einen Anhauch schwermütiger Jungfräulichkeit. In Wahrheit, es lag eine melancholische Stimmung in ihr, frühzeitig genährt durch den Tod ihrer Mutter und durch das Mißverhältnis, in welches sie durch Einwirkung einer Stiefmutter zu ihrem Vater geraten war. Dazu kam ein fehlgeschlagener Heiratsversuch mit einem jungen Manne, dessen Bewerbung, wie Ursula entdeckt zu haben glaubte, mehr ihrer Mitgift als ihrer Person galt. Sie drang auf Aufhebung der Verlobung, was nur auf dem Prozeßwege bewerkstelligt werden konnte, weil der Freier eine Geldentschädigung beanspruchte. Die Leistung dieser Entschädigung verstimmte den Vater noch mehr gegen die Tochter, welche in grübelnden Trübsinn verfiel. Eine mystische Scharteke kam ihr zuhanden, und sie las sich mit Eifer in die darin enthaltene Erzählung von einem Jüngling hinein, welcher im Gefühle seines »Sündenelends« Gott um einen Freund bat, der ihm die Wege des Heiles wiese, und dem dann Gott wirklich einen solchen Heilswegweiser zuschickte. Auch Ursula empfand das Bedürfnis, eine gleichgestimmte Freundin zu besitzen, »um mit derselben gemeinschaftlich die Pilgerreise nach der seligen Ewigkeit machen zu können«.Verhör der Ursula Kündig am 29. März 1823. W. A. II, 2. Sie empfand dieses Bedürfnis um so mehr, als der Anblick des vielfältigen Elends, welches das Hungerjahr 1817 über ihre Heimatgegend brachte, ihre erbarmungsvolle Seele noch mehr ängstigte und sie die Welt im trübsten Lichte erblicken machte. Hat doch, wie jedermann weiß, jene Teuerungszeit der pietistischen Bewegung überhaupt großen Vorschub geleistet. Ursula anvertraute ihr Bangen und Sehnen ihrer älteren Schwester Magdalena, und ein unglücklicher Zufall wollte, daß ihr durch diese die ersehnte Seelenfreundin zugeführt werden sollte. Magdalena traf nämlich auf einem Gange nach Schaffhausen auf der dortigen Rheinbrücke mit der ihr persönlich völlig unbekannten Heiligen von Wildisbuch zusammen. Die beiden sprachen mitsammen über die Not der Zeit, und die Äußerungen der Heiligen klangen den Ohren der Magdalena so ungewöhnlich und tröstlich, daß sie die Trösterin um ihren Namen fragte und darauf derselben den Gemütszustand ihrer Schwester Ursula mitteilte. Die Heilige ging mit Teilnahme auf diese Mitteilung ein, gab fromme Winke und schloß damit, die Ursula zu sich nach Wildisbuch einzuladen. Die Eingeladene folgte am nächsten Sonntage voll Freude dem Rufe, den sie für eine himmlische Stimme nahm, ward von der Heiligen freundlich empfangen und noch an demselben Tage in das Herrnhuterkonventikel zu Örlingen eingeführt. Dadurch ward Ursulas Schicksal entschieden. Die Heilige und sie wurden »treueste Freundinnen für Zeit und Ewigkeit«. Ursulas Besuche in Wildisbuch wiederholten sich zum großen Verdrusse ihres Vaters, der von dem »frommen Zeug« nichts wissen wollte. Allein Ursula war schon unwiederbringlich gebunden. Die Seele des unglücklichen Mädchens war wie Wachs in den Händen der Heiligen. Ihre Besuche in Wildisbuch verlängerten sich mehr und mehr. Nachdem sie die Herbstzeit von 1820 dort verbracht hatte, zog sie im folgenden Jahre ganz hinüber und verrichtete, ohne Lohn zu begehren, willig und freudig die Dienste einer Magd, voll des Glückes, ihrer Herzensfreundin nahe sein zu dürfen, in welcher sie in kindlicher Begeisterung nicht nur eine Erwählte sah, durch die »der Herr Großes im stillen wirkte«, sondern von der sie auch mit felsenfester Überzeugung glaubte, daß »Christus sich in ihr im Fleische geoffenbart habe, um durch sie viele tausend Seelen zu erretten«.Wörtliche Äußerung Ursulas. W. A. II, 2.

So wären wir denn jetzt bei der Heldin unseres Passionsspiels selbst angelangt. Pfarrherr Simmler hat sie in einem Berichte vom 13. August 1821 die »Primadonna der sogenannten Erweckten« genannt.W. A. I, 28. Profaner Rationalist! Aber man muß dem Manne seine etwas polternden Auslassungen schon zugute halten. Die Sektierer seines Kirchspiels hinderten ihn auch gar zu oft, die »Hammen« (Schinken), welche seine Bauern ihm verehrten, in Ruhe zu essen, sein Glas Trüllikoner »Beeriwy« (Ausbruch) in Frieden zu trinken und die Pfeife der Betrachtung ungestört zu rauchen. Schlimm das! Der Pastor hatte mit Zitationen, Audienzen und Berichten wegen der »sogenannten Erweckten« nicht nur alle Hände voll zu tun, sondern auch hatte der Gute, wie wir gesehen, noch außerdem mitunter ganz bedenkliche Abenteuer zu bestehen, auf seinem »Museo«. Wir unsererseits dagegen stehen unserem Gegenstande nur als ein gewissenhafter, völlig unbefangener Erzähler gegenüber. Wir beschwören den blutigen Schatten der Heiligen von Wildisbuch nicht, um ihn orthodoxisch anzurunzeln oder rationalistisch niederzukatechisieren. Wir wühlen auch nicht das Grab der Unglückseligen um, damit wir ihren Staub spottlachend in die Lüfte blasen. Im Gegenteil, jemehr wir uns mit ihrem Schicksal beschäftigt haben, ein um so tieferes Mitleid ergriff uns. Dieses Weib war doch trotz alledem in innerster Seele angefaßt vom Schmerze der Kreatur, und sie rang mit ihm auf Leben und Tod. In einer Weise freilich, die zum Wahnsinn führen mußte. Aber sie rang doch mit diesem faustischen Schmerz, während Millionen und wieder Millionen sterben, ohne daß ihnen derselbe je zum Bewußtsein kommt, d. h. ohne daß sie über die tierische Befangenheit im Naturdasein sich erheben. Und dann noch eins: die Heilige von Wildisbuch ist mit einem beispiellosen Heroismus für ihre Überzeugung gestorben. Kann das, tut das eine ursprünglich gemeine Natur?

Viertes Kapitel

»Das heilig Margetli«

Zur Weihnacht 1794 gebar die Ehefrau des Johannes Peter Judenschießer zu Wildisbuch ihrem Gatten ein Töchterlein, das jüngste der Kinder des Hauses. Es ist nicht aktenmäßig festgestellt, aber dennoch sehr wahrscheinlich, daß die Kleine in der Christnacht selber zur Welt gekommen. Die Wehemutter mag dem Vater die Neugeborene wohl mit dem naheliegenden Scherze dargereicht haben: »Da habt Ihr ein Christkindli!« Sei es, daß dieses Wort wirklich ausgesprochen, sei es, daß es nur gedacht wurde, immerhin ist, wie wir sofort sehen werden, Grund vorhanden, zu vermuten, daß schon die Zeit und Stunde seiner Geburt das Kind in den Augen der Seinigen mit einem gewissen Nimbus umgeben habe. Das Volk hat ja eine eigene Philosophie der Vorbedeutungen, und wie oft und scharf diese »Rockenphilosophie« schon »gestriegelt« worden ist, an Geltung hat sie dadurch im ganzen nicht viel verloren.

Die Neugeborene wurde am 28. Dezember 1794 in die Kirche nach Trüllikon hinübergetragen, um dort getauft zu werden. Sie erhielt den Namen Margareta, landesmundartlich abgekürzt Marget oder im Zärtlichkeitsdiminutiv Margetli. Das Kind wuchs gesund und still heran im Kreise seiner Familie, welche, wie früher erwähnt worden, inmitten ihrer Nachbarn ein ganz in sich abgeschlossenes Dasein führte. Die Mutter war dem »Nesthäkli« mit besonderer Zärtlichkeit zugetan. Und nicht die Mutter allein. Als die gute Frau im Sterben lag, konnte sie sich damit trösten, daß ihrem jüngsten, halbwüchsigen Kinde die liebevolle Zuneigung ihrer älteren Töchter gewiß sei. Das Margetli wurde in Wahrheit als der Schatz des Hauses gehegt. Selbst der eisenköpfige, hartherzige Vater war dem Kinde gegenüber weich und nachgiebig bis zur äußersten Schwäche. Ja, er hat selbst nach der Zerstörung seiner Familie, selbst im Gefängnisse noch mit Zähigkeit zu der Überzeugung sich bekannt, »seine jüngste Tochter sei von Gott zu etwas Außerordentlichem bestimmt gewesen«.W. A. II, 3, 28. Fassen, wir die verschiedenen Aussagen über die früheste Jugend des »Christkindli« zusammen, so ergibt sich, daß Margetli schon im Alter von sechs Jahren die Ihrigen fast unbedingt beherrschte. Da bedarf es denn fürwahr keiner psychologischen Kunst, um erraten zu lassen, wie sehr eine solche beherrschende Stellung auf die Kleine zurückwirken mußte. Hätte sie nicht merken sollen, daß man sie als eine Auserwählte ansah und liebte? Mußte sie so nicht darauf geleitet werden, sich selber für auserwählt zu halten?

Aktenmäßiges, aber auch Legendarisches wird von dem ländlichen Wunderkinde berichtet. Dem Gebiete der Tatsachen gehört an, daß ungeachtet des höchst mangelhaften Zustandes, in welchem sich damals und bis 1830 das Dorfschulwesen befand, Margetli mit großer Leichtigkeit lesen und schreiben lernte, daß sie von frühester Kindheit auf eine sehr religiöse Stimmung zeigte, daß sie schon als Sechsjährige die Ihrigen zu häuslicher Andacht um sich versammelte, ihnen aus der Bibel vorlas, beim Lesen der Passionsgeschichte Christi in schmerzliches Weinen ausbrechend, und daß sie schon in diesem Alter ihre älteren Geschwister zur Gottesfurcht ermahnte.W. A. II, 5. Legendenhaft lautet folgendes: Marget habe etwas Göttliches (an sich) gehabt, weil sie zur Weihnacht geboren worden. Sie habe schon als Kind großer Gnade genossen, indem sie lesen gekonnt, nachdem sie bloß zweimal das Abc-Büchlein in die Schule getragen. Als Kind sei sie einmal von Magenkrämpfen befallen worden, und da sei ihr ein Engel erschienen und habe ihr eine Stelle bei Benken angezeigt, wo Kräuter stünden, durch welche sie geheilt werden sollte. Diese Mythen brachte Margetlis älteste Schwester Barbara vor und zwar nach der Katastrophe und als Gefangene im Wellenberg in Zürich, jenem finsteren Wasserturm, welchen die Reformperiode von 1830–85 mit andern finsteren Dingen weggefegt hat. Die Gefangene fügte hinzu: »Ich bin überzeugt, daß Gott durch die Marget gewirkt hat, in großer Kraft, in seiner Gnade, bis auf die Stunde ihres Todes.«Bericht des Zuchthauspredigers K. Schoch an das Obergericht vom 25. Oktober 1823. W. A. I, 107. Man sieht, es stand in der Familie des Judenschießers felsenfest, daß Margetli ein »auserwähltes Gefäß des Herrn« sei. Hieraus und nur hieraus erklärt sich das fast Unglaubliche und doch Tatsächliche, daß Margets Gebote blinden Gehorsam bei den Ihrigen fanden, auch dann noch, als diese Gebote das Ungeheuerste forderten.W. A. I, 81.

Es liegt auf der Hand, daß das Mädchen, in welchem die Seinigen und alle seine vertrauteren Anhänger alles Ernstes den abermals fleischgewordenen Heiland sahen, kein gewöhnliches sein konnte. Um nichts und wieder nichts reißt sich eine ganze Bauernfamilie nicht von der Scholle der Wirklichkeit los, um in den himmelblauen Dunstregionen der Schwärmerei zu zerfahren und zu zerflattern. Dazu mußte ein mächtiger Antrieb vorhanden sein. Allerdings lag er in der Luft, in der Zeit. Der Riesenpolyp der Restaurationsepoche, welchen die Bonald, de Maistre und Chateaubriand, die Friedrich Schlegel und Adam Müller, die Haller und Gentz großgepäppelt hatten, streckte einen seiner unzähligen Saugfäden auch in das einsame Dörfchen im Schoße der Kohlfirst hinauf. Aber die Stimmung einer Zeit, ob naturwüchsig oder künstlich gemacht, bedarf bestimmter Träger und Werkzeuge, um zu faktischer Ausprägung zu kommen, und ein solches Werkzeug war das Christkindli von Wildisbuch.

Kein gewöhnliches, fürwahr! Hört nur, wie unser wackerer Rationalist von Trüllikon über das Margetli sich äußerte. Saß da der Mann gewiß recht grimmig und griesgrämig auf seinem »Museo«, als er amtlich aufgefordert war, seine Beobachtungen über seine weiland Katechismusschülerin kundzugeben. Hatte ihm die Sache schon so viel Ärger und Verdruß gemacht. Paffte dicke Unmutswolken aus seinem Wort-Gottes-vom-Lande-Meerschaum, versteht sich. Schrieb aber doch nach Wahrheit, der gewissenhafte Herr: »Die Margaret war unstreitig das gescheiteste von allen ihren Geschwistern. Unter der Anzahl von Neokommunikanten, welche ich Anno 1811 ad s. coenam admittierte, war sie die geschickteste und die, welche mit dem herzlichsten Interesse den Religionsunterricht empfing. Wie oft kam sie zu mir, um zu danken für das, was sie gehört habe! Wie feurig war ihr Versprechen, allen den erteilten Belehrungen ihr Leben lang getreulich nachzufolgen! Ich hatte die beste Hoffnung von ihr, obgleich mir ein und anderes Überspannte nicht entgehen konnte. Besagte Margaret gewann bald eine völlige Superiorität in ihrem Hause. Alles mußte sich nach ihr richten. Was sie sagte oder aus der Ferne schrieb, mußte als Gottes Wille respektiert werden.« Der redliche Pfarrer fügte diesem die Versicherung bei, er habe es nicht an eindringlichen Ermahnungen fehlen lassen, die Marget und die Ihrigen von dem betretenen Pfade der Schwarmgeisterei zurückzubringen; aber – puff! paff! – die betörten Leute hätten sich nicht daran gekehrt, hätten die Trüllikoner Kirche gemieden und – puff! paff! in heftiger Steigerung – der Lohn seiner Bemühungen sei gewesen, daß er als »Unchrist« und »Heide« verlästert wurde.W. A. I, 84. Tröste dich, alter Herr, in deinem Grabe unter den Rebhügeln von Trüllikon. Wir andern haben Ähnliches erfahren wie du oder Schlimmeres, und der gesunde Menschenverstand wird in unsern Tagen nicht weniger ein Heide gescholten, als er es in den deinigen ward. Tröste dich, alter Herr. Wenn geschrieben steht: »Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens!« wie sollte da, vollends in Zeiten der »Umkehr«, ein ehrlicher Landpastor erfolgreich mit dem Fanatismus kämpfen? Die »heilige« Dummheit ist ja die unbesieglichste von allen Dummheiten, eben weil sie ein in den Kot gefallener Strahl von Ewigem ist.

Marget war zur Zeit ihrer Konfirmation nahezu sechzehn Jahre alt. Aus dem Kinde war ein »schön Meitli« (Mädchen, Jungfrau) geworden. Mein Autorgewissen will mir leider nicht erlauben, zu sagen, daß das Landvolk im Züribiet einer großen Wohlgestalt sich zu rühmen habe. Von den Fabrikdistrikten wollen wir gar nicht reden, denn da ist »die Handschrift Gottes auf Menschenangesichtern« sehr schreibfehlerhaft geworden, sehr! Schickt das schönste Kind in den Fabrikbrodem und seht zu, wie es nach etlichen Jahren herauskomme. Aber auch in den bäuerlichen Gegenden, im Knonauer Amt, im Wehntal, im Wyland sind die Züge und Figuren des weiblichen Geschlechts durchschnittlich unschön. Das ist unangenehm, aber wahr. Ich sagte durchschnittlich; denn es gibt Ausnahmen. So sah ich in Wildisbuch das dreizehnjährige Töchterlein eines Tagelöhners, dessen Schönheit mich wahrhaft verblüffte. In seinem ärmlichen Röckchen ein wahres Ideal germanischer Schönheit! Heil sei dir auf deinem Lebenswege, goldhaariges Anneli, das du mit großen träumerischen Augen daneben standest, als mir der alte Gemeindepräsident vom heiligen Margetli erzählte.– »Ihr könnt Euch also der Marget deutlich erinnern?« fragte ich. – »Fryli, fryli, warum nicht? War ja dazumal längst ein Chnab, der auch nach den Meitli auslugte, wißt Ihr? Ich säg', es Biß hat's g'ha, 's Margetli, es Biß, was ma nu Schön's g'säh kcha.« – Dieses schöne Gebiß der Heiligen schien sich förmlich in das Gedächtnis des Alten verbissen zu haben: er kam immer wieder darauf zurück, während seine übrigen Angaben über Figur und Aussehen Margets sehr fragmentarisch waren. Doch sagte er: »Ja, ja, es recht nett's Persönli, es subers (sauberes, d.i. hübsches) Meitli!«

Daß sie das gewesen, namentlich in der Blüte ihrer Jugend, ward mir auch von anderer Seite her bestätigt, und das von ihr vorhandene lithographierte Brustbildnis – ein sehr schlechtes Stück von Lithographie freilich – widerspricht wenigstens nicht den von mir gesammelten Aussagen über ihre persönliche Erscheinung. Klein von Statur, wohl proportioniert, rundlich, hochbrüstig, muß sie trotz der häßlichen Landestracht, in welcher sie einherging, gar nicht übel ausgesehen haben. Der von einem schlanken Halse getragene Kopf war entschieden bedeutend. Die Stirn nicht hoch, aber breit und stark gewölbt. Große graublaue Augen unter langen, schöngeschweiften Brauen, Augen mit einem sichern, festen, beherrschenden Blick. Die Nase wohlgeformt, länglicht, leicht gebogen, aber der Mund größer als billig, mit einer sinnlich aufgeworfenen und etwas vorspringenden Unterlippe. Das Grübchenkinn etwas zu kümmerlich angelegt, im Mißverhältnis zu der Rundung des Gesichts und zu den vorspringenden Backenknochen zu sehr zurücktretend. Im ganzen die Physiognomie weitaus mehr einer Fühlerin als einer Denkerin, aber dabei etwas Selbstbestimmtes und Selbstgewisses, etwas Fertiges und Entschiedenes im Zusammenspiel der Züge. Und doch auch wieder keine rechte Harmonie darin. Der sinnliche Mund störsam, sehr störsam, besonders in Anbetracht eines Lazertenzuges von Schlauheit, der sich ab und zu um die Lippenwinkel ringelt. Es ist ja eine alte Geschichte, daß in Schwärmern dem heißesten Fanatismus nicht selten die kühlste Berechnung sich gesellt.

Der »große Heide« Goethe hat das Wort gesprochen: »Niemand glaube die ersten Eindrücke seiner Kindheit je verwinden zu können.« Mitunter findet auch so ein Heide die Wahrheit. Man sehe des zum Beweise nur unsere Prinzen vom gewöhnlichen Prinzenschlag an. Können diese Armen ihr Leben lang es jemals verwinden, daß sie in einer byzantinischen Atmosphäre durch lauter graduierte Doktores Philoservitiä erzogen wurden? Nun wohl, auch die junge Marget war in der von den Ihrigen eifrigst genährten Überzeugung aufgewachsen, etwas ganz Besonderes zu sein. Dieser Idealismus mußte mit Notwendigkeit eine religiöse Richtung nehmen, denn die Religion ist ja überhaupt der Idealismus des Volkes. In andere Lebenskreise gestellt, wäre das junge Mädchen vielleicht eine berühmte Künstlerin, vielleicht auch eine verrühmte Kurtisane geworden, wer weiß? Es war Genialität in ihr, kein Zweifel! Ihre Lebensstellung, ihre Erziehung befähigte sie aber nicht, die helle Seite des Daseins verstehen und die Wirklichkeit so oder so schön gestalten zu lernen, und so wurde sie der dunkeln Region zugetrieben, wo eine nur mit religiösen Bildern genährte Phantasie schwärmerische Ungeheuerlichkeiten ausbrütet, molochistische Phantasmen, Schlußfolgerungen des Glaubens an eine Ver- und Durchteufelung der Welt, Blutopferschwindeleien. Es ist sehr bemerkenswert, daß uns von dem jungen Mädchen nicht eine einzige heitere Äußerung überliefert worden. Bemerkenswert auch, daß die anmutige Natur ihrer Heimat oder die Fernsicht auf das erhabene Alpenpanorama nicht den geringsten Eindruck auf Marget hervorgebracht zu haben scheint. Aber was will man? Wenn man sich schon als ein Kind von sechs Jahren in die ungeheuerliche Phantasterei der Apokalypse Johannis hineingelesen hat, muß man den Sinn für Naturschönheit und Naturwahrheit unschwer einbüßen. Endlich ist auch nicht ein Zug vorhanden, welcher bewiese, daß das süße »Hangen und Bangen«, welches die knospende Brust sechzehnjähriger Mädchen schwellen macht, in Marget sich geregt habe. Auch sie sollte die Liebe kennen lernen, jawohl. Aber als es geschah, knüpfte dieses Gefühl nur einen weiteren dunkeln Faden, einen dunkelsten, in den ohnehin schon rettungslos verworrenen Knäuel ihres Schicksals.

Es muß angenommen werden, daß die Vorstellung, zur Mehrung des Reiches Gottes und zur Minderung des Reiches Satans berufen zu sein, bereits in der Sechzehnjährigen zu einer fixen geworden war. Wann und durch wen der verderbliche Keim geistlichen Hochmuts in dem jungen Mädchen zuerst diese bestimmte Richtung erhalten habe, lassen die Akten der Wildisbucher Prozedur leider unklar. Die Ursache davon ist ohne Zweifel die, daß die ganze Untersuchung, offenbar infolge »höherer Weisung«, alle Fäden der unglückseligen Geschichte, welche über die bäuerliche, schneiderliche und schusterliche Region in höhere Gesellschaftskreise hinaufführten, nur sehr lässig oder auch gar nicht verfolgte. Deshalb sieht es ganz so aus, als wären die Beziehungen der Margaret zu den vornehmen Frommen von Schaffhausen, Zürich und Basel absichtlich vertuscht worden. Einwirkungen und zwar bedeutende haben aber von dieser Seite her unzweifelhaft stattgefunden, obzwar dieselben nur in einzelnen Fällen nachweisbar sind. Margets Schwager, der Johannes Moser, hat freilich behauptet, seine Schwägerin habe ihre Begriffe und Ansichten einzig und allein von Gott dem Herrn erhalten; er sei überzeugt, daß sie von keinem Menschen Unterricht erhalten. Sie habe auch bei ihren Unterweisungen nur die Bibel gebraucht. Letzteres bestätigten auch der Vater Peter, wenn auch nicht so ausschließlich (»die Marget hat am meisten auf die Bibel gehalten«) und die Ursula Kündig (»die Bibel ist dasjenige Buch gewesen, welches die Marget am meisten hochgeschätzt; auf alle übrigen hat sie nicht viel gehalten«.W. A. II, 1, 2, 3. Allein es steht aktenmäßig fest, daß außer der Bibel eine Traktätchensammlung im Peterschen Hause vorgefunden wurde, und daß Marget insbesondere das grotesk teufelsgläubige »Herzbüchlein« eifrigst gelesen und ihren Anhängern als eine »erweckliche« Schrift empfohlen hat. Schon darum also, und ganz abgesehen von den weiterhin zu berührenden persönlichen Einflüssen auf Marget, ist es unstatthaft, die Bibel allein für den Wildisbucher Greuel verantwortlich zu machen.

Zu Anfang des Jahres 1816 erbat sich der zu Rudolfingen wohnende Oheim Margets, der Bruder ihrer Mutter, das junge Mädchen, daß es ihm in seinem Haushalt hilfreich zur Hand ginge. Marget tat so, und es ist allgemein bezeugt, daß sie der übernommenen Pflicht mit treuestem Fleiße nachkam. Haus, Feld und Weingarten gediehen unter ihrer pflegenden und ordnenden Hand. Es steht zu vermuten, daß dieser mit einem stillen, eingezogenen Gebaren und einem immerhin ungewöhnlich einnehmenden Äußern verbundene Eifer die frommen Seelen der benachbarten Stadt Schaffhausen auf das junge Bauernmädchen aufmerksam gemacht habe. Genug, während ihres Aufenthalts in Rudolfingen kam sie mit den Schaffhaufer Pietisten in Verbindung. Die Folge davon war zunächst ein grübelnder Trübsinn. Besuchte sie das väterliche Haus, so gab sie den Schwestern, welche besorgt nach der Ursache ihrer Traurigkeit fragten, mit tränenden Augen den Bescheid: »Gott schließt mir durch christliche Freunde, die er mich finden ließ, mehr und mehr das Herz auf, so daß ich mit jedem Tag lebhafter mein Sündenelend fühle.« Ihr Sündenelend! O, Lehre von der Erbsünde, welche Teufelskralle hast du in das Herz der Menschheit geschlagen! Ein junges, gesundes, schönes, durchaus wackeres und unbescholtenes Mädchen und Sündenelend! Man sieht, der Teufel der Dummheit in Gestalt eines Schaffhauser Pietisten hatte sein Ohr fest gepackt.

Kein Wunder demnach, daß Marget, im März 1817 nach Wildisbuch heimgekehrt, zu orakeln begann und zwar in einem Stile, der um so mehr Eindruck machen mußte, als die Gemüter der Menschen durch die herrschende Teuerungsnot verdüstert waren. Apokalyptische Bilder wirbelten durch das Gehirn der angehenden Heiligen. Sie fing an, Visionen zu haben und Kämpfe mit den höllischen Geistern zu bestehen. Tat sie den Mund auf, so geschah es, um düstere Weissagungen vernehmen zu lassen. »Mit Macht rückt das Ende der Dinge heran«, predigte sie. »Schon ist der Tag des Gerichts angesetzt, und wie ein Dieb in der Nacht wird er die Sorglosen überfallen. Die Wiederkunft des Herrn steht vor der Türe. Wer sich retten will, bekehre sich schleunigst zum Herrn!« In der Tat, der alte Judenschießer und Margets Geschwister bekehrten sich, das heißt, es war für sie eine ausgemachte Tatsache, daß das »Christkindli« sich zur Prophetin entwickelt habe. Gilt man aber erst für eine Prophetin, so hat man nur noch wenige Schritte zu machen, um für eine Heilandin zu gelten, in den eigenen Augen wie in denen anderer.

Vorab in den Augen eines so treuherzigen Wesens, wie die arme Ursula Kündig war, welche Marget zu dieser Zeit an sich und allmählich zu ihrer Lieblingsjüngerin heranzog. Zu einem weiblichen Johannes sozusagen, denn wir müssen es schon hinnehmen, daß sich diese ganze trübselige Geschichte mehr und mehr zu einer Parodie der Geschichte Jesu anläßt. Marget, jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, begann sich zu fühlen. Sie wollte fürder nicht mehr eine Geleitete sein, nein, sie wollte selber leiten. Daher brach sie ihre und der Ihrigen Besuche in dem Herrnhuterkonventikel zu Örlingen bald wieder ab. Sie wollte nicht suchen, sondern sich suchen lassen. In ihrer Familie wie bei den Schaffhauser Frommen war ihr Ansehen schon so felsenfest begründet, daß kein Verhältnis der Unterordnung ihr mehr zusagen konnte. Daher auch die merkwürdige Selbständigkeit, welche die bäuerliche Heilige der adeligen Heiligen Juliane von Krüdener gegenüber behauptete.

Es war im Spätherbst 1817, als Juliane auf einer ihrer oben berührten Missionsfahrten in dem badischen Grenzorte Lottstetten rastete. Die Frommen von Schaffhausen kamen dahin, die vornehme Schwester im Herrn zu begrüßen. Sie sprachen derselben von dem Wildisbucher Wundermädchen, und ihre Aussagen mochten in der vornehmen Missionärin den Gedanken erwecken, in Marget ein brauchbares und fügsames Werkzeug zu finden. Diesmal hatte aber der frommen Freifrau der Geist nicht das Richtige geoffenbart. Marget ward zwar veranlaßt, Juliane in Lottstetten aufzusuchen, wohin sie sich in Gesellschaft ihres Schwagers Moser und ihrer Schwestern Elisabeth und Susanna begab. Sie sah dort im Gefolge der Krüdener unter andern Personen den Professor Lachenal, welcher sie, nachdem er sich mit ihr unterredet hatte, dringend zu sich nach Basel einlud. Diese Anknüpfung mit den Baseler Erweckten wob dann später auch den Faden, welcher den Schlammvulkan Ganz mit der Heiligen von Wildisbuch verband. Auf Juliane machte Marget offenbar einen weit größeren Eindruck als Juliane auf Marget. Des Judenschießers Tochter ward von der weiland Veleda des Zaren aller Reußen einer dreistündigen Unterredung unter vier Augen gewürdigt. Über den Inhalt dieses gottseligen Zwiegesprächs sich auszulassen, hat sie nicht für nötig gehalten. Als sie von Lottstetten heimgekehrt war, forschten der Vater und die Geschwister, die sich natürlich nicht wenig damit meinten, daß eine so »fürnehme« fremde Dame, deren Fürnehmheit und Reichtum das Gerücht in der Umgegend ins Märchenhafte gesteigert hatte, mit ihrem Margetli sich »so gemein gemacht«, ja sie förschelten nicht wenig neugierig, welche Orakel die Pythonissa aus Kurland von sich gegeben. Marget jedoch sagte nur ganz kurz: »Die Frau Krüdener führt keine andere Lehre als Jesus der Gekreuzigte.«W. A. II, 1. In die Sprache der Welt überseht, hätte das gelautet: »Meine liebe Frau von Krüdener, was du bist, bin ich auch, mindestens auch!«

Es findet sich keine Spur mehr, wenigstens keine sichere, daß Marget noch anderweitig mit Juliane in persönliche oder briefliche Beziehung gekommen. Eine Tradition zwar will, die beiden hätten sich noch einmal getroffen, im Hause des erweckten Herrn Notz auf der Platte bei Zürich; aber die Bestätigung fehlt, und diese zweite Begegnung ist auch schon darum unwahrscheinlich, weil Marget entschieden kein Verlangen trug, die heilige Juliane wiederzusehen. Ich lasse es dahingestellt, ob, wie geargwöhnt werden könnte, aus der kurz angebundenen Äußerung Margets über Frau von Krüdener etwas wie Konkurrenzneid hervorzuckte. Soviel ist gewiß, daß die vornehme Bußpredigerin der Tochter des Judenschießers nicht imponiert hatte, und sehr stark zu vermuten steht, daß Marget es der großen Dame geschwind abgesehen, wie man sich anstellen müßte, um zu imponieren. Denn übereinstimmenden Nachrichten zufolge wußte sich das Bauernmädchen seit jener Zusammenkunft in Lottstetten ein vornehm-feierliches Air zu geben, welches in Verbindung mit einer schwermütig-sanften Salbung der Redeweise auf ihre Familie sowohl, als auf ihre übrigen bäuerlichen, schusterlichen und schneiderlichen Anhänger, ja sogar auf die erweckten Städter und Städterinnen ganz gewaltig wirkte. Sicher ist ferner, daß Marget gar wohl fühlte, sie müßte noch lernen, wenn sie das bereits erlangte Ansehen behaupten wolle. Und sie lernte wirklich. Ich habe, indem ich dieses schreibe, eine Anzahl ihrer Briefe im Original vor mir liegen.W. A. I, 77–88. So lernte zu jener Zeit kein Bauernmädchen in der Schule schreiben. Die Handschrift ist fest, deutlich und sogar nicht ohne Zierlichkeit. Die Orthographie ist für ein Bauernmädchen bewunderungswürdig, obzwar schwankend. Ein starkes Gefühl ringt mit dem sprachlichen Ausdruck und weiß natürlich nicht immer den richtigen zu treffen; aber oft ist der Stil markig und lebensvoll, und aus dem Wolkendunkel mystischer Phrasen schlägt mitunter ein Blitz der Leidenschaft. Häufig freilich sinkt der aufgespannte Ton zu völligem Blödsinn herab, wie ja überhaupt das ganze Wesen der Heiligen von Wildisbuch als eine wunderlichste Mischung von Genialität und Kretinismus sich darstellt. Rechnet man aber zu den angeborenen und erworbenen Gaben Margets noch ihr geschmeidiges Gebaren, einen gewissen Takt, Schliff und Schick, sich in die Leute rasch zu finden und sie da zu fassen, wo sie zu fassen waren, rechnet man endlich dazu noch eine Beredsamkeit, von welcher die arme Ursula Kündig sagte: »Sie wußte alles, was sie zu uns sprach, mit solcher Wohlredenheit vorzutragen und uns so dringend zu ermahnen, sie stellte jeden aufsteigenden Zweifel mit solcher Heftigkeit als eine Sünde vor, die uns immer auf dem Herzen lasten würde, daß sie zuletzt sicher sein konnte, bei allen ohne Ausnahme einen unerschütterlichen Glauben an ihre Aussagen zu finden« – rechnet man das alles zusammen, so begreift sich's, daß unserer wackerer Pfarrherr drüben in Trüllikon vergebens rationalistische Zornwolken aus seiner Pfeife paffte, vergebens wehrte, warnte und wetterte, vergebens den Wildisbucher Schwarmgeistern prophezeite, »ihrer würden als Wahnsinniger und Verrückter noch Fesseln und Bande warten oder vielleicht würde aus ihrem Beginnen gar noch Entsetzlicheres entstehen«.W. A. I, 34. Du hast richtig prophezeit, alter Herr. Doch wer kann eine Lawine aufhalten in ihrem Laufe? Die unaufhaltsamste aller Lawinen aber ist die menschliche Narrheit, wenn ein religiöser Wind sie zum Rollen bringt. »Wahr, aber nicht sehr neu,« brummt aus seiner kritischen Essigfabrik hervor mein Herr Doktor Sauerampfer. Ganz richtig, aber die alten Wahrheiten dürfen sich noch immer sehen lassen: sie sind noch so neu und blank wie vor Jahrtausenden, weil alle diese Zeiten her sehr geringe Nachfrage nach ihnen gewesen ist. Wohl, sei dem so. Wir unsererseits belauschen das Tagewerk unserer Heiligen in ihrem väterlichen Hause, ein Tagewerk, welches erst anhebt, wenn das der übrigen Hausgenossen vollendet ist. Die Haustüre ist verschlossen, die Fensterladen sind vorgeschoben. Um den großen Tisch in der südöstlichen Ecke der Stube hat sich die Familie versammelt. Von Örlingen ist Johannes Moser mit seiner Frau Magdalena und seinem Bruder Konrad herübergekommen, von Trüllikon Schwester Barbara, begleitet von einem Seelenfreund in Christo, dem Schneider Hablützel. Mitten unter den ländlichen Tschopen und Jüppen machen sich auch städtische Anzüge bemerkbar, denn etliche Brüder und Schwestern im Herrn sind von Schaffhausen durch die Kohlfirst heraufgewandert, begierig aus dem Brunnen des Heils zu trinken, welcher in Wildisbuch aufgegraben worden. Die Erbauungsstunde der stillen Gemeinde beginnt. Das »Psalterspiel« wird aufgeschlagen und daraus gemeinschaftlich ein geistlich Lied gesungen, möglichst durch die Nase, versteht sich, denn das gehört dazu. Wenn wir recht hinhorchen, erkennen wir das berühmte »Wundenlied«, worin es heißt:

»Des wunden Kreuzgotts Bundesblut,
Die Wunden-Wunden-Wundenflut,
Ihr Wunden, ja, ihr Wunden
Macht Wunden-Wunden-Wundenmut
Und Wunden, Herzenswunden, Wunden!
Geißelwunden, Dornenwunden!
Nagelschrunden, Speerschlitzwunden!
Grüß euch Gott, ihr Wunden!«

Nachdem die Nasallaute dieses erwecklichen Singsangs an der Stubendecke verzittert sind, setzt sich die Marget hinter die große alte Hausbibel, um ein oder das andere Kapitel aus dem Jesaia, Ezechiel oder der Offenbarung Johannis vorzulesen und auszulegen. Ihre Haltung ist gesammelt, ihre Miene feierlich, ihre Augen beherrschen den ganzen Kreis, und mit tönender Stimme bringt sie in fließender Sprache vor, was der Geist ihr eingibt. Ach, daß wir unsererseits zu profan sind, diese Exegese zu verstehen! Wir hören zwar viel von Schalen des Zorns, welche ausgegossen werden, vom Tier, das aus dem Abgrund gestiegen, vom himmlischen Opferlamm und dergleichen geheimnisvollen Dingen mehr, die »kein Verstand der Verständigen sieht«, aber wir wissen nichts damit anzufangen. Den erweckten Zuhörern dagegen sind diese Mysterien vertraut. Sie horchen mit Andacht, verhaltene Seufzer machen sich Luft, die Augen drehen sich verzückt deckenwärts, in einem Winkel von fünfundvierzig Graden. Der Vortrag der Prophetin fließt immer freier, fesselloser, mächtiger. Begeisterung hat sie ergriffen. Sie spricht in parabolisch-apokalyptischem Stile von dem mystischen Liebesbund zwischen Gott und der Menschenseele und bricht mit vor Eifer brennenden Wangen zum Schluß in die Strophe aus:

»Der Braut ist nichts als Lust bewußt;
Gott sieht an ihrer Schönheit Lust,
Sie glänzet wie die Sonne;
Man führt sie in den Brautpalast,
Ins Freudenhaus, zur stolzen Rast,
Zu ihres Königs Wonne.
Klagen,
Zagen,
Sonnenhitze,
Donnerblitze
Sind verschwunden,
Gottes Lamm hat überwunden!«

Was sich die Marget wohl dabei dachte? Vielleicht hätte sie das ungeachtet ihrer »Wohlredenheit« weder sich selbst noch viel weniger uns klar machen können. Aber zu vermuten ist, daß schon damals die Vorstellung in ihr aufgekeimt sein mag, sie selber sei so eine Art Lamm Gottes, welches dahingegeben werden müßte als Opfer für die Sünden der Welt.

