Johannes Scherr
Größenwahn
Johannes Scherr

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Präludium.

1.

Wenn die Darwinisten recht haben, so muß, auch die denkbar langsamste und sachteste Entwickelung vorausgesetzt, einmal ein Augenblick gewesen sein, wo der Riß zwischen Tierheit und Menschheit, zwischen tierischem Traumsein und menschlichem Bewußtsein geschah.

Falls wir aber dem ersten Wesen, welches sich im Gegensatze zum Tier als Mensch fühlte, nicht etwa die Schande antun wollen, uns dasselbe als einen Idioten vorzustellen, so muß es bald, sehr bald gemerkt haben, daß das Leben nichts weniger als eine Schlaraffei sei. Schon in den ersten Menschen dürfte der Kampf ums Dasein mitunter die Frage angeregt haben: Ist dieses Dasein eines solchen Kampfes wert? Man könnte, so man von einem Adam im biblischen Sinne sprechen wollte, unschwer auf die Vermutung kommen, schon der erste Mensch müßte notwendig ein Skeptiker gewesen sein und sich mitunter gefragt haben: Was tu' ich eigentlich da?

Eine sehr fragwürdige Frage, fürwahr, und bis heute noch unbeantwortet, obzwar alle Religionen und alle Philosophien sich abgemüht haben, eine Antwort zu finden. Was sie fanden? Fabeln und Phrasen.

Auch die Poesie wußte die Frage nur scharfschneidig zu formulieren, nicht aber zu beantworten.

Solche Frageformeln sind der Hiob, der Prometheus, der Faust, der Kain.

Der letztere, die echteste, gefühlteste und großartigste dichterische Schöpfung des neunzehnten Jahrhunderts, in welcher der Genius Byrons in seiner ganzen Kraft und Düsternis sich offenbarte, ist keineswegs ein Anachronismus. Denn warum sollte, die biblische Mythe einmal zugelassen, der Erstgeborene Evas nicht der erste Pessimist gewesen sein? War er ein denkendes Wesen, so mußte sich das Gefühl des Verhängnisses, Mensch zu sein, bleischwer auf ihn legen, und mußte er klagen, wie der Dichterlord ihn klagen läßt:

»Und dies ist Leben?
Sich stets zu mühn – warum soll ich mich mühn?
Ich lebe, ja, doch einzig um zu sterben,
Und seh' im Leben nichts, den Tod verhaßt
Zu machen, als ein innerliches Bangen,
Den widerwärt'gen, unbesieglichen
Instinkt, zu leben, den ich wie mich selbst
Verachte, doch nicht überwinden kann.
So leb' ich denn. O, hätt' ich nie gelebt!«

Der Ekel, die Verzweiflung müßte es doch schließlich über den »widerwärtigen Instinkt« davontragen, falls sich dieser nicht zwei starke Helfershelferinnen beigesellt hätte: Geduld und Gewohnheit. Diese lehren den Menschen ertragen, was an und für sich – persönliches »Glück« oder »Unglück« ganz beiseite gelassen – des Ertragens in keiner Weise wert ist.

Denn wo wäre ein auch nur halbwegs vernünftiger Zweck des Menschendaseins auch nur halbwegs annehmbar nachgewiesen? Nirgends. Religiöse Märchen und philosophische Redensarten die Hülle und Fülle, aber nicht die Spur von einem Nachweis, von welchem ein ehrlicher, anständiger und geschulter Mann sagen möchte: Daran kann ich glauben.

Wie? Auch an die Arbeit nicht? Als an ein Mittel, ja; als an den Zweck, nein. Denn warum soll ich arbeiten? da die schreckliche geheime Stimme in mir immerfort raunt: Dein Arbeiten ist am Ende aller Enden gerade so eitel und zwecklos wie das aller, die vor dir waren und die nach dir sein werden. Warum? Wozu? Wofür?

Es ist ganz wahr, die ungeheure Mehrzahl der Menschen wird durch diese Fragen gar nicht behelligt, weil sie das Leben tierisch-naiv faßt und führt. Die kleine – genau betrachtet, sehr kleine – Minderzahl, die Wissenden, welche den Dingen auf den Grund sehen möchten, sie haben sich von jeher redlich abgequält mit dem furchtbaren Warum? Wofür? Wozu? Man muß es auch sehr begreiflich und verzeihlich finden, wenn die armen zweifelnden, fragenden, suchenden Menschen sich von Zeit zu Zeit eine angebliche Lösung des unlösbaren Problems durch irgend einen Schelling oder Hegel – will sagen: durch diesen oder jenen betrogenen Betrüger – vorgaukeln lassen, bis dann die angebliche Lösung immer wieder als ein aus den Hüllen schamloser Begriffenotzucht und grausamer Sprachefolterung herausgeschältes faules Windei sich darstellt.

Aber ist es denn nötig, allzeit und überall dem Warum? nachzugrübeln? Lassen wir das Woher? und Wohin? und Wozu? und nehmen wir die Welt, wie sie nun einmal ist. Anders machen können wir sie ja doch nicht, und so wird es denn wohl das klügste sein, uns praktisch darin zurecht zu finden. Tun wir das, so werden wir weder bestreiten können noch wollen, daß die menschheitliche Arbeit im Laufe der Jahrtausende denn doch was Hübsches vor sich gebracht und daß die Vervollkommnungsschule Weltgeschichte erkleckliche Erziehungsresultate zutage gefördert habe. Wer wollte das bezweifeln? Wir laufen nicht mehr im Tierfellkostüm herum und nähren uns nicht mehr mit Eicheln. In der Schaffung und Verfeinerung von Formen hat sich die menschliche Kulturarbeit wahrhaft groß erwiesen. Was das Wesen angeht, so wollen scharfe Augen entdeckt haben, daß der Mensch im Perfektibilitätsfrack noch ganz derselbe sei, welcher er im pfahlbäuerischen Wolfs- oder Bärenfell gewesen. Gerade herausgesagt, die dermalen Tag und Nacht mechanisch Hergebetete Fortschrittslitanei vermag keinen Geschichtekenner zu überzeugen, daß die Zivilisation den Menschen substantiell verändert oder beziehungsweise veredelt habe. Soweit die geschichtliche Kenntnis in die Vorzeit hinaufreicht, ist der Mensch und ist die menschliche Gesellschaft dem Wesen nach ganz so gewesen, wie sie heute noch sind: – der Mensch ein Mischmasch von Widersprüchen, die Gesellschaft ein Wirrsal von gegensätzlichen Interessen. Zu allen Zeiten dieselben Illusionen und Enttäuschungen, dieselben Anlagen und Leidenschaften, dieselben Bedürfnisse und Begehrnisse, dieselbe Tugendtheorie und dieselbe Lasterpraxis. Zu allen Zeiten Schwindler und Beschwindelte, Ausbeuter und Ausgebeutete, Schelme und Narren. Ob aber dereinst aus dem verfallenden Erdenhause der letzte Mensch als der letzte Schwindler oder als der letzte Beschwindelte, als der letzte Narr oder als der letzte Schelm hinausziehen werde, darüber sind die Gelehrten noch nicht einig.

Darüber dagegen sind, wenn nicht die Gelehrten, so doch die Verständigen einig, daß die Erde nichts weniger als ein Eden, daß das »goldene Zeitalter« der Freiheit, des Friedens und der Freude wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft nur ein Ammenmärchen, daß die Natur unerbittlich und erbarmungslos, daß unser Menschenleben mit seiner jämmerlich unbehilflichen Kindheit und seinem einsamen bresthaften Alter, mit seinen Krankheiten und seinen Torheiten, mit seinen grellen Ungerechtigkeiten und ekelhaften Roheiten, mit seinen zahllosen Niederträchtigkeiten, Schurkereien und Freveltaten, mit seinen ruhelosen Wünschen und unzulänglichen Befriedigungen, mit seinen boshaften Verkettungen und seinen wehvollen Trennungen, mit den Luftspiegelungen des Ehrgeizes, mit den Verführungen des Reichtums und den Demütigungen der Armut, mit allen seinen Sorgen, Mühen, Schmerzen, geknickten Hoffnungen und bitteren Erfahrungen, sogar mit seinem sogenannten Glücke, seinen flüchtigen Genugtuungen und seinen täuschungsvollen Genüssen – ja, daß die Erde mit allem, was darauf, nichts als eine, mit dem armen Leopardi zu sprechen, »grenzenlose Nichtigkeit«, eine »inutile miseria«, oder auch nichts als eine schnöde Prellerei, ein niederträchtiger Schwindel.

Was folgt aus alledem?

Daß der »loathsome and yet all invincible instinct of life«, wovon der Byronsche Kain spricht, die Menschen zwang, eine Erfindung zu machen, mittels welcher sie über die Erdennot sich hinwegtäuschen konnten.

Diese Erfindung, die Lehre von der Fortdauer der Seele des Menschen nach seinem leiblichen Tode und die damit eng verbundene Vorstellung von einer Vergeltung in einem sogenannten Jenseits, ist die tröstlichste gewesen, welche ein Menschengehirn jemals ausgesonnen hat. Nur Abstraktoren, wie z. B. der verwichene Doktor Strauß, dem sein eigen Volk gerade so fremd gewesen wie etwa das japanische, nur dürre Doktrinäre, welche niemals in und mit dem Volke gelebt haben, vermögen zu verkennen, welche unermeßliche und unerschöpfliche Wohltat für die arme Menschheit der Unsterblichkeitsglaube war und ist. Die wirklich Weisen aller Länder und Zeiten, Denker und Dichter, Propheten und Politiker, haben das wohl erkannt. In den Katakomben Ägyptens, auf den Bergen von Baktrien, in den Banianenhainen am Ganges, unter den Platanen des Ilissos, auf den Triften Galiläas, in den Sandsteppen Arabiens wie in dem Schattendüster der Wälder Germaniens und unter den Druideneichen Armorikas ist diese Lehre verkündigt und geglaubt worden, und überall hat sie ungezählte und unzählige Millionen von Menschen die schwere Last des Lebens tragen gelehrt.