Mit dem Keim einer solchen Vorstellung in der Brust, lernte denn auch des Judenschießers Tochter die Geschäfte dieser Welt anders ansehen, als sie bislang getan. Wir haben sie früher als ein Mädchen gefunden, das brav mit anfaßte, wo es zu arbeiten galt, und das sich im Haus und Feld wacker tummelte. Jetzt aber wurde sie aus einer Arbeiterin mehr und mehr eine müßiggängerische Tiftlerin. Es steht ja geschrieben, daß man nicht zwei Herren dienen könne. Marget legte diese Stelle ganz so aus wie unzählige Fromme vor und nach ihr. Die gemeinen Geschäfte des Lebens sollten das süße Nichtstun ihrer Beschaulichkeit nicht stören. Aber gerade dieses beschauliche Nichtstun mußte ihr zum Unheil werden: sie wurde dadurch aus der gesunden Bauernsphäre entschieden heraus- und in die kränklich-brütende Treibhausluft einer nebelnden Reflexion hineingestellt. Sie hatte Zeit, die Phantome, welche ihre irregeleitete Einbildungskraft heraufbeschworen hatte, großzuhätscheln, bis sie ihr über den Kopf wuchsen und sie erwürgten. Alter Judenschießer, es wäre für dich und alle die Deinigen gut gewesen, wenn du deinem »Christkindli« die Notwendigkeit, daß der Mensch arbeiten müsse, wenn er essen wolle, begreiflich gemacht hättest, nötigenfalls sogar mit schlagenden Argumenten. Oder aber, alter Peter, hättest du dafür sorgen sollen, deine Marget an den Mann zu bringen, an einen, der Mannes genug gewesen, das Mädchen aus dem Nebelland selbstgefälliger Phantasterei in die heilsame Realität der Hausmutterschaft herüberzurücken. Es würde ihr vielleicht doch zum Heil ausgeschlagen sein, wenn sie aus der angehenden »Seelenbraut« des Lammes beizeiten das Weib eines wackeren Jungen geworden wäre, der nicht gerade eine Lammesnatur zu besitzen brauchte, wohl aber einen hellen, frischen Blick in das Leben und eine kräftig zügelnde und leitende Hand. O, eine rechte und treue Hausmutter, durch welche der stille Segen der Fraulichkeit, der Arbeit, der Ordnung unter eines Mannes Dach kommt, ist heiliger als Myriaden von Heiligen, welchen die Legende so viel Außerordentliches anlügen muß, weil sie nie etwas Ordentliches getan haben.

Es währte auch gar nicht lange, bis sich eine Wildisbucher Legende bildete, sozusagen ein Wortglorienschein um »das heilig' Margetli« her. Denn so hieß jetzt des Judenschießers jüngstes Kind schon das Wyland auf und ab.W. A. I, 28, 24. Die Wahrheit zu sagen, es sieht ganz so aus, als hätte ein Spottvogel diesen Namen zuerst gepfiffen; aber wie es mit berühmten Spottnamen der Welthistorie ergangen ist, so erging es auch hier. Was ein Spötter lachend aufgebracht, die Frommen adoptierten es allen Ernstes, und in den Konventikeln von Schaffhausen, Zürich und Basel ward fortan »das heilig' Margetli« mit geziemender Salbung genannt. Nicht ohne Grund. Denn schon hatte sich's, wie gesagt, die Poesie des Köhlerglaubens angelegen sein lassen, ihre Auserwählte zu glorifizieren. Schon stand es bei den Bekannten der heiligen Marget, zumal bei ihren vertrauteren, unentweglich fest, daß sie mit »ungewöhnlichen Kräften« ausgestattet sei. Schon hatte sie sich innerhalb des Kreises ihrer Satanologie eine Art von Diätetik und Heilkunde zurechtgemacht, welche nachmals, wie weltbekannt, die Kerner, Eschenmayer und Ringseis in »wissenschaftliche« Form brachten. Kein Zweifel, die Krankheiten sind »lediglich Werke des Satans«, denen man »geistig entgegenwirken muß«. Höchstens darf man nebenbei noch »Räucherungen mit Steinraute« anwenden. Hiermit, wie durch die Kraft ihres Gebetes, heilte Marget den Bruder und die Magd ihres Schwagers Moser von »heftigen Gliederschmerzen«. Natürlich war auch die Epilepsie der Margareta Jäggli ein teuflisches Besessensein, welchem unsere Heilige mit Erfolg »geistig« entgegenwirkte. Und wie den Menschen ließ sie ihre Wunderkraft auch dem Vieh zugute kommen. Insbesondere wird eine kranke Kuh namhaft gemacht, welche von der heiligen Marget fast im Handumdrehen gesund gebetet wurde.W. A. II, 20. Man sieht, es geschahen zu Wildisbuch bereits Zeichen und Wunder, die Saat des Schwindelhabers war in üppigem Wachstum begriffen.

Fünftes Kapitel

Das Licht auf dem Leuchter

Wo immer ein Licht, will es leuchten, gleichviel ob es mit reinstem Jungfernwachs oder mit unsauberstem Talg, mit dreifach destilliertem Olivenöl oder mit ranzigem Schmer genährt werde. So auch das Licht der Heiligkeit, welches unter dem Dache des Judenschießers zu Wildisbuch brannte oder glostete.

Seltsam, für die nächste Umgebung war dieses Licht unter den Scheffel, für die Ferne aber auf einen hohen Leuchter gestellt. Auch von der Prophetin von Wildisbuch galt nämlich, daß sie in der Heimat nichts galt. Wir wissen ja, wie der Judenschießer und die Seinigen zu der kleinen heimatlichen Bauerngemeinde standen. Das Verhältnis war ein fremdes, mehr oder weniger feindseliges sogar, und daraus erklärt sich denn auch die merkwürdige Tatsache, daß nicht ein einziger Bewohner von Wildisbuch, sei es Mann oder Weib, in das Verhängnis der Peterschen Familie verstrickt worden ist. Die guten Leute von Wildisbuch sahen mit maulaufsperrender Verwunderung, daß ihr abgeschiedenes Dörfchen zu einem Wallfahrtsort wurde; sie jedoch blieben der Krippe des neuen Heils mit hartnäckiger Verstockung fern.

Die heilige Marget ihrerseits ließ cs sich wenig anfechten, daß ihr Nazareth ein ungläubiges Nazareth war und blieb. Konnte sie sich doch damit trösten, daß es für die Leute draußen zu einem Bethlehem geworden, vom Jahre 1818 an brieflich und persönlich von zahlreichen erweckungsdurstigen Seelen begrüßt und besucht. Zuschriften kamen von allen Ecken und Enden her. Einer der frommen Stadtherren von Schaffhausen schrieb ihr zum Jahresschluß von 1818: »Ehre sei Gott in den Höhen und Frieden auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen! Dies, liebe Freundin, ist der Gruß, womit ich Euch in den letzten Tagen dieses Jahres noch zu grüßen gedrungen bin. Und gottlob! daß mich der Herr gewürdigt hat, in diesen Lobgesang der Engel einzustimmen. Zwar bin ich, wie Ihr wohl wisset, noch nicht so weit, daß ich mit der Schwester Margareta jubeln und hüpfen könnte. Aber doch kann ich mich darüber freuen, daß Gott solches Lob in den Seinen bereitet hat.« Eine erweckte Stadtdame schrieb: »Sei mir gesegnet, Schwesterchen, im Lande der stillen Ewigkeit. O, wie wirst Du Dich mit mir freuen, daß wieder eins gerettet ist in die Feste Zions und des Heils! Du mußtest vom Herrn gesandt kommen, teuerste Schwester, meiner Sehnsucht das verborgene einfältige Pförtchen zu eröffnen in das Land der langgewünschten Ruhe.« Sogar in katholische Regionen hinein schien das Licht von Wildisbuch. Ein katholischer Priester begrüßte die Heilige mit den Worten: »In dem teuersten Namen Jesu Immanuel, vorzüglich teure Schwester und Freundin!« Es ließe sich aus ähnlichen Zuschriften ein ganzes Register von salbungsvoll-zärtlichen Ausdrücken zusammenstellen, womit die Tochter des Judenschießers überhäuft wurde. Und dann die Wallfahrer, die von allen Seiten her kamen! Bauern und Bäuerinnen in Tschopen und Jüppen von Zwillich, aber auch Herren und Damen in Fräcken und Suwarowstiefeln, in Seidenkleidern und Spitzen. Oft – sagte mir mein alter Gemeindepräsident – war der Platz vor des Judenschießers Haus voll von den Rossen und Wagen der fürnehmen Leute, die sich drinnen in der niedrigen Stube von dem heiligen Margetli erbauen und erwecken ließen.

Ja, das Licht stand auf dem Leuchter. Erinnert sich der geneigte Leser dessen, was ich über die Weihrauchskrankheit gesagt? Wohl, diese Krankheit kam auch über das arme, verstörte Bauernkind von Wildisbuch, und wir finden nicht, daß der Geist ihr gesagt, welches Kraut dagegen gewachsen sei. Ein Geist allerdings war jetzt in der Marget tätig und wurde, von den Huldigungen, in denen sie ordentlich schwamm, großgefüttert, mehr und mehr über sie mächtig: der Geist des Größenwahns. Der ekelhafte Brodem der Schmeichelei, welcher die Vorzimmer und Kabinette der Großen dieser Welt zu verpesten pflegt, erfüllte auch das enge Bauernhaus zu Wildisbuch, und unsere Heilige hatte ebenfalls ihre Schranzen und Fartcatchers. Genau in dem Verhältnis aber, in welchem der betäubende Weihrauchnebel um sie her sich verdichtete, nahmen ihre visionären Einbildungen eine immer hochmütigere Gestalt an. Schon wurde sie, wie nachmals ihre glaubwürdigsten Anhänger, insbesondere die beklagenswerte Ursula Kündig, vor Gericht aussagten, der erhabensten Gesichte gewürdigt. So ward sie einmal im Traume vor den Thron Gottes entrückt. Der war von Engeln, Patriarchen, den zwölf Aposteln und andern Heiligen umgeben. Gott ließ die Aufforderung an sie, die Marget, ergehen, Christum abermals in ihr leiden zu lassen, wogegen zwar die Apostel Einwürfe erhoben, die jedoch zurückgewiesen wurden, Marget sah auch, daß die Stelle zwischen Gottvater und dem Heiligen Geist, welche Gott der Sohn hätte einnehmen sollen, leer war, und auf ihre Frage nach der Ursache hiervon wurde sie belehrt, Gott der Sohn sei dermalen in ihr, um mit ihr zu leben, zu leiden und zu sterben, und werde so lange in ihr bleiben, bis sie selbst in den Himmel aufgenommen würde. Hierauf ward sie auch in die Holle entrückt, deren Eingang ihr die Teufel vergebens zu verwehren suchten. Hier erblickte sie neben vielen Tausenden verdammter Seelen auch die des Verräters Judas von Karioth und es ward ihr die Offenbarung, auch diese würde sie erlösen.

Einmal so weit, genügte es ihr nicht mehr, der Lieblingsjüngerin Ursula zu erklären, daß nicht nur Engel, sondern Christus selbst ihr häufig erschienen, letzterer ein zweischneidig Schwert in der Hand tragend; ja, daß ihr derselbe an Festtagen eigenhändig das Abendmahlsbrot und den Abendmahlswein darreiche.W. A, II, 32. Nein, sie war jetzt aus einer vom Heiland also Begnadeten zur Heilandin selbst geworden. Sie offenbarte der armen Ursula, der Sohn Gottes habe in ihr abermalen Menschengestalt angenommen; in ihr und durch sie müsse er den Satan fesseln.W. A. II, 82. Zu Beweisen dieser erhabenen Sendung mußten dann Erzählungen von Visionen dienen, wie wir vorhin eine zur Probe mitgeteilt haben. Falls eine dieser Erzählungen unserm pfarrherrlichen Rationalisten von Trüllikon zu Ohren kam, so hat er sie zweifelsohne für ebenso alberne als absichtliche Lügen erklärt. Und Lügen waren es, ungeheuerlich aufgebauschte Lügen, keine Frage. Aber es muß gesagt werden, die heilige Lügnerin belog zunächst und am meisten nur sich selbst. An den Brüsten der, wie wir sahen, wohlgenährten Amme Eitelkeit hatte sich der fromme Wahn Margets zu riesenhafter Hoffart großgesogen. Die jugendliche Phantasterei des »Christkindli« hatte sich zur fixen Idee kristallisiert. Marget glaubte, was sie sagte. Unangreifbar in der Burg ihres Wahns hielt sie sich alles Ernstes für den wieder fleischgewordenen Christus, selbst dann noch, als ihr etwas passierte, was einem Heiland unmöglich passieren konnte und einer Heilandin schlechterdings nicht passieren durfte.

Doch wir verlassen jetzt wiederum für eine kurze Weile die Talmulde in der Kohlfirst, um uns über Trüllikon und Andelfingen nach Winterthur zu wenden. Von hier bringt uns ein nach Zürich gehender Eisenbahnzug binnen zehn Minuten in das Kempttal, wo wir aussteigen und eine Straße einschlagen, welche längs der kleinen, munter rauschenden Kempt linkshin zwischen waldigen Hügeln fortläuft. Bald öffnet sich der Talgrund und wir erblicken das Pfarrdorf Illnau, dessen weit auseinandergezogene Häusergruppen die beiden Weiler Unter-Illnau und Ober-Illnau bilden. Hier ist der Schauplatz einer ganzen Reihe von wichtigen Szenen unseres Passionsspiels, welches sich um die aristotelische Einheit des Ortes wenig kümmert.

In Ober-Illnau besaß der Schuster Jakob Morf ein kleines Haus und Heimwesen, welches er mit seiner Frau Regula bewohnte und bebaute. Im Jahre 1789 geboren, stand er zur Zeit, von welcher wir handeln, in seinem dreißigsten Jahre. Ein »braver, sittsamer Mann, der einen durchaus ehrbaren Wandel führte«.Nach dem Zeugnis seines Seelsorgers, des Pfarrers Keller von Illnau. W. A. I, 35. Eine untersetzte Figur, welcher der runde Melonenkopf mit dem etwas mopsig flachen Gesicht tief in den breiten Schultern saß. Nicht eben gar liebenswürdig anzusehen, rechne ich, auch in der Blüte seiner Mannesjahre nicht; aber was ist liebenswürdig? Ich fürchte, bis die Gelehrten darüber vollkommen einig werden, wird jeder und jede wie bislang fortfahren, über Liebenswürdigkeit eigenste Ansichten zu haben. Wir werden es bald erleben, daß unser Schuster von Illnau liebenswürdig gefunden wurde und zwar nicht allein von seiner guten Frau Regula. Eine gute Frau in Wahrheit, eine beste! Sie ist in den frommen Knäuel, welchen wir auseinanderwickeln, als ein reinster Goldfaden versponnen, der seinerzeit schon hervorglänzen wird.

Besagter Jakob Mors machte sich, wenn er auf seinem Schusterschemel saß, Gedanken, die er besser ungemacht gelassen hätte. Ich vermute, seine Schuhe und Stiefeln würden dadurch eher gewonnen als verloren haben, und wenn je einmal das »Schuster, bleib bei deinem Leisten!« gerechtfertigt war, so war es bei unserem armen, dickblütigen Jakob mit dem schwammigen, gelblichen Gesicht, dessen treuherzige Augen von der Ahle und dem Pechdraht nur allzuoft hinweg und in die schwarze Kluft hinabsahen, aus welcher die tollsten Dogmen emporgequalmt sind. Aus dieser Kluft nämlich war eine Ratte herauf und dem grübelnden Manne in den Kopf gesprungen, die alte ehrwürdige, wohlgemästete augustinische Ratte von der »Gnadenwahl« und der »Zornwahl«. Gehöre ich zu den von Ewigkeit her zur Seligkeit oder aber zu den von Ewigkeit her zur Verdammnis Bestimmten? Eine häklige Frage und sicherlich ganz geeignet, die Stirne eines dicken Schusterschädels mit hellen Angstschweißtropfen zu bedecken. Ob wohl der große Bischof von Hippo nicht stutzig geworden wäre, falls er die unabsehbare Reihe von Unglücklichen und Verrückten, welche seine Prädestinationslehre machen sollte, im Geiste hätte erblicken können? Kaum. Diese Kirchenväter vom Schlage des Augustinus waren so starr und unnahbar wie ihr alter, jetzt mit dem christlichen Liebesmäntelchen notdürftig behangener Moloch-Schaddai. Und dann muß man, um gerecht zu sein, auch nicht vergessen, daß eine so todkranke Zeit, wie das vierte und das fünfte Jahrhundert, Ärzte nötig hatte, die sich keinen Augenblick besannen, da, wo Medikamente nicht halfen, das Eisen und, wo dieses unzulänglich sich erwies, das Feuer in Anwendung zu bringen. Sie unternahmen es in ihrer Weise, auf die uralte und ewigjunge Faustfrage des Daseins eine Antwort zu finden und zu geben.

Jeder nachdenkliche Mensch versuchte das in seiner Art. Auch der Jakob Morf versuchte es, dahinten in seinem stillen Kempttal, auf welches die alte Kyburg ernst herniedersieht. War von Jugend auf ein frommer Grübler gewesen, der Jakob, hatte sich dann in Mannesjahren »oft sehr in seinem Gemüte angegriffen gefühlt«, war »von großen Bangigkeiten heimgesucht« und so nervös zitterig worden, so gereizt, daß ihm jedes Geräusch peinlich war und er das Surren des Spinnrades seiner Regula nicht hören konnte, ohne Schmerzen zu empfinden. Zur Zeit, wo sein Zustand so peinlich geworden, bildete sich in Unter-Illnau ein Filial der Herrnhutergemeinde und zwar unter den Auspizien des Pfarrherrn selbst. Hier suchte Morf Linderung und Trost. Wie es schien, nicht ohne Erfolg. Das furchtbare Phantasma von der »Zornwahl«, d. h. von der Vorherbestimmung zur ewigen Verdammnis, erblich in seiner Seele oder schien zu erbleichen vor der Lehre von der Versöhnung mit Gott durch Christus. In Wahrheit wechselte die Selbstquälerei des Armen nur die Tonart. Er war eines Tages auf die biblische Stelle gestoßen, derzufolge »diejenigen, welche Christus angehören wollen, ihr Fleisch und ihr Gelüste kreuzigen müssen«, und hieran blieb seine Grübelei kleben wie an einer Leimrute. Bedauernswerter Schuster von Illnau! Auch durch dein Bewußtsein, wie durch das der ganzen modernen Welt, ging der unglückselige Riß zwischen Natur und Geist. Er drückte das so aus (hier aber fühlt sich der Erzähler, wie im Verlaufe unserer Geschichte noch mehrmals der Fall sein wird, verpflichtet, die bekannte englische Gerichtsformel: »Damen mit prüden Ohren entfernen sich!« in Anwendung zu bringen oder mit dem Baron von Münchhausen beim Immermann zu sagen: »Fräulein Emerentia, ich glaube, man hat Sie draußen gerufen!«): »Ich geriet in einen beständigen Kampf mit meiner Natur und meinen ehelichen Pflichten, so daß, wenn ich diese einmal erfüllt hatte, mir es zur Sünde geworden ist und ich ganze Nächte unter den größten Peinigungen verbrachte. Tag und Nacht sah ich dann Christum vor Augen, wie er am Kreuze starb. Wo immer ich stand und ging, erblickte ich ihn so und flehte ihn um Linderung meiner Leiden an.«W. A, II, 6. – Man sieht, die herrnhutsche Blutopfertheorie hatte ihre Wirkung auf Morf getan.

Zum Unglück für den armen Mann gelangte unser Jakobus Ganz-Qualm auf einem seiner missionärischen Schleichgänge zur Herbstzeit 1819 nach Illnau, wo er bei Morfs Nachbar, dem Jakob Rüegg, Herberge nahm. Da begann der Schlammvulkan nach Gewohnheit zu arbeiten, und eine Einladung von seiten seines Nachbars machte unsern Morf zum Zeugen des erwecklichen Ausbruchs. Die Folgen waren drastisch: als Ganz seinen Pilgerstab weitergesetzt hatte, fand sich Morf von dem hinterlassenen Qualm völlig betäubt. Ganz war nicht der Mann, eine Seele, welche sich einmal in das Netz seiner Mystik verfangen, wieder loszulassen. Er sorgte von fernher, die Benebelung des armen Schusters zu unterhalten. Einer seiner häufigen BriefeW. A. I, 77–80 (Briefmappe). an Morf brachte diesen auch zuerst mit dem heiligen Margetli in Verbindung. Unterm 26. November 1819 schrieb Ganz: »Mein Lieber! Gottlob! ich sehe, daß Dich Gott mit seiner Liebe magnetisch anzieht und Dich verfolget mit seiner Liebe, um Dich in das ewige Nichts zu versenken.« (Das »ewige Nichts« spielt in der Ganz-Qualmschen Theologie keine geringere Rolle als das »Nirwana« in der atheistischen Theologie des Buddhismus.) »O, mein teurer Morf, Du mußt, Du mußt in den ewigen Urgrund hineinsinken; es muß in dieses grenzenlose, weite Land der Ewigkeit hinabgesunken werden; es hilft da alles nichts! O, was habe ich auf meiner jetzigen Reise erfahren! Ich muß nur staunen und abermals staunen. Auch die Margareta Peter ist von dem stillen Gott der Ewigkeit verschlungen worden und wohnet im Lande des Nichts, wo Gott alles in allem ist. Wir müssen am Ende alle in den stillen Grund, da treffen wir uns an und sehen dann, daß wir auf ewig am rechten Orte sind. Seelen, die schon in diesem Leben zu ihrem ursprünglichen Glück gelangen sollen, haben keine Ruhe, bis sie im stillen Meer der ewigen Liebe ruhen. O, Lieber, eile! Der Engel das Wasser im Teiche Bethesda bewegt, steige eiligst hinein!«

Nun wohl, der arme Morf stieg wirklich eiligst hinein in den qualmenden Teich der Ganzschen Phrasen, daß ihm der Dampf über dem Kopfe zusammenschlug. Ganz seinerseits war nicht faul, immer neuen Briefqualm zuzugießen. Im Dezember 1819 schrieb er: »Selig ist der, in dessen Herz ein immerwährendes Amen aufsteigt. Verstehst Du mich, mein Lieber?« Wir zweifeln, ob der gequälte Schuster dieses »Amen« verstanden habe oder die weiteren Mystizismen seines Korrespondenten vom »Versinken in das Nichts«, vom »Abschlachten des alten Adam« und ähnlichen heiligen kunterbunten Qualm und Salm. Der schleichende Missionär ließ es sich freilich angelegen sein, insbesondere die Forderung, den alten Adam abzuschlachten, zu kommentieren. Hatte er doch schlau die Handhabe herausgefunden, an welcher Morf am stärksten zu fassen war. »Mein Liebster« – schrieb er im Jahre 1820 – »auch die Kreatur soll frei werden vom Dienste der Eitelkeit und des vergänglichen Wesens. Ich sage Dir« – Emerentia, man hat Sie abermalen draußen gerufen! – »daß der fleischliche Umgang nach tierischer Weise ganz und gar nicht von Gott ist. Die fleischliche Beiwohnung ist eine höchst traurige Folge unseres Sündenfalls, und wer wieder zu seinem ersten ursprünglichen paradiesischen Glück gelangen will, der muß notwendig den alten Saumenschen ausziehen mit seinen Werken und den neuen Menschen anziehen. Du hast nichts dabei zu tun als Dich von neuem dem Herrn aufzuopfern und hinzugeben, daß er diesen wüsten alten Adam töten und zum Brandopfer schlachten und ihn ganz und gar abtun kann.«

So geht die ekelhafte naturwidrige Litanei noch lange fort. Ist es doch zu allen Zeiten das Bemühen der Schwarmgeister und Dunkler gewesen, die Natur zu verdammen, deren ewige Gesetze aller Schwarmgeisterei und Dunkelei ein fortwährendes Dementi geben. Daß die wahre Sittlichkeit auf die Achtung vor der Natur gegründet sein müsse, daß die Ehe das sittliche Fundament der Gesellschaft sei, davon hatten und haben die Fanatiker keine Ahnung. Wohin aber die Verwerfung der Grundgesetze alles Daseins führe, die Geschichte des armen Morf wird es zeigen. Indem er auf Eingebung eines konfusen Haselanten hin zu vermeiden trachtete, was sein Recht und seine Pflicht war, kam er dazu, seine Pflicht gröblich zu verletzen. Wodurch er ein Heiliger zu werden wähnte, das machte ihn zum Sünder. Man trotzt der Natur nicht ungestraft: sie weiß sich an ihren Verächtern zu rächen, sie darf nicht mißachtet, sie kann nicht aufgehoben werden. Sie will aber gezügelt sein. Das soll das kann der Mensch. Indem er die Natur zügelt und leitet, adelt er sie und erhebt das Naturgesetz zum Sittengesetz. Diese harmonische Ineinsbildung von Natur und Geist ist, scheint mir, ein weiseres Unternehmen als die Grübelei über das Rätsel unseres Daseins. Noch mehr, sie ist die einzige mögliche Lösung dieses Rätsels. Denn eher fürwahr geht ein Kamel durch ein Nadelöhr und ein Protz ins Himmelreich ein, als daß der Mensch über den Menschen hinauskönnte. Was er soll, was er kann, ist, ein ganzer, rechter, ein humaner Mensch sein. Das übrige ist a priori oder a posteriori konstruierter Wind, der »über Stoppeln pfeift«.

Sechstes Kapitel.

Fromme Fahrten.

Inzwischen hatte es das weithinscheinende Licht von Wildisbuch zu einförmig gefunden, daselbst fortwährend still auf dem Leuchter zu stehen. Die Marget, seit lange schon aus dem Kreise früherer bäuerischer Tätigkeit herausgetreten, fühlte sich in ihrem heiligen Müßiggange von der Unruhe der Langeweile ergriffen. Sie empfand einen Zug nach der Ferne und gab demselben um so williger nach, als von seiten verschwisterter Seelen im Herrn häufig Einladungen an sie ergingen, die Behausungen ihrer Freunde und Freundinnen in Christo durch ihre Einkehr zu begnaden. Und hatte nicht auch der Heiland, hatten nicht auch die Apostel das Land wandernd durchmessen, um auszubreiten das Heil? Demzufolge trat die heilige Marget ihre Pilgerschaft und das Amt einer Reisepredigerin an. Zur Freude derer, bei welchen sie einkehrte, aber zum Leide derer, welche bei ihren Wallfahrten nach Wildisbuch die Heilige gar häufig abwesend fanden.

Zumeist wanderte sie allein ihre Straße, zuweilen jedoch ward sie von ihrer Schwester Elisabeth, welche sich womöglich noch sklavischer als die übrigen Verwandten ihr untergeordnet hatte, oder von der Ursula Kündig, als ihrem Johannes in der Jüppe, begleitet. Die frommen Ausflüge begannen mit dem Jahre 1820 und gingen zuerst ins Flaachtal, dann nach Zürich und von da aufwärts in die Ortschaften an den herrlichen Ufern des Sees, dessen Schönheit Klopstock und Goethe gefeiert haben. Halbverwischte Spuren von der Anwesenheit und dem Wirken der Heiligen unter den Erweckten finden sich in Zollikon, Küßnach, Meilen, Wädenschweil und dem auf dem Albis gelegenen Bergdorf Im Hirzel. An letzterem Orte wurde eine fromme weibliche Seele gar höchlich »ergriffen« von dem durch das heilige Gretchen »gepredigten so einfältigen Wege des Stillestehens und Aufhörens«. Merkst du, geneigter Leser, daß der Marget das »ewige Nichts«, das buddhistische Nirwana des Schlammvulkans von Embrach auch schon geläufig geworden? In der Tat war, wie bereits angedeutet wurde, Jakobus Ganz-Qualm im vorhergehenden Jahre mit unserer Heiligen in briefliche Beziehung getreten.

Nach vollbrachter Mission am Zürichsee und in der Stadt Zürich selbst – von den Verbindungen Margets mit den frommen Herren und Damen der Stadt Zürich sind die Akten beharrlich mäuschenstill – lenkte sie im Mai 1820 ihren Pilgerstab nach Illnau, wo sich zu Ehren der sehnlich Erwarteten die Mitglieder der dortigen Lämmleinbruderschaft im Hause des Jakob Rüegg versammelten. Hier nun sah unser armer, wie wir wissen, ganzbequalmter Jakob Morf die Heilige zum erstenmal und hörte sie predigen. Sie hat sich bei dieser ersten Begegnung nicht im besonderen mit ihm unterredet, und er will auch keinen ungewöhnlichen Eindruck von ihrer Erscheinung und ihrem Auftreten empfangen haben.Verhör des Jakob Morf am 11. April 1823. W. A. II, 6. Dem scheint aber doch nicht ganz so gewesen zu sein. Denn als er einige Wochen später nach Schaffhausen ging, Leder einzukaufen, zog es ihn seitwärts nach Wildisbuch. Die Heilige mag sich aber damals nur ganz oberflächlich mit dem heilsuchenden Schuster beschäftigt haben, was schon daraus zu erklären sein möchte, daß gerade zu jener Zeit der Verkehr mit Ganz sie in Spannung und Aufregung hielt. Im Sommer von 1820 besuchte der weiland Schneider von Einbrach die Brüder und Schwestern im Herrn zu Schaffhausen und qualmte von da eines Tages durch die Kohlfirst hinauf gen Wildisbuch. Selbstverständlich konnte die erste Begegnung des Heiligen und der Heiligen nicht ohne etzliches Wunderbare vor sich gehen. Die Legende berichtet nämlich: »Da der heilige Jakobus Ganz sich dem Peterschen Hause von der einen Seite näherte, kam die heilige Marget, von einem Gang ins Feld heimkehrend, von der andern Seite auf dasselbe zu. Augenblicklich ward ihr eine Offenbarung zuteil, wer der hohe Fremdling sei, und entzückt über das Heil, welches ihr durch sein Kommen widerfuhr, führte sie ihn hinein.« Leider weiß weder die Legende noch wissen die Akten weitere Einzelnheiten über den Verkehr der beiden heiligen Personen anzugeben. Gewiß ist nur, weil durch vorhandene Briefe bezeugt, daß dieser Verkehr sehr innig gewesen sein muß.

Bald jedoch griff das Verhältnis zu Morf immer bedeutender und bestimmender in das Wollen und Wirken unserer Heiligen ein. Im September genannten Jahres machte sich nämlich Morf zum zweitenmal nach Wildisbuch auf, wo er diesmal eine zahlreiche Versammlung von Wallfahrern vorfand. Nach beschlossenem Konventikel wurde er eingeladen, im Peterschen Hause zu übernachten, und am folgenden Morgen würdigte ihn Marget eines einläßlicheren Gespräches. Sie erzählte ihm von ihren eigenen früheren Leiden und Kämpfen, so daß ihm war, »als spräche sie aus seinem eigenen Herzen«. Er mußte weinen »vor Freude, daß es noch Menschen gäbe, welche Empfindungen haben wie er«. Damit war denn die nähere Bekanntschaft der beiden gemacht. Noch vor Jahresschluß sollte dieser Seelenbund fester und traulicher werden. Marget war durch eine Tochter des Herrn Kaspar Notz auf der Platte bei Zürich mit diesem bekannt geworden. Im November 1820 erschien sie auf der Platte, dem Hausherrn erklärend, »sie habe einen Zug zu ihm gehabt und wünsche sich einige Zeit in seinem Hause aufzuhalten«. Der erweckte Mann hatte selbstverständlich nichts dagegen einzuwenden. Die Heilige unternahm von der Platte aus verschiedene Missionszüge, »wohin eben der Herr sie führte«.Deposition des Hrn. K. Notz. W. A. II, 37. Im Hause ihres Gastfreundes erhielt sie auch Besuche von verschiedenen heilsbegierigen Personen. Überhaupt war das Haus zur Platte ein liebster Versammlungsort der Erweckten, seit Juliane von Krüdener dasselbe im Jahre 1817 durch ihre Anwesenheit dazu geweiht hatte. Die Kinder der Welt gaben dem frommen Hause freilich einen andern, einen wenig erbaulichen Namen. Unter den Besuchern, welche durch Marget hier mehr und mehr für das Reich Gottes gewonnen wurden, tat sich der in Zürich in Arbeit stehende Strählmachergesell (Kammachergesell) Stutz aus Liestal hervor. Unsere Heilige scheint ihn ausgezeichnet zu haben, und weil, wie bekannt, »die Welt das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen liebt«, so gereichte das ihrem Rufe zum Schaden. Böse Jungen wollten wissen, Margets Verhältnis zu dem erweckten Strählmacher sei vertraulicher gewesen, als ihrer Heiligkeit zuträglich; der Strählmacher habe »ganze Nächte mit ihr verbracht und mit ihr allerlei schwärmerischen Unfug getrieben«.Deposition des Hrn. Di. Graf von Rafz. W. A. II, 26 b. Herr Notz widersprach diesem standhaft, angebend, er sei überzeugt, der Strählmacher sei »nur aus frommen Absichten zu der Marget gekommen«.

Fromme Absichten haben freilich schon häufig zu sehr unfrommem Tun geführt, besonders nächtlicherweile. Indessen wollen wir dies im beregten Falle dahingestellt sein lassen. Gewiß ist, daß der arme Jakob Mors, welcher in der Heiligen von Wildisbuch endlich eine Trösterin seiner gequälten Seele gefunden zu haben glaubte, in wirklich frommer Absicht im Dezember nach der Platte kam, wo Marget noch immer weilte. Er wollte am nämlichen Tage wieder heim, aber die Heilige hieß ihn bei ihr bleiben, »weil seine Seele, die lange genug gepeinigt worden, einmal wieder erlöst werden und ein neuer Mensch aus ihm entstehen müsse«. So blieb er denn sechs Tage lang. Während dieser Zeit habe die Marget »gewaltig gekämpft«, worauf sie ihm angezeigt, »sein Geist sei nun erlöst«. Zugleich »sei auf eine wunderbare Weise eine unaussprechliche Liebe aus ihrem Herzen in das seinige übergegangen«. Ihm sei dabei der Spruch zu Sinne gekommen: »Wer an mich glaubt, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen«. Denn »solche geistige Ströme seien von ihr in ihn übergegangen«. Zur Bekräftigung dieser Angaben fügte Morf noch hinzu, auch andere Personen, die in genauer Bekanntschaft mit der Marget gestanden, würden bezeugen, daß sie »eine wunderbare Kraft besessen habe, die Herzen der Menschen durch Liebe an sich zu ziehen«.W. A. II, 6. Die gute Regula Morf, nicht angenehm verwundert über das lange Wegbleiben ihres Mannes von Hause, kam, ihn heimzuholen. Mit einer vermutlich nicht ganz freundlichen Miene in das Haus zur Platte getreten, gab sich die Gute, als er ihr den Grund seines Fortbleibens erklärt hatte, mit der Hoffnung zufrieden, daß »es nun mit ihm bessern werde«. Die arme Regula sollte bald genug erfahren, daß es mit der Besserung nicht viel auf sich hätte.

Ende Januars 1821 kehrte die Marget über Illnau und Agasul nach Hause zurück. Am letztgenannten Orte zog sie damals die Margareta Jäggli so an sich, daß ihr dieselbe bald nach Wildisbuch folgte. Ihr Seelenfreund Morf geleitete die Heilige in ihr väterliches Haus, wo sie ihn wiederum volle zehn Tage zurückhielt, »um durch Christum geistig auf ihn zu wirken, damit er von seinen Seelenleben befreit werde«. Die »Erlösung« auf der Platte war demnach keine Erlösung gewesen. Als sich Morf endlich losriß, gab ihm Marget bis nach Andelfingen das Geleite, lud ihn zu baldigem Wiederbesuch ein und versprach, ihm häufig zu schreiben, was sie auch wirklich tat. Jakob, Jakob, ich fürchte, du bist auf einem bedenklichen Wege! Nimm dich in acht, daß aus der gehofften Befreiung nicht eine Bestrickung werde. Oder ist eine solche schon daraus geworden? Es ist Grund vorhanden, das zu vermuten. Ja, ja, man weiß, wo das warmbrüderliche und brünstigschwesterliche Getändel mit der »geistigen Liebe« gemeiniglich – landesmundartig zu sprechen – »ausländet«. Natur bleibt Natur, und sie spielt gerade solchen, die sich über sie erhaben dünken, bei Gelegenheit gar gern einen Possen. Geh nicht mehr nach Wildisbuch, Jakob. Ich sage dir: das heilig' Margetli ist in dich verliebt! Mit vielem »geistigem« Brimborium allerdings, aber am Ende aller Enden doch ganz ordinärerweise in dich verliebt.

Der Jakob jedoch hörte keine warnende Stimme oder merkte wenigstens nicht darauf. Möglich, wahrscheinlich sogar, daß seine Neigung zur Marget bis dahin wirklich eine rein spirituelle geblieben war. Die Idee, daß die Heilige von Wildisbuch eine Heilandin, seine Heilandin sei, war dem armen, durch Ganz-Qualm in das Labyrinth des höheren Blödsinns eingeführten Manne zur fixen geworden. Von dieser Seite her sollte er Verführung zu befahren haben? Von seiten der Heiligen, welche die Donnerkeile ihrer Beredsamkeit namentlich gegen die »Wollust«W. A. II, 37. zu schleudern pflegte? Unmöglich! So ging er denn zu Ostern 1821 wieder nach Wildisbuch und verbrachte die Feiertage daselbst. Es hätte ihm aber doch auffallen sollen, daß die heilige Marget nicht mehr ohne ihn sein und leben konnte. Denn schon zum Himmelfahrtsfest mußte er auf ihr Geheiß abermals zu ihr kommen. Kein Zweifel, unsere Heilige hätte in jenen Frühlingstagen singen können:

»Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Knospen sprangen,
Da ist auch mir im Herzen
Die Liebe aufgegangen.«

Aber so sang sie nicht. Sie wußte ja nichts von »profanen« Dichtern. »Was weiß das eigentliche Volk von uns?« sagte in alten Tagen Faust-Goethe grämlich zu seinem Famulus Wagner-Eckermann, welcher von Wahrheits wegen hätte antworten müssen: »Exzellenz, blutwenig oder nichts.« Das ist ja eben der Jammer, daß das Volk, das »eigentliche« Volk keine Kenntnis, keine Ahnung hat von dem heiligen Strom der Schönheit, welchen unsere Goethe und Schiller durch die Welt ergossen haben. Sonst hätte es sich wohl schon vom molochistischen Seelenschmutz darin gereinigt. Aber freilich, ohne Vorbereitung müßte ihm so ein Bad mehr zum Unheil als zum Heil ausschlagen, und es steht zu vermuten, die nötige Vorbereitung werde noch Jahrhunderte dauern. Die Stunden der Weltgeschichtsuhr sind so ungeheuer lang, daß das längste Menschenleben kaum eine Sekunde füllt, und keine Ungeduld rückt den Zeiger vor.

Es trieb und gor in der Marget, keine Frage. Die Heilige war zum simpeln Weibe geworden, d. h. sie war verliebt wie eine ganz gewöhnliche Evastochter. Die bäuerische Sinnlichkeit, durch den frommen Müßiggang noch mehr gestachelt, war in ihr erwacht, sehr erwacht. Aber sie war schon gewohnt, in einer Scheinwelt zu leben, und vermochte der Wahrheit und Wirklichkeit nicht mehr ins Angesicht zu sehen. So gaukelte sie sich denn auch ihre Leidenschaft für den armen mopsköpfigen Morf ins Übersinnliche hinüber und verquickte ihre Gefühle mit theosophischem Nonsens aus dem »Psalterspiel«, aus dem »Herzbüchlein« und aus dem »Geheimnis der Gottseligkeit«. Wie stupide Theologen, möcht' ich sagen, die Gitagovinda der Hebräer, das unter dem Namen des Hohenliedes bekannte glühende Liebesidyll zu einer frostigen kirchlichen Allegorie umzudeuten sich nicht entblödet haben, so log sich die Marget ihre natürliche Liebesglut zu einer übernatürlichen Flamme um, zu einem weiteren wesentlichen Ausfluß ihres heilandischen Wesens.

Es ist mir sehr wahrscheinlich, daß unsere Heilige, als sie am Himmelfahrtstage von 1821 mit ihrem Seelenfreund aus Illnau durch die blühenden Fluren ihrer Heimat wandelte, zuerst die nachmals von ihr verkündigte Offenbarung erhalten habe, sie würde gemeinsam mit dem Jakob gen Himmel fahren. Sehr wahrscheinlich das! Denn die beiden waren mitsammen zur Hochwacht hinaufgestiegen, und ist das so ein Punkt, wo die mühsam verhaltene Zärtlichkeit einer Heiligen schon auf einen solchen Einfall kommen kann. Ein weniger wolkenwandlerisches Paar würde freilich, an so einem duftigen Himmelfahrtstage von der Hochwacht ob Wildisbuch ins Land ausblickend, sich begnügen, mit Hölty zu fühlen und zu singen: »O, wunderschön ist Gottes Erde und wert, darauf vergnügt zu sein,« Allein von Frommen und Heiligen müßt ihr ja keine naturgemäßen Empfindungen erwarten! Sie leben und weben in übersinnlichem Qualm, um dann mitten darin plötzlich von sinnlichsten – Zufällen überrascht zu werden. Wir werden eine derartige Überraschung mit anzusehen haben.

Als der teure Jakob am dritten Tage nach der »Auffahrt« wieder heimgegangen, wühlte eine grenzenlose Unruhe in unserer Heiligen. Eine Epistel, die er ihr nach seiner Heimat zugehen ließ, minderte ihre Liebesunruhe nicht, sondern mehrte sie eher. Marget stieg die Halde hinan zur Hochwacht, nach der Gegend ausblickend, wo Illnau lag. Sie hätte mögen Jakobum mit ihren Blicken herbeibannen. Maßen sie aber trotz ihrer »Wunderkraft« das nicht vermochte, ging sie wieder bergabwärts heim, setzte sich hin und ergoß ihre Sehnsucht in folgendem Brief an Morf: »Mein geliebtes Kind! Dein lieber Brief freute mich sehr, welchen ich durch den l. Jakob von Trüllikon Richtig erhalten habe. Ach du mein liebes Kind! wie gerne wolte ich dir sagen wie es mir ergangen ist. sobald wir uns verabscheidet haben, so mußte ich auf die seiten gehen, wo mich Niemand sehen möchte, um meinem Herzen Luft zu machen. O du mein Herz ich kann dir nicht beschreiben, in welche – Tiefe Wehmuth ich verfallen bin, eine Stunde lang lag ich da. Ich möchte vor Herzenleid nicht mehr nach Hause gehen, sonder in diser Wüste Allein bleiben! in einer solchen Lage weiß ich nicht, daß ich Schon gewesen sei! so unnenbahre Leiden aller Art, so bedenkliche Schulen ich bis dahin immer durchmachen mußte. Aber auf eine solche Weise habe ich es noch nie erfahren. Ach wie ein Trauriger Schmerz ist doch das. Ach der vorige Abscheid und Abwesenheit war ein Schatten gegen diesmal. Ach warum bist du mir den so gar unbeschreiblich lieb. Warum liebt den die Liebe in mir dich so sehr! Den nächsten Freitag nach unserem Abscheid bin ich auf denselbigen berg gegangen und mußte den (dann) lang nach deiner Heimat Schauen, ich erkente darann das Schloß Kiburg und nachher bin ich Oft wieder in die nehmliche Liebeswehmuth verfallen, daß ich es faßt nicht mehr aushalten möchte.« – Bis hierher sprach das verliebte Margetli und zwar, wie man gestehen muß, ganz in der verliebten Ordnung Nun aber kommt das heilige Margetli und fährt fort: »Ach wann wird doch die Zeit kommen, wo Alles wird aufgelößt werden, wo die Liebe! kan ungestört und ungehindert lieben nach ihrem Lauf und Willen! und sich ergiesen kan nach ihrem ewigen Maase. Nach ihrem unbeschreiblichen Reichthum! O wie ist die Liebe noch so unbekant in den Seelen, wie wenige haben sie noch erfahren. Ach es ist die Liebe die allen verstand übersteigt.Da fällt einem, weiß der Himmel, unwillkürlich die lästerliche Parodie der bekannten Halmschen Definition der Liebe ein: »Zwei Seelen und – kein Gedanke, Zwei Köpfe und – kein Hirn.« Aber wie wenige noch sind aus dieser Liebe am Kreuze gebohren worden. O du Wunderbarer Stand! wie wenigen bist du bekannt! O du Wunderbare Liebe! du wirst nicht Satt mit lieben, im Glauben und in Gerechtigkeit! in ewigkeit vermältst du dich mit deinen Kindern! und wie mehr du sie liebst wie mehr wird ihr Hunger und Durst entzünt nach deiner Liebe, bis sie ganz in dieselbige eingezogen und in allen stücken darin Wachsen, an den der daß Haupt ist Christus! O du mein Herz, o du Kind der Liebe! Du bist ja aus Gott gebohren, der die Liebe ist. Darum kannst du nicht entwendt werden von der Liebe – mein geliebtes Kind! Deine dich ewig liebende Margarete Peter.«Wort- und Buchstabengetreu nach dem Original. W. A. Briefmappe, Nr. X.

Als dieser vom »4. Mey 1821« datierte Brief nach Illnau gelangte, schüttelte die gute Regula Morf denn doch bedenklich den Kopf dazu. Sie hatte schon zu einer früheren Epistel des heiligen Gretchens an ihren Mann (dat. 15. April 1821) bedenklich den Kopf geschüttelt. Denn es hatte darin geheißen: »O wie ist die Liebe in mir so groß. O wie so unbeschreiblich, wie so gewaltiger und stärker als der Tod. O du mein liebes Kind! O wie lieb bist du mir doch! O wie 1000sendmall muß ich dich im geist an mein Herz drücken. Ach warum muß ich dich den auch so gar überaus lieben, mein geliebtes Kind?« Die Heilige scheint denn doch gefühlt zu haben, daß dies alles nicht so recht geistig und geistlich lautete; denn sie schrieb an den Rand des Briefes: »Diese Zeilen sind einzig (nur) für dich.« Morf jedoch teilte diesen Brief wie die übrigen seiner Ehefrau mit, und darin könnte doch wohl ein Beweis liegen, daß er sein Verhältnis zu der Marget noch immer arglos nahm, daß er sich sozusagen passiv darüber täuschte, während die Heilige ihrerseits hinsichtlich der Natur dieses Verhältnisses aktiv sich betrog. Die gute Regula sagte nachmals über diese Episteln aus, »ihr Mann habe ihr die von der Marget erhaltenen Briefe vorgelesen, welche ihr aber nicht gefallen, da sie viel unverständliches Zeug enthalten und meistens wie Liebesbriefe gelautet hätten. Allein ihr Mann habe sie damit beruhigt, daß dies nur geistige Liebe bedeute«.W. A. II. 26a.

In einer Art Nachschrift zu dem oben mitgeteilten Briefe setzte die Heilige ihren »ewiggeliebtesten Schatz« in Kenntnis, daß sie für einige Tage nach Baden im Kanton Aargau reisen werde. Sie tat dies und zwar in Gesellschaft der Ursula Kündig, welcher ihr Vater erlaubt hatte, eine oder zwei Wochen lang die altberühmten dortigen Bäder zu gebrauchen. Nachdem aber die beiden Mädchen ein paar Tage im Gasthause »Zum Schlüssel« in Baden verbracht hatten, erklärte die Heilige, »sie spüre einen Zug des Geistes nach Basel hin, wo der Herr ein großes Volk habe«. Sie war ja schon vor Jahren von dem frommen Lachenal dahin eingeladen worden und wußte auch ihren Seelenfreund Ganz-Qualm dort. Die sittsame Ursula fand freilich diese Weiterwanderung mehr bedenklich als erwecklich und deutete schüchtern an, sie würde die Reise nach Basel vor ihrem strengen Vater nicht verantworten können. Darauf die Heilige hoch herab: »Man muß Gott mehr gehorsamen als den Menschen, und wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.« Auf dieses Machtwort hin fügte sich die arme demütige Ursula und ging mit nach Basel. Eine Tradition hat diese Reise mit dem inzwischen polizeilich aus Zürich in seine Heimat Liestal verwiesenen Strählmacher Stutz, welchen die Marget habe besuchen wollen, in Verbindung gebracht. Allein Ursulas Zeugnis steht dieser Sage ganz bestimmt entgegen.W, A. II, 32. Wir wissen von ihr, daß sie sich mit der Marget auf geradestem Wege nach Basel begab, daß die Heilige mit ihrer Jüngerin vom Professor Lachenal gastfreundlich aufgenommen wurde, und daß sie während ihres achttägigen Aufenthalts in Basel das Lachenalsche Haus nie verließ. Ganz-Qualm hatte hier mehrere vertrauliche Unterredungen mit der teuren Seelenfreundin, stellte ihr fromme Herren und Damen vor und selbstverständlich ward in aller Form gekonventikelt. Ob unsere Heilige auf die Erweckungssüchtigen von Basel bei dieser Gelegenheit besonders erwecklich gewirkt habe, darüber geben unsere Quellen keine Auskunft.

Fast aber scheint es, die Marget habe sich bei ihrem messianischen Wirken in Basel zu übermäßig angestrengt, denn sie verließ die Stadt der Traktätchen und Heidenbekehrungsanstalten als eine Kranke. Sie nahm daher auf dem Rückweg nach Wildisbuch ihre Einkehr bei einem seit lange gewonnenen Bruder im Herrn, dem Doktor Graf zu Rafz, einem Intimus unseres Schlammvulkans von Embrach. Auch Heilandinnen kommen mitunter in den Fall, statt bei der eigenen Wunderkraft bei der profanen Heilkunde Hilfe zu suchen. Besagter Doktor will aber – so behauptete er wenigstens später – von der diesmaligen Einkehr der Heiligen und ihrer Jüngerin nicht sehr erbaut gewesen sein und die beiden mit der wenig ehrerbietigen Bemerkung empfangen haben, »es schicke sich für junge Weibspersonen schlecht, so im Lande herumzuziehen«. Die Marget erwiderte darauf, sie müßte ihn notwendig allein sprechen, und schickte die Ursula nach Hause voraus. Gleich darauf wurde der Heiligen übel und des Doktors Frau brachte sie zu Bette. Der Doktor selbst will die Patientin mit argwöhnischen Blicken gemustert und ihre Gestalt »sehr auffallend« gefunden haben. Behauptete auch, der Doktor, die angegangene Heilandin habe ihm vorgeklagt, »seit etlicher Zeit verspüre sie allmorgendlich Brechreiz und seit drei Monden sei es mit ihr nicht mehr bestellt, wie es sein sollte«.W. A. II, 26 b. Ominös das, sehr ominös! Unserer Heiligen scheint zu dieser Zeit noch nicht geoffenbart worden zu sein, was ihr später geoffenbart wurde, nämlich die beregte Störung ihres Organismus sei »ein Zeichen, daß sie über ihre weibliche. Natur ganz Meisterin geworden und dieselbe erstorben sei«.W. A. I. 49, 87. – Wenigstens will der Doktor von Rafz damals, im Mai 1821, keine solche Deutung jenes ominösen Umstandes aus dem Munde der Heiligen vernommen haben. Aber freilich, der Doktor war ja gerade in einer Metamorphose seiner religiösen Anschauungen begriffen und hatte entschieden den »rechten« Glauben nicht mehr. Denn er, der früher so recht Ganz-Qualmisch an das heilige Margetli von der »Stille der durchgebrochenen, in den ewigen Gottesgrund versunkenen, in den Armen der stillen Gelassenheit, ja der ewigen Unveränderlichkeit ruhenden Seelen« warmbrüderlichst geschrieben hatte, unterfing sich jetzt der Blasphemie, zu sagen, der heilige Ganz sei »auch nur ein Pfaff«. Eine erschreckliche Umstimmung das! Die Brüder und Schwestern in Basel hatten mit Kummer vernommen, daß der Bruder Doktor wieder »im Luziferstande stehe«,W. A. II, 29, Nachtrag. – und unsere Heilige war beauftragt worden, ihm ins Gewissen zu reden. Er dagegen verordnete ihr etliche starke Dosen Kamillentee, und damit endete dieses Abenteuer zu Rafz auf dem Rafzerfeld.

Im übrigen muß dazumalen das, zart zu sprechen, unjungferliche Aussehen des Margetli auch noch andern Leuten als dem exerweckten Doktor Graf aufgefallen sein. Denn es ging zu nicht geringem Ärgernis aller gottseligen Seelen das Gerücht ins Land aus, die Heilige sei gesegneten Leibes. Ein zweites raunte, sie hätte im Wirtshause zu Bargen im Kanton Schaffhausen heimlich geboren. Hiergegen liegt ein aktenmäßiger Einspruch vorW. A. I, 101 a. und ist überhaupt die ganze Geschichte von dieser Schwangerschaft mythisch geblieben. Nicht der Schatten eines Beweises ist dafür beigebracht worden. Aber: »Zukünftiges wirft seinen Schatten voran« – hat ein britischer Dichter gesagt, ein tiefer Kenner von Menschen und Dingen. Die Peripetie unseres Passionsspiels, welcher wir jetzt zuschreiten, wird das Omen nur allzusehr bestätigen.

Siebentes Kapitel.

In der Verborgenheit.

Zu Anfang des Jahres 1822 durchkreuzten wieder allerhand seltsame Sagen das Wyland und hatten die dörflichen Klatschbasen zwischen der Thur und dem Rhein alle Hände oder vielmehr alle Mäuler voll zu tun. Die Magdalena Moser in Örlingen, vermut' ich, und die Barbara Naumann in Trüllikon hatten dazumal gar viele Anbohrungsversuche zu befahren. Allein sie hielten sich wacker und es war nichts aus ihnen herauszubohren. Die Spannung der Neugierde unserer guten Wyländerinnen und wohl auch Wyländer war allerdings berechtigt genug. Sie hatte nicht allein eine mythische, sondern auch eine historische Unterlage: die heilige Marget war nämlich mit ihrer Schwester Elisabeth seit Monaten aus Wildisbuch verschwunden, spurlos, wie der Erde entrückt.

Um diese geschichtliche Tatsache her rankten sich, wie bei Heiligengeschichten bräuchlich ist, mythenbildnerische Arabesken, von nicht sehr heiliger Natur freilich. Denn sie sagten aus, die Heilige und ihre Schwester-Jüngerin hätten dringliche Ursache gehabt, sich zeitweilig unsichtbar zu machen; jene, um im Verborgenen eine Niederkunft zu bewerkstelligen, diese, um eine Schwangerschaft zu verheimlichen.W. A. I, 23. Als derartige Auslassungen der wyländischen Dorfnovellistinnen immer lauter wurden, mußte sich unser Pfarrherr von Trüllikon wohl oder übel damit befassen und versammelte zu diesem Ende am 2. Januar seinen »Stillstand«, wie nicht etwa aus satirischen, sondern nur aus technischen Gründen die Kollegien der Kirchenältesten in den Gemeinden des Kantons Zürich amtlich hießen und noch heißen. Es ward ein Protokoll angefertigt, in welchem die Tatsache des Verschwundenseins der beiden Schwestern konstatiert wurde, sowie die weitere, daß der Stillstand den Johannes Peter Judenschießer zu Wildisbuch wiederholt, aber vergeblich aufgefordert hatte, seine beiden Töchter vor dem Pfarramt zu stellen oder wenigstens anzugeben, wo sie sich befänden.

Das Protokoll ward dem Oberamt in Andelfingen zugefertigt, worauf dieses den Judenschießer auf den 23. Januar vorbeschied und ins Gebet nahm. Der Alte war aber nicht der Mann, etwas zu sagen, was er nicht sagen wollte; wohl aber der Mann, zu lügen wie ein Frommer, wenn die »politische Notwendigkeit« es verlangte. So log er denn, »er wisse nicht, wo seine beiden Töchter sich aufhielten«, und setzte lachend hinzu, »er sei der Mädchen halber ganz unbekümmert, weil überzeugt, daß dieselben nichts Böses tun könnten«. Da war nun freilich nichts zu machen, als dem Alten bei Buße aufzugeben, seine Töchter innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen vor dem Pfarramte Trüllikon zu stellen. Auch erstattete der Oberamtmann Schweizer Bericht nach Zürich, um die kantonale Polizei zur Aufspürung der Verschwundenen in Bewegung zu setzen. Es wurde demnach allenthalben auf sie gefahndet, nur nicht da, wo sie sich wirklich befanden.

Die Heilige von Wildisbuch scheint nach ihrer Ende Mai 1821 erfolgten Heimkunft von der Missionsreise nach Basel mehrere Wochen in düsterem Hinbrüten verbracht zu haben. Es liegen, soviel ich habe erkunden können, aus dieser Zeit weder mündliche noch briefliche Äußerungen von ihr vor, und so fehlt der psychologische Schlüssel zu dem, was sie damals empfand, sann und wollte. Mit Sicherheit läßt sich nur annehmen, daß sie gerade damals insbesondere ihre Schwester Elisabeth, ihren Schwager Moser und die Ursula Kündig, welche jetzt in dem Peterschen Hause lebte, zum höchsten Grade gläubigen Vertrauens und fanatischer Anhänglichkeit hinaufgesteigert habe. Dem Moser untersagte sie zu jener Zeit den ehelichen Umgang mit seiner Frau in strengster Weise, »weil man einen solchen Umgang meiden müsse, wenn man Gott wohlgefällig sein wolle«.W. U. II, 22. Im Juni verbrachte der »ewiggeliebteste« Schuster von Illnau wieder etliche Tage bei seiner Seelentrösterin zu Wildisbuch.

Kurz darauf, am 13. Juli, hob sich, nach wahrscheinlich mit der Elisabeth und der Ursula Kündig genommener Abrede, die Heilige von dannen, und am Abend desselben Tages betrat sie »unerwartet« das Haus der Morfschen Eheleute in Illnau.Hauptquellen für das Folgende in diesem und dem nächsten Kapitel sind das Verhör des Jakob Morf am 11. April 1828, W. A. II, 6 und das Verhör der Regula Morf am 9. Juni 1823, W. A. II. 26 a. Sie zeigte dem Jakob und der Regula an, daß sie vierzehn Tage bei ihnen zu verweilen gedenke, welche Eröffnung natürlich mit gebührendem Respekt vernommen wurde. Aus diesen vierzehn Tagen sind aber anderthalb Jahre geworden, denn so lange sollte die Hedschra der Prophetin von Wildisbuch währen. Lange genug fürwahr, um das wunderlichste Idyll in Szene zu setzen, von welchem man je vernommen. Die Heilige wollte in der Verborgenheit leben, und es wurden alle Maßregeln getroffen, ihre Anwesenheit selbst vor den nächsten Nachbarn geheim zu halten, was nur dadurch gelingen konnte, daß die Morfschen Eheleute wenig Umgang hatten und ihr Haus vereinzelt zwischen Ober- und Unter-Illnau gelegen war. Bemerkenswert ist, daß die heilige Marget diese anderthalb Jahre über niemals, auch nicht eine Stunde lang mit gemeiner Arbeit sich abgegeben hat. Sie war alle diese Zeit entweder »in Gott versenkt« oder beschäftigt, »mit dem Satan zu kämpfen«. Doch ließ sie sich ziemlich regelmäßig herab, ihre Meditationen und Kämpfe zu unterbrechen, um bei wohlverschlossenen Türen dem Jakob und der Regula die Bibel, insbesondere die Apokalypse auszulegen und daran Predigten zu knüpfen, welche meistens darauf hinausliefen, »der menschliche Geist müsse sich mit seinem Urgeist verschmelzen«. Der guten redlichen Regula kam dieser auf Ganz-Qualmsche Noten gesetzte Text so spanisch vor, daß sie sehr verständigerweise beschloß, »sich nicht weiter damit zu beschäftigen, sondern lieber bei ihrem alten einfachen Glauben zu bleiben«. Recht so, Regula! Du wußtest, rechne ich, daß zweimal zwei gleich vier ist. Aber ich wollte, du hättest wie an deinem alten einfachen Glauben, so auch an deinem ehefraulichen Hausrechte festgehalten. Ich wollte, du wärest etwas weniger gutmütig und aufopferungsfähig und dafür nach Beschaffenheit der Umstände sogar das gewesen, was die Volkspoesie ein Reibeisen nennt, ein Hausdrache sozusagen. Es wäre wünschenswert gewesen, daß du beizeiten den Kehrbesen zur Hand genommen, einen derben Kehrbesen, und damit die heilige Marget mitsamt ihrer Urgeisterei, Apokalypse und Satanologie, ihrem Verschmelzen, Orakeln und sonstigem Dingsda zum Hause hinausgefegt hättest – sehr wünschenswert! Es ist gefährlich, mit großen Herren Kirschen zu essen; aber gefährlicher ist's, mit einem oder gar vollends mit einer Heiligen unter einem Dache zu wohnen. Gutmütige Regula, ich wünschte sehr, du hättest gewußt und beherzigt, daß schon vor alters dahinten in Schiras ein sehr weiser Manu, etwas grobianisch allerdings, gesagt und gesungen hatte:

»Traue keinem Heiligen! Süße Worte spricht er.
Aber in der Kutte steckt immer ein Halunke.«

Kutte oder Weiberjüppe, das macht keinen großen Unterschied. Im Gegenteil, so eine Jüppe kann unter Umständen noch gefährlicher werden als eine Kutte, viel gefährlicher, kalkulier' ich.

Nachdem unsere Heilige vier oder fünf Wochen in der Verborgenheit zu Illnau verbracht hatte, geschah eine Offenbarung, welche zeigte, weshalb sie denn eigentlich diese Hedschra nach Illnau bewerkstelligt habe. Eines Morgens eröffnete sie nämlich dem armen Jakob, in der Nacht sei ihr ein Engel erschienen, um ihr zu offenbaren, »Gott der Herr werde sie und ihn, Jakobum, mit Leib und Seele von der Erde wegnehmen, gleichwie das dem Enoch und Elias widerfahren«. Um nun diese in Aussicht gestellte Himmelfahrt zuwege zu bringen, war es nötig, weitere vier bis fünf Wochen »beständig mit dem Satan zu kämpfen«, was zu tun die Heilige sich angelegen sein ließ. Nach Verlauf dieser Zeit wollte oder konnte der Satan gegen die Himmelfahrt der beiden nichts mehr einwenden, und eines Morgens eröffnete die Marget ihrem Seelenfreunde, der »wichtige Tag sei nun für beide erschienen«, und forderte ihn auf, seine Sonntagskleider anzulegen, wie sie bereits getan, damit sie in anständiger Toilette in den Himmel auf- und einführen.

Wohl, legte also der Jakob andächtig seinen sonntäglichen Anzug an und harrten die beiden den ganzen Tag der wundersamen »Abreise«. Allein die Harrenden blieben merkwürdigerweise sitzen, wo sie saßen. Der Himmelfahrtsversuch mißlang, der Jakob gab jedoch trotzdem den Glauben an das endliche Gelingen desselben nicht auf. Die Heilige ihrerseits ließ nicht den geringsten Zweifel aufkommen, sagend: »Was heute nicht geschah, kann morgen geschehen.« Sie sandte sogar durch eine vertraute Person, eine Schwester des Jakob, Botschaft nach Wildisbuch, die Ihrigen sollten nach Illnau kommen, um noch Abschied von ihr zu nehmen, bevor sie gen Himmel erhoben würde, und Zeugen dieser Erhebung zu sein. Daraufhin erschienen schon am folgenden Tag Schwester Elisabeth und Lieblingsjüngerin Ursula im Morfschen Hause. Ursula blieb vier oder fünf Wochen, worauf sie nach Wildisbuch zurückkehrte, Elisabeth blieb bis zu dem Tage oder vielmehr bis zu der Nacht, wo ihre Schwester von Illnau abfuhr, obzwar nicht gen Himmel. Sämtliche drei Mädchen schliefen mit den Morfschen Eheleuten in einer und derselben Kammer. Ländlich-sittlich, heilig-idyllisch, patriarchalisch-erwecklich!

Die Himmelfahrt also war aufgeschoben, wenn auch nicht aufgehoben. Man mußte sich in Geduld fassen, mußte glauben und hoffen. Logischerweise sollte freilich der Himmelfahrt die Passion vorangehen, aber zu diesem Entschluß ist unsere Heilige erst später gekommen. Einstweilen kam die gute arme Regula in betreff der unmäßig sich in die Länge ziehenden heiligen Einquartierung mitunter auf unliebsame Schlüsse; denn, wie gesagt, sie hatte ihr Einmaleins inne. Sie drückte das in ihrer Weise so aus: die Marget und die Elisabeth hätten sich die ganze Zeit über unter Tags meistens in der oberen Kammer aufgehalten, wo sie auch mit ihrem Mann, dem Jakob, ihre Mahlzeiten einnahmen. Diese Lebensart habe ihr, der Regula, natürlich nicht behagen können, indem sie für ihren Mann und diese Personen immer bessere Speisen habe zubereiten müssen, als sie selbst genossen, und das Geld, das sie dafür von den beiden Schwestern erhalten, nicht bedeutend gewesen sei, indem dasselbe während der ganzen anderthalb Jahre ungefähr hundert Gulden betragen.Die Töchter des Judenschießers waren mündig und konnten über die Interessen eines Kapitals verfügen, welches ihnen ihre Mutter hinterlassen hatte. Die Marget habe ihr freilich bemerkt, sie, die Regula, »müsse ihren Mann auch noch gut halten, indem derselbe nicht mehr lange auf dieser Erde verbleiben, sondern mit ihr lebendigen Leibes gen Himmel fahren werde, wo dann ihre Haushaltung mit der Peterschen vereinigt werden würde«. Dieweil nun die Marget so »wunderbare Dinge« gesprochen und ihr Mann so großes Vertrauen auf dieselbe gesetzt, so habe sie sich so lange als möglich geduldet. Im Verlaufe der Zeit habe sie aber doch einsehen müssen, daß sie solche Ausgaben nicht mehr in die Länge bestreiten könnte, und habe das der Marget erklärt. Diese jedoch habe ihr entgegnet, sie, die Regula, hänge zu sehr am Irdischen und sie solle wohl bedenken, »daß die Kinder Israel vierzig Jahre durch die Wüste geführt worden und alle bis auf zwei ihres Unglaubens wegen darin gestorben seien«. Ob sie wolle, daß es ihr so erginge? Dies wollte nun zwar die gute Regula nicht, wohl aber, daß die beiden Schwestern ihren Bedarf an Lebensmitteln selbst anschaffen sollten. Darüber sei es denn oft zwischen ihnen zu Zänkereien gekommen, um so mehr, da sie »auf das heilige Geschwätz der Schwestern nicht Achtung gegeben«. Die Marget habe sich bei diesen Streitigkeiten keineswegs leidend benommen, sondern habe »tüchtig ausgekehrt« und gesagt, »sie sei nicht hierher gekommen, um Frieden zu stiften, sondern um Krieg zu führen« – Parodie eines bekannten evangelischen Wortes, auf welches sich schon so viele Qualmer und Dünstler berufen haben. Die ehrliche Schustersfrau ließ sich also in ihrer Gutmütigkeit von der hochfahrenden Heiligen in ihrem eigenen Hause den Krieg machen. Quer das, sehr quer! Hätte den Stiel umdrehen und ihrerseits »tüchtig auskehren« sollen. Aber sie liebte ihren Mann aufrichtig und tat ihm alles zu Gefallen, nur zu viel, viel zu viel! Muß auch die Güte eine Grenze haben, sonst – nun sonst geschehen mitunter Geschichten, wie im Hause des Schusters von Illnau eine geschah.

Es muß angenommen werden, die Heiligkeit des Margetli habe zu dieser Zeit eine bedeutende Trübung erfahren. Wir sehen, daß während ihres Lebens in der Illnauer Verborgenheit ihr Gebaren zwischen stumpfem Brüten, Äußerungen phantastischen Blödsinns und heftigen Ausbrüchen schwankte. Die Erinnerungen an letztere entlockten nachmals der armen Regula, welche ja vornehmlich darunter zu leiden gehabt, das Klagwort: »Ich kann wohl sagen, daß ich von der Marget, bevor sie sich selber kreuzigen ließ, gekreuzigt worden bin.« Langen wir mit einer unerbittlichen Sonde in die geheimste Falte von Margets Seele hinein, so erklärt sich ihr damaliger Gemütszustand unschwer. Vor Beginn dieser Operation müssen wir freilich allen Misses Emerentien, welchen etwa dieses Buch zur Hand kommen sollte, alles Ernstes zurufen, hinauszugehen, und zwar für den ganzen noch übrigen Rest des vorliegenden Kapitels.

Die heilige Marget war verliebt wie eine Maikäferin, und sie hatte in der Tat schwer zu kämpfen, den Kampf zwischen ihrer Sinnlichkeit und ihrem mystischen Größenwahn. Aus diesem Zwiespalt hatte sich der tolle Einfall entbunden, mit dem »ewiggeliebtesten« Jakob gen Himmel zu fahren, da die Verhältnisse einer Vereinigung mit besagtem Jakob auf Erden entgegen waren. Sie wäre gern ein Weib gewesen und wollte doch nicht aufhören, für eine Heilige, für eine Heilandin zu gelten: das war das ganze Mysterium. Hier liegt auch die Erklärung ihres Verhaltens zu der armen Regula: es war das der brennendsten Eifersucht, für welche die schwäbische und schweizerische Volkssprache ein sehr garstiges, aber höchst bezeichnendes Wort besitzt, gegen dessen Gebrauch freilich die Feder entschieden sich sträubt. Deshalb verbot sie dem Jakob aufs schärfste, seiner Frau die eheliche Pflicht zu leisten, was sie ihm als »das größte Hindernis der Vereinigung mit dem Urgeist« darstellte. Der Jakob hielt aber dieses Verbot anfangs nicht strikte, doch suchte er den Umgang mit seiner Frau vor der Heiligen geheim zu halten. Weil aber, erzählt die gute Regula, der arme gepeinigte Mann jedesmal, wann er gegen das ihm auferlegte Gebot sich verfehlt hatte, »von den heftigsten Bangigkeiten überfallen worden sei, sich die ganze Nacht im Bette herumgewälzt und gejammert habe, daß er eine große Sünde begangen«, so habe sie, die Regula, ihm erklärt, »unter solchen Umständen sei es ihr lieber, den ehelichen Umgang ganz abzubrechen«, was denn auch geschehen sei. Das Gesagte reicht, denk' ich, aus, klar zu machen, daß wohl selten drei Personen – die bis zum Stumpfsinn sklavische Elisabeth kommt hier nicht in Betracht –unter einem Dache vereinigt waren, welche sich so unglücklich fühlen mußten wie die Marget, der Jakob und die Regula. Die ganze Situation war danach angetan, entweder in einen Skandal oder in ein Verbrechen auszubersten. Platzen mußte die von Wahn und Lüge strotzende Blase, so oder so. Sie ist dann auch endlich geplatzt.

Die Trübung des Heiligenscheins der Marget sollte in totale Verfinsterung übergehen, im fahlen Zwielicht eines Frühjahrsmorgens von 1822. Frau Regula ist aufgestanden, hat die Lampe angezündet und die Elisabeth geweckt, worauf die beiden die Kammer verlassen, weil heute Brot gebacken werden muß. Der ewiggeliebte Jakob und die Heilandin von Wildisbuch blieben in der Kammer zurück, und was dann daselbst geschah, ist dramatischdrastisch in den Acta Sanctae Margarethae zu lesen.W. A. II, 6. Antwort auf die Frage 8. Hier nur so viel, daß das Weib die Verführerin des Mannes war. Als sie halbwegs wieder zur Besinnung kam, legte sie einen Protest ein; aber schon war es zu spät.

Ja, es ist zu spät gewesen. Zu spät merkte sie, daß ihr der Heiligenschein zerbrochen vom Kopfe fiel. Der Jakob hat nachmals vor dem Verhörrichter ausgesagt, »er habe vor Scham dieses Sündenfalls später nie gegen die Marget erwähnt und habe auch sie desselben mit keiner Silbe gedacht«; ferner wiederholt beteuert, »er dürfe vor Gott bezeugen, daß weder zuvor noch nachher dieser Umgang jemals stattgefunden habe«. Und doch hatte die unheilige Zwielichtsstunde Folgen, welche die früher erwähnten Volkssagen von dem Wandel, welchen das heilige Margetli auf seinen missionarischen Wanderungen gelegentlich geführt habe, in einem weniger mythischen Licht erscheinen lassen konnten. Falls die Beteuerung des Jakob Vertrauen verdient – Firlefanz! brummt Doktor Sauerampfer – so drängt sich die Frage auf: Hatte die Heilige ihre Jungfrauschaft bis zu jenem verhängnisvollen Augenblick bewahrt? Was meinst du dazu, Doktor Physiologus? Du lachst: »Köhlerglaube!« Ja, es sieht fast so aus. Der Prinz von Dänemark hat freilich gemeint, es geschehen mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Philosophie sich träumen lasse; aber so viel ist sicher, von der Physiologie verstand der arme Hamlet blutwenig.

Achtes Kapitel.

Ein »untoward event«.

Dem Frühling folgte der Sommer und brütete heiß ob dem stillen Kempttal, ohne daß in das eintönige Leben im Morfschen Hause irgend ein Wechsel gekommen wäre. Noch immer hielt sich die gefallene Heilige in ihrer Verborgenheit, ohne auch nur für einen Augenblick das Haus zu verlassen, noch immer saß sie mit ihrer Schwester Elisabeth, welche sich nachgerade auch für eine »zur Rettung vieler tausend Seelen berufene«, auserwählte und heilige Person zu halten anfing, die Tage über müßig in der wohlverwahrten oberen Kammer, um allabendlich in die Wohnstube herabzusteigen, wo sie in gewohntem Stile predigte und orakelte, um dann nach so vollbrachtem Tagewerk die gemeinsame Schlafkammer aufzusuchen. Selbstverständlich ward die geweissagte Himmelfahrt in Begleitung des Jakob fort und fort als ein Ereignis erwartet, welches täglich und stündlich eintreten könnte. So gingen die Tage hin und machte der Sommer dem Herbste Platz.

Derweil scheint sich zwischen der Marget und der gutmütigen Regula wieder ein leidlich freundliches Verhältnis hergestellt zu haben. Möglicherweise erschien die arme duldsame Frau der stolzen Heiligen gar nicht mehr als ein ihrer Eifersucht würdiger Gegenstand. Genug, die Marget wurde sehr mitteilsam gegen die Schusterin, welche mit einer fast überfrauenzüngigen Verschwiegenheit die Anwesenheit der beiden Schwestern vor aller Welt Verheimlichte. Die Heilige klagte ihr, wie »entsetzlich sie von Geistern und Teufeln geplagt werde«; item über eine hartnäckige Stockung in den Funktionen ihres Organismus, worüber sie sich jedoch »freue, weil dies ein Zeichen sei, daß ihre Natur geistiger werde«. Die gute Regula, welcher »nicht der entfernteste Gedanke kam«, das beregte Symptom konnte die Wirkung einer keineswegs übernatürlichen Ursache sein, setzte vielmehr die »heftigen Anfälle« der Heiligen demselben auf Rechnung und meinte tröstend, das Geplagtwerden durch höllische Geister werde wohl aufhören, wenn die fragliche Störung beseitigt sei und sie, die Marget, »wieder wie andere Weiber werde«. Es ist merkwürdig, daß diese Frau, welche sich auch bei dieser Veranlassung wieder ganz verständig ausließ, die ungeheure Bestrickung, der ihr Mann unterlag, nicht zu lösen vermochte. Aber freilich ließ ihre Bescheidenheit und Demut sie zu gar keinem ernstlichen Versuche dieser Art kommen.

In die lange Monotonie dieses gottselig-faulen Lebens im Verborgenen brachten nur die Besuche, welche die Heilige von Zeit zu Zeit aus Wildisbuch und Örlingen erhielt, eine Abwechselung. Diese Besuche, der alte Judenschießer und andere Mitglieder der Familie, kamen und gingen mit großer Vorsicht, gewöhnlich nächtlicherweile, um nicht durch ihr Kommen und Gehen zur Bestätigung des dumpfen Gerüchtes beizutragen, die aus ihrer Heimat verschwundenen beiden Töchter des Judenschießers seien im Morfschen Hause zu Illnau verborgen. Weil dieses Gerücht auch dem Pfarrer des Ortes zu Ohren gekommen, beschied er den Jakob amtlich zu sich und befragte ihn. Allein der Jakob, seiner demnächst bevorstehenden Himmelfahrt unter allen Umständen sicher, log herzhaft, die beiden Schwestern hätten ihn allerdings besucht, seien aber längst wieder abgereist und nicht wiedergekommen.W. A. I, 70. – Hiermit zufrieden, führte der leichtgläubige Pfarrer »bona fide« auch die Polizei irre, so daß diese ihr vigilierendes Auge von dem Morfschen Hause ganz abwandte.

Einen sehr charakteristischen Auftritt, welcher, so man jene Morgenzwielichtsstunde im Frühling und deren, wie gesagt, bereits eingetretene Folgen im Auge behält, für die profanen Kinder der Welt sogar einen hochkomischen Beigeschmack haben dürfte, führte der Besuch herbei, welchen der Johannes Moser zur Herbstzeit seiner heiligen Schwägerin in Illnau abstattete. Sie stellte nämlich den Fanatiker »ernstlich zur Rede, ob er sich des Umgangs mit seiner Frau auch wirklich gänzlich enthielte?« Der so ins Gebet genommene Mann bejahte die Frage, beging aber dann den Verstoß, der Heiligen mitzuteilen, daß sein Bruder Konrad Gelegenheit hätte, »eine rechtschaffene Person zu heiraten«. Über diese Mitteilung brach die Marget in den heftigsten Zorn aus, tat »ganz entsetzlich« und verbot ihrem Schwager des bestimmtesten, diese und überhaupt eine Heirat seines Bruders zuzulassen, denn der fleischliche Umgang sei tierisch, gottlos, teuflisch, durchaus verwerflich.W. A. II, 22. Der große William vom Avon würde zu diesem heiligen Gebaren etwa sagen:

»Gar viel erlebt man's, mit der Andacht Mienen
Und frommem Wesen überzuckern wir
Den Teufel selbst ...
Das ist die list'ge Ausstattung der Hölle,
Den frechsten Schalk verkleidend einzuhüllen
In fromme Tracht.«

Wir unsererseits könnten aber diesen Ausspruch doch nicht ganz passend finden und zwar darum nicht, weil wir ja leugnen müssen, daß die Heldin unserer Geschichte eine Schalksnatur gewesen sei. War sie eine Betrügerin, so war sie nur eine betrogene. Die fixe Idee ihrer heilandischen Bestimmung und Mission umgab ihren Geist mit einer stählernen Mauer, über welche sie schlechterdings nicht mehr hinauskonnte. Ihre Monomanie stellte sich zu dieser Zeit ganz passiv dar. Es bedurfte einer furchtbaren Erschütterung ihres ganzen Wesens, um ihren Wahnwitz zu der Energie jener Aktivität aufzustacheln, womit wir sie dem Abgrund zurasen sehen werden.

Zum zweitenmal seit der Hedschra von Wildisbuch nach Illnau fielen die Blätter. Der Winter zog abermals in das Tal der Kempt ein, die Kämpfe der Heiligen mit dem Satan währten noch immer fort und mit der Himmelfahrt wollte es nicht vorwärts gehen. Ein großes Ereignis trat jedoch im Verlaufe des Winters ein, ein nicht geweissagtes, ein höchst unerwartetes, ein erstaunendes, möchte man sagen. Doktor Physiologus würde freilich die Winkel seines Mundes spöttisch herunterziehen, wenn man ihm sagte, die Verblendung der heiligen Marget über ihren Zustand sei so fabelhaft gewesen, daß sie auch jetzt noch, da doch die Zeit ganz nahezu erfüllet war, fortfuhr, gewisse Symptome beharrlich für ein Zeichen »höherer Leitung« zu erklären und zu glauben, daß »ihre Seele über ihre weibliche Natur gesiegt habe«. Aber es war doch so, es war wirklich so. Sonst hätte der folgende Auftritt gar kein so drastisch wirkender sein können.

Es war am 10. Januar 1823, als sich die Marget über heftige Krämpfe beklagte. Sie bat den Jakob, im Pfarrhaus eins jener Hausmittel zu holen, wie sie in ländlichen Pfarrhäusern gehalten zu werden pflegen. Der Jakob ging und ersuchte die Frau Pfarrerin um ein krampfstillendes Mittel für seine Frau. Die Frau Pfarrerin gab ihm ein Gläschen mit Nußwasser und riet zur Anwendung eines Klistiers. Hierbei leistete die gutmütige Regula Hilfe, denn sie hatte von der eigentlichen Beschaffenheit der in Rede stehenden Krämpfe ebensowenig eine Ahnung wie die andern. Allein die angewandten Mittel stillten die immer zunehmenden Schmerzen der sich auf ihrem Bette windenden Marget keineswegs, und es ward beschlossen, daß der Jakob nach Lockhausen gehen sollte, um den dortigen Arzt herbeizuholen.

Indem er sich in der Stube zu diesem Gange rüstet, hört er, wie in der anstoßenden Kammer das Ächzen der Kranken zu einen schneidenden Schrei ausbricht und dann plötzlich abschnappt. Hierauf ein feinstimmiges Wimmern. Wunderlich das! Seine Frau öffnet die Kammertür und winkt ihn hinein. Da liegt die Bescherung: das weiland Christkindli von Wildisbuch ist Mutter worden, die Heilandin, in welcher »Christus abermals Fleisch geworden«, hat ein Töchterlein geboren! Wäre so ein Stück von einem Jeremia oder Jesaia anwesend gewesen, er hätte die schönste Gelegenheit gehabt, zu lamentieren:

»Du sprachst in deinem Herzen: Ich will zum Himmel hinan!
Über der Wolken Höhen steig' ich auf,
Ich werde gleich sein dem Erhabensten.
Wie bist du gefallen vom Himmel, du Morgenstern,
Hinabgebeugt zu den Toten ist dein Stolz,
Verklungen deiner Harfe Siegeston!«

Zwar nicht ganz so im Stile der hebräischen Psalmodie oder Prophetie, aber immerhin lamentabel genug machte sich in der Kammer zu Illnau das Lamento laut über diesen durch eine um fünfzehn Tage zu spät gekommene Christbescherung schreiend konstatierten Fall des Morgensterns von Wildisbuch. Seltsam, eine wunderliche Ideenassoziation erinnert uns plötzlich an jene Nacht des 9. Mai von 1833, wo aus dem Nimbus, womit ein Chateaubriand und andere Romantiker, Nebler und Zappelphilippe eine andere Heilige umqualmt hatten, »mit gemeinem Lächeln die Hebamme hervortrat«, an jene Nacht, wo die Duchesse de Berry, die Jeanne d'Arc des Bourbonismus, die »Heilige der Vendée«, in der Zitadelle von Blaye ein unterwegs aufgelesenes Mirakelkind gebar, dessen Erscheinung selbst den armen Chateaubriand, den Ritter von der bourbonischen Trauerweide und Oberkonfusionsrat der Legitimität, etwas unangenehm überraschte.

Der Jakob war über das geschehene Wunder »über alle Maßen« erschrocken und ganz perplex, noch perplexer die Elisabeth, aber am perplexesten die Marget selbst. Das also hatte hinter der »Vergeistigung« ihrer weiblichen Natur gesteckt? Das der gehoffte Triumph? Wehe über Israel, dreimal wehe!

Die Elisabeth ernüchterte sich für einen Augenblick von ihrem Vertrauensdusel, tat die Frage: »Wer ist doch wohl der Vater dieses Kindes?« und sah dabei den Jakob an. Worauf dieser kleinlaut und knieschlotternd: »Ja, ich bin's.« Nun wollte die gute Regula losbrennen, denn diese Enthüllungen vermochte doch auch ihre Gutmütigkeit nicht mehr hinunterzuwürgen. Allein die Marget schnitt ihr das Wort ab, indem sie unter heftigem Gebaren »gleichsam mit Gott zu rechten« anhob und also losbrach: »Warum, mein Vater im Himmel, hast du deinem Kinde diese Last aufgelegt, die es zu Boden drückt? Habe ich nicht ohnehin schon genug Leiden erduldet? Warum hast du gerade mich auserwählt, den Ungläubigen zum Gespötte zu werden?«W. A. II, 26 a. Antw. a. d. Fr. 6. Das verdutzte unsere arme Regula, und weil zwischen hinein ihr Mann sie kläglich um Verzeihung bat und weil sie eben eine herzensgute Frau war, so tat sie, was unter den obwaltenden Umständen zu tun war, d. h. sie nahm sich des armen Kindleins an, das »so klein wie ein Weberschifflein gewesen«, badete es, wickelte es ein und machte ihm ein Bettchen zurecht. Sie sollte noch mehr tun müssen. Denn so ist die Welt, die heilige und die unheilige: reichst du ihr einen Finger, will sie die Hand, den Arm, den ganzen Leib haben und die Seele obendrein. Regula Morf sollte ein Beispiel von Aufopferung geben, wie es, so behaupte ich kühnlich, unter solchen Umständen ein zweites Mal nie und nirgends vorgekommen ist. Arme Frau, ja, die Marget hat dir ein Kreuz auferlegt; aber du hast es mit geräuschloser Selbstüberwindung getragen, mit einer schlichten Größe, wie sie trotz alledem doch wieder nur im Volke daheim ist. Wie hätte sich wohl an deiner Stelle eine »gebildete« Dame gebärdet? Höchstwahrscheinlich und allerdings nicht ohne Grund mehr oder weniger furibund, im günstigsten Falle mehr oder weniger theatralisch. Ja sogar, mein lieber Jakob, mopsköpfiger Himmelfahrtskandidat, hätte ich, falls deine Ehefrau zur »Creme der Gesellschaft« gehört hätte, für die Unversehrtheit deiner Gesichtshaut nicht gutstehen mögen, um alle Welt nicht!

Wohl, als der erste lähmende Schrecken über das »untoward event« vorüber war, machte sich die Frage geltend, was nun zu tun, wie die »Ehre des Hauses« zu wahren sei. Die für den Augenblick ganz zerschmetterte Heilige nahm an der Beratung hierüber keinen Anteil, sondern ließ, erschöpft durch den gemeldeten Ausbruch von Zorn und Jammer, alles apathisch über sich ergehen. Es wurde beschlossen, die Elisabeth und die Regula sollten noch an demselben Tage das neugeborene Kind nach Wildisbuch tragen. Zugleich sollte der Jakob einen Boten an den Johannes Moser nach Örlingen schicken, mit einem Briefe, worin der Genannte benachrichtigt würde, seine heilige Schwägerin wünsche in das väterliche Haus zurückzukehren, weshalb er sie mittels eines Wägelchens und der kalten Jahreszeit wegen mit einem Bette darauf nächtlicherweile in Illnau abholen und nach Wildisbuch bringen solle. Weiter wurde der Johannes Moser nicht in das Geheimnis eingeweiht, ebensowenig ein anderes Mitglied der Familie. Die Elisabeth hat nie eine Silbe davon verlauten lassen, was am 10. Januar in der Schlafkammer des Morfschen Hauses vorgegangen. Die Anhänger des heiligen Margetli hatten auch nach dem Tode desselben keine Ahnung, daß es gefallen sei, und als man ihnen die Tatsache gerichtlich mitteilte, wiesen sie dieselbe mit Unglauben oder gar mit Entrüstung zurück.So besonders die Ursula Kündig, welche in ihrem Verhör am 29. März 1823 (W. A. II, 2) auf die Frage, ob ihr nicht bekannt sei, daß die Marget einmal schwanger gewesen? zur Antwort gab: »Man würde ihr wohl ankommen, wenn man behaupten wollte, die Marget hätte mit Mannspersonen fleischlichen Umgang gehabt oder wäre gar schwanger gewesen. Freilich sei sie allerdings geistig schwanger gewesen und habe durch Christum viele Kinder, aber geistige geboren; gerade sie, die Ursula, und der Johannes Moser seien solche Kinder. Sie lebe und sterbe darauf, daß die Marget rein gewesen und nie fleischlich geboren habe,« In einem spätern Verhör (W. A. II, 20) gab Ursula an, sie habe, als sie zur Zeit der Weinlese 1822 die Marget in Illnau besuchte und mit derselben in einem Bette schlief, den auffallend starken Unterleib der Heiligen bemerkt. Allein dieselbe habe ihr gesagt, daß »ihr von den unerhörten Leiden, die sie von den satanischen Geistern zu erdulden habe, der Leib so geschwollen sei«. Ferner, nach der Rückkehr der beiden Schwestern aus Illnau habe sie die Wahrnehmung gemacht, daß ein mehrfach beregtes angebliches Symptom der Vergeistigung der Marget verschwunden und dieselbe, um einen Ausdruck der guten Regula Morf zu gebrauchen, »wieder wie andere Weiber« geworden war. Als sie ihre Verwunderung hierüber gegen die Elisabeth äußerte, gab ihr diese in ihrer heiligen Simplizitas eine so blasphemisch-schmutzige Antwort, daß wir dieselbe nachzuschreiben Anstand nehmen müssen. Der Bote war nach Örlingen abgegangen, und gegen Abend zu waren die Regula und die Elisabeth gerade im Begriffe, mit dem Kindlein nach Wildisbuch aufzubrechen, als die Sache eine neue Wendung nahm. Die Elisabeth erklärte nämlich unter großem Gejammer, »wie so unglücklich sie geworden seien«, und daß sie ihre Schwester unmöglich verlassen könne. Dann rückte sie – ob aus eigenem ober aus Margetlischem Antrieb, ist ungewiß – mit einem Vorschlag heraus, welcher recht klärlich dartut, daß diese frommen Seelen jedes sittlichen Gefühls und Taktes bar und ledig waren. Die Regula, meinte Elisabeth, sollte eine Niederkunft heucheln und sich für die Mutter des Kindes ausgeben. Sie weigerte sich anfänglich dieser Zumutung, sagend, es wüßten ja alle Leute, daß sie nicht guter Hoffnung gewesen. Allein die Elisabeth fiel ihr flehend zu Füßen, und Regula ließ sich, da auch ihr Mann und die Marget mit Bitten sie bestürmten, endlich überreden, der ihr angesonnenen Rolle sich zu unterziehen. Die brave Frau, welche an diesem Schicksalstage eine Seelenstärke, ja einen Heroismus entfaltete, welcher für mehr als ein Schlachtfeld ausgereicht hätte, verdient fürwahr vollen Glauben, wenn sie später vor Gericht aussagte, sie sei »am meisten aus Mitleid mit dem armen Kindlein« zu dem betrogen worden, was sie tat, indem sie gedacht hätte, »wenn sie ein solches auf der Gasse gefunden, sie es auch nicht liegen gelassen, sondern sich seiner erbarmt hätte«. Sie habe sich freilich sehr »geschämt«, daß sie sich zu einem solchen Betruge hätte gebrauchen lassen; hingegen »dürfe sie mit gutem Gewissen versichern, von jenem Augenblick an alle mögliche Sorgfalt auf das Kind verwandt zu haben, das anfangs sehr schwächlich und der Pflege sehr bedürftig war«. Der Jakob hat zum Überfluß das durch die gerichtliche Aussage bestätigt, seine Frau sei von dem Augenblick an, wo sie sich entschlossen, des Kindes Mutter vorzustellen, demselben auch »wirklich eine treue Mutter gewesen« und habe »oft ganze Nächte bei dem armen kleinen Ding gewacht, welches ohne diese Sorgfalt gar nicht mit dem Leben davongekommen sein würde«. Regula Morf, du hast ein einfaches, arbeitsvolles, unbeachtetes Dasein geführt und doch hätte dir, wenn die Kränze nach Verdienst verteilt würden, ein voller Kranz gebührt. Du hast in deinem schlichten bäuerischen Herzen mehr Liebe, Hochsinn und Großmut getragen als Hunderte von Heldinnen, von welchen Dichter singen und Geschichtschreiber reden, und mehr, unendlich viel mehr Christentum als Hunderttausende von liebsüßchristelnden Salmierern und Psalmieren, von schielenden, schleichenden Dunklern, Munklern und Muckern, von grölzenden Konkordatsbonzen und anderem Menschenspülicht dieser Sorte. Darum, Regula, soll dein Name unter Menschen nicht vergessen werden, soweit meine Stimme reicht, und stehe dies Wort hier zu deinem Ehrengedächtnis.

Am Morgen des Samstags, welcher dem Freitag der großen Überraschung folgte, wurde im Morfschen Haufe eine Wochenstubenkomödie in Szene gesetzt, aber nicht à la Holberg. Die arme Regula hat die ihr dabei zugefallene Rolle »zitternd vor Scham« gespielt. Es galt, die herbeigerufene Wehmutter zu täuschen, die sich denn auch, obgleich über die unerwartete Niederkunft der Schustersfrau »etwas verwundert«, wirklich täuschen ließ. Die wahre Wöchnerin lag, wahrend diese Szene in der Stubenkammer spielte, unter Obhut ihrer Schwester in der oberen Kammer, als in ihrem gewohnten Versteck. Nachmittags begab sich der Jakob ins Pfarrhaus, um die Niederkunft seiner Frau anzuzeigen und für den folgenden Tag die Taufe des Kindes zu bestellen, wobei die Frau Pfarrerin mit Weisheit bemerkte, »sie begreife nun wohl, daß da weder Nußwasser noch Klistier geholfen«.

Derweil war die Botschaft, daß die heilige Marget einen Zug nach Hause fühle und befehle, samt der Schwester auf einem mit Bettstücken versehenen Wägelchen heimgeholt zu werden, nach Örlingen gelangt, und der Johannes Moser ging sofort nach Wildisbuch hinüber, um das zur Ausführung dieses Befehles Nötige zu veranstalten. Nachdem das Fuhrwerk gerüstet war, fuhr er in Begleitung des Knechts Heinrich Ernst am Samstag (11. Januar) nach Illnau ab. Im Kemstttal angelangt, verließ Moser das Gefährt und ging demselben auf einem abkürzenden Fußwege voraus. Er muß etwa eine Stunde lang im Morfschen Hause verweilt haben, ist aber standhaft darauf beharrt, weder von den dortigen Vorgängen an diesem und dem vorhergehenden Tage in Kenntnis gesetzt worden zu sein, noch etwas davon geahnt zu haben. Von den wirklichen Vorgängen nämlich, denn die angebliche Niederkunft der Regula wurde ihm natürlich nicht verheimlicht. Es mußte aber von dem tatsächlichen Verlauf der Sache doch bereits ein dumpfer Ton in die Gegend ausgegangen sein, denn Knecht Heinrich hatte unterwegs vernommen, die Marget habe zu Illnau einen Knaben geboren.

Die Nacht, und zwar eine »grimmig kalte« Nacht, war schon völlig hereingebrochen, als der Knecht mit dem Fuhrwerke vor dem Morfschen Hause anlangte. Es ward ihm nicht gestattet, dasselbe zu betreten oder auch nur die Pferde zu füttern und ausruhen zu lassen. Er fand die Schwestern schon vor dem Hause, ganz zur Abreise bereit. Die Marget hatte sich der Aussage Regulas folge »tüchtig zusammengenommen und war allein d. h. ohne Beihilfe) die Treppe heruntergegangen«. So fuhr man ab und durch den klingenden Frost der Januarnacht hin. Die beiden Schwestern waren in die mitgebrachten Bettstücke verpackt, müssen aber während der sechs- bis siebenstündigen Fahrt doch bitterlich gefroren haben, und es ist fast wunderbar, daß die Marget bei dem Zustand, in welchem sie sich befand, die Strapazen dieser Nachtreise überstand, ohne zu erkranken. Eine andere Frage ist freilich, ob die Eindrücke, welche ihr durch die Erlebnisse des vorhergehenden Tages in seinen Tiefen aufgewühltes Gemüt von dieser unheimlichen nächtlichen Fahrt erhalten haben muß, nicht ein sehr wesentliches Glied in die Kette ihres sich steigernden Wahnwitzes eingeringt haben. Denn als der mit dem Moser neben dem Wagen hergehende Knecht Heinrich unterwegs die naive Frage an sie richtete, ob es wahr sei, daß sie in Illnau gekindbettet habe, gab sie ihm zur Antwort: »Würde ich auf solchen Wegen wandeln, wäre ich weit entfernt, den Willen des Herrn zu befolgen.« Das nächtliche Dunkel war der fahlen Morgendämmerung noch nicht gewichen, als das Fuhrwerk vor dem väterlichen Hause in Wildisbuch hielt und die Heimkehr geräuschlos und unbemerkt bewerkstelligt wurde. Vater Judenschießer bewillkommte die heilige Tochter mit der schüchternen Bemerkung: »Du bist doch lange fortgeblieben.« Worauf die Marget lakonisch: »Es war der Wille des Herrn.«Verhör des Heinrich Ernst am 5. April 1823. W. A. II, 4.

Neuntes Kapitel.

In der Stille dem Herrn dienend.

Von der Rückkehr aus Illnau an hat die Heilige nie mehr einen Schritt vor das väterliche Haus getan. Ebenso ihre Schwester Elisabeth, die sich fortan sozusagen als ein zweites Ich oder vielmehr als den Schatten der Marget aufspielte.

Trotz des Winterfrostes legte sich eine dumpfe schwüle Stille über das ganze Hauswesen, dessen unbedingte Herrin dem Vater, den Geschwistern und Dienstboten strengstens befohlen hatte, ihre und der Schwester Heimkunft vor jedermann geheim zu halten. Es geschah so und war das um so eher möglich, als das Haus fortwährend ängstlich versperrt blieb, nur »Wissenden« Eingang verstattet wurde und ein großer bissiger Hund, dem von den Dorfleuten niemand zu nahe kommen mochte, die Haustüre bewachte. Auch heilsbegierige Pilger, von Schaffhausen und anderwärts herkommend, wurden auf Befehl der Heiligen unerbittlich abgewiesen, unter dem Vorgeben, das Licht, bei welchem sie Erleuchtung suchten, sei noch immer aus der Heimat entrückt. Das heilige Margetli wollte fortan, fügte es, »ganz in der Stille dem Herrn dienen«. In diesem Dienste saß die Seherin tagüber mit der Elisabeth meistens in dem Gelaß mit dem Himmelbett und den »zwei Trögen«, welches sich über der Schlafkammer des alten Peter befand. Hier verdämmerten die beiden müßig die Zeit, in den »Urgeist« oder in das »ewige Nichts« versunken. Abends, wann die Schiebladen über die Fenster der Wohnstube gezogen waren, kamen die Schwestern herab, und dann trieb die Marget in gewohnter Weise Bibelexegese oder Predigte über einen Text, wie ihn etwa ein Traktätlein von dem vielteuren Ganz-Qualm an die Hand gab. Zum Schlusse eiferte sie gewöhnlich die um sie versammelte Hausgenossenschaft an, »zu wachen und zu beten«, und dieser Ermahnung fügte sie ab und zu im dunkelsten Orakelton einen Wink bei, daß »Großes« bevorstehe und sie durch Bußetun sich vorbereiten müßten, den »Willen des Herrn« in Vollzug zu setzen.

Ihr Ansehen bei den Ihrigen bestand noch immer unbeschränkt, ja unbeschränkter als je. Zwar war unmittelbar nach ihrer Heimkehr von ihrer so »ungeistig« beendigten Hedschra auch unter dem Dach ihres Vaterhauses, vielleicht infolge eines unbedachten Wortes des Knechtes Heinrich, ein Raunen und Flüstern und Wispern umgegangen, daß die Heilige während ihrer langen Abwesenheit zu Falle gekommen, und hatte die vielerfahrene Magd Margareta Jäggli wahrgenommen, daß die Heimkehrende doch »sehr blaß und schwach aussah«. Allein die Magd sowohl als alle übrigen Hausgenossen waren in ihrer tiefen Ehrfurcht weit davon entfernt, aus dieser Blässe und Schwäche auf das zu schließen, was der Marget wirklich begegnet war. Das Gerücht von einer Schwangerschaft derselben wurde für eine schnöde, vom Satan den Ungläubigen und Heiden eingegebene Verleumdung angesehen und verworfen. Am meisten mag sich die arglose Ursula Kündig darüber entsetzt und entrüstet haben, denn für das beklagenswerte Mädchen war es gerade zu dieser Zeit zum unwankbaren Dogma geworden, daß die Marget »eigentlich Gottes Sohn, und bestimmt sei, den Teufel zu fesseln.«W. A. I, 11, 18, 31, 63; II, 2, 7, 9, 32.

Daß die Heilige es sich angelegen sein ließ, das arme Mädchen in diesem Glauben, so es nötig gewesen wäre, zu bestärken, kann einem Zweifel nicht unterliegen.

Damit ist denn auch schon die Frage beantwortet, ob wohl das Abenteuer vom 10. Januar den geistlichen Hochmut der Marget nicht gebrochen habe? Nein, keineswegs. Im Gegenteil, sie war jetzt mehr denn je von ihrer Mission überzeugt. Also es tauchte in ihr gar kein Skrupel auf, das auserwählte Gefäß des Herrn, für welches sie sich hielt, könnte durch jene Zwielichtsstunde im Frühjahr von 1822 und ihre Folgen verunreinigt worden sein? Doch wohl. Ein solcher Skrupel mußte kommen, es konnte ja nicht anders sein. Aber war denn nicht der allerbequemste Sündenbock zur Hand, welchem sie den »unverhofften Zufall« zuschieben konnte? Freilich. Ich meine jenen Allerweltsteufel, welchen man, wie weltbekannt, den dummen tituliert. Armer dummer Teufel, was müßt du für einen breiten Rücken haben! Und was für Knie von Eisen! Denn sonst hätte jener schon lange nicht mehr ausgereicht für die kolossale dir aufgebürdete Last von menschlicher Torheit, Schwäche und Schlechtigkeit und müßten deine Knie schon längst darunter zusammengeknickt sein. In allem Ernst, die ganze ver- und durchteufelte Weltanschauung unserer gefallenen Heiligen mußte sie zu der Konsequenz treiben, ihren Fall für ein Werk des Teufels anzusetzen. Aber dabei blieb sie nicht stehen. Denn vermöge ihrer ungeheuerlichen Dialektik kam sie zu dem Schlusse, ihr Fall sei eigentlich kein Teufelswerk, sondern ein Gotteswerk und sei das Kind »ganz aus Gott geboren«. Toller Widerspruch! Jawohl, aber wenn sich der Glaube an Widersprüchen stößt, so ist er eben schon nicht mehr der »rechte«.

Glücklicherweise dokumentiert ein Schriftstück von der eigenen Hand der Heiligen das Gefügte. Wenige Tage nach ihrer Heimkehr setzte sie sich hin und schrieb an den teuren Jakob in Illnau: Mein Herzlich Geliebter! Der Herr hat uns glücklich nach Haus gefürt. Aber wie der Teufel ein Erschreckliches angsthaftes Wesen auf uns geschossen wie wir durch die Tore hindurch waren! Aber unser Himmlischer Vater zoge vor uns her. Es geht mir so guth mit der Gesundheit. O es ist unbeschreiblich, wie sich mein Himmlischer Vater gegen mich erzeiget in seiner Grosen Liebe! Erschrecklich fart er in seiner Macht daher in unserem Haus und das Reich des Satan ist vor der Macht des Herren gefallen unter mir. Ich bin nicht mehr so verwirt und verfinsteret und gefangen davon, auch die Geisteren in unserem Haus haben keine Macht auf mich. Aber auf meine liebe Schwester Elisabeth fahren sie heftig zu. Zugleich habe ich immer leiden, aber nur für die Seelen und das ist ja ein Herliches leiden. – Aber nun was soll ich sagen, soll ich anfangen von unserem unverhoften Jammergeschrei, von unserem unverholen Trauermeer! Ach soll ich mich den nochmals in dise Lage verzezen, wo der Himmel Trauern möchte und die Erde leid Tragen, wo die Mauern bluten möchten und die steine schreien, über disen unverhoften unwisenden unerwarteten Zufall. Aber sehr guth ist es noch, das mein Vater mir solchen so tief verborgen, sonst hette es ja das gröste Unglück geben können, dieweil ich es fast nicht von jhm Annehmen könnte. O wie Erschrecklich kommt es mir seither vor, wenn ich daran gedenke, wie ich Reden müßte. Das ist vom Teüfel, das hat er gethan. Aber was für einen erschrecklichen Zorn hat der Teüfel in mich ergosen, daß ich euer beide Töden könte. Aber wie mit einer erschrecklichen Drohung kam mir mein Himlischer Vater entgegen und bestrafte mich Ernstlich und sagte mir, daß es ihm angehöre und nicht dem Satan, und liese mir den Satan sehen, wie er es durchdringte mit seinem Wesen und anspruch machte auf das A. Sch. (arme Schäflein) auf meine reden hin. Aber ich mußte den Satan wider Hinschicken und das Arme Schäfli meinem Vater in die Arme geben.Der Sinn dieses tiefsinnigen Unsinns ist offenbar der: »Wenn ich meine Niederkunft vorhergesehen, hätte ich leicht ein verzweifeltes Verbrechen begehen können. Ich war so wütend, daß ich euch beide, d. h, das Kind und dessen Vater, hätte umbringen mögen. Da offenbarte mir aber Gott, daß das Kind nicht, wie ich gewähnt, dem Satan, sondern ihm gehörte, und so stellte ich es ihm anheim.« Aber (weder) mein Vater noch jhr könet mir solches verdenken, dieweill ich ja von diesem Allem kein Zeugniß geben könte. Aber ich konte nicht Ruhen und ließ meinem Vater keine Ruhe bis er mir solches klar Offenbarte und kund Thate. Nun bin ich Ruhig, dan er hat mich auf ewig überzeugt, das er das gethan und solches von jhm geschehen seie, und hat er meine liebe Schwester Elisabeth überzeugt, welche ein Herz und ein Geist ist mit mir. – Nun muß ich euch sagen, meine Geliebten! als mich Nun mein Vater folkommen überzeugt hat, bald darauf überfielen mich Geistliche Geburtswehen für das liebe Schäfli von meinem Vater! Die dauerten eine gute Zeit, bis ich sähe, das es ganz aus Gott gebohren war. Nun gedenke ich nicht mehr an die Angst um der Freude willen, das ein Mensch ins Reich Gottes gebohren ist, spricht Christus! Wo ist das geschehen? Von der Grundlegung der Welt an... Aber ich kann nicht Ruhen und muß meinen Vater Ohne unterlaß bitten, das er es wider zu sich nehme. Es muß nicht in der Welt sein, um so Schmählich und Verächtlich mit dir angeschaut zu werden, von deiner Schwester und den übrigen Geisteren in eurem Haus. Ach wie wird die Schrift erfüllt wie an dem Psalmist. Ich habe einst bei meiner Heiligkeit geschworen, spricht der Herr! Er soll ewiglich erhalten werden wie der Mond und der Zeüg in den Wolken. Aber nun hast du, o Herr, verstoßen und zürnest wider deinen Gesalbeten. Du hast den Bund deines Knechts zerstöret und seine liebe zu boden geworffen. Es berauben ihn alle die fürüber gehen, er ist seinen nachbaren ein spott geworden. Du hast die Rechte Hand seiner Widersacher erhöhet und alle seine Feinde erfreuet. Aber Christus achtete der Schande nicht und nach disem ist er eingegangen in die Herrlichkeit. O ja! wir filen der ewigen Auferstehung entgegen. Ach du mein lieber! Ach du mein ewig geliebtes Herz! Laß dich doch keineswegs anfechten vom feind. Wie unaussprechlich ist der Zug meines Vaters nach dir und meiner lieben Schwester Zugleich, weil nur Ein Geist auf uns ruht. O ich kan oft fast nicht mehr da sein und muß doch jetz. Aber noch nie sähe ich den ewigen Sommer von ferne heranrücken wie dismal.« Folgt dann noch eine genaue Anweisung für das »liebe Regeli«, daß es seinen Mann, während er noch in der Zeitlichkeit weile, gut beköstigen und ihm ja täglich Fleisch kochen solle.W. A., Briefmappe, Nr. 20.

Wer diese krause Epistel mit einiger Aufmerksamkeit liest, wird notwendig den Eindruck empfangen, daß ein unbändiger Stolz die Seele der gefallenen Heiligen erfüllte. Nicht ein einziger Herzenslaut wahren Muttergefühls macht sich in dem turbulent-mystischen Geschreibsel bemerkbar. Man fühlt, daß sie das »arme Schäfli« gerne dahin gewünscht hätte, wo der Pfeffer wächst oder, heiliger gesprochen, in den Himmel. Sie ist nur bemüht, den »unverhofften, unwissenden, unerwarteten Zufall«, indem sie denselben erst dem Teufel und dann Gott in die Schuhe schiebt, vor ihren Vertrautesten zu rechtfertigen und mehr noch vor sich selbst. Das gelingt ihr denn auch so sehr, daß sie sich offenbar ganz wieder als der abermals fleischgewordene Christus fühlt und mit ihrem »himmlischen Vater« ganz familiär verkehrt.

Der »ewiggeliebte« Jakob seinerseits ließ sich an dem brieflichen Trost nicht genügen. Schon vierzehn Tage nach der Abfahrt der beiden Schwestern aus Illnau finden wir ihn wieder bei seiner Seelenfreundin in Wildisbuch, wo er eine volle Woche verweilt. Vierzehn Tage später ist er abermals dort und bleibt wiederum eine Woche. Bei diesen Besuchen, die sich noch mehrmals wiederholten, saß er gewöhnlich mit den beiden Schwestern in der bezeichneten Kammer, wo sie im stillen mitsammen dem Herrn dienten. Wenn sie diesem Dienst mitunter einige Zeit abmüßigen konnten, kam die Rede auch auf das »arme Schäfli« und da versprachen dann die beiden Schwestern, demselben ihr Vermögen zu hinterlassen. Was aber den Jakob so häufig nach Wildisbuch zog, war seiner Angabe zufolge die nach wie vor grünende Hoffnung, daß »er und die Marget gemeinschaftlich bei lebendigem Leibe in den Himmel emporgehoben würden«.W. A. II, 6. Antw. a. d. Frage 26.

Das also war der Angelpunkt, um welchen sich das Denken oder vielmehr das Duseln der gefallenen Heiligen noch immer drehte? Sie wollte himmelwärts, aber ja nicht ohne den geliebten mopsköpfigen Jakob. Es gab freilich Augenblicke und Stunden, wo diese messianische Hoffnung sich trübte, wo es nachtete in der Seele des unglücklichen Weibes, tief nachtete. In wirren Träumen mochte ihr das von ihr verlassene Kind erscheinen, die Ärmchen nach der Mutter ausstreckend und sie an ihre Pflicht mahnend. Wenn sie dann erwachte, suchte sie ihr aufgejagtes Muttergewissen dadurch zu stillen, daß sie, wie sie ihre sinnliche Leidenschaft in die mystisch-transszendente Sphäre hinübergeschwindelt hatte, auch ihre Mutterpflicht in diese Sphäre hinüberlog, so sehr hinüberlog, daß sie selber fest an die Lüge glaubte. Wissen wir denn nicht aus der Selbstbiographie des großen Humbugers Barnum, wie ihm das Humbugen so zur zweiten, ja zur ersten Natur geworden, daß er häufig Wirklichkeit und Humbug gar nicht mehr zu unterscheiden wußte? Der gefährlichste Humbug ist aber der, welchen man sich selbst vormacht. Und vollends der religiöse! Erinnern wir uns, daß dem heiligen Margetli schon in einem Alter von sechzehn Jahren die Welt des Seins zu einer Welt des Scheins geworden war und umgekehrt.

Und nun gar jetzt, nach der Heimkehr von der Hedschra, nach den Erlebnissen derselben! Sie lebte und webte und strebte nur noch in einer Welt des Spukes, der Schemen, der Phantome, welche bald in göttlicher, bald in teuflischer Gestalt sie umgaukelten. Daraus erklärt es sich, daß sie, wenn in lichten Momenten die Stimme der Natur aufschrie in ihr: »Du bist Mutter! Wo hast du dein Kind?« diese ewige Stimme nicht mehr verstand und in ihrem Kinde weiter nichts sah als einen Zankapfel zwischen Gott und dem Teufel. So schrieb sie am 14. Februar 1823 an den ewiggeliebten Jakob: »Hast du nicht gesehen, wie der Vater das liebe Kind gefangen nehmen ließ von den Geisteren und Teüflen in die Tiefe hinab und es kreuzigen ließ von denselbigen geistlich und leiblich? Als es nun genug war, war der Zug meines Vaters unbeschreiblich zu euch, um dasselbige wider zu erlösen von denselbigen, ...« In der nämlichen Epistel legt sie Zeugnis ab, daß der »Wurm, der nicht stirbt«, allem Schwindel und Humbug zum Trotz zuzeiten doch bissig und giftig genug ihr am Herzen nagte. Mochte sie ihr Haupt noch so stolz zum Himmel aufrichten, nur um so mehr stolperte sie immer wieder über jenen schwarzen 10. Januar, wo die vermeintlichen Krämpfe so ein schreiendes oder wenigstens wimmerndes Resultat gehabt hatten. »Ach« – schrieb sie – »daß doch mein Vater das beschlosen in seinem Rathschluß von ewigkeit her. Ach er hatte doch noch Tausend und abermal Tausende andere kreützesmittel. Ach ich hette doch alle andere leidenschulen erwelt, wenn er mir's gesagt und erwehlen liese. Aber wirklich das, was ich nicht erwelt hette, hat er beschlosen über mich, mir zum grösten schmerze und kreüzigung, noch über diese grose kreüzigung vom Teüfel und seinem ganzen Reich, wo ich oft fast unterliegen mußte. Nein von der Grundlegung der Welt an ließ er keine seiner Heiligen so zurichten und kreüzigen und zu schanden werden wie uns vor unseren feinden. Gott meinem Vater und dem ganzen himmlischen Cor ist es zu einer unbeschreiblichen Freude, uns aber zum grösten Schmerze und Jammer und Vollendung am kreüzW. A. Briefmappe, Nr. 20.

Also schon jetzt, schon im Februar stand der molochistische Gedanke einer Selbstaufopferung am Kreuze ausgebildet und fertig vor ihrer kläglich verworrenen Phantasie? Wir können kaum daran zweifeln. Oder wenigstens muß angenommen werden, daß durch die Finsternis ihrer Stimmung dieser Gedanke schon blutrot hervorschimmerte, wenn auch vorerst noch in unbestimmten Umrissen. Ein grausamer Instinkt scheint sie Tag und Nacht gestachelt zu haben, mittels eines freiwilligen Martertodes nach Verklärung zu ringen. Darauf deutet es, wenn sie in dem eben angezogenen Briefe fortfährt:

»Wie groß und unerträglich die schande vor unseren feinden hienieden, so unbeschreiblich wird bald unsere Ehre und ewige Herlichkeit sein zu der Rechten unseres Vaters!« Fixer konnte sich die fixe Idee der Heilandschaft doch wohl kaum äußern, um so weniger, als sie nach den angeführten Worten noch die biblische Stelle zitierte: »Ich komme bald und werde jedem vergelten nach seinen Werken.« In Augenblicken, wo sich ihr Stolz zu diesem messianischen Vollbewußtsein hinaufgipfelte, hätte sie singen mögen oder sang vielleicht wirklich im stillen:

»Fort, fort, mein Geist, zum Jubilieren!
Umgürte dich zum Triumphieren!
Auf, auf, es kommt das Ruhejahr!«

Zehntes Kapitel

El Schaddai

Von dem molochistischen Gedanken der Selbstopferung sprachen wir und fürwahr mit gutem Bedacht. Denn die Religion unserer gefallenen Heiligen war vollendeter Molochismus. Der Zwiespalt zwischen Gott und dem Teufel, innerhalb dessen ihre Vorstellungen sich bewegten, war nur ein scheinbarer, kein wirklicher. In Wahrheit, Gott und Teufel fielen ihr mehr und mehr zu jenem schrecklichen Phantom zusammen, welchem vorzeiten die phönikischen und hebräischen Frauen ihre Kinder geopfert hatten. Das Fabulieren der Unseligen von ihrem »himmlischen Vater« war ganz bedeutungslos. Haben wir sie nicht sagen gehört, ihre Seelenpein gereiche ihrem himmlischen Vater zu »unbeschreiblicher Freude«? Fletscht da nicht der alte Moloch sein blutgieriges Gebiß? Ist so eine unbeschreibliche Freude nicht ganz würdig des Gottes, welcher sich an dem »sardonischen Gelächter«, d. h. an den qualvollen Zuckungen der in seinen glühenden Armen zerfließenden Opfer ergötzte? Ein solcher Gott will mit Marter und Blut und Tod versöhnt sein. Die Marget aber, mochte sie ihr Gewissen auch noch so fest in die fixe Heilandsidee einwindeln, der Wurm nagte dennoch, nagte, nagte, und sie konnte doch nur auf Augenblicke vergessen, daß sie gefallen, daß sie eine Schuld zu sühnen habe. Mittels einer unschweren Manipulation taschenspielte der heilige Größenwahn dieses Schuldbewußtsein freilich auf das Gebiet des Messianismus hinüber, wo die Heilige sich vorgaukeln konnte und wirklich sich und anderen vorgaukelte, nicht für sich selbst, sondern für viele tausend arme Seelen müßte sie sich opfern; aber am Wesen der Sache ändert das nichts.

Doch nun wird der harmlose Leser kopfschüttelnd aufblicken und verwundert fragen: Wie sollte das Bauernmädchen aus der Kohlfirst mit dem grimmigen alten Herrn zusammenkommen, dem Baal-Moloch-Schaddai, dessen stierköpfiges Idol schon lange, lange zerschlagen und verschollen und der höchstselbst schon lange, lange ab und tot ist, mausetot, und ganz vergessen wäre, so ihn nicht die große Mumiensammlung von Götterleichen, die Religionsgeschichte, als eine ihrer rarsten Raritäten aufbewahrte? Weise gesprochen, wäre nur nicht Grund vorhanden, vollwichtiger Grund, zu vermuten, nein, zu wissen, daß der besagte grimmige alte Herr keineswegs so ganz tot und ab ist, sondern noch immer in Millionen und wieder Millionen von armen Menschenköpfen, sogar in Millionen von solchen, über welche das christliche Taufwasser gegangen ist, in seiner ganzen Macht und Furchtbarkeit umgeht. Woher dies und warum? Eine wichtige Frage, dünkt mich, eine sehr wichtige für jedermann, welcher die höchsten Interessen der Menschheit überhaupt des Nachdenkens wert hält. Eine auch für unsern Gegenstand speziell sehr bedeutungsvolle Frage, so bedeutungsvoll, daß sie, scheint mir, nicht etwa nur als ein beiläufiges Intermezzo, sondern vielmehr als ein wesentliches Motiv in das Passionsspiel von Wildisbuch gehört. Wollen wir, geneigter Leser, diese Frage mitsammen erörtern? Wenn ja, so tun wir es an der Hand einer früher von mir angestellten Untersuchung.Vgl. Scherr, Geschichte der Religion, II, 126 ff. Ich verlange dabei von dir nur, daß du im Vollbesitze deiner fünf gesunden Sinne und so gut seiest, dieselben für die Dauer einer halben Stunde zusammenzuhalten. Denn wie gesagt, es ist eine ernste Sache.

Dem auf der großen Synode von Nikäa i.J. 325 festgestellten Grundgesetze des christlichen Glaubens zufolge, welches bis auf den heutigen Tag für sämtliche christliche Kirchen volle Verbindlichkeit hat, statuiert das Christentum, das dogmatische nämlich, eine dreifältige und zugleich wieder einfältige Gottheit. Gott der Vater zeugt unter Vermittelung Gottes des Geistes mit einer Erdgeborenen, einer Jungfrau aus davidischem Stamme, Gott den Sohn. Das christliche Gottesbewußtsein ist aus dem hebräischen entsprungen, die christliche Dogmatik auf die hebräische gepfropft: Jesus Christus ist demzufolge der Sohn des hebräischen Nationalgottes Jahve. Das Christentum hat aber den nationalen Begriff des hebräischen Stammgottes zum universalen erweitert und hat den Herrgott Zebaoth zum »Vater« der Menschheit erhoben. Hat es aber dadurch, wenigstens für die ungeheure Mehrzahl der zum Christentum sich Bekennenden, den Gott wirklich seiner ursprünglichen Wesenheit entkleidet? Konnte es das, solange das Alte Testament die Grundlage ist, ohne welche das Neue, was seine dogmatische Seite angeht, haltlos in der Luft schwebt? Beide Fragen dürften entschieden zu verneinen sein. Welches war denn aber eigentlich das ursprüngliche Wesen des Gottes, welcher im Christentum zum Gottvater umgewandelt erscheint? Beantworten wir diese Frage völlig unbefangen, was wir können, weil wir »vom Eifer für das Haus des Herrn« keineswegs »verzehrt«, d. h. vom furor theologicus völlig frei sind. Wir werden auch unsere Antwort auf ein Beweismittel stützen, welches selbst die Vilmar und Kliefoth und alle die lutherischen Päpstlein neuesten Datums, deren Zahl Legion ist, werden gelten lassen müssen, nämlich auf die Bibel. Freilich lesen wir in derselben, was wirklich darin steht, und nicht bloß wie gewisse infallible Herren, was uns gerade darin zu finden paßt oder – nicht paßt.

Jedermann weiß, daß die Hebräer ein Glied der großen vorderasiatischen Völkerfamilie waren, welche man nach ihrem angeblichen Stammvater Sem die semitische zu nennen pflegt. Die Semiten verehrten eine Gottheit, welche von den verschiedenen Stämmen unter verschiedenen Namen (Bel, Baal, Moloch, Melkarth, Milkom, Dagon, Kamos) angebetet, in eine bejahende und eine verneinende oder in eine schaffende und zerstörende Seite zerfiel. Es liegt auf der Hand, daß in diesem Naturdienst der ewige Prozeß von Geburt und Tod, Werden und Vergehen seinen religiösen Ausdruck gefunden hatte. Auf die mythologische Gestaltung des semitischen Gottesbewußtseins, welcher zufolge der männlichen zeugenden Gottheit eine weibliche empfangende und gebärende (Beltis, Baaltis, Mylitta, Aschera) zur Seite trat, braucht hier nicht eingegangen zu werden. Der Kultus der Semiten, der Gottesdienst, war ein grausamer und wollüstiger: dem Baal-Moloch wurden Menschenopfer, der Baaltis-Mylitta-Aschera wurden Unzuchtsopfer gebracht, indem sich bei den Tempeln der Göttin die Mädchen und Frauen den Wallfahrern preisgeben mußten.Das Nähere hierüber steht bekanntlich beim Herodotos (I, 199), Justinus (XVIII, 5) und Valerius Maximus (II, 6) zu lesen.

Existierte nun zwischen der hebräischen Religion, welche wir nach dem Namen ihres Gottes Jehova oder richtiger Jahve das Jahvetum nennen, und dem Baal-Molochtum der übrigen Semiten ein ursprünglicher Zusammenhang oder nicht? Die zwei sich entgegenstehenden Ansichten von der Sache sind diese. Die eine, die orthodoxe, gang und gäbe ist diese: Jahve war ein von den Göttern der Gojim (Heiden, d.i. der übrigen Semiten) schon von Anfang an streng unterschiedener Gott. Abraham brachte den Kult des hebräischen Stammgottes mit nach Kanaan, überlieferte denselben seinen Nachkommen und dieser nachmals durch Mose ausgebildete Kult verabscheute und verbot die Menschenopfer.Levit. 18, 21; 20, 2. Deuteron. 12, 31. Streng genommen verbietet nur die letzte dieser Bibelstellen das Menschenopfer überhaupt. Die andere Ansicht behauptet, Jahve sei ursprünglich mit dem semitischen Hauptgott Baal-Moloch eins gewesen. Weiterhin geht jedoch diese Ansicht auseinander. Die einen ihrer Bekenner identifizieren nämlich den Jahve zwar mit dem Moloch, erklären aber, diese Dieselbigkeit habe sich in dem Maße aufgehoben, in welchem im Vorschritte der Zeit die Verehrung des an Menschenopfern Gefallen findenden urväterlichen hebräischen Gottes El Schaddai zum humaneren Jahvetum sich umgebildet hätte, welches die Menschenopfer verwarf. Die andern verneinen diese Umbildung durchaus und sagen, der hebräische Gott sei auch als Jahve immer derselbe furchtbare Gott geblieben und sei daher das Menschenopfer den Reformbestrebungen der Propheten zum Trotz bis zur Zeit nach dem babylonischen Exil ein orthodoxer gottesdienstlicher Brauch der Hebräer gewesen.

Die Untersuchung hierüber muß, wenn sie unbefangen und leidenschaftslos sein will, zuvorderst zwei Umstände ins Auge fassen. Erstens, die Schriften des Alten Testaments sind zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Verfassern in verschiedenem Sinne geschaffen worden, und sie widerspiegeln also gleichermaßen den roheren Geist der früheren wie den gebildeteren und milderen der späteren Zeiten. Daraus folgt die Tatsache, daß sie, wie der gang und gäben, so auch der abweichenden Ansicht vom Jahvetum oder Mosaismus Beweise an die Hand geben. Zweitens, die schroffe Trennung des Hebräismus vom übrigen Semitentum und vom Ägyptertum ist eine weit mehr nur von einzelnen Eiferern gewollte als im ganzen praktisch durchgeführte gewesen, und im günstigsten Falle war, sie nie eine dauernde. Ist doch die ganze hebräische Geschichte nur die eines Kampfes der strengen Nationalpartei gegen die tiefgewurzelte, weil naturgemäße Hinneigung des Volkes zu den Anschauungen und Sitten seiner Nachbarn. Die Erfolge in diesem Kampfe waren nicht die Regel, sondern nur Ausnahmen. In der Masse des Volkes überwogen ja schon während der Wanderung in der Wüste die Erinnerungen an den ägyptischen Tierdienst, die von dem großen Mose vertretenen Vorstellungen der Jahvereligion. Aus der wilden Zeit der Richter bezeugt die furchtbare Tatsache der Opferung von Jephtas Tochter die Beteiligung der Hebräer an dem molochistischen Gottesdienst der Kanaaniter. Bekannt ist ferner, wie sogar König Salomo, der Erbauer des großen Nationaltempels, vom Jahve zum Baal und zur Baaltis abfiel. Als das Verderben der Nation, nach der Trennung des Reiches in Israel und Juda, hereinbrach und die Kampfe der religiösen Parteien immer leidenschaftlicher sich gestalteten, wurden die Abfälle zum semitisch-syrisch-phönikischen Gottesdienst zahllos. Die Bücher der Könige, der Chronik und der Propheten sind voll von Klagen der jahveistisch gesinnten Partei, daß die Altäre des Baal-Moloch im Tale Ben-Hinnom bei Jerusalem von Kinderopfern rauchten. König Ahas von Juda ließ, zur Abwendung seiner Bedrängnis durch den König Rezin von Damaskus, seinen Sohn durchs Feuer gehen, d. h. er opferte denselben. Noch schlimmer trieb es der König Manasse von Juda, welcher den Jahvetempel zu Jerusalem förmlich dem Baal und der Baaltis weihte, »Tempelhuren« in die Priesterwohnungen beim Heiligtum setzte und im Tale Ben-Hinnom dem Moloch seine Sohne zum Brandopfer brachte. Nach Aufführung dieser alttestamentlichen Tatsachen ist man – vorausgesetzt, daß man es mit dem gesunden Menschenverstand und nicht mit Hassenpflug – Vilmar-Kliefothschem Theologismus oder konkordatsfroher »Staatsräson« zu tun hat – doch wohl berechtigt, zu fragen: Wie konnten solche stets wiederkehrende Abfälle vom Jahvetum stattfinden, wenn die Hebräer von dem semitischen Gottesdienste jemals vollständig sich emanzipiert hatten? Wie konnte der molochistische Menschenopferkult, falls der Jahvedienst, welcher solche Opfer verabscheute, jemals dem hebräischen Volke zur Herzenssache geworden war, immer wieder so schnell populär werden? Sollte, dies zu erklären, nicht anzunehmen sein, daß das ältere, ursprünglichere, rohmaterielle religiöse Bewußtsein der Hebräer über das spätere, geistigere und humanere immer wieder den Sieg davongetragen habe?

Der Verfasser des Buches Exodus (6, 2) läßt den hebräischen Gott zu Mose sprechen: »Ich bin Jahve und ich erschien dem Abraham, dem Isaak und dem Jakob als El Schaddai, aber unter dem Namen Jahve war ich ihnen nicht bekannt.« Der älteste dokumentierte Name des Gottes der Hebräer war demnach El Schaddai. Wenig jünger mag die abstrakte Bezeichnung des Gottes durch das Wort Elohim (Macht, Entscheidung) sein. Das hebräische Verbum schadad bedeutet »er hat geschlagen, verwüstet, vernichtet«, das Substantiv sched bedeutet einen bösen Dämon. Wer zu schlagen, zu verwüsten, zu vernichten vermag, ist ein Mächtiger: also stimmt dem Sinne nach der Name Schaddai mit dem von Baal (Herr) und Moloch oder Molech (König) ganz überein. Wie Baal ist auch der hebräische Gott ein Gott der Höhen. Nach dem Berge Sinai richtet sich der Zug der aus Ägyptenland befreiten Israeliten, damit sie dort ihren Gott anrufen. Auf einem Berge seinen Sohn zu opfern wird dem Abraham von seinem Elohim befohlen. Auf dem Hügel Moriah wird der große Nationaltempel der Hebräer erbaut.

Der Begriff einer zerstörerischen Naturmacht ist auch in der Vorstellung von der persönlichen Erscheinung des hebräischen Nationalgottes deutlich ausgeprägt. Diese Erscheinung ist furchtbar. Ganz wie Moloch ist auch El Schaddai oder Elohim oder Jahve ein »fressendes Feuer«. Sein Nahen und sein Anblick wirken tödlich.Deuteron, 4, 15, 24; 5, 5, 24, 25. Exod. 24, 17; 20, 19; 33, 3, 20. Num. 16, 35. Levit. 10, 2. B. d. Richter 13, 22. Psalm 18, 7-16. Als Schrecken und Finsternis fällt er auf Abraham, als rauchender Ofen und lohende Feuerflamme erscheint er dem Patriarchen (Genes. 15, 12, 17). Aus dem brennenden Dornbusch ertönt die Stimme El Schaddais, welche den Mose beruft. Als Wolkensäule bei Tage, als Flammensäule bei Nacht geht der Gott den Kindern Israel durch die Wüste führend voran. Die unnahbare Zerstörungsmacht dieses Feuergottes ist auch bei den Hebräern keineswegs bloß eine physische, sondern zugleich auch eine moralische; denn die schrecklichen Wirkungen seines Wesens sind nicht etwa nur zufällige, sondern absichtliche. Bezeugt doch die Bibel sehr ausdrücklich, daß Jahve selbst an solchen, die ihm opferten, jede Verletzung der Ehrfurcht gegen ihn, sogar eine rein zufällige, mit Tod und Vernichtung strafte. Um ein Beispiel anzuführen, so kann an der Stelle (1. Samuel 6, 13 – 19), wo Jahve 50 070 Mann des Volkes von Beth-Semes tötet, weil die Unglücklichen die Bundeslade gesehen hatten, die Zufälligkeit der Verfehlung und die Absichtlichkeit der Bestrafung gar nicht zweifelhaft sein. Noch mehr, die lebensfeindliche, verneinende Seite des älteren Jahvetums erscheint so ausgebildet, daß der Pentateuch (Deuteron. 32, 41 – 42) dem Gott geradezu eine kanibalische, berserkerhafte Lust am Blutvergießen zuschreibt: »Wenn ich meines Schwertes Blitz gewetzt und meine Hand gegriffen zum Gericht, so bezahle ich Rache meinen Feinden und meinen Hassern vergelte ich. Meine Pfeile will ich trunken machen mit ihrem Blut, mit Blut der Erschlagenen und Gefangenen vom Haupt der Fürsten des Feindes, und mein Schwert soll Fleisch fressen.«

Der landläufigen Vorstellung zufolge hat, wie jedermann weiß, der Patriarch Abraham den Glauben an El Schaddai oder Elohim aus den Bergen Chaldäas nach Kanaan mitgebracht als einen originalen, besonderen, dem Hebräertum uranfänglich angehörigen. Daraus würde dann allerdings zu folgern sein, daß dieser Gott ein von den Göttern der Kanaaniter verschiedener gewesen. Es wird weiterhin erzählt (Genes. 12, 8), daß Abraham, bevor er seinen Nomadenzug nach Ägypten unternahm, unter den Kanaanitern für seinen Elohim Propaganda gemacht habe, und bald darauf begegnet uns ein gewisser Melchisedek, König von Salem, welcher »war ein Priester Gottes des Höchsten« (im Original ein Priester El Eljons), und welchem Abraham »den Zehnten von allerlei gab«. Diese Geschichte nun läßt drei Annahmen zu. Entweder, und das ist das Wahrscheinlichste, ist die ganze Episode vom Priesterkönig Melchisedek ein späteres Einschiebsel im pfäffischen Zehnteninteresse, oder aber die Proselytenmacherei Abrahams hat unter den Kanaanitern einen wunderbar schnellen Erfolg gehabt, oder endlich erklärt sich die Übereinstimmung des kanaanitischen mit dem hebräischen Scheich im Dogma und Kult ganz einfach daraus, daß der Elohim Abrahams eben kein anderer gewesen als der syrische Baal-Moloch, welchen die vor den Hebräern in Kanaan angesiedelten semitischen Stämme unter verschiedenen Namen verehrten, der Gott, welcher war wie fressendes Feuer, der Gott, dessen Symbol die aufsteigende Feuerflamme, aber auch der zeugungskräftige Stier, weshalb sein Idol stiergestaltig war. Diese Ansicht gewinnt gewichtige Stützen dadurch, daß an den Ecken von Jahves Altar bekanntlich Stierhörner angebracht waren, daß die Verehrung des goldenen Kalbes durch die Israeliten in der Wüste, falls sie nicht eine Nachahmung des ägyptischen Apisdienstes, zwanglos als ein semitischer Moloch-Stier-Kultakt angesehen werden kann, und daß endlich, nach dem Abfall der zehn Stämme, Jahve im Reich Israel unter dem Bild eines Stieres verehrt wurde.

Weil mit Machtsprüchen theologischen Hochmuts bei einigermaßen einsichtigen Leuten nachgerade nicht mehr viel auszurichten ist und allen Konkordatskniffen und allem lutherischen Päpstleingepruste zum Trotz hierarchische Staatsstreiche nicht mehr so recht flink von der Hand gehen wollen, wäre es im Interesse solcher, welche in den Hebräern reine Eingöttler und Verabscheuer des Menschenopferdienstes von Anfang an erblicken wollen, und demnach auch im Interesse vom Stammbaum des dogmatischen Christus – der ethische bedarf keines Stammbaums – gar sehr zu wünschen, dass das Alte Testament eine sorgfältiger redigierte Ausgabe letzter Hand erfahren hätte, als die jetzt vorliegende ist, eine Ausgabe, in welcher die zahllosen leidigen Angaben, die der kirchlichen Auffassung des Hebräismus widersprechen, getilgt oder wenigstens gemildert worden wären. Letzteres ist in der berühmten Sage von der dem Abraham durch seinen Elohim gebotenen Opferung seines Sohnes Isaak (Genes. 22) ziemlich geschickt geschehen, wenn anders man Frömmigkeit in der Verehrung eines Wesens finden will, welches, und wäre es auch nur prüfungsweise, einem Vater befiehlt, sein Kind zu schlachten. Findet man das erwecklich, warum findet man es denn erschrecklich, wenn in einer nichtbiblischen Sage der Landvogt Geßler prüfungsweise einem Vater befiehlt, einen Apfel vom Haupte des Sohnes zu schießen? Was hier das menschliche Gefühl empört, sollte es dort nicht empören? Aber was Gott tut, ist wohlgetan, sagt Dominus Pfaffnutius. Ein recht verehrungswürdiger Gott das, jawohl, der sich an der Seelenqual eines Vaters weidet, welcher das Messer auf den einzigen Sohn zücken soll! Arbeiten wir uns doch einmal um's Himmels willen aus der greuelhaften alttestamentlichen Barbarei heraus. Es ist eine Schmach, dass unsern Kindern diese kanibalischen Geschichten in der Schule noch immer eingepaukt und eingebleut werden.

Kanibalische Geschichten, sagte ich und wiederhole es. Denn wenn in späterer Zeit, als das Jahvetum geistiger sich gestaltet hatte, eine geschickte Hand den Kanibalismus der alten Sage von Isaaks Opferung milderte, so ist eine solche mildernde Umarbeitung anderen Stellen keineswegs widerfahren. Im Buch Exodus (22, 29) wird ohne alle weitere Erläuterung dem Jahve der Befehl an das Volk Israel in den Mund gelegt: »Die Erstgeburt deiner Söhne sollst du mir geben!« d. h. opfern; denn wir wissen, daß auch der syrisch-phönikische Gott Moloch alle männliche Erstgeburt als sein rechtmäßiges Eigentum in Anspruch nahm. Im eben erwähnten Buch (13, 12) findet sich diese Verordnung in der Form: »Du sollst aussondern dem Jahve alles, was die Mutter bricht« (zuerst gebiert, denn gleich darauf wird auch der Erstgeburt des Viehes erwähnt). An dieser Stelle nun wie an zwei weiteren (30, 12 ff.; 24, 20) wird schon der mildernde Geist des späteren Jahvetums sichtbar, indem hier die Lösung der männlichen Erstgeburt mittels des sogenannten Hebeopfers vorgeschrieben ist. Daß auch die Beschneidung in ihrer ursprünglichen Bedeutung ein Surrogat für die Opferung des Kindes war, erhellt deutlich genug aus der schrecklichen Stelle im Buch Exodus (4, 24–26), wo Jahve den Sohn des Mose und der Zipora töten, d. h. zum Opfer haben will und sich von der entsetzten Mutter nur durch Darbringung der Vorhaut des Knaben beschwichtigen läßt.

Doch weiter in diesem alttestamentlichen Blutsumpf. Jephta tut dem Jahve das Gelübde, diesem, falls er den Sieg über die Ammoniter davontrüge, das Wesen zum Brandopfer zu bringen, welches bei seiner Heimkehr ihm zuerst aus der Tür seines Hauses entgegentreten würde. Es ist seine Tochter, sein einziges Kind. Und nicht etwa im Affekt, in der Aufregung der Siegesfreude opfert der Vater sein Kind; bewahre, er hat Zeit genug, sich zu besinnen, denn er gibt vor Vollziehung des Opfers der Tochter noch zwei Monate Frist, um »auf den Bergen ihre Jungfrauschaft mit ihren Gespielinnen zu beweinen« (B. d. R. 11, 30–40). Stünde dieser Greuel allein, so könnte man denselben etwa auf die Verwilderung der Zeit Jephtas schieben; aber er steht ja keineswegs allein. In Wahrheit, die Bibel erzählt uns mit der ganzen »kindlichen Naivität«, welche man ihr und zwar mit Recht nachrühmt, daß zur Sühnung von Schaddai-Jahves Zorn Menschenblut stromweise vergossen wurde. Im Buch Exodus (32, 27–29) läßt Jahve, um den Tanz der Söhne und Töchter Israel um das goldene Kalb – welcher damals doch kaum so bacchantisch gerast haben mag, wie er heutzutage tut – zu bestrafen, durch Mose befehlen, daß ihm der Vater den Sohn, der Bruder den Bruder zum Opfer bringe, und. in dem gottesfürchtigen Gewürge »fielen des Tages vom Volk dreitausend Mann«. Im Buch Numeri (14, 11 ff.) steht eine höchst merkwürdige Stelle, wo Mose den Jahve nur mittels einer sehr schlauen diplomatischen Wendung davon abbringt, das ganze Volk Israel zu töten wie einen Mann. Etwas später (Numeri 25, 4) befiehlt Jahve dem Mose: »Nimm alle Häuptlinge des Volkes und hänge sie auf, dem Jahve vor die Sonne, damit sich Jahves Zornglut wende.« Eine solche Opferung mittels Hängens wiederholt sich in dem Falle des Königs von Ai, welchen Josua an einen Baum hängen ließ bis zum Untergang der Sonne (Jos. 8, 29). Es dürfte gestattet sein, anzunehmen, daß die Vollziehungsart dieser beiden Opferungen die ursprüngliche Dieselbigkeit Jahves und Baals, welcher letztere ja auch der Sonnengott war, wieder deutlich genug zutage treten lasse. Auch noch ein drittes dem Jahve in dieser Form dargebrachtes Menschenopfer gehört hierher (2. Sam. 21, 6–9). Der Prophet Samuel war ein sehr eifriger Menschenopferer. Er befiehlt dem König Saul, gegen die Amalekiter zu kriegen und sie mit allem, was sie sind und haben, dem Jahve zum »Cherem« zu weihen. Wer aber dem Jahve zum Cherem geweiht ward, der mußte sterben (Levit. 27, 21–29; Deuteron. 13, 12–17), d.h. er wurde geopfert. »Schone ihrer nicht,« sagt Samuel zu Saul, »sondern töte beides, Mann und Weib, Kinder und Säuglinge, Ochsen und Schafe, Kamele und Esel!« Saul vollzieht den Befehl des Vertreters Jahves, indem er die Amalekiter schlägt und alle Gefangenen dem Gott zum Cherem weiht. Aber sei es aus Politik, sei es aus menschlicher Regung, er läßt den ebenfalls gefangenen Amalekiterkönig Agag am Leben. Das war eine große Sünde in den Augen Samuels, und der Prophet selbst holte nach, was der König versäumt hatte, und »zerhieb den Agag zu Stücken vor dem Angesichte Jahves zu Gilgal«, zu deutsch: er opferte den Agag in dem damaligen Heiligtum Jahves zu Gilgal (1. Sam. 13). Die mildernde Hand eines späteren Umarbeiters ist hier sehr ungeschickt verfahren. Sie läßt nämlich den Samuel sagen, Jahve habe mehr Lust am Gehorsam als am Opfer und Brandopfer, und trotzdem läßt sie ihn sofort darauf den Agag eigenhändig abschlachten. Der Umarbeiter vergaß also, die alte Barbarei zu tilgen, und hob so die eingeschobene Milderung wieder auf). Weiter, weiter, allem Widerwillen und Ekel zum Trotz. Das greulichste der alttestamentlichen Bücher ist das Buch Josua, welches (besonders Kapitel 6–11) von massenhaften Niedermetzelungen zu Ehren Jahves strotzt. Die Bewohnerschaften vieler kanaanitischen Städte wurden dem israelitischen Gott zum Cherem geweiht, wie »Mose, der Knecht Jahves«, geboten hatte, und mit der Schärfe des Schwertes niedergehauen. Nach Besiegung der Feinde an den Sitzen derselben »alles zu erwürgen, was Odem hatte«, ist ein stehender Ausdruck in dieser entsetzlichen Urkunde alttestamentlicher Frömmigkeit. Und, wohlverstanden, diese »Feinde« waren nicht etwa Angreifer, sondern Angegriffene, in ihren angestammten und rechtmäßigen Sitzen von den Israeliten widerrechtlich Überfallene. So man das mit der ganzen Naivität des Barbarismus geschriebene, bluttriefende, von wahrhaft mongolischer Mordlust zeugende Buch Josua aufmerksam liest, so muß man fast notwendig zu der Ansicht kommen, die frommen Hebräer hätten, ganz nach der Art der frommen Azteken im alten Mexiko, Kriege geführt eigens zu dem Zwecke, Material zu Menschenopferungen im kolossalen Stile zu erhalten.

In der Blütezeit des hebräischen Prophetismus haben dann die Propheten gegen die »Hurerei« des Aschera-Baaltis-Dienstes und gegen den »Greuel« des Menschenopferkults, wie jene und dieser unter dem »auserwählten Volk Gottes« im Schwange gingen, mit aller Macht geeifert. Dies bezeugt einerseits das Vorhandensein und die Tätigkeit einer von geistigeren, sittlicheren und humaneren Grundsätzen ausgehenden Reformpartei, andererseits aber bezeugt es auch, daß die alten Hebräer Vielgöttler, Molochisten und Menschenopferer gewesen sind. Will man einwenden, die Stellen, wo z. B. Jeremia gegen den unzüchtigen Dienst der Aschera-Vaaltis und gegen den grausamen des Baal-Moloch eifert (Jerem. 3, 6; 7. 31; 11, 13; 19, 5; 32, 35), bezögen sich nur auf den Abfall der Israeliten vom »reinen Jahvetum« nach den Zeiten Davids, so zerfällt dieser Einwand in nichts, wenn man, wie wir getan, den Menschenopferdienst, wie er zu den Zeiten Moses, Josuas, der Richter und Samuels geblüht hatte, ins Auge faßt. Ferner: die Propheten Ezechiel und Amos geben vollwichtiges Zeugnis, wie es mit den religiösen Anschauungen und Bräuchen der Hebräer in alten Zeiten eigentlich beschaffen gewesen. Bei Ezechiel (20, 18) redet Jahve: »Ich sprach zu ihnen in der Wüste: Ihr sollt nach eurer Väter Gesetzen nicht leben und ihre Rechte nicht halten und mit ihren Götzen euch nicht verunreinigen!« Wo bleibt denn da die kirchliche Fiktion von einem urväterlichen geistigen Monotheismus der Hebräer? Noch expressiver ist die Stelle bei Amos (5, 25–26), wo Jahve spricht: »Ihr vom Hause Israel, habt ihr in der Wüste die vierzig Jahre lang etwa mir Schlacht- und Speiseopfer gebracht? Ihr trüget die Hütte eures Königs – (das hebräische Wort Melech entspricht ganz dem syrisch-phönikischen Moloch) – und den Kijjun, euer Götzenbild, den Stern eures Gottes, den ihr euch gemacht hattet.« Hier ist also ganz bestimmt angegeben, daß Israel in alter Zeit nicht dem Jahve, sondern andern Göttern gedient habe, was auch durch die in der Bibel häufig vorkommende Erwähnung der hebräischen Hausgötzen (Teraphim) bestätigt wird. Endlich ist bei den Propheten selbst der Vorschritt von einem rohsinnlichen Naturdienst zu einem geistigeren Glauben ganz deutlich sichtbar. Denn während noch bei Jesaia (34, 5–6) und Jeremia (46, 10) die Mordlust des althebräischen Kultus in ganz barbarisch blutdürstigen Ausdrücken wiederkehrt, läßt dagegen Micha (6, 6–8) den Jahve im Namen des Volkes Israel sprechen: »Womit soll ich Jahve versöhnen? Soll ich mich bücken vor meinem Elohim? Soll ich mit Brandopfern und jährigen Kälbern ihn versöhnen? Wird Jahve Gefallen haben an Tausenden von Widdern oder an tausend Strömen Öls? Soll ich meinen Erstgeborenen geben zu meinem Schuldopfer, meine Leibesfrucht zum Opfer für die Sünde meiner Seele? Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Jahve von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Elohim!« Hier ist, wie man sieht, im entschiedensten Gegensatz zum älteren hebräischen Gottesbegriff die reformistisch-geistige Auffassung Jahves zu vollständigem Durchbruch gekommen.

Das Resultat der im Vorstehenden angestellten Untersuchung ist dieses: Die Hebräer waren in älteren Zeiten keine Eingöttler, sondern Vielgöttler. Der urväterliche hebräische Hauptgott, El Schaddai, fiel nicht dem Namen, aber dem Wesen nach mit der Hauptgottheit der übrigen Semiten zusammen. Der Menschenopferdienst der Hebräer war keineswegs eine Folge ihres nationalen Verfalls, sondern es war derselbe altherkömmlich und lange geübt, bevor die Nation den Höhepunkt ihrer Geschichte erreichte. Frühzeitig jedoch schon muß es unter den Hebräern eine Partei gegeben haben, welche einen reineren, geistigeren Gottesbegriff und damit auch einen humaneren Gottesdienst pflegte, ausbildete, verfocht, bald glücklich, bald erfolglos, bis sie endlich in späterer Zeit mit ihrer religiösen Anschauung und der Forderung eines durch dieselbe bedingten und bestimmten milderen Kultus, welchem das Menschenopfer ein Greuel war, durchgedrungen ist. Die Erscheinungsform der religiösen Idee, welche man heutzutage unter reinem Jahvetum oder reinem Mosaismus versteht, ist die Schöpfung dieser Reformpartei.

Aber, geneigter Leser, du fragst vielleicht gelangweilt: Wozu denn all der Lärm? Wozu diese lange Erörterung? Was geht uns der alte El Schaddai, was gehen uns die Barbareien der alten Judenbärte an? Sind wir nicht Christen? Hat uns nicht Christus mittels seines Opfertodes ein- für allemal erlöst und mit Gott, und wäre dieses sogar der alte grimmige El Schaddai, versöhnt? Hast du, Autor, seines Ortes nicht selber den rotsichtigen Daumer ausschweifender Konsequenzenmacherei bezichtigt, als dieser im Christentum an allen Ecken und Enden Molochismus sah? Hast du denselbigen Daumer nicht lächerlich gemacht, als er das Wort Christi: »Lasset die Kindlein zu mir kommen!« zu einer molochistischen Opferformel stempelte? Wozu also noch alle die gräßlichen altgebackenen Opfergeschichten? – Du hast gefragt, Liebster. Nun erlaube, daß ich zur Erwiderung auch meinerseits etliche Fragen an dich richte. Ist die Vorstellung von dem alten grimmigen El Schaddai wirklich so ganz aus der christlichen Weltanschauung verschwunden? Hat das Christentum, das dogmatische, versteht sich, die Opferidee verworfen oder aber hat es ein höchstes Opfer, das des Sohnes Gottes, statuiert? Wurde mit diesem einen und höchsten Opferakt die Versöhnung des Menschen mit dem Gott wirklich für immer vollzogen? Oder wird in der katholischen Messe die Opferung Christi nicht täglich wiederholt? Ißt nicht täglich der Priester den Leib Christi und trinkt er nicht täglich Christi Blut? Ist die bestimmte Erzählung Luthers in dessen »Tischreden«, der Menschenopfergreuel habe bis zu seinen Zeiten gewährt und sei da erst durch Kaiser Karl den Fünften abgetan worden, während Kaiser Maximilian der Erste die Gewohnheit gehabt, in Kriegsgefahren Menschenopfer zu geloben wie Jephta und dann den ersten besten, der ihm begegnete, wirklich zu opfern, etwa nur als ein nicht der Beachtung wertes »Kuriosum« anzusehen? Was waren denn die Autosdefé der Inquisition anderes als Menschenopfer im großen Stil? Was die »Hexenbrände«, durch welche Tausende und wider Tausende schuldloser Frauen »eingeäschert« wurden? War der »allerchristlichste« König Karl der Neunte, da er in der Bartholomäusnacht seine hugenottischen Untertanen höchsteigenhändig niederbüchste, weniger Molochist als Josua, der in den eroberten kanaanitischen Städten dem El Schaddai alles, was Odem hatte, zum Opfer würgte? Hat nicht auch der Protestantismus, so gut wie der Byzantismus und Katholizismus, dem Gott seines Dogmas solche auf Schafotten geopfert, welche nicht den »rechten« Glauben hatten? Erinnerst du dich des armen Miguel Serveto, welcher 1553 durch den dogmatischen Essigblicker Kalvin hinrichtungsweise dem El Schaddai geopfert wurde, weil er nicht glauben wollte, daß drei gleich eins und eins gleich drei sei? Oder des armen Nikolaus Krell, welchen 1601 die lutherischen Baalspfaffen des Dresdener Hofes als angeblichen »kalvinischen Hochverräter« ihrem Baal zum Opfer schlachteten? Hat nicht noch in unsern Tagen ein gewiß unverdächtiger, weil sehr orthodoxer Zeuge, der Freiherr von Haxthausen, aus dem Innern Rußlands den Bericht mit heimgebracht, daß »dort Selbstverbrennungen, Selbstentmannungen und anthropophagische Passahmahle noch immer im Schwange gehen«? Hat nicht derselbe Haxthausen erfahren, daß in dortigen Gegenden mitunter ein christlicher Kannibalismus vorkomme, indem da zur Feier des Osterfestes einem jungen Mädchen die linke Brust abgeschnitten, in kleine Portionen zerteilt und von sämtlichen Anwesenden als heiliges Mahl genossen werde? Meinst du nach alledem noch, der alte Moloch-Schaddai habe die Synode von Nikäa nicht überlebt?

O, damit fürwahr hat es keine Not! Er ist zäh, der alte Herr, ungeheuer zäh, dauerhaft wie die menschliche Dummheit, vielleicht ewig. Ja, er lebt noch heute, der grimmige Alte, und wie! Er ist noch heute der Gott des Köhlerglaubens, wie er es zu den Zeiten der Josua, Jephta, Samuel, Ahas und Manasse, der katholischen Inquisitoren und protestantischen Hexenbrenner gewesen. Er ist der römische Konkordatsgott und der protestantische Konsistorialgott, der Kardinalgott der Antonelli und Dupanloup, der Universgott des Louis Veuillot und der ganzen Jesuitenbande, der Leibgott des in deutschen Landen grassierenden Rattenkönigs von Kanzleidunklern, Kabinettsmunklern und Hofmuckern. Und all diese Sippschaft hat Gründe, inkommensurabel wichtige Gründe, den Popanz von Gott anzubeten oder wenigstens so zu tun, als betete sie ihn an. Ist ja seine Existenz die unumgänglich notwendige Voraussetzung der ihrigen. Zerschlagt heute das garstige Idol, und ihr braucht morgen die Priester und Propheten des Götzen nicht zu erschlagen: sie gehen von selbst zugrunde, erstickend an »ihres Nichts durchbohrendem Gefühle«. – Nein, er ist nicht tot, der Moloch-Schaddai. In jeder Epoche der Verdunkelung des gesunden Menschenverstandes und des öffentlichen Gewissens tritt der Alte wieder furchtbar aus seiner angeblichen Verschollenheit hervor, blutige Opfer heischend. So war es denn auch dieser Gott, welcher das Haus in Wildisbuch, zu welchem wir jetzt zurückkehren, mit Wahnwitz, Mord und Entsetzen erfüllt hat.

Elftes Kapitel.

Des Höllenkönigs Fahnen wehn entgegen uns.

Vexilla regis prodeunz inferni
Verso di noi.
                    Dante, Inferno, e, 34.

Wir haben den Gemütszustand der Heiligen von Wildisbuch nach ihrer Heimkehr aus der Verborgenheit in Illnau betrachtet, haben gesehen, wie es Nacht geworden in ihrer Seele. In dieser Finsternis, sahen wir, war wie ein roter Punkt der Gedanke der Opferung aufgeglommen. Dieser Punkt nun wuchs und schwoll, schwoll zu einer Blutlache, welche die Unselige durchwaten zu müssen glaubte, um zu ihrem himmlischen Vater zu gelangen. Welcher Natur dieser »himmlische Vater« war, sollte, denke ich, aus dem Vorstehenden sattsam erhellen. Das heilige Margetli hatte nicht umsonst schon in Kinderjahren unausgesetzt über den furchtbaren Schriften des Alten Testaments gebrütet: es glaubte jetzt um so fanatischer an den Moloch-Schaddai, als es sich allem Heilandsbewußtsein zum Trotz insgeheim als Sünderin fühlte.

Es ist nicht in den Akten gebucht, aber trotzdem sehr wahrscheinlich, daß in dieser Zeit neben der Bibel insbesondere das Ganz-Qualmsche Traktätlein vom »Geheimnis der Gottseligkeit« von der Marget eifrigst studiert wurde.Das Ganzsche Traktätlein wurde nach der Katastrophe im Peterschen Hause vorgefunden und liegt, wie schon erwähnt worden, bei den Akten (I, 78), Ich merke hier an, daß ich in diesem und den folgenden Abschnitten nur noch bei Erwähnung von besonders charakteristischen Umständen auf die Akten verweisen werde, um den Fortgang der Erzählung nicht allzuhäufig durch solche Verweisungen unterbrechen zu müssen. Die Aktenstücke, welche von jetzt an für den Rest unserer Geschichte hauptsächlich führend und bestimmend waren, sind diese: W. A. I, 2, 4. 6, 7, 8, 10, 13, 18, 51, 55, 104, 107, 108, 118, 119, 120; II. 1–41. Der mystisch anschmiegerliche Nonsens der hier vorgetragenen Blutopfertheorie muß der damaligen Stimmung des brütenden Weibes vollkommen entsprochen haben. Der Schlammvulkan von Embrach hatte ja schon mehrfältig bedeutsam in das Leben und Weben unserer Heiligen hereingedunstet, und er tat das ohne Zweifel auch jetzt wieder. Qualm wie dieser: »Damit es dem himmlischen Christus gelinge, uns wieder vollkommen zu erlösen und in unsere erste paradiesische Heimat zurückzuführen, so müssen wir von allem Eigenwirken und Eigenwollen abstehen, uns ihm zum Opfer hingeben, stillehalten, seiner Stimme in uns folgen und wie ein Lamm leiden, geduldig ergeben und gelassen, mit gewisser Zuversicht und lebendiger Hoffnung, daß das Werk herrlich werde ausgeführt werden. Wenn Christus nach seinem Geist in uns kommt und wir ihn innerlich im Glauben annehmen und uns an ihm festhalten, so geht er gleich hinter unsern alten Menschen her, der durch Lüste und Irrtum verderbt ist, um ihn durch allerlei Leiden von außen und innen zu kreuzigen, zu töten und ganz und gar abzutun, damit der sündliche Leib aufhöre. Bei dieser Kreuzigung haben wir weiter nichts zu tun, als alles zu lassen, was Christus von uns fordert, weil hier geben seliger ist als nehmen, und übrigens nach dem Vorbild des Erstgeborenen mit Lammesgeduld zu leiden, bis Christus das falsche Natur- und Sinnesleben völlig getötet, das Opfer vollendet, alle uns selbst angemaßten Rechte dem Vater wieder zurückgestellt und ihn hiemit gänzlich befriedigt hat, daß Christus in einem solchen Menschen rufen kann: Es ist vollbracht! Durch diesen Leidens- und Sterbensprozeß ist nun der Mensch mit Christo in seinen Tod getauft und begraben, dem Gesetz und der Sünde für immer und ewig abgestorben, gerechtfertigt und von der Strafe frei und los von allen Sünden, auch das Fortsündigen hat nun bei ihm für ein- und allemal aufgehört und steht jetzt unter dem Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu. O, seliger Stand, wo der alte Sünder geschlachtet und abgetan und er also mit Gott dem Vater ausgesöhnt und vereinigt ist! Nun befindet sich derselbige in einer völligen Todesstille und tiefen Grabesruhe, alle eigene Kraft und Wirksamkeit ist verschwunden, und er geht nun auch dem Auferstehungsstand Christi entgegen. Derselbige Geist, welcher Jesum, den Erstgeborenen, vom Tode auferweckt hat, wird einen solchen Menschen auch auferwecken, ihn zum neuen, göttlichen und ewigen Leben hervorrufen« – nein, solcher Dunst war fürwahr wenig geeignet, die Marget aus ihrer phantastischen Traumwelt in die Welt der Wirklichkeit zurückzuversetzen. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil! Wer sich die Mühe nimmt, den angeführten Ganz-Qualm zu lesen, wird finden, daß darin die Grundzüge des in Bälde anhebenden Wildisbucher Passionsspiels vorgezeichnet sind: die Marter, der Opfertod am Kreuze, die Grabesruhe und die Überzeugung der Wiederauferstehung.

Sobald sich der Mensch über die Schranken der menschlichen Gefühls- und Verstandestätigkeit hinausgeschwindelt hat, gewinnt das Unfaßbare, das Unberechenbare, das Dämonische Gewalt über ihn. Ein großer Dichter, der in das Wesen des Menschen tiefere Blicke getan als hunderttausend patentierte Philosophen und Theologen, hat schon gesagt:

»Leicht aufzureizen ist das Reich der Geister;
Sie liegen wartend unter dünner Decke,
Und leise hörend stürmen sie herauf.«

Er hätte beifügen können, daß die Geister der Lüge schneller zur Hand sind als die der Wahrheit. Denn die Wahrheit ist eine spröde Schöne, die durch mühevolle geistige Werbung verdient sein will, während die Buhlerin Lüge sich jedem von selbst an den Hals wirft. Und vollends die religiöse Lüge, diese falsche Erscheinungsform, diese Golemverwirklichung der religiösen Idee, diese »babylonische Hure«, welche so zahllose Generationen der Menschen verführt hat, in Orgien voll Wollust oder Grausamkeit ihre Vernunft zu vergeuden. Wohl, die Geister der Lüge waren entfesselt in der Seele der gefallenen Heiligen. Der uralte und ewigjunge Wahnwitz, das Phantom Moloch-Schaddai, hatte seinen Einzug in das Petersche Haus gehalten und erfüllte dasselbe mit seiner finstern Macht.

Ihm diente, ihm marterte, ihm opferte das arme verlorene Weib die Schwester und sich selber, indem sie wähnte, den Satan zu bestreiten. Den Satan? Es ist seltsam, daß sich einem bei all dem rasenden Tun, welches wir jetzt zu betrachten eilen, der Gedanke aufdrängt, der Gegensatz von Gott und Teufel, welcher die Marget dem Wahnsinn zupeitschte, sei nur eine dunkle, instinktmäßige Ahnung von dem zwiespältigen Wesen des alten Semitengottes gewesen. Freilich, man braucht diesen Gegensatz nicht so aus der Weite zu holen: der christliche Katechismus hat ja sattsam dafür gesorgt, daß er in der Nähe zu haben sei.

Die durchteufelte Atmosphäre des Hauses wurde dichter, schwüler, lastender mit dem Herannahen der österlichen Zeit. Die Erwartung, daß Großes bevorstehe, hatte sich sämtlicher Hausgenossen bemächtigt. Wie dumpfe Paukenschläge, welche die Ouvertüre des Greuelspiels einleiteten, klangen orakelhaft hingeworfene Äußerungen der Heiligen gegen einzelne oder sämtliche Mitglieder des Haushalts. »Wachet und betet, der Versucher ist nahe.« Oder: »Wollt ihr euer Leben lassen für Christus?« Oder: »Ich sehe das Heer des Satans immer mehr gegen mich aufziehen. Es droht mich zu überwinden. Darum muß ich kämpfen und streiten.« Und wie sie so sprach, »verwarf« sie die Arme und schlug mit den Händen gewaltig um sich.

Rufe man sich nun das feste, sichere, imponierende Auftreten der Marget zurück und erinnere man sich an die souveräne Despotie, welche sie seit Jahren über alle Leute ihrer Umgebung übte, so wird man sich unschwer erklären können, daß ihr Wahn, wie derselbe von Stufe zu Stufe bis zur wildesten Energie emporstieg, sich ebenso stufenweise den Margetligläubigen mitteilte. Sah sie das Heer Satans gegen sich im Anmarsch, was Wunder, daß sämtliche Hausgenossen den Schwefelbrodem der Hölle zu riechen glaubten? Es mag ohnehin auch in der Wirklichkeit in dem seit Monaten hermetisch verschlossenen Bauernhause nicht sehr himmlisch gerochen haben, und es ist nicht etwa Spaß, sondern voller Ernst, wenn wir meinen, eine tüchtige tägliche Lüftung der Räume des Hauses hätte mit der stockigen, muffigen, schmergeligen Luft auch manchen Qualm und Schwalm höheren oder höchsten Blödsinns mithinweggeweht.

Aber an Lüftung und Lichtung, an physischer und moralischer, fehlte es eben. Das Haus war und blieb verschlossen, fest versperrt. Die Einlaßtüre öffnete sich nur Vertrautesten und schloß sich hinter den Hineingeschlüpften sogleich wieder. Ei, da drinnen in solcher Atmosphäre konnte der Teufel, welcher weder Luzifer noch Adramelech, weder Beelzebub noch Belial, wohl aber Afterwitz heißt, nach Herzenslust spuken und stinken. Saßen da eines Abends die Ursula Kündig und die Margareta Jäggli bei ihren Spinnrädern mitsammen am Ofen. Krach! gab's da plötzlich einen Knall. Wären zwei Kinder der Welt auf der Ofenbank gesessen, würden sie gesagt haben: Aha, da hat ein Torfklotz im Kachelofen explodiert. Unsere zwei Töchter des Heils aber konnten bei Gestalt der Sachen natürlich nur glauben, der Teufel habe in ihrer nächsten Nähe gehustet oder sich geschneuzt. Springt demnach die Jäggli auf und schreit wie besessen: »Hörst du? Er pöpperlet an die Fensterladen. Er will mich holen!« Schrie's und stürzte zu Boden, Schaum vor dem Munde.

Die epileptischen Anfälle der armen, vormals, wie wir sahen, mehr als billig genußsüchtigen Person, waren wiedergekehrt, was bei der Nervenaufreizung, in welcher seit einiger Zeit sämtliche Hausgenossen sich befanden, leicht erklärlich ist. Aber eine solche Erklärung wäre für Heilige viel zu profan gewesen. Hatte die Marget, wie erwähnt worden, nicht schon früher die Krankheiten von Mensch und Vieh für Werke des Teufels ausgegeben? Die Epilepsie der Magd kam ihr jetzt gerade recht, ja, dieselbe war sozusagen eigens für sie gemacht. Denn hatte nicht auch Christus Teufel aus Besessenen getrieben? Die Jäggli war vom Teufel besessen, kein Zweifel. Und nicht nur von einem, bewahre, eine ganze Legion von Teufeln wütete in ihrem Leibe. Aber wartet nur, Satanasse, ich will euch zeigen, ich, wer Meister ist und wo der Zimmermann das Loch gemacht hat. Bin ich nicht der wiederum fleischgewordene Christus, ich, das heilige Margetli? Achtung, ihr höllischen Geister! Quos ego!

Latein sprach nun freilich die Heilige nicht, aber im Exorzisieren war sie stark. Sagte sie: »Der böse Geist will mir die Seele der Jäggli entreißen, für die ich mich bei meinem himmlischen Vater verbürgt habe« – so lamentierte die einfältige Magd: »O, bete und kämpfe du doch für meine Seele!« Kam dann die Epilepsie über die Unglückliche und wütete und schäumte sie, daß vier Personen sie kaum zu halten vermochten, so tobte die Heilandin mit ihr um die Wette, tat verzückt, verdrehte die Augen, schlug sich bald auf den Kopf, bald auf die Brust, bald in die Luft, stieß unartikulierte Töne aus oder schrie: »Was, du Seelenmörder, du ins höllische Feuer Verfluchter, willst mir das Schäfli entreißen, für welches ich mich verbürgt habe?« Eines Tages war die Magd die Beute eines besonders heftigen Anfalls. Um das Bett her, auf welchem die Epileptische zuckend sich wand, standen außer der heiligen Marget ihr Vater und ihre Schwestern Elisabeth und Susanna, ferner ihr Schwager Johannes Moser und die Ursula Kündig. »Der Teufel will meine Seele!« tobte die Kranke, worauf die Marget mit so großer Gebärde, als sie aufbringen konnte: »Tröste dich; ich weiß, Christus hat dich auf ewig in seine Hände gezeichnet.« In diesem Augenblick ging dem Johannes Moser ein »ganz neues Licht auf«. Lassen wir ihn das selbst erzählen. »Ich sah Christum und den Satan, der ein großes Buch vor Christo aufschlug und sagte, er habe noch Ansprüche auf die Seele der Jäggli. Das Buch hatte kreuzweise rote Striche auf allen Blättern; das sah ich ganz klar und schloß daraus, daß dieses Buch nichts mehr gelte. Darauf sah ich die Seligen im Himmel, welche das Buch nahmen und in tausend Stücke rissen, daß die Fetzen davonstoben.«W. A. I, 107.

Aber der Satan ließ sich nicht so leicht aus- und vertreiben. Er hatte nun einmal, trotz der Vision des erweckten Moser, seinen Sitz unter dem Dache des Judenschießers aufgeschlagen und peinigte da männiglich und weibiglich mehr oder weniger. Es galt daher, den Feind mit aller Macht anzugreifen. Die Beschwörungs- und Verzückungsszene, der wir soeben anwohnten, war nur eine Plänkelei, welche der großen Schlacht voranging. Brauche ich dem Leser zu sagen, daß die Heilige diese Schlacht nicht schlagen wollte, ohne ihren »ewiggeliebten« Jakob zur Seite zu haben? Brieflich von ihr aufgefordert, ohne Säumen zu kommen, gürtete sich der gehorsame Jakobus sofort zur Reise und traf Samstag den 8. März 1823 in Wildisbuch ein.

Zwölftes Kapitel.

Die großze Schlacht gegen Satan.

Alles zusammengehalten, könnte bei Betrachtung des weiteren Gebarens und Beginnens unserer Heldin die Frage gestellt werden, ob sie überhaupt zu dieser Zeit soweit ihrer Sinne mächtig gewesen, daß von freien Entschließungen bei ihr noch die Rede sein konnte. Ja, man sollte meinen, das Wort, welches Mephisto auf dem Blocksberg zu Faust gesprochen: »Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben« – müßte auch auf die heilige Marget angewandt werden. Denn es hat ganz den Anschein, als wäre sie selbst so gut wie die andern in die ins Rollen gekommene und immer rasender bergab rollende Lawine des Unheils willenlos verwickelt gewesen. Aber doch nur den Anschein. Denn bei näherem Zusehen erkennt man sofort, daß Methode in dem Wahnsinn war, und Methode setzt immer eine nach bestimmter Richtung hin treibende Kraft voraus. Diese treibende Kraft war die fixe Heilandsidee der Marget, aus welcher heraus sie das ganze groteskkomisch beginnende, aber bald ins Gräßliche umschlagende Passionsspiel planmäßig dirigierte. Auf ihren bestimmten Entschluß, das »Große«, welches sie geweissagt hatte, jetzt wirklich in Szene zu setzen, deutet schon der Umstand, daß sie den Jakob Morf aus Illnau kommen ließ und wahrscheinlich auch den Johannes Moser aus Örlingen. Wenigstens erschien dieser Montag den 10. März in Wildisbuch und beschickte dann auch seinen Bruder Konrad von Hause.

Der Dienstag verging ruhig. Einige der Hausgenossen gingen den gewohnten Geschäften nach, die übrigen hielten sich in der Stube, wo die Marget in stilles Gebet versunken saß. Zuweilen wurde die dumpfe Stille durch die Klagen der Heiligen unterbrochen: »Meine Seele ist bekümmert, aber ich ermuntere mich im Hinblick auf meine baldige Erhöhung.« Oder: »Mein Kampf mit dem Satan ist recht schwer. Er will die Seelen, die ich retten muß, nicht von sich lassen, und doch sind darunter solche, die schon 200 oder 300 Jahre unter seiner Gewalt stehen.« Man kann sich leicht vorstellen, wie aufregend dieses Gebaren auf die sämtlichen anwesenden Margetligläubigen wirken mußte und wie gespannt alle Augen an der Bekämpferin des Teufels hingen. Alle haben ausgesagt, daß sie an diesem und den folgenden Tagen sich kaum Zeit genommen, flüchtigste Mahlzeiten zu halten, und alle haben erklärt, daß sie »Großes« erwarteten. Der fromme Taumel war allgemein, und wenn auch einzelne, wie der alte Judenschießer und sein Sohn Kaspar, in geringerem Grade davon erfaßt gewesen sein mögen, so waren sie doch weit entfernt, den Anordnungen der Tochter und Schwester auch nur das Geringste in den Weg zu legen. Als es Abend geworden, stieg die Heilige in die mehrfach bezeichnete obere Kammer hinauf, und hier gab sie den ihr Gefolgten den Orakelspruch: »Ich sehe den Satan und seinen Erstgeborenen in den Lüften schweben. Sie verbreiten sich in alle Teile der Erde, um sich überall Streiter zu erwecken.« Worauf die Elisabeth, ihrer passiven Rolle müde, einfiel: »Auch ich sehe sie.« Da sich aber die Heilige darauf wieder in ihr mysteriöses Schweigen hüllte, fiel der Vorhang für diesen Tag und alle gingen zu Bette. Die Marget verstand die Kunst der Steigerung, keine Frage. Sie mutete ihren Anhängern nicht zu viel auf einmal zu. Leider geben uns die Akten keinen Aufschluß, was für wildphantastische Träume in dieser Nacht unter des Judenschießers Dach geträumt worden sein mögen.

Am Morgen des folgenden Tages, also Mittwochs, berief die Heilige sämtliche Hausgenossen zu sich in die Kammer. Auf dem Bette sitzend befahl sie, daß alle auf den Boden knien oder liegen und inbrünstig beten sollten, »damit der Herr sie stärke, indem ihr ein großer Kampf bevorstehe«. Das befohlene Ringen im Gebet wahrte bis nach Mittag, worauf alle mitsammen in die Stube hinuntergingen, um »etwas weniges« zu essen. Nachdem dies geschehen, »ergriff es die Marget wieder heftig« und sofort orakelte sie: »Der Herr hat mir geoffenbart, was in Zukunft geschehen wird. Nämlich es wird der Sohn Napoleons in der Gestalt des Sohnes Gottes auftreten und die Welt auf seine Seite zu bringen suchen. Allein er ist nur der Antichrist und wird einen großen Kampf zu bestehen haben. Was aber der Erfolg sein wird, ist mir zur Stunde noch unbekannt. Jedennoch hat mir der Herr versprochen, mir ein geistiges Zeugnis dieser Offenbarung zu geben.«

Und richtig, das versprochene Zeugnis blieb nicht aus, denn »das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.« Der ewiggeliebte Jakob, der Johannes Moser und die Ursula Kündig sahen nämlich, wie der Geist des alten Napoleon in die Margareta Jäggli und der des jungen in die Elisabeth fuhr, worauf die ersterer »ganz die Züge des alten Napoleon annahm, die Elisabeth hingegen ein liebliches, aber dennoch kriegerisches Antlitz erhielt.« Die Elisabeth stand auf und schritt »mit ungewöhnlichen Gebärden wie ein großer Kriegsmann« auf die Heilige los; aber diese bedeutete der Schwester, daß ein böser Geist in dieselbe gefahren, welchem sie ja nicht nachgeben sollte. Darauf kämpfte die Marget »geistig« gegen diesen Feind und überwand ihn glorreich. Die Elisabeth kam wieder zur Besinnung, sagend, daß sie ihrer selbst nicht mehr mächtig gewesen sei, worauf die Heilige: »Sehet, dies alles ist die Erfüllung vom 9. Kapitel der Offenbarung Johannis, wo das Tier aus dem Abgrund steigt, welches auf hebräisch Abbadon und auf griechisch Apollyon heißt.W. A, II, 2, 6. Man sieht, hier war die Oraklerin nicht eben originell. Unzählige Schwarmgeister hatten schon vor ihr den Namen des großen Schlachtenlenkers und Despoten aus dem zitierten Kapitel der Apokalypse herausgelesen, deren Dichter sich rühmen darf, mehr, tausendmal mehr arme Menschenköpfe verwirrt und verrückt zu haben, als sämtliche übrige Poeten der Weltliteratur miteinander. Im übrigen weiß jedermann, daß Napoleon nach seinem Abtreten von der Weltbühne nicht nur, sondern auch nach seinem Tode noch ein Lieblingsgegenstand der populären Mythenbildnerei gewesen. Man muß die Völker mißhandeln, wenn man ihre Phantasie dauernd beschäftigen will. Die Namen ihrer Feinde und Geißeln behalten sie, die ihrer Freunde und Wohltäter vergessen sie. Das ist Volksdank. Und warum auch nicht? Glauben doch die Menschen lieber an einen schwarzen Ahriman als an einen lichten Ormuzd, aus Wahlverwandtschaft, aus intimster Wahlverwandtschaft.

Vom Anbruch des folgenden Tages an kämpfte die Heilige »wieder einen schweren Kampf«, aber ohne Beteiligung der Hausgenossen. Diese wurden erst nachmittags ebenfalls gegen den Satan in die Schlacht geführt. Sie forderte da nämlich alle Anwesenden auf, ihr in die obere Kammer zu folgen, und begaben sich in Prozession dahin die Marget, Elisabeth und Susanna Peter, die Ursula Kündig und die Margareta Jäggli, der alte Judenschießer und sein Sohn Kaspar, der Knecht Heinrich Ernst, der Jakob Morf, der Johannes und der Konrad Moser. Nachdem die Heilige ihren Sitz auf dem Bett eingenommen hatte, eröffnete sie: »Eine in der Nacht erhaltene Offenbarung befiehlt, daß ihr alle mit mir gegen den Teufel streiten sollt, damit dieser Christum nicht überwinde. Ich muß kämpfen, damit eure und so vieler Verdammten Seelen errettet werden. Wohlauf, kämpfet auch ihr mit mir! Doch vor allem werfet euch nieder auf eure Knie und Angesichter, um zu beten.« Und siehe, es geschah also, und Männer und Weiber warfen sich nieder auf ihre Knie und Angesichter und schrien zum Herrn im stillen. Derweil die Heilige wieder von ihrem Bettthron herab: »Die Stunde ist da, wo es gilt, den Satan zu bekämpfen, auf daß Christus seine Kirche sammeln kann, wider den Antichrist zu streiten. Wann nämlich Christus seine Kirche versammelt hat, wird nach 1260 Tagen, laut der Offenbarung Johannis, der Antichrist in menschlicher Gestalt hervortreten und mit lieblichem Wesen und mancherlei Überredungskünsten die Menschen zu verführen trachten. (Bei diesen Worten spürte der Johannes Moser seiner Behauptung zufolge, daß ein »liebliches Wesen« auf ihn »einzuwirken« trachte.) Allein die wahren Christen werden ihm nicht anhangen, sondern Christo getreu bleiben.« Nach einer Pause: »Der Antichrist ist geistig schon unter uns.«

Sprach's, sprang mit einem Satze vom Bette herab, schnaubte heftig, verwarf die Arme, verdrehte die Augen, schrie wiederholt: »Du Schelm, du Seelenmörder!« schlug mit der Faust auf die Tröge und Stühle, ergriff einen daliegenden Hammer und schlug damit wie ganz verzückt und verrückt auf die Kammerwand los. Da drinnen also steckte der Teufel, wie er denn überall steckt, wo der menschliche Wahn ihn haben will. In der Wand des Wildisbucher Bauernhauses gerade so, nicht mehr und nicht minder, als in den armen »Ketzern« der Niederlande, aus welchen Karl V. mittels seines bluttriefenden »Religions«-Edikts v. J. 1550 ihn austreiben zu wollen geruhte.

Sahen da die Margetligläubigen dem klopfenden Hantieren ihrer Heilandin mit frommem Staunen zu. Aber auf die arme epileptische Hausmagd wirkte das Gebaren der Heiligen aufreizend. Sie verfiel in ihre »Gichter«, drehte sich wie ein tanzender Derwisch, schlug um sich wie toll und schrie: »Der Teufel steht vor dem Fenster und will herein!« Und wieder die Marget: »Ich sehe im Geiste den alten Napoleon mit großer Macht wider mich ziehen. Es wird einen harten Kampf kosten. Ihr müßt euch alle wehren bis aufs Blut! Geht, eilt, holt Äxte, Beile und was ihr der Art finden könnet, herbei! Verrammelt die Haustüre, verhängt die Fenster in der Kammer und in der Stube mit Tüchern und schließt die Fensterladen!«

Während diese Befehle eilends von etlichen vollzogen und die verlangten Hiebwaffen herbeigeholt wurden, sah der in der Kammer zurückgebliebene Johannes Moser »eine unaussprechliche Klarheit, daß keine Engelzunge es ausdrücken könnte«. Bevor er von dieser Erscheinung zu reden vermochte, tat die Heilige die Frage an ihn: »Siehst du den himmlischen Vater?« Worauf der Moser schluchzend: »Ich muß weinen vor Freude.«W. A. I, 107. Die Aufregung war also bereits zur visionären Ekstase hinaufgesteigert.

Es war abends fünf Uhr, als die verlangten Waffen heraufgebracht wurden. Die Heilige saß wieder auf dem Bette, rang die Hände, betete und rief dann aus: »Kämpfet für Christus und laßt das Leben für ihn! Der letzte große Kampf mit dem Teufel naht heran. Helft mir kämpfen mit verstärkter Kraft, damit Christus in mir nicht überwunden werde. Schlagt zu, haut zu, auf den Boden, auf die Wand! Dies ist der Wille Gottes! Schlagt zu, bis ich euch aufhören heiße. Haut zu und lasset euer Leben!«

Das Lassen des Lebens hätte allerdings dem einen oder andern der guten Leute begegnen können in der unerhörten und tumultuosen Schlacht gegen Satan, welche jetzo losbrach. Denn in wildem Gedränge hieben und stießen die Rasenden, alle, alle, mit Ausnahme der Heiligen, mit Beilen, Keilen und Harken auf den Boden und die Wände der Kammer los, volle drei Stunden lang. Ein großes Wunder geschah dabei allerdings, nämlich daß den Sinnlosen nicht das Haus über den Köpfen einstürzte. Die Marget behauptete fortwährend ihren Sitz auf dem Bette, von wo aus sie die Schlacht lenkte, indem sie von Zeit zu Zeit in das Getöse hineingellte: »Haut zu, er ist ein Schelm, ein Seelenmörder! – Schlagt zu in Gottes Namen und wehrt euch bis aufs Blut! – Laßt euer Leben für Christus! Wer sein Leben in Christo verliert, wird es gewinnen; wer es behalten will, wird es verlieren! – Schlagt zu, bis ihr Blut schwitzt! – Seht ihr ihn hier, dort, da, den Seelenmörder? Auf ihn! Haut zu! Schlagt zu!« Als Echo fistulierte die Elisabeth: »Schlagt zu! Er ist ein Schelm und ein Mörder, er ist der künftige Antichrist, der junge Napoleon, der mich hat geistig verführen wollen.«

So ging in eintönigem Tumult die Schlacht fort, drei Stunden lang, wie schon gesagt. Eine Staubwolke, dicht zum Schneiden, erfüllte die Kammer. Die Kämpfer und Kämpferinnen dampften wie Ofen, und in Strömen rollte der Schweiß an ihnen herab. Wollten sie einen Augenblick ermatten, so feuerte die Stimme der heiligen Schlachtlenkerin sie zu neuen Anstrengungen an. Ja, sie hielten sich wacker, keine Frage, und seitdem die Menschen den Teufel sich eingebildet haben, ist er, rechne ich, nie und nimmer so heldenmütig und energisch bekämpft worden, wie an diesem gesegneten Donnerstag, den 13. März 1823, im Hause des Judenschießers zu Wildisbuch im Kanton Zürich. Der Kampf des ingeniösen und gloriosen Kaballero de la Mancha gegen die Windmühlen, was ist er, verglichen mit diesem Kampf? Wenig, sehr wenig, kaum der Rede wert. Warum, o großer Cervantes, Genius des Humors, hast du deine Menschwerdung nicht bis ins neunzehnte Jahrhundert verschoben? Du wärest dann nach Wildisbuch gewandert und hättest uns, die große Satansschlacht schildernd, statt meines trockenen Referats ein glänzendstes Kapitel aus der Geschichte der menschlichen Narrheit gegeben, ein glänzenderes noch als jenes, wo dein Don Quichotte so heldisch gegen Schafe und Schöpse angeht. Aber du lächelst bitter, Seliger, und meinst: Nichts von Schöpsen und Schafen! Es kommt nichts dabei heraus, sie zu befehden. Mein armer Idealist von Held erfuhr das, und ihr, arme Don Quichottes des neunzehnten Jahrhunderts, habt es auch erfahren, hör' ich. Die Schöpse haben Hörner, und die Schafe haben eine noch viel unbesieglichere Waffe, ihre Dummheit, ihre schäfige Schafedummheit.

Riegelwände und Bretterbuden sind aber weniger dauerhaft als der Teufel, und so geschah es denn, daß der Kammerboden in Trümmer ging, welche mit lautem Gekrach in die unter der Walstatt befindliche Stubenkammer hinabstürzten. Die mutigen Kämpfer mußten sich mühsam auf den noch aushaltenden Querbalken balanzieren, setzten aber den Streit dennoch fort. Ein Teil der Kammerwand barst vor den wütenden Schlägen und fiel in den Hofraum hinab, allwo eine Menge Volkes gaffend stand, durch den greulichen Rumor, welcher seit Stunden in dem Hause des Judenschießers tobte, nicht nur aus Wildisbuch selber, sondern auch aus den benachbarten Dörfern herbeigelockt. Kaum hatte die Heilige durch die Mauerlücke hindurch diese Zuschauermenge im Zwielicht des unerhörten Polterabends drunten erblickt, als sie aufschrie: »Das ist des Teufels Heer! Aber fürchtet euch nicht, und ihr werdet es überwinden!« Und siehe, fortwütete die Schlacht, bis die Streiter und Streiterinnen vor Übermüdung sich nicht mehr aufrecht zu erhalten vermochten. Jetzt endlich gab die Marget mit den Worten: »Christus hat überwunden!« das Signal zum Abbrechen des Gefechts und befahl den Atemlosen, gänzlich Ermatteten, ihr in die Wohnstube zu folgen.

In diesem engen Raume, dessen Fenster von außen mit den Laden verwahrt und von innen mit Tüchern verhängt waren, sollte beim dürftigen Schein einer Unschlittkerze der Kampf fortgesetzt werden, aber mit etwas veränderter Taktik. Ganz unbekümmert um die vor dem Hause lärmende Menge der Neugierigen und streng untersagend, den Einlaß Begehrenden zu öffnen, befahl die Heilige zunächst, daß sich alle zu Boden werfen sollten, um Gott für seinen Beistand zu danken. Dann, nach einer Weile von etlichen Stunden, begann ein neues Spiel, und daß es beginnen konnte, beweist, was alles die Menschen zu ertragen vermögen, wenn sie von heiliger Torheit besessen sind. Man hat später gemeint, die ganze faselnde Rotte müßte von Wein oder Branntwein berauscht gewesen sein, um diese frommen Übungen so lange ausführen und aushalten zu können. Allein ganz mit Unrecht: ihre Magen waren ebenso völlig nüchtern wie ihre Köpfe völlig trunken.

Die Marget, in der Mitte der am Boden Liegenden aufrecht stehend, forderte diese auf, sich mit den Fäusten auf Kopf und Brust zu schlagen, was sofort geschah. Die Elisabeth heulte: »Schlag du mich, Margetli! Ich will gerne sterben für andere Seelen.«W. A. II, 4. Antw. a. d. Fr. 26. Sofort schlug die Heilige auf ihre Schwester los und zwar so unsanft, daß die Geschlagene vor Schmerzen ächzte. Worauf die Marget: »Das ist der Zorn Gottes!« Wunderlich, sowie der Mensch dem Tier in ihm Raum gibt zu bestialischer Äußerung, muß der alte Moloch-Schaddai herhalten mit seinem »Zorn«. Während die schreckliche Wiedertäufertragödie zu Münster spielte, waren in einer Februarnacht des Jahres 1535 sieben Männer und fünf Weiber zu Amsterdam in einem wiedertäuferischen Konventikel versammelt. Plötzlich warfen sie, »vom Geist getrieben«, ihre sämtlichen Kleider ab und rannten nackt in die kalte Winternacht hinaus, durch die Straßen schreiend: »Wehe, wehe, wehe! Das ist der Zorn Gottes, der Zorn Gottes!« Eingefangen, weigerten sie sich, ihre Kleider anzuziehen, behauptend: »Wir sind die nackte Wahrheit!« Moral: im großen Buch der menschlichen Narrheit mangelt es nie an Parallelstellen.

Derweil ließ drinnen in der Stube die Heilige ihre Blicke umhergehen, achtsam, ob die Fäuste der Ihrigen auch richtig und tüchtig ihre Schuldigkeit täten. In zweifelhaften Fällen half sie eigenhändig nach. So sagte sie, als der Judenschießer lässig schien im Selbstpeinigungswerk, vorwurfsvoll: »Vater, du schlägst dich nicht genug!« und ließ ihre Fäuste auf ihm spielen. Der mißhandelte Greis stöhnte, aber die heilige Tochter fuhr fort mit Schlagen, sagend: »'s ist nur dein alter Adam, der nicht weichen will. Es tut dir nichts.« Er nahm es geduldig hin. Das herabgebrannte Licht erlosch, und in der Dunkelheit ging das Fäustegepoche, das Rufen, Stöhnen und Ächzen in der dampfenden Stube fort und fort.

Dreizehntes Kapitel.

Profaner Zwischenakt.

Ein großer Tag in der Weltgeschichte von Wildisbuch, dieser 13. März von 1823, sehr ein großer! In den Nachmittagsstunden summte das sonst so stille Dörfchen wie ein aufgestörter Bienenkorb. Weiberjüppen fegten durch die Gassen, lebhaft winkend und deutend. An allen Häuserecken, vor allen Stalltüren geflügelter Umsatz von Fragen und Antworten. Kinder-, Frauen- und Männerzungen in gemeinsamer und energischer Tätigkeit. Staunen, Starren, Feixen und Lachen an allen Ecken und Enden. Weiter sonst keine Teilnahme, denn des Judenschießers Haus stand ja sozusagen außerhalb der Gemeinde, wenn auch mitten im Dorfe, wißt ihr?

Gegen Abend zu hatte sich die ganze Bevölkerung um das Petersche Haus hergedrängt, lauschend, wie da drinnen der große Teufelskampf mit Gepolter wütete. Das Getöse im Innern kontrastierte seltsam und unheimlich mit den versperrten Türen und verschlossenen Fensterladen, »'s ging da drinnen zu wie in ere Judenschul' oder in ere Mördergrub',« hat mir mein Freund, der alte »G'meindspräsident« erzählt, der auch mit dabei gestanden, als er noch nicht alt und noch nicht Gemeindepräsident war. Drang da heraus ein Gedröhn wie von vielen heftigen Schlägen und Stößen, dazwischen Geschrei und Gestöhn und ein wuselndes Durcheinander von Stimmen. Konnte man aber nur einzelne Ausrufe verstehen, als da waren: »Haut zu! Er ist ein Schelm! – Betet an alle Heiligen! Betet an alle Propheten! Betet an alle Seraphim! – Schlacht zu! Er ist ein Mörder! – Erlöse uns!« Aber warum, fragt' ich meinen Wirt, hat man denn die verrammelte Haustüre nicht ohne weiteres aufgesprengt? »Warum? Darum, Herr, weil neime mit dem Judenschießer sei'm Zug (Zeug) niemand nüd z' tun wollt' haben.« Ein ausreichendes Argument, wenigstens in bäuerischen Augen. Übrigens auch ein leicht erklärliches, denn es war wirklich in keiner Weise ratsam, sich in die Angelegenheiten des Judenschießers und der Seinigen zu mischen. So, wie wir die Bauern kennen, war es zudem durchaus keine Unmöglichkeit, daß dieser oder jener der Umstehenden bei sich dachte: »'s scheint, sie morixeln dadrinnen einander. Aber was schad't's? Dann sind wir das ganze Dunderspack los.« Endlich muß auch noch gesagt werden, daß der germanische Bauer überall, wo er seine natürliche Natur bewahrt hat, einen tiefen Respekt vor dem Hausrecht hegt und Eingriffe in dasselbe weder gern duldet noch begeht.

Es existiert aber in dieser Welt ein Ding, welches in betreff des Hausrechts Ansichten hat, die den bäuerischen diametral entgegengesetzt sind. Das ist die Polizei, und diese nun sollte zunächst ihre profane Nase und im weiteren ihre noch profaneren Hände in die Mysterien stecken, welche unter dem Dache des Judenschießers tragiert wurden. Leider, leider hat sie ihre Hände nur allzu früh wieder zurückgezogen. Es gibt Augenblicke im Menschenleben, wo selbst die Polizei zu gelind und zu human sein kann. In Wahrheit, hier war sie einmal zu gelind, zu human, was sehr aufgezeichnet zu werden verdient.

Führte nämlich der Zufall einen der Trabanten nicht des Landpflegers Pilatus, aber des Landpflegers von Andelfingen, sonst Oberamtmann Schweitzer geheißen, nach Wildisbuch, wo er die ganze Bewohnerschaft vor dem Haufe des Judenschießers versammelt fand. Kam gerade, als der Boden der oberen Kammer in die untere und ein Teil der Kammerwand in den Hof heruntergestürzt war. Besagter Trabant, Landjäger Isler, tat, was unter obwaltenden Umständen seines Amtes war. Nachdem er von dem versammelten Männer-, Weiber- und Kindervolk, dessen Menge im Verlaufe des Nachmittags durch Zuzug aus Rudolfingen, Benken, Trütliton und Schlatt bedeutend verstärkt worden war, vergebens Aufschluß über das polternde Phänomen zu erlangen versucht hatte, legte er seine klopfende Polizeihund an das Haus und klopfte so lange, bis etliche der entbrannten Kämpfer drinnen endlich gewahr wurden, daß sie es noch mit einem anderen als dem Satan zu tun hätten. Der alte Judenschießer und sein Schwiegersohn Moser erschienen, nicht am Fenster, vermut' ich, sondern an der Bresche in der Kammerwand. Der profane Diener der öffentlichen Sicherheit unten: »Was Dunderhagelstralchaibs geht denn da für? Ihr, ewigen Grüsel, was macht ihr denn? Tut das Haus auf, sag' ich!« Der al'e fromme Judenschießer oben: »Was da vorgeht, geht Euch nichts an. Das Haus ist mein Haus. Ohne daß Ihr mir einen schriftlichen Befehl vorzeigt, tu' ich nicht auf.«

In einem Lande wie die Schweiz, welches so unglücklich ist, von den Staatsprinzipien der Junker des Hinteren und hintersten Pommern nichts wissen zu wollen, sind auch die Landjäger genötigt, mit den Leuten mehr oder weniger manierlich umzugehen. Selbst unter dem aristokratischen Regiment, wie es zur Zeit unserer Geschichte noch im Kanton Zürich bestand, waren sie schon mehr oder weniger dazu genötigt. Statt also so oder so den Eingang in das verschlossene Haus zu erzwingen, begnügte sich die bewaffnete Macht – vermutlich allerdings unter Vorbringung diverser Flüche – das Haus, in welchem das Treffen gegen den Teufel noch immer tobte, mit vigilierenden Blicken anzusehen und einen Boten nach Rudolfingen hinabzusenden, welcher dem dortigen Gemeindeammann das erstaunliche Abenteuer melden sollte. Der Gemeindeammann hielt es nicht für geraten, seine Finger in diesen Brei zu stecken, sondern machte dem Oberamt Andelfingen Meldung von der Sache. Alsobald entsandte Herr Oberamtmann als seinen Vortrab zwei Landjäger nach Wildisbuch und brach dann selber mit Sekretarius und Weibel nach der Kohlfirst auf.

Ein pflichteifriger Mann, der Herr Oberamtmann. Etwas efeuartig rauhhaarig anzufassen, sagt man, aber sonst ein gutmütiger Polterer aus einem Ifflandschen Familienstück. Er soll in dringlichen Fällen ohne viel Federlesen durchgegriffen haben; leider hat er aber den Wildisbucher Knäuel nicht zeitig und fest genug gepackt. »Ungefähr um zehn Uhr nachts« – berichtete er unterm 16. März an das kantonale Polizeiamt in Zürich – »langte ich in Wildisbuch an und vernahm, daß der Lärm im Peterschen Hause gänzlich aufgehört habe, daß alle Lichter ausgelöscht seien und sich niemand mehr hören lasse. Ich fand desnahen für zweckmäßig, diese Ruhe nicht zu unterbrechen, sondern einstweilen mit Bewachung des Hauses mich zu begnügen und nähere Erkundigungen einzuziehen.« Man sieht, der Herr Oberamtmann dachte: »Leben in einem freien Lande. Geht daher nicht wohl an, nachtschlafenderweise in ein ruhiges Haus einzubrechen.« Wohl, dachte so und begab sich in die Stube von des Judenschießers nächstem Nachbar, Felix Peter, so mir recht ist, Vater unseres guten Bekannten, des Gemeindepräsidenten im Zwillich-Tschopen.

Hier erhielt der Oberamtmann um Mitternacht von seinen auf Posten stehenden Landjägern die Meldung, daß der Lärm beim Judenschießer abermals begonnen habe, jedoch »ohne Gepolter«. Der Beamte verfügte sich hinüber, gefolgt von seinen Leuten und einer Anzahl Wildisbucher Bürger. Aus der dunkeln Wohnstube des Judenschießers drang ein Wirrsal von Männer- und Weiberstimmen auf die Gasse, und konnte man die Rufe unterscheiden: »Allmächtiger Gott, hilf uns! – Erlöse uns! – Hau zu! – Erbarme dich! – Er ist ein Schelm! – Er ist ein Mörder! – Siehst du ihn da?« In diese Ausrufungen hinein fielen Schläge, »wie auf weiche Körper«. Mein Herr Oberamtmann ließ jetzt den Weibel an die Haustüre und die Fensterladen klopfen und Einlaß begehren. Als aber diese wiederholten Aufforderungen gänzlich unbeachtet blieben und das Gelärme drinnen fortging, gab er Befehl, die Haustüre einzusprengen. Es geschah, aber die Türe zur Wohnstube blieb von innen versperrt. Der Beamte besichtigte nun zunächst die Zerstörung im oberen Stockwerk. Hierauf gab er seinem Bericht zufolge dem Amtsweibel den Befehl, neuerdings bei den Stubenfenstern die Aufforderung zur Öffnung der Stubentüre zu wiederholen und, insofern ihm keine Antwort erteilt werde, eine Scheibe des Fensters zu zerbrechen und mit einem Lichte durch selbiges in die Stube zu leuchten. So geschah es, allein der Lärm und die Ausrufungen dauerten fort. »Ich begab mich nun auch vor das eröffnete Fenster und bemerkte zunächst vier bis fünf Männer, welche die Stubentüre zudrückten; dann ein anderes Mannsbild, welches wie tot der Länge nach auf dem Bauche am Boden lag; weiterhin eine Gruppe Manns- und Weibsbilder auf- und übereinander am Boden liegend; bei selbiger eine Weibsperson auf den Knien, welche mit der Hand auf die andern zuschlug und bei jedem Streich rief: Erbarme dich! Erbarme dich! Endlich neben dem Ofen eine zweite solche Gruppe.« Jetzt ließ der Beamte nach Erschöpfung aller friedlichen Mittel die Stubentüre mit Gewalt öffnen. Dem Konrad Moser, welcher sie dem Oberamtmann hatte auftun wollen, war dieses von der Heiligen mit den Worten: »Wie, willst du denn dem Teufel öffnen?« verwehrt worden. »Die Männer« – fährt der oberamtliche Bericht fort – »widersetzten sich, aufgefordert von den Weibern, dem Eindringen der Landjäger – (bei welcher Gelegenheit der Johannes Moser einen Säbelhieb auf den Kopf abbekam) – die Weibsbilder fuhren immer mit ihrem Geschrei fort, sonderheitlich zeichnete sich die ›heilige Marget‹ aus, welche auf den Knien blieb und auf ein anderes auf dem Bauche am Boden liegendes Weibsbild immer mit der Hand zuschlug. Eine zweite Gruppe bestand aus zwei Männern und zwei Weibsbildern, welche ebenfalls auf dem Boden lagen, so, daß bald der Kopf des Weibes auf dem Körper des Mannsbilds, bald der Kopf des Mannes auf dem Leib des Mädchens ruhte. Die übrigen erhoben sich nach und nach vom Boden. Ich wollte durch Vorstellungen die Leute zur Stille bringen, allein der Lärm blieb gleich. Ich befahl desnahen, den alten Peter aus der Stube herauszunehmen, allein Männer und Weibsbilder widersetzten sich und klammerten sich an selbigen an, obschon ihnen versprochen wurde, daß niemandem etwas Leides geschehen sollte. Endlich brachte man den Alten aus der Stube, alle hingen sich an ihn, zogen ihn zu Boden, machten einen Kreis um ihn und lagen durcheinander, alle umschlungen. Ich wiederholte meine Vorstellungen und verlangte Stille, allein nichts half. Wenn der alte Peter antworten wollte, sagte die heilige Marget: ›Vater, gib keine Antwort und bete!‹ Alle fingen dann wieder ihren verwirrten Lärm an. Die Marget: ›Laßt uns sterben! Ich lasse mein Leben wie Christus!‹ Andere: ›Gott erlöse uns!‹ Wieder andere: ›‹Herr, erbarme dich unser!‹W.A. I,2

Die Szene, welche sich in der Stube nach gewaltsamer Eröffnung der Türe darstellte, wirkte selbst auf die Wildisbucher Bauersleute, die doch etwas vertragen können, drastisch, bis zum – Erbrechen. »Sie lagen alle auf einem Klumpen« – hat mir mein mehrerwähnter mündlicher Berichterstatter, ein Augenzeuge, erzählt – »und es brudelte da ein Dunst heraus, ein Dunst von Staub und Schweiß zum Ersticken. Man hätt' sich nur alsograd übergeben sollen. 's ist schüli (abscheulich) g'si, schüli, über alle maßen schüli und grüsli!« Der Johannes Moser blutete aus der erhaltenen Kopfwunde, wollte sich aber nicht verbinden lassen, sondern rief seinem um ihn besorgten Bruder triumphierend zu: »Laß bluten, ich leide gern um Christi willen. Es bringt mir Ehre!« Die Weiber wurden in die Küche hinausgezerrt und wurde bei dieser Manipulation allerdings nicht ganz säuberlich mit ihnen verfahren. Die »Chnaben« von Wildisbuch, seit lange der ganzen »Judenschießerei« aussätzig, scheinen sich dabei mehr als einen bäuerischen Jux gemacht zu haben. Mein Augenzeuge wollte in betreff dieses Punktes nicht recht mit der Sprache heraus. Es steht aber fest, daß einige der Weiber sogar an den Beinen aus der Stube in die Küche geschleppt und bei diesem Aktus überhaupt so angefaßt worden sind, daß die Ehrbarkeit weniger als billig berücksichtigt ward. Hieran, sowie an den Umstand, daß der heiligen Marget, als sie sich wahrend des Ringens der Überfallenen mit den Landjägern an ihren Vater klammerte, das Busentuch bedenklich losgegangen, spann die populäre Mythenbildnerei den Lügenfaden, sämtliche Mitglieder der fanatischen Rotte, Männer und Weiber, seien, als man sie überraschte, splitternackt beisammen in der Stube gewesen. Eine ganz und gar unwahre Beschuldigung! Wir müssen, gestützt auf die Akten, überhaupt bemerken, daß im ganzen Verlauf unseres Passionsspiels, soweit es unter dem Dache des Judenschießers spielte, von dem unzüchtigen Dienste der Baaltis nicht die leiseste Spur sich findet. Baal-Moloch waltete da allein und ausschließlich.

Der Herr Oberamtmann verzweifelte daran, während der Nacht noch Ordnung in dieses Chaos zu bringen, und begab sich wieder in das Nachbarhaus hinüber, mit Hinterlassung des Befehls, die ganze fromme Bande bis zum Morgen in der Stube und Küche zu bewachen und nicht zu dulden, daß die Gefangenen laut mitsammen sprächen. Hieran aber kehrte sich die Heilandin wenig. Sie ermutigte ihre Herde im Gegenteil mit lauten Worten und sagte unter anderem: »Nun ist geschehen, was einst in Gethsemane geschah. Die Pharisäer sind gekommen mit Kriegsknechten. Glücklich der Johannes (Moser), daß er verwundet wurden; denn darob freuen sich die Seligen im Himmel,« Dem Knechte Heinrich Ernst, welcher lauten Sprechens wegen von einem wachthabenden »Kriegsknechte« angerunzelt wurde, gab sie den Trost: »Du bist glücklich, daß du um Christi willen Schmach leiden darfst.« Von einer Ernüchterung oder Einschüchterung der Heiligen überall keine Spur. Die Aufreizung ihres Nervensystems war offenbar schon zu einem Grade gediehen, wo nur noch ein ebenso geschicktes als energisches Eingreifen eine Heilung hätte in Aussicht stellen können. Die Identifizierung mit dem leidenden Christus war, wie wir soeben sahen, schon bis auf Nebenumstände herab vollständig. Ihr Vaterhaus war der Unglückseligen bereits zum Gethsemane geworden, warum sollte es ihr nicht auch zum Golgatha werden? So verging die Nacht. Am folgenden Morgen ließ der Oberamtmann die Bewachten einzeln in das Nachbarhaus zum Verhör vor sich bringen. Allein die Verhöre lieferten, wie er selbst bemerkt hat, »nicht viel Wichtiges«. In Wahrheit, weder der Pilatus von Andelfingen noch unser wackerer Pfarrherr, welcher von Trüllikon herübergeeilt war, richteten irgend etwas Belangreiches aus. Die Verhörten benahmen sich, mit Ausnahme der Elisabeth und der Magd Jäggli, welche unaufhörlich behaupteten, »der Teufel wolle sie angreifen«, ruhig und gefaßt oder vielmehr verstockt, wenn nicht trotzig. Der Johannes Moser fabulierte auf gut Ganz-Qualmisch. Der »ewiggeliebte« Jakob Morf war des Dafürhaltens, jeder Mensch trage von Natur böse Geister in sich. Diese müßten durch Gebet und Arbeit entfernt und so der Mensch wiedergeboren werden. Im übrigen könne hierüber die Marget die beste Auskunft geben. Die Ursula Kündig erklärte bestimmt, das Geschehene sei Gottes Wille gewesen. Der alte Judenschießer, befragt, warum er die lange Abwesenheit seiner beiden Töchter vom Hause zugelassen, gab darauf die Antwort, »der Geist Gottes habe sie vom Hause weggezogen, damit sie in der Stille dem Herrn dienen könnten«. In betreff der Satansschlacht vom Tage zuvor gab er die Erklärung ab, er habe das Zerstörungswerk allerdings nicht gern gesehen, aber es sei nun einmal der Wille des Herrn gewesen. Am wortkargsten war die Heilige selbst. Sie sagte nur: »Es war der Wille Gottes!« und weiter nichts. Eine berechnete Schweigsamkeit, ohne Zweifel. Denn kaum aus dem Verhör entlassen, äußerte sie gegen die Ursula und den Knecht Heinrich: »Ich schwieg vor dem Oberamtmann, wie Christus vor Pilatus geschwiegen hat.« Und nach einer Pause setzte sie hinzu: »Die Welt wird mein Werk doch nicht hindern!« Die Weissagung ging vollständig in Erfüllung. Denn in der Tat, die Welt hat das Werk der armen Wahnwitzigen nicht verhindert. Gekonnt hätte sie es, keine Frage, und hier ist der Punkt, wo einmal die Polizei zu mild und zu human Verfahren ist. Das Klügste wäre wohl gewesen, die ganze Blase aufzupacken und ins Irrenhaus zu bringen. Allein Herr Oberamtmann fand nach Beendigung der Verhöre »einstweilen keine andere Verfügung notwendig«, als den Jakob Morf, den Johannes und Konrad Moser, sowie die Ursula Kündig aus Wildisbuch weg und in ihre Heimat zu weisen, wie auch der Peterschen Familie aufzugeben, sich ruhig zu Hause zu halten, und den Hausvater für das Betragen seiner heiligen Tochter noch besonders verantwortlich zu machen.Erst am 16. März erstattete der Oberamtmann über seine am 13. nach Wildisbuch unternommene nächtliche Expedition Bericht an die Kantonalpolizeikommission, welche allerdings sofort anordnete, daß die Marget und die Elisabeth ins Irrenhaus nach Zürich gebracht werden sollten. Trop tard! Damit war soviel wie nichts getan, denn der alte Judenschießer war der Sklave seiner Tochter.

Die mangelhaften Anordnungen des Landpflegers vom Wyland wurden übrigens nur teilweise vollzogen. Die Ursula Kündig ging nicht nach Langwiesen heim, denn die Heilandin befahl ihr, bei ihr zu bleiben, mit dem Drohwort: »Wer mich vor den Menschen verleugnet, den werde ich auch vor Gott verleugnen.« Die arme Ursula wollte lieber Johannes sein als Petrus werden und blieb. Auch der Jakob Morf und die beiden Moser, welche den oberamtlichen Befehl, heimzugehen, befolgten, waren darum keineswegs abgekühlt, sondern jeden Augenblick bereit, einem abermals an sie ergehenden Ruf ihrer Heilandin zu folgen. Der Jakob schlug den Heimweg über Örlingen ein und aß im Moserschen Hause zu Nacht, wobei er und der ältere Moser die Verzückungen der gestrigen Satansschlacht fortsetzten. Beide riefen, dem Zeugnis des Konrad Moser zufolge, einmal über das andere aus: »Ich sehe Jèsum Christum zur Rechten Gottes!« Der Konrad begleitete den Jakob dann noch bis Andelfingen, um dort ein Pflaster für die Kopfwunde seines Bruders zu holen. Auf dem ganzen Wege faselte und haselierte der Jakob immerfort: »Siehst du jene Klarheit gegen Zürich hin? Ich sehe Christum! Ich sehe die Klarheit Gottes!« Der Konrad gab sich redlichste Mühe, diese schönen Dinge ebenfalls zu sehen, und Schönes, Schönstes sah er allerdings, den hellen, funkelnden Sternhimmel. Doch das genügte ihm nicht, und da – so erzählte nachmals der arme gute Junge – »da der Morf so schön redete, wie ich es nie hätte können, glaubte ich, daß dem wohl so sein werde, wie er sagte«.

Vierzehntes Kapitel.

Blut muß fließen.

»Die Welt wird mein Werk doch nicht hindern!« Wenn der Mensch, von einer einschneidenden Wendung seines Lebens überrascht, zu der Überzeugung gelangt, daß es so wie bisher nicht mehr weitergehen könne, daß er demnach seine Partie ergreifen und so oder so ein Ende machen müsse, da erhebt sich sein Wesen häufig zu einer Energie, wie sie, ob aus heißem Enthusiasmus oder aus kalter Verzweiflung entsprungen, gleichviel, im gewöhnlichen Lauf der Dinge über die menschliche Kraft weit hinauszureichen scheint, so weit, daß man geneigt ist, in solchem energischen Tun einen Anhauch von Göttlichem zu spüren.

Heroisch-tragisch und im Untergange triumphierend ist diese Energie, wenn im Dienst einer großen Idee aufgewandt. Dem Leonidas und seinen Spartern bei Thermopylä, dem Demosthenes und dem Kato, welche sich töten, damit jener das Ende der attischen, dieser das Ende der römischen Republik nicht überlebe, den schlichten niederländischen Bauern und Bäuerinnen, welche, durch Alba zum Martertod des Lebendigbegrabenwerdens verdammt, Jubelpsalmen singen, bis die auf sie herabrollende Erde ihnen den Mund verschließt, dem alten russischen Wachtmeister, der am I7. November 1812 bei Krasnof sich bahnbrechend in die Bajonette eines lange vergeblich attackierten französischen Vierecks stürzt mit den Worten: »Der Handel muß doch einmal ein Ende nehmen!« – dem deutschen Jüngling, welcher, »zugleich ein Sänger und ein Held«, im Streite für die Mutter Germania am 26. August 1813 bei Gadebusch vom Rosse geschossen wird und unter der Eiche von Wöbbelin ruht: – ihnen allen, allen gilt das schöne Dichterwort:

»Wenn wir in urgewalt'gem Streit Die großen Menschen sehn Aus innerster Notwendigkeit Dem Tod entgegengehn, Da möchten wir dem Heldenschwung In des Geschickes Zwang Zurufen mit Begeisterung: Glück auf zum Untergang!«

Anders stellt sich die Sache, wenn wir eine Kraft, die auch vor dem, was allem Gesalbader der Moralisten zum Trotz für den Menschen doch immer das Ungeheuerste bleibt, d.h. vor der Selbstvernichtung nicht zurückbebt, im Dienste eines Irrwahns verbraucht sehen, welchen selbst seine Schrecklichkeit von dem lächerlichen Beigeschmack nicht ganz zu befreien vermag. Hier empfinden wir keineswegs den erhabenen Schrecken, womit das wahrhaft Tragische unsere Seele bis in ihre Tiefen erschüttert. Auch sind Wahnsinn und Aberwitz bekanntlich zweierlei Dinge: ein Lear ist tragisch, aber ein Jan Bockelson nur skurril oder höchstens grotesk. Beim Anblicke solcher Bockelsonfiguren, und würden sie auch mit glühenden Zangen zu Tode gezwickt, können wir unmöglich zu einem reintragischen Mitleid kommen. Es schlägt uns da immer etwas in den Nacken, raunend: Warum erschaudern? Die ganze Geschichte ist ja gar zu albern, gar zu absurd!

Freilich, es gibt auch eine »Ästhetik des Häßlichen«. Wenigstens hat Rosenkranz eine solche geschrieben. Wir erinnern uns im Augenblicke nicht, ob darin auch von der Tragik des Unsinns gehandelt wird; aber so viel ist sicher, daß in dieses Fach der Ausgang unserer Heldin fällt. Zu wirklich tragischer Würde hat sie sich nicht hinaufzuläutern vermocht. Es fehlt in ihrem Untergang der franke, freie Herzschlag des Menschlichen, wie er in ihrem ganzen Dasein fehlte. Eine bedeutend angelegte Natur, aber schon in Kinderjahren durch Einwirkung köhlergläubigen Blödsinns durch und durch gefälscht. Daher hat sie es auch zu keiner gesunden Leidenschaft gebracht, wie solche, solange sie sich im Kreise des Humanen hält, den Menschen entschieden adelt, sondern nur zur jämmerlichsten Sünde, d.h. zum feigen Sündigen inmitten der Angst des Sündenbewußtseins. Der Possen, welchen die Natur der hochmütig gegen sie eifernden Oraklerin spielte, würde komisch sein, wenn er nur nicht so widerlich wäre. Dieser Katzenjammer mitten im Rausch! Ist er nicht noch ekelhafter als alle die haarsträubenden Kynismen beim Petronius und beim Casanova? Und dann diese Sühne! Es ist wahr, sie konnte uns durch den Heroismus bestechen, womit sie durchgeführt wurde, ließe uns dieses Passionsspiel, auch abgesehen von seinen aberwitzigen Einzelnheiten, nur einen Augenblick vergessen, daß wir nur eine tolle Karikatur, eine trübselige Travestie jener erhabenen Tragödie vor uns haben, welche im Ölgarten am Bache Kidron begann und auf der Schädelstätte zu Ende ging. Was bleibt also übrig? Nur der Eindruck einer furchtbaren religionsgeschichtlichen Warnungstafel, welche – wir täuschen uns nicht darüber – das gewöhnliche Schicksal der Warnungstafeln haben wird. Die gedankenlose Menge geht vorüber, ohne darauf zu achten, und dumme Jungen bewerfen sie wohl gar mit Steinen und Kot.

Die sämtlichen vorstehenden Blätter wären vergeblich geschrieben, bedürfte es jetzt noch einer breiten Darlegung der Motive, welche die heilige Marget bestimmten, ihr »Werk« zu vollenden. Ich nehme daher den Faden der Erzählung wieder auf.

Wir sahen, daß unsere Heldin in dem Verhör, welchem sie der Oberamtmann von Andelfingen am Freitag (14. März) unterwarf, sich ganz so zu stellen versuchte wie Christus gegenüber dem Landpfleger von Judäa. Aus dem Nachbarhaus in das väterliche zurückgekehrt, tat sie die erwähnten Äußerungen gegen die Ursula und begab sich sofort wieder in die Kammer hinauf, deren zerstörter Boden mittels über das Gebälke gelegter Bretter wieder gangbar gemacht worden war. Sie setzte sich auf das Bett und »kämpfte im stillen«. Die Elisabeth, die Susanna, die Ursula und die Hausmagd saßen und standen um sie her und beteten. Gegen acht Uhr abends kamen der alte Judenschießer, sein Sohn Kaspar und seine aus Trüllikon herübergeeilte Tochter Barbara, sowie der Knecht Heinrich herauf, und die ganze Versammlung verwachte die Nacht fastend und betend in der Kammer. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß diese Nachtwache nur dazu dienen konnte, die krankhafte Aufspannung der armen Leute noch mehr zu steigern.

Es wurde auch während dieser Nacht keineswegs nur »im stillen gekämpft«. Schon am Abend machte die Heilige die Eröffnung: »Der letzte Kampf steht nun bevor. Der Seelenfeind hat seine ganze Macht aufgeboten. Helft mir kämpfen, sonst ist alles verloren.« Daraufhin baten die Hausmagd und die Elisabeth, die Heilige sollte sie wieder schlagen wie in der vorhergegangenen Nacht. Das verhinderte jedoch die Ursula, weil sie wußte, daß die Elisabeth infolge der früher auf ihren Busen gefallenen Streiche heftige Brustschmerzen habe. Gegen Morgen zu stellte sich die Marget auf das Bett und rief aus: »Ich sehe die vielen Seelen, die mich um Erlösung anflehen. Diesen muß geholfen werden. Gäbe mir Christus ein Schwert, wollte ich für dieselben kämpfen.« Dabei machte sie Bewegungen mit dem Arm, »als führte sie wirklich ein Schwert in der Hand«. Dann, als der Tag dämmerte, äußerte sie: »Das Lamm hat überwunden, Christus hat überwunden. Geht nun an eure Arbeit.«

Die Ruhe, wenn es überhaupt eine war, währte jedoch nicht lange. Kaum war es völlig Tag geworden (Samstag, den 15. März), als die Heilige befahl, die beiden Moser und die Schwester Magdalena aus Örlingen herbeizurufen. Warum nicht auch an den »ewiggeliebten« Jakob abermals ein Ruf erging, ist unausgemittelt. Vielleicht geschah es nur deshalb nicht, weil Illnau zu weit entlegen war. Es drängte die Unselige offenbar, zu Ende zu kommen. Während der Knabe eines Nachbars die Botschaft nach Örlingen trug, erklärte sie: »Wenn Christus siegen und der Satan völlig überwunden werden soll, muß Blut fließen! Gott hat mir in dieser Nacht große Dinge geoffenbart, die heute geschehen müssen. Die Zeit ist da, wo sich niemand weigern darf, das Leben für Christus zu lassen.«

Gehorsam langten die beiden Moser im Laufe des Vormittags in Wildisbuch an. Eine halbe Stunde später kam auch die Magdalena. Es war ungefähr zehn Uhr, als der alte Judenschießer, seine fünf Töchter, sein Sohn, die beiden Brüder Moser, die Ursula Kündig, die Magd Margareta Jäggli und der Knecht Heinrich Ernst in der oberen Kammer versammelt waren.

Die Marget und die Elisabeth saßen nebeneinander auf dem Bette, diese stumpf vor sich hinstarrend, jene in höchster Exaltation. Mehrere der Waffen, womit die große Satansschlacht am Donnerstag geschlagen worden, lagen noch in der Kammer umher. So ein Hammer und eine eiserne »Bisse«, d. h. ein Keil, wie er beim Zerspalten von Holzklötzen gebraucht wird. Alle Versammelten hatten das Gefühl, daß jetzt Großes, Größtes sich ereignen müßte. Alle waren über die Grenzlinie, wo der gesunde Menschenverstand aufhört und der Wahnwitz anhebt, hinweg, weit hinweg.

Den so fieberhaft Gespannten erklärte nun die Heilige feierlich: »Ich habe mich für viele Seelen verbürgt, die der Satan nicht losgeben will. Unter diesen befindet sich auch mein Bruder Kaspar. Ich kann aber diesen Kampf nicht bestehen, ohne daß Blut vergossen wird.«W. A. II, 2. Antw. a. d. Fr. 10. Zugleich befahl sie, die Anwesenden sollten sich Faustschläge auf Stirne und Brust versetzen, um den Teufel auszutreiben, und vollführte diesen Befehl mit wildem Eifer an sich selber.

Und jetzt hob der Blutopfertanz um den Altar des Baal-Moloch an. Die düstere Kammer des Wildisbucher Bauernhauses wurde zum Tale Ben-Hinnom, um sich zuletzt zum Golgatha zu wandeln, auf welchem unsere Heldin als Opfer blutete, nachdem sie in jenem die Opferpriesterin gemacht hatte – eine ganz eigentümliche Verwirklichung der molochistischen Blutopfertheorie. Wer diese Orgie der Grausamkeit veranschaulichen könnte mit dem tragischen Humor eines Cervantes oder noch besser mit dem infernalischen Genie eines Dante! Aber würde sich nicht ein Cervantes, ja sogar ein Dante mit Ekel von einer Szene abwenden, welcher, wie schon bemerkt, der Pulsschlag menschlicher Leidenschaft abgeht? Mit der stupiden Raserei hat die Kunst nichts mehr zu schaffen.

Nicht der Künstler, nur der Geschichtschreiber ist verpflichtet, mit verhaltener Scham und verbissenem Ekel die Türen der Schlupfwinkel aufzustoßen, wo die Zwillingsschwestern Wollust und Grausamkeit ihre wüsten Bacchanalien begehen. Kein Dichter, aber ein Tacitus hat den Tiberius auf Kapri geschildert.

Die Heilige ergreift die eiserne Bisse, zerrt ihren Bruder Kaspar zu sich hin mit den Worten: »Sieh, Kaspar, der böse Feind will deine Seele!« und versetzt ihm mehrere Streiche auf Kopf und Brust, so daß er an beiden Stellen zu bluten anfängt.

Jetzt hat die molochistische Bestie in der Brust des rasenden Weibes Blut geschmeckt. Sie will darin schwelgen bis zur Sinnlosigkeit.

»Geh, Satan, du Feind des Heils!« schreit sie, immerfort auf den Bruder losschlagend. »Du sollst diese Seele nicht haben, die Christus mit seinem Blut erkauft hat.« Das Opfer blutet stärker. Der alte Judenschießer und der Knecht Heinrich wagen die schüchterne Mahnung: »Aber schlage doch nicht so heftig; 's könnte ein Unglück entstehen.« Sie aber kehrt sich nicht daran. »Seht,« schreit sie wieder, immer zuschlagend, »seht, wie der Teufel seine Hörner aus dem Kopf des Kaspar hervorstrecken will; seht, wie sie zur Brust herauskommen.« Der Kaspar, welcher nachmals ausgesagt hat, es sei ihm vorgekommen, seine Schwester hätte in jener Stunde übernatürliche Kräfte gehabt, so daß er sich durchaus nicht gegen sie habe zur Wehre setzen können, der Kaspar taumelt endlich, einer Ohnmacht nahe, und wird von seinem Vater und der Margareta Jäggli hinausgeführt und zu Bette gebracht. Von da an ist der Judenschießer nicht mehr in die Mordkammer zurückgekehrt, bis das greuliche Passionsspiel zu Ende war. Aber der Alte tat nicht das Geringste, den Fortgang des Opferfestes zu hindern, nicht das Geringste! Er beseitigte sogar eine Störung von außen. Während er sich nämlich drunten in der Stube zu schaffen machte, ward an die Haustüre geklopft. Es war ein Mann aus Dachsen, der Maurer Elias Vogel, welcher Einlaß begehrte. Der Judenschießer, bei welchem in diesem Augenblicke seine Tochter Susanna sich befand, öffnete die Tür nur zur Hälfte und beschied den Mann, dieser könne jetzt nicht eintreten, maßen »der Schröpfer in der Stube sei«.W. A. I, 16. Der Elias Vogel suchte sich in seiner Neugierde, das seit vorgestern zur Fabel der Umgegend gewordene Haus zu sehen, dennoch hineinzudrängen, unter dem Vorwande, Holz kaufen zu wollen. Aber er vermochte seine Absicht nicht zu erreichen, obgleich er die höhnische Frage des Judenschießers, ob er sich etwa auch schröpfen lassen wollte, mit Ja beantwortete. Die Türe wurde ihm vor der Nase zugeschlagen und er verließ das Dorf, teilte aber dem ihm unterwegs begegnenden Landjäger Isler mit, daß er auf den Hemdärmeln des alten Peter und der Susanna Blutflecken bemerkt habe. Der Landjäger scheint die Lüge von der Schröpferei für Wahrheit genommen zu haben, denn er machte weiter nichts daraus und ging seiner Wege.

Derweil war droben der grausame Taumel Schritt für Schritt vom Aberwitzigen zum Gräßlichen vorgeschritten. Wie es scheint, hatten sich, als der verwundete Kaspar weggebracht worden, mit dem Hausvater und der Magd auch die drei Schwestern Barbara, Magdalena und Susanna aus der Opferkammer entfernt, die beiden letzteren jedoch nur zeitweilig. An die Zurückgebliebenen wandte sich nun die Heilige mit den Worten: »Es ist heute ein wichtiger Tag. Lange hat in mir Christus mit dem Satan gerungen. Es muß Blut vergossen werden. Ich sehe meiner Mutter Geist, der mich auffordert, mein Leben für Christus zu lassen.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Und ihr, wollt auch ihr euer Leben für Christus hingeben?« – »Ja!« gaben alle zur Antwort, worauf wieder die Marget: »Nein, nein, ich sehe wohl, ihr werdet euer Leben nicht lassen. Aber an mir ist es, zu sterben.«

Fährt da die Elisabeth auf und schreit: »Ich sterbe gerne zur Rettung der Seelen meines Vaters und meines Bruders. Schlagt mich tot, schlagt mich tot!« Und willig, den Todesstreich zu empfangen, streckt sie sich rücklings auf das Bett und versetzt sich mit einem hölzernen Schlägel einen Schlag auf den Kopf. »Es ist mir geoffenbart, daß die Elisabeth sich opfern soll!« kreischt die Heilige, faßt einen eisernen Hammer und versetzt der Schwester damit einen Streich auf den Schädel. Ein wollüstig-grausamer Kitzel stachelt sie vorwärts und immer tiefer hinein ins Blut. Eine Wut erfaßt sie, nur vergleichbar der Berserkerwut der Malaien auf dem ostindischen Archipel, wenn sie den »Mordlauf« rennen. Sie schlägt mit dem Hammer blind um sich, verwundet den Johannes Moser und die Ursula Kündig und befiehlt diesen beiden, sowie der wieder eingetretenen Susanna, dem Knecht Heinrich und dem Konrad Moser, die Schwester totzuschlagen. Verzweiflungsvoll jammert die Ursula: »Wie kann ich meine Herzensfreundin töten?« – »Du mußt!« tobt die Heilige. »Der Vater im Himmel verlangt dies. Du mußt, wenn du nicht willst, daß der Satan über Christus Meister werde.« – »Ich lasse mein Leben für Christus!« stöhnt die Elisabeth. »Um's Himmels willen, ich kann es nicht tun!« ächzt die Ursula. Und wieder die Heilige: »Du mußt es tun, ihr alle müßt es tun! Ich werde die Schwester wieder auferwecken, wie ich selber am dritten Tage wieder auferstehen werde. Du mußt, Ursula! Gott stärke deinen Arm!«

Als wäre die Raserei der Heiligen, ein höllisches Fluidum, in die anderen hinübergeströmt, werfen sich jetzt alle auf die Elisabeth. Der Johannes Moser hat der Marget den Hammer aus der Hand gerissen und schlägt damit auf die Daliegende los. So tut auch die Susanna mit einem Stemmeisen, der Knecht Heinrich mit einem Brettstück, die Ursula mit der Bisse. In das schreckliche Geschlage hinein kreischt die heilige Furie ihr: »Gott stärke deinen Arm, Ursula! Laß dein Leben für Christus, Elisabeth!« Endlich sinkt die Gemarterte unter einem Streich der Bisse, den die Ursula geführt, mit zerschmettertem Schädel zurück, röchelt, ohne zu zucken, ohne einen Laut des Schmerzes von sich zu geben, noch einmal: »Ich lasse mein Leben für Christus!« und veratmet.W. A. I, 7. 8; II, 1, 2, 4, 5.

Blast die Posaunen, rührt die Zimbeln, schlagt die Pauken, ihr Baalspfaffen, und tanzt den Reigen um euren Molochstier her, daß die feuerfarbenen oder auch die schwarzen Talare fliegen! Der Gott hat ein Opfer empfangen, und schon steht die Opferpriesterin zur Selbstopferung bereit.

Fünfzehntes Kapitel

Am Kreuze

Sprich dem anständigsten Franzosen von der Gloire und er wird Gesten machen wie ein verrückter Tanzmeister und blaguieren wie Horribilikribrifax und Daradiridatumdarides zusammen. Rede mit dem gescheitesten Engländer über das »Holy book« und er wird dir, falls er nicht etwa ein Byron oder Shelly oder Carlyle, als vollendeter Bullochs entgegenbrummen. Aber bewahre mich der Himmel vor Einseitigkeit und Ungerechtigkeit! John Bull ist zwar nach dieser Richtung hin der Ochsige par excellence, aber nicht der einzige, nein, nein. In der ganzen Welt ist für den ungebildeten wie für den gebildeten Pöbel die religiöse Idee leider nur das rote Tuch, welches den Stier in stupide Wut versetzt. Frommsein heißt Hunderten von Millionen Bekennern des Hexeneinmaleins nichts weiter als den Menschen ausziehen. Da aber der Mensch trotz alledem doch nicht über den Menschen hinaus kann, so bringt dieses Experiment so viel dummes Zeug zuwege: in harmlosen Fällen eine Komödie, in schlimmeren eine Tragödie des Unsinns wie unser Passionsspiel.

Wollt ihr mit ansehen, was das Hexeneinmaleins und der Blutopferglaube zu bewirken vermögen, so beschreitet mit mir noch einmal die Schwelle des Wildisbucher Bauernhauses, Entsetzen und Ekel überwindend, wie ich es tue. Ihr seht da einen Vater, welcher mit der Indolenz eines Faultiers in den unteren Gelassen umherdämmert, nicht achtend, daß das Blut seiner Kinder, welches wenige Spannen über seinem Haupte vergossen wird, durch die losen Bodenbretter auf sein Bette herabtröpfelt; ferner eine Schwester, die Barbara, welche auf der Ofenbank brütet, nicht aufgejagt durch die dumpf von oben herabschallenden Mordstreiche; dann eine andere Schwester, die Susanna, welche geschäftig die Treppe auf und ab eilt, um weitere Marterinstrumente nach der Opferkammer zu schaffen, und in dieser selbst ein Mädchen von sanftestem Charakter und tadelloser Sittenreinheit, die Ursula, zur bluttriefenden Schlächterin umgewandelt. Und das alles um »Gottes« willen! Um des alten grimmigen Moloch-Schaddai willen, den sich die Menschen vor uralters aus einer Mischung von Blut und Kot gegossen, um alle die Zeit her ihm zu Ehren sich untereinander zu hassen, zu peinigen, zu würgen. Oder wäre dieser Gottesdienst nicht so fast ein Produkt der menschlichen Dummheit und Gemeinheit als vielmehr eine unumgängliche Folge des ewigen Naturgesetzes? Das Dasein alles Lebendigen, die tierische wie die menschliche Gesellschaft ist nur ein unausgesetzter Krieg aller gegen alle, und die Parole lautet: Fressen oder gefressen werden! Am Ende war jener verschollene Naturphilosoph, welcher meinte, Mutter Erde selbst sei eine grausame, ewig verschlingende und ewig wiederkäuende Bestie, doch nicht ganz so dumm, wie er aussah.

Der Tod hat etwas Majestätisches, Ehrfurcht Gebietendes. Du kannst einem geliebten Toten nicht in das erblaßte Antlitz sehen, über welches der schreckliche Riß zwischen Sein und Nichtsein gegangen, ohne daß ein frommer Schauer dich überrieselte. Aber droben in der Opferkammer gaben nach dem Verscheiden der Elisabeth die heilige Wut und die heilige Einfalt einem solchen Schauer keinen Raum. Die Molochpriesterin ließ den Mördern auch gar keine Zeit zur Besinnung. Ihr Werk mußte ja vollendet werden.

Da saß sie, neben dem Leichnam der ermordeten Schwester, im stieren Auge den Glanz des Wahnsinns, in der Rechten einen blutbefleckten Hammer haltend, schrecklich anzusehen in ihrer unbeugsamen Entschlossenheit, mit dämonischer Energie bis zum letzten Atemzug die Ihrigen beherrschend. Ihr Busen flog, ihr Leib zitterte fieberisch, aber fest und gebietend klang ihre Stimme, als sie jetzt sprach: »Es muß noch mehr Blut vergossen werden. Christus in mir hat seinem Vater für viele tausend Seelen Bürgschaft geleistet. Ich muß sterben! Ihr sollt mich kreuzigen.«W. A. II. 1. Antwort a. d. Fr. 19. Darauf der Johannes Moser und die Ursula schüchtern: »Fordere doch das nicht von uns!« Sie dagegen: »Es ist besser, daß ich sterbe, als daß viele tausend Seelen zugrunde gehen.«

So sprechend schlägt sie sich mit dem Hammer an die linke Schläfe, daß diese zu bluten anfängt. Dann reicht sie den Hammer dem Johannes Moser hin und befiehlt diesem und der Ursula, auf sie loszuschlagen. Beide zaudern einen Augenblick. »Wie,« schreit sie der Lieblingsjüngerin zu, »du willst nichts für Christus tun? Schlag zu, und Gott stärke deinen Arm!« Nun versetzten ihr der Moser und die Ursula etliche Streiche. Das Blut quillt ihr über das Gesicht herab, »Bringt ein Becken!« verlangt sie. Das Gefäß wird gebracht. Sie fängt das strömende Blut damit auf und spricht: »Dieses Blut wird vergossen zur Rettung vieler Seelen.« Dann heischt sie ein Schermesser. Die Susanne eilt, dasselbe von unten zu holen, reicht es dem Johannes Moser und dieser der Ursula. »Mach mir einen Kreisschnitt um den Hals und einen Kreuzschnitt auf die Stirne!« gebietet die Gemarterte, Ursula gehorcht. Das Opfer erträgt die Qual, ohne auch nur mit den Wimpern zu zucken, und äußert: »So werden die Seelen erlöst und wird der Satan überwunden.«

Hierauf erklärt sie mit gehobener Stimme: »Jetzt will ich ans Kreuz geschlagen werden, und du, Ursula, mußt es tun!« – »Ich kann es nicht tun!« schluchzt die Unglückliche. »Wie, du willst es mir abschlagen, Gottes Werk zu tun? Jetzt, da die Stunde naht? Willst du die Seelen auf deinem Gewissen haben, welche unerlöst bleiben, so du die Kreuzigung nicht vollziehst?« – »Aber um Gottes willen, ich muß es tun?« – »Ja, du! Hätte mich die Obrigkeit getötet, so müßtest du es nicht tun. Nun aber ist meine Stunde gekommen, und diese darf nicht versäumt werden. Geh du, Züsi, und hol Nägel herauf und ihr andern rüstet derweil das Kreuz!«

Es wird getan, wie sie befohlen. Die Susanna geht eilends in den Holzschopf hinab, wo der Knecht Heinrich, welchem es in der Opferkammer nicht mehr geheuer gewesen, ganz ruhig Rebenpfähle zuschneidet. Sie heischt Nägel von ihm und teilt ihm mit, zu welchem Zwecke. Er gibt ihr die Nägel und arbeitet weiter. Sie eilt wieder hinauf und findet die heilige Schwester neben dem Leichnam der Elisabeth der Länge nach auf dem Bette ausgestreckt, mit den Armen, der Brust und den Füßen auf Holzblöcken ruhend. Diese in der Kammer umherliegenden Trophäen von der vorgestrigen Satansschlacht haben inzwischen auf Befehl der Heiligen die Brüder Moser und die Ursula möglichst in Kreuzesform auf das Bett gelegt, und hat sich das Opfer gefaßt auf das improvisierte Kreuz hingestreckt.

Die Kreuzigung hebt an, ein Akt der Raserei, welchen man, was die aktiven Mißhandelnden angeht, nur begreift, wenn man erwägt, daß dieselben in dem Zustand einer geistigen Berauschung sich befanden, welcher sie Glauben machte, »die ganze Hölle bräche über sie los«.W. A. I, 108. So beschrieben nachmals die Ursula Kündig und der Konrad Moser ihren Seelenzustand während des Opferfestes. Jawohl, die ganze Hölle! Die ganze Holle der Unkultur und Bestialität, welche der Mensch mit sich herumträgt.

Ein Befehl der Heiligen zwingt der Ursula den Hammer und die Nägel auf. »Kreuzige mich! Kreuzige mich!« Die Hände und die Füße des Opfers werden an das Marterholz genagelt. Wieder will der Kreuzigerin die Kraft versagen. Doch die Gekreuzigte: »Weiter, weiter! Gott stärke deinen Arm! Ich werde die Elisabeth auferwecken und binnen drei Tagen selber wieder auferstehen.« Abermalige Hammerschläge: durch jede der beiden Brüste des Opfers wird ein Nagel getrieben, ebenso durch das linke Ellbogengelenk. »Muß ich denn alles allein tun?« ächzt die Ursula verzweiflungsvoll. Da nimmt ihr die Susanna Hammer und Nägel ab und heftet das rechte Ellbogengelenk der Schwester an das Holz.

Die Gekreuzigte hat ausdrücklich geboten, daß ihr Nägel durch die Brüste getrieben würden. Sie verlor während all der Marter nicht einen Augenblick ihre Fassung. Nie hat ein Indianer am Marterpfahl die erfinderische Grausamkeit seiner Peiniger mit größerem Stoizismus ausgehalten, als dieses Weib die von ihm selbst geleitete Folterung aushielt. Kein Zucken, kein Laut der Klage. Sie mußte ihren Mördern als ein überirdisches Wesen erscheinen, es konnte nicht anders sein; denn was sie duldete, ging über das Maß menschlicher Kraft hinaus, und daß an die Stelle dieser Kraft der furor religiosus, die Berserkerstärke des Wahnsinns getreten sei, konnte den armen betörten, sinnlosen Menschen nicht einfallen.

Eine kurze Pause tritt ein. Der Konrad Moser vor Entsetzen kaum noch fähig, sich auf den Füßen zu halten, preßt die Worte hervor: »Ist es denn noch nicht genug?« Sein Bruder steht am untern Ende des bluttriefenden Bettes mit ins Leere starrenden Augen. Horch, was raschelt da hinter der Wand? Es ist der Satan! Was schwebt dort hinten in der Luft? Es ist der Geist der Elisabeth! Solche Phantome umgaukeln den Fanatiker. In Tränen zerfließend beugt sich die Ursula auf die Gekreuzigte herab. Die Magdalena Moser lehnt, ebenfalls heftig weinend, an einem der beiden Tröge, welche Stellung sie die ganze Kreuzigung über behauptet hat. Die Gekreuzigte aber mit Lächeln: »Ich fühle keinen Schmerz. Seid ihr nur stark, damit Christus überwinde.« Und weiter: »Freuet euch mit mir! Gott im Himmel freut sich auch mit euch.« Und wieder: »Wie eine Gebärende die Geburt des Kindes nicht verschieben kann, so notwendig muß auch mein Tod erfolgen, auf daß die Seelen, welche lange genug in der Gewalt des Satans gewesen, gerettet werden.«

Dann befiehlt sie mit noch fester Stimme, ihr einen Nagel oder ein Messer durch den Kopf in das Herz zu schlagen, und als die Ursula zögert, herrscht sie ihr zu: »Tu, was ich befehle!« Die Ursula ergreift ein auf einem der beiden Tröge liegendes Messer, setzt es der Gekreuzigten an den Schädel und schlägt mit dem Hammer darauf. Aber das Messer krümmt sich. Die Ursula wirft es weg und ruft in Todesängsten dem Konrad Moser zu: »Wie, muß ich auch jetzt wieder alles allein tun? Will mir denn niemand helfen?«

»Schlagt mir den Schädel ein!«

Dies ist das letzte Wort, welches das heilige Margetli gesprochen. In rasender Verzweiflung stürzen sich die Ursula und der Konrad Moser auf sie und zerschmettern ihr, jene mittels des Hammers, dieser mittels eines Stemmeisens, den Kopf. Ein kurzes Röcheln, ein Zucken der ans Kreuz geschlagenen Glieder, und der Greuel ist vollbracht.


Es war 12 Uhr mittags, als das Opferfest zu Ende.

Mit in Tränen schwimmenden Augen umstanden die zwei Männer und die zwei Mädchen, der Johannes und der Konrad Moser, die Ursula und die Susanna, eine Weile das von Blut starrende Marterbett. Dann gingen sie hinunter, zeigten den Hausgenossen den Tod der beiden Schwestern an und riefen dieselben in die Mordkammer hinauf, die Leichen zu sehen. Alle kamen, mit Ausnahme des verwundeten Kaspar, welcher sein Lager nicht verließ. Der gräßliche Anblick tat weder auf den Vater, noch auf die Schwestern, noch auf die übrigen eine besondere Wirkung. War nicht alles nach dem bestimmten Willen und Befehl der heiligen Marget vollzogen worden? Die Marget aber war der wieder fleischgewordene Christus gewesen. Folglich hatte Gott aus ihr geredet. Folglich war, was geschehen, nach dem Willen Gottes geschehen. Folglich war ein preiswürdiges Werk getan worden. Gegen diesen Syllogismus der fanatischen Gläubigkeit hielt keine Rührung und keine Reue stand. Und außerdem, hatte nicht die Heilandin ihre und der Schwester Auferstehung binnen drei Tagen des bestimmtesten geweissagt? Wer hätte daran zweifeln können? Niemand. Auch der alte Judenschießer tat es nicht. Er hatte zwar, als er die furchtbar zugerichteten Leichen seiner Töchter sah, mit einem bedenklichen Kopfruck gemeint, das sei »›ne große G'schicht‹«; aber er gab sich zufrieden und machte den Mördern keinen Vorwurf, auch nicht mit einer Silbe!

Die ganze Rotte ging dann zum Mittagessen in die Stube hinunter. Während droben geschlachtet worden war, hatte die Margareta Jäggli drunten gemütlich gekocht. Außerhalb des Hauses hatte in ganz Wildisbuch kein Mensch auch nur die entfernteste Ahnung von dem vorgefallenen Schrecknis. Nach dem Mittagessen kam ein Landjäger, um von Oberamts wegen von dem Hausvater einen Bürgschaftsschein für seine Töchter zu verlangen. Der Judenschießer beschrieb das verlangte Papier mit den Worten: »Herrn Oberamtmann von Andelfingen bezeuge ich, daß meine Töchter, wenn sie gesund sind, auf jeden obrigkeitlichen Ruf erscheinen werden« – und der Landjäger ging weg, ohne den das Haus erfüllenden Blutgeruch zu merken.

Sonntag, den 16. März mußte sich der Knecht Heinrich zu Pferde setzen, um den »ewiggeliebten« Jakob aus Illnau herbeizuholen. Dieser Getreue mußte doch ebenfalls Zeuge der verheißenen Auferstehung sein, um die selbstverständlich die darauf folgende, ihm schon seit langem in Aussicht gestellte Himmelfahrt sofort mitmachen zu können. Der Knecht tat in Illnau sehr geheimnisvoll und sagte nur, der Mors sollte eilends mit ihm nach Wildisbuch kommen, denn dort geschähen Wunder. Dabei konnte natürlich der Jakob nicht fehlen. Als er aber mit dem Knecht in Wildisbuch angelangt, von der Ursula in der Wohnstube das Geschehene erfuhr, ward ihm schwindlig, und als er dann in die Opferkammer hinaufgeführt wurde, »schwand es ihm ganz«, nämlich das Bewußtsein. Es gab ihm keinen Trost, von der Ursula zu erfahren, daß die Marget »mit der größten Ruhe befohlen habe, wo man ihr die Nägel einschlagen sollte«. Nach einer mit den Hausgenossen unter fortwährendem Gebet verwachten Nacht machte er sich am folgenden Morgen auf den Heimweg und mußte sich, daheim angelangt, zu Bette legen. Der Anblick der Leichname hatte ihn mit Entsetzen geschlagen und krank gemacht. Er konnte nicht an die Auferstehung glauben, und daher war es auch mit der Himmelfahrtshoffnung aus, ganz und gar aus. In seiner Seelenbedrängnis ließ er den Ortspfarrer zu sich bitten und teilte diesem mit, was am 13. und am 15. März im Peterschen Hause zu Wildisbuch vorgefallen. Etwas später bekannte er dem Geistlichen auch das Ereignis vom 10. Januar und was diesem vorhergegangen.

Die übrige Margetligemeinde war keineswegs so verzagt, reumütig und vertrauenslos wie der ewiggeliebte Jakob. In der Nacht vom Sonntag auf den Montag gingen die Ursula und der Knecht Heinrich mit einem Licht in die Mordkammer hinauf und entkreuzigten gemeinsam die Gekreuzigte, indem sie mittels einer Zange die Nägel aus den Wundmalen zogen. Warum, Ursula? »Damit die Marget desto leichter auferstehen könne.« Warum, Knecht Heinrich? »Weil ich gedacht, die Marget könne so angenagelt nicht auferstehen.«W. A. II, 2. Antw. a. d. Fr. 38; II, 4. Antw. a. d. Fr. 35. Der sanctus furor hatte ausgerast, und die sancta simplicitas kam wieder an die Reihe.

Allein allem einfältiglichen Glauben, allem Hoffen, Harren und Beten zum Trotz blieb das erwartete Mirakel aus. Als am Dienstag, dem 18. März, die Mittagsstunde herangekommen und somit die Frist von drei Tagen verstrichen war, ohne daß die Auferstehung der Toten erfolgte, scheint es den Hausgenossen doch allmählich etwas unheimlich geworden zu sein inmitten der Miasmen, welche sich von der Opferkammer aus durch das ganze Haus verbreiteten. Die Katastrophe ließ sich kaum länger verheimlichen. Ein Entschluß mußte gefaßt werden und er wurde gefaßt. Der alte Judenschießer tat seinen Tschopen an, ging nach Trüllikon hinüber und machte dem Pfarrherrn die Anzeige, daß seine Tochter Elisabeth am verflossenen Samstag um zehn Uhr vormittags und seine Tochter Marget um zwölf Uhr gestorben sei.

Sechzehntes Kapitel

Nachspiel

Die Sage will, es sei an diesem 18. März von 1823 im Pfarrhause von Trüllikon einer der bestangerauchten Wort-Gottes-vom-Lande-Meerschäume jener Zeit zerbrochen, maßen unser trefflicher Ehren Simmler, als er auf seinem »Museo« die Kunde vom Wildisbucher Passionsspiel empfing, vor Überraschung und Schrecken die Pfeife der Betrachtung aus dem Munde fallen ließ. Eine Novelle zu dieser Legende behauptete sogar, der würdige Herr habe bei dieser Gelegenheit eine Redensart verlauten lassen, ob welcher pfarrhäusliche Wände von Rechts wegen sich entsetzen müßten. Besser verbürgt und aus dem Gebiete des Mythus unbedenklich auf das der Geschichte herüberzurücken ist die mündliche Überlieferung, daß der »hochgeachtete« Pilatus von Andelfingen am 19. März beim Empfang der Nachricht vom Tode der heiligen Marget und ihrer Schwester mit beiden Händen hinter die Ohren fuhr, sich auf dem Absatz herumdrehte und den weltberühmten Züribietschen Nationalfluch: »Donnerhagel!« recht rücksichtslos fliegen ließ. Nach dieser Herzerleichterung machte er sich sofort nach Wildisbuch auf den Weg.

Es ist jedoch weder meine Aufgabe noch meine Absicht, den Verlauf der jetzt anhebenden Voruntersuchung und der auf diese basierten eigentlichen Prozedur des breiteren zu erzählen. Daher begnüge ich mich, charakteristische Punkte hervorzuheben.

Die Untersuchung hatte in der Hauptsache ein leichtes Spiel. Die stumme Sprache der blutigen corpora delicti war überweisend genug, und den Mördern kam es gar nicht zu Sinne, ihre Tat leugnen zu wollen. Besonders dem Johannes Moser und der Ursula Kündig nicht, welche im Gegenteil bei ihrer Verhaftnahme laut erklärten, daß sie »nur den Willen Gottes erfüllt hätten und mit Freuden alles leiden würden, was man über sie verhängen möge, sowie, daß sie Gott dankten, weil er sie würdige, um Christi willen Schmach zu leiden; endlich, daß sie überzeugt wären, das Wunder der Auferstehung der heiligen Marget werde doch noch erfolgen«.

Sämtliche Mitglieder der Margetligemeinde, welche beim Passionsspiel aktiv oder passiv beteiligt gewesen, wurden verhaftet, zuerst in das Bezirksgerichtshaus nach Andelfingen und von da in den Wellenberg nach Zürich gebracht, wo die Kriminalabteilung des Obergerichts, das »Malefizgericht«, die Sache an Hand nahm. Der Kaspar Peter ward zu Wildisbuch bewacht, bis sein Zustand den Transport nach Zürich erlaubte, wohin auch der ewiggeliebte Jakob aus Illnau als Gefangener kam.

Die Leichname der beiden Opfer des Molochismus wurden nach einer ärztlichen Untersuchung an Ort und Stelle ebenfalls nach Zürich gebracht und dort noch einmal genau untersucht. Über die profane Wissenschaft! Sie scheut vor keinem Ärgernis zurück, nicht einmal vor diesem, an dem Leichnam einer Heilandin nachzuweisen, daß derselben die Jungfräulichkeit gelegentlich abhanden gekommen. Wie manches Ach und Krach mag das Bekanntwerden dieser leidigen Tatsache den stillen Margetligläubigen im Lande ausgepreßt haben! Die beiden Leichname wurden dann in der Stille auf dem Friedhofe des Hospitals beerdigt.

Aber waren auch die Opfer entfernt, der Opfertempel zu Wildisbuch stand ja noch. Dahin setzten Sonntags, den 23. März fromme Seelen ihren Wallfahrtsstab. Einer dieser Pilger rief in der Opferkammer verzückt aus: »O, könnte ich sterben wie die selige Marget!« Ein anderer: »Zu bedauern ist nur, daß die heilige Marget nicht am Karfreitag gestorben!« Ein dritter schabte Blut von der Bettstelle, brach ein blutbedecktes Stück Kalk aus der Kammerwand und wickelte diese Reliquien sorgfältig ein. Ein vierter ließ sich von dem verwundeten Kaspar das Passionsspiel ausführlich erzählen und sagte dann mit frommem Augendrehen und erwecklichem Nasenschnauben: »Gottlob! viele Seelen find dadurch errettet worden. Es ist ein gutes Werk vollbracht, und du brauchst dich nicht zu grämen.«W. A. I, 30.

Uns ist kein Raum übrig, die Betrachtungen auszuführen, welche das Verhalten der verschiedenen Gefangenen während der Dauer des Prozesses an die Hand gab. Theologen hätten hier reichliche Gelegenheit gefunden, gründliche Untersuchungen über das Wesen der Religion anzustellen. Physiologen und Psychologen hätten da ein prächtiges Schlachtfeld gehabt zum »Kampf um die Seele«. Korrekte Hofräte, welche die Naturwissenschaft mit dem christlichen Dogma so schön zu vermitteln wissen, mögen uns die Spezies der »unsterblichen« Seele des alten Judenschießers bestimmen, welcher in seinem Verhör vom 29. April den »väterlichen Rat« des Verhörrichters sich erbat, ob es nicht möglich wäre, mittels einer Summe Geldes das »Geschäft«, d. h. den Prozeß abzumachen.W. A. II, 13.

Von allen Gefangenen konnte die Ursula Kündig die weitaus größte Teilnahme ansprechen und erhielt sie auch. Wie mehrmals von uns gesagt worden, ein sanftes, jungfräuliches Geschöpf, selbssuchtslos und aufopferungsfähig im höchsten Grade und jetzt infolge dämonischer Bestrickung eine Fanatikerin erster Sorte, eine zweifache Mörderin. Am Schlusse des ersten Verhörs, welchem sie am 29. März im Wellenberg unterworfen wurde, nahm sie die Hauptschuld des ganzen Passionsspiels auf sich und erklärte: »Ich bin bereit zu sterben. Nur bitte ich, daß dies sobald als möglich geschehen möge. Mein Vater und meine übrigen Angehörigen werden dadurch freilich in Betrübnis versetzt werden, allein was mich angeht, so setze ich mein Leben gern an meine Herzensfreundin. Wer das Leben zu behalten sucht, der wird es verlieren; wer es aber zu verlieren sucht, wird es behalten.« Der Inquirent fügte dem Verhörsprotokoll die Bemerkung bei: »Die Sprache der Inquisitin, ihr Blick und alle ihre Gebärden verkünden eine Schwärmerin.«

So blieb sie, bis die nicht mehr zurückzuweisende Überzeugung von dem Sündenfall ihrer Heilandin zu IIInau das Lug- und Truggewebe, worein das arme Mädchen verstrickt worden war, mit einem Schlage zerriß. Am 10. Mai wurde der Jakob Morf aus dem Zuchthause im Ötenbach nach dem Wellenberg gebracht, wo die Ursula gefangen saß, um mit dieser konfrontiert zu werden. Die Szene ist so, wie sie in den Akten (II, 16) steht, völlig dramatisch. Wir lassen sie daher ohne Zutat sich abspielen. Ursula (Frage an den Morf): Hat die Marget ein Kind gehabt? – Morf: Ja. – U.: Bist du der Vater? – M.: Ja. – U.: Habt ihr eine Hebamme gehabt? – M.: Nein. – U. (mit Hitze): Ihr habt mich verkauft! Ich hoffe, du sagst mir die Wahrheit. Wenn ich das Geringste gewußt hätte, ich hätte mich sogleich (aus Wildisbuch) entfernt. Ich wollte und konnte es bisher nicht glauben. Ich erstaunte und glaubte, ich sei vom Verstande gekommen. Ich muß die vor dem ewigen Richter am Jüngsten Tage anklagen, die es wußten und mir nichts offenbarten. Hat man dem Pfarrer davon Anzeige gemacht? Ich muß es wissen, ich muß alles wissen! – M.: Nein. Die Marget hatte gesagt, daß sich so viele Seelen an ihr ärgern würden. (Morf erzählte nun, unter welchen Umständen die Niederkunft der Marget stattgefunden.) – U.: Hast du dem Moser nichts davon gesagt? – M.: Nein. – U. (seufzend): Wohin habt ihr mich gebracht! Bist du der Vater des Kindes? – M.: Ja. – U.: Ist es am Leben? – M.: Ja. – U. (heftig): Hast du auch dann noch geglaubt, daß der Herr sie hinaufnehmen werde? – M.: Ja, ich habe es, ungeachtet der Herr ein so großes Kreuz über sie verhängt hatte, dennoch für möglich gehalten. – U. (im höchsten Affekt): Ich betete immer, daß sie auferstehen möchte; nun weiß ich, wie sich die Sache verhält. Ihr habt im Geiste angefangen zu leben und habt im Fleische geendet. Ist es nicht zum ewigen Erbarmen? Mörder seid ihr! Die Marget ist Mörderin an mir! Warum wollte sie getötet sein? Um ihren Ehebruch zu decken. Und jetzt wird mein Name mit dem von Mördern und Missetätern genannt! Das bricht mir das Herz, daß ich unter so Falschen war. Das ist der Satan, der mich zu euch stellen wollte. Weil ihr so verruchte Taten getan, so glaubt man es auch von mir, weil ich immer bei euch gewesen bin. Auf allen Kanzeln wird man von mir predigen! Niemand wird glauben, daß solches von mir, von einem Weibe, aus Gottesfurcht, aus Gehorsam gegen den Herrn zu meinem großen Kummer und Schmerze geschehen sei. Falsche Brüder seid ihr! Wenn irgend jemand, so hättet ihr es mir sagen sollen. Niemand wurde so angeführt wie ich! Ich glaubte, daß der Sohn Gottes in ihr sei und rede, daß Christus in ihr wirke. Ich hätte zehntausend Leben für sie gegeben! Jetzt seh' ich's ein: Sünde war's, von Gott und Auferstehung zu reden und doch zu wissen, welche Schandtat ihr begangen hattet. Schänder der Gnade Gottes seid ihr! Gerne wollt' ich sterben, wenn sie unschuldig wäre. Aber so zu sterben, fällt mir schwer. Blut möchte ich weinen, daß ich so zum Ärgernis der Gläubigen geworden bin. (Im höchsten Affekt hin und her gehend): Was meinst du, daß meine Verwandten, daß der Pfarrer auf der Kanzel von mir sagen werden? Fluchen werden sie mir! (Etwas gelassener): Gott kennt mein Herz. Er weiß, was ich tat; er wird meinen Namen gutmachen. (Nach einer Pause): Wenn ich auch nur ein Wort gewußt hätte, wie wollt' ich mit ihr gesprochen haben! Ich hätte sie auf der Stelle verlassen. – M. (seufzend): Bedenke doch auch, wie bald so etwas geschehen ist. – U. (heftig): Es heißt, wachet und betet, auf daß ihr nicht in Versuchung geratet. Um Gottes willen, was hab' ich getan! Kein Türke, solange die Welt steht, hat eine so grausame Tat an seinen Freunden verüben müssen. (Gefaßt): Es ist Gottes Wille, daß sie ein Kind gehabt. (Nach einer Pause leidenschaftlich): Ich habe sie als eine Heilige verehrt und muß sie jetzt als eine Hure erkennen! Das fällt mir schwer. Ich kann mich auf nichts berufen als auf Gott. – Auch auf den alten Judenschießer machte die Erzählung des Morf von der Schwangerschaft und Niederkunft seines »Christkindli« einen bedeutenden Eindruck, und er unterbrach den Erzähler häufig mit Ausrufen wie: »E bah! – Das ist auch! – Um tausend Gottes willen, ich hätte alles für sie gewettet! – Ich hatte mein Leben für sie gegeben!« Am 3. Dezember 1823 fand vor dem Malefizgericht die öffentliche Schlußverhandlung gegen die elf Angeklagten statt. Ihr gemeinsamer Verteidiger, der Fürsprecher Kaspar Klauser, tat mit Geschicklichkeit und Teilnahme für seine Klienten alles, was sich überhaupt für sie tun ließ. Nachdem sein Vortrag zu Ende, forderte der Vorsitzer des Malefizgerichts, Bürgermeister Reinhard, die Angeklagten auf, anzugeben und vorzubringen, was sie etwa noch auf dem Herzen hätten. Die Ursula gab folgende wörtliche Erklärung: »Ich fühle mich gedrungen, Ihnen herzlich zu danken für die unbezahlbaren Wohltaten, die ich während meiner Gefangenschaft genossen habe. Erstens, daß ich das Glück erlangt, solche Verhörrichter zu haben, die mich liebreich getragen. Zweitens für den Unterricht, den ich von den Herren Geistlichen erlangt und der mich zu dem reinen Lichte der Wahrheit gebracht hat. Ich bereue meine Tat, und ewig werde ich nie vergessen die Wohltat, daß ich aus der Hand der Marget errettet bin. Ich danke und stehe um die Gnade, daß Sie meiner Ehre und meines jungen Lebens schonen möchten.« Neben der Ursula machten der Konrad Moser, der Knecht Heinrich und die Susanna Peter von allen den gewinnendsten Eindruck, Die letztere bat großmütig, einen Teil der auf die Ursula fallenden Strafe von dieser auf sie zu übertragen.

Das Tribunal verfuhr, wie in der ganzen Prozedur, auch bei der Urteilsfällung mit Humanität und Milde. In Betracht der strafrechtlichen Begriffe und Ansichten von damals mit doppelter Milde und Humanität. Am 4. Dezember fällte es seinen Spruch, welcher keine Blutsentenz enthielt. Demgemäß wurde die Ursula Kündig zu sechzehn, der Konrad Moser und der Johannes Peter zu acht, die Susanna Peter und der Johannes Moser zu sechs, der Heinrich Ernst zu vier, der Jakob Morf zu drei, die Margareta Jäggli zu zwei Jahren, die Barbara Naumann und der Kaspar Peter zu einem Jahr, die Magdalena Moser zu sechs Monaten Zuchthaus und zu zweckmäßiger, ihren Kräften und Umständen angemessener Arbeit daselbst verurteilt. Das Haus des Judenschießers sollte unter amtlicher Aufsicht bis auf den Grund abgetragen, die Fundamente verschüttet, die Materialien verbrannt und sollte niemals mehr eine Wohnstätte auf dieser Stelle errichtet werden.

Am 11. Mai wurden damaligem züricherischen Rechtsbrauche gemäß die elf Verurteilten aus dem Wellenberg nach dem freien Platze vor dem Rathause herübergebracht, wo sie, auf den Stufen der Freitreppe, kniend, den Richterspruch vernahmen. Eine ungeheure Zuschauermenge hatte sich zu dieser Zeremonie eingefunden, aber es ist mit Recht aufgezeichnet worden, daß »Mitleid die herrschende Empfindung des anwesenden Volkes war«. Dann wurden die Verurteilten in die Großmünsterkirche geführt, wo der Archidiakon Kramer eine eindringliche Predigt hielt, und hierauf empfing sie das Zuchthaus im Ötenbach.

Unser Stück ist zu Ende. In den alten Mysterienspielen war es häufig Brauch, daß vor dem Fallen des Vorhangs die »lustige Person« vortrat, um den Epilog zu sprechen, der sich oft in schwankhaftesten Sprüngen bewegte. Unsere Altvorderen wollten neben der Tragik auch den Humor nicht vermissen.

Aber ich bin nicht in der Stimmung, es der lustigen Person in den alten Stücken nachzutun. Indem ich die Blätter meines Buches überblicke, wie sie in die Druckerei wandern sollen, befällt mich eine tiefe Traurigkeit. Mir ist zumute wie zur Stunde, als ich auf der verwilderten Stätte des geschleiften Hauses zu Wildisbuch stand, wo am 15. März 1823 der religiöse Größenwahn und die Verzweiflung ihre Greuelhochzeit gehalten haben, und ich das unsäglich beelendende Gefühl hatte, als schwebte der Blutgeruch des Molochopfers noch in der Luft. Nein, ich vermag nicht zu scherzen beim Rückblick auf eine so ungeheure Verfinsterung der menschlichen Vernunft. Einen versöhnenden Lichtstrahl jedoch will ich noch in diese Finsternis fallen lassen, indem ich zum Schluß ein Wort von dem Kinde sage, welches die Heilige von Wildisbuch hinterließ. Die kleine Barbara wuchs in dem Hause ihres Vaters zu Illnau unter der treumütterlichen Pflege der guten Regula zu einem aufgeweckten Mädchen, zu einer stattlichen Jungfrau heran. Es gereicht den Dörflern von Illnau zur Ehre, daß sie die Unwissenheit des Kindes in betreff seines Ursprungs nicht aufgeklärt haben. Erst auf der Schwelle der Jungfrauschaft erfuhr es auf eine zufällige Veranlassung hin aus dem Munde seiner Gotte (Taufpatin), wer eigentlich seine Mutter gewesen sei. Zur Stunde fiel eine Wolke von Trauer in die junge Seele der armen Barbara, welche nie mehr ganz verschwunden ist. Sie wurde still und suchte durch verdoppelten Fleiß, durch demütige Eingezogenheit die Leute vergessen zu machen, woher sie eigentlich stammte; aber sie selbst vergaß es nicht. So lebte sie noch, als ich dieses schreibe. Dem hübschen, sittsamen, emsigen und verständigen Mädchen fehlte es nicht an Bewerbern. Die Tochter der heiligen Marget hat aber alle Anträge abgelehnt mit den Worten: »Der unselige Same sterbe mit mir!«


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