Wenn die menschliche Zivilisation etwas so Hehres und Herrliches ist, wie ihr sagt, wohlan, nur der Unsterblichkeitsglaube hat sie möglich gemacht. Dadurch möglich gemacht, daß er den Geschlechtern der Menschen die Hingebung und Ausdauer verlieh, inmitten von allen den Bedrängnissen des Daseins ihre Arbeit zu tun.

Darf das ein bloßer Wahn genannt werden? Kann es ein bloßer Wahn sein? Und wenn es ein Wahn, ist er verwerflich und entbehrlich?

Aber was ist denn eigentlich Wahn, und was ist Wahrheit? Das, was dafür zu halten man übereingekommen ist, stillschweigend oder ausdrücklich.

Wahrheit oder Wahn, gleichviel, ohne den Unsterblichkeitsglauben, ohne das hoffende Hinübertasten in eine vorgestellte jenseitige Welt müßte die Menschheit aus dumpfem Überdruß an der Zwecklosigkeit der diesseitigen schon längst verdorben und gestorben sein.

2.

Die gedankenlose Wohllebigkeit wie der schönselige Optimismus – jene kann nicht, dieser will nicht logisch denken – sie fühlen sich natürlich nicht verunbequemt durch die Tatsache, daß vom Anbeginn der Zeiten alle auserwählten Geister Pessimisten gewesen sind, d. h. die Flüchtigkeit und Nichtigkeit des Daseins erkennende und beklagende Denker.

Kein Träger des Genius vom Anfang bis heute, welcher nicht empfunden hätte, was Firdusi in seinem Heldenliede vom Kai Chosru aussprach:

»Der Weise wünscht, er wäre nie geboren,
Ihn hätte nie im Erdenfrost gefroren
Und niemals ihn die Glut der Welt versengt;
Unheil nur wird durch die Geburt verhängt,
Nur Wechsel herrscht und Trübsal hier auf Erden:
Drum ist es besser, nie gezeugt zu werden.«

Dieses Thema hat zahllose Variationen gefunden, allzeit und allenthalben, in ältester wie in jüngster Zeit, unter allen Völkern, unter allen Rassen, soweit sie überhaupt zum Denken gelangt sind. Wollte man eine Bibel des Pessimismus zusammenstellen, alle Männer von Genie und Herz, welche jemals und irgendwo aufgestanden, würden die Verfasser derselben sein.

Am geläufigsten ist die Vorstellung von der Welt als von einem Rätsel, einem ungelösten und unlösbaren. Problem.

Wer hat dieses Welträtsel aufgegeben? Oder hat es sich selbst aufgegeben? Warum ist es aufgegeben? Wozu existiert es?

Alle vom Anfang bis heute versuchten Antworten sind nur leeres Gestammel und unartikuliertes Gestotter. Die Physik stottert bei ihren Antwortsversuchen nicht minder, als die Metaphysik gestammelt hatte. Der Streit, ob zuerst die Henne oder zuerst das Ei gewesen, sei zu Ende, sagen exakte Forscher; denn das »Omne vivum ex ovo« – sei abgetan und überwunden. Gut, wir wollen es glauben. Aber nun möchten wir wissen, woher anderweitig, woher überhaupt das »vivum« gekommen, in dem Blutkügelchen, das in unseren Schläfen rollt, in der Urqualle, in der Urzelle, im Urschleim? Keine Antwort oder höchstens die schon uraltbekannte ausweichende: »Die Materie ist eben von Ewigkeit her und folglich ist das auch die dem Stoffe innewohnende Kraft.« Aber was ist Ewigkeit? Ein unfaßbarer Begriff, ein Undenkliches, also Sinnloses. Und wäre denn mit dieser unvorstellbaren »Ewigkeit« das »Woher die Materie?« und »Warum die Kraft in derselben?« irgendwie aufgehellt und erklärt? Wäre damit ein letzter Grund, der letzte Grund nachgewiesen? Das wird selbst der gelehrte Größenwahn nicht behaupten wollen. Das uralte und immerjunge Welträtsel bleibt also, was es war und ist, und wir wissen, was wir von dem unartikulierten Gestotter, das sich gar häufig für ein Triumphlied des Allesbegriffen- und Alleserklärthabens ausgeben möchte, zu halten haben. Wenn der philosophische Optimismus sich daran erbauen mag, alles auf eine sogenannte »Weltvernunft« zurückzuführen, so hat der philosophische Pessimismus gewiß auch das Recht, die Grundwurzel von allem in einer »Weltunvernunft« zu erblicken. Diese macht sich wenigstens tagtäglich und allstündlich fühl- und spürbar, während jene nichts ist als eine Verkleidung der alten theologischen Fraubase Teleologie....

Auch als Schlaf und Traum wird das Dasein gefaßt. Von Heiden und Christen. Ein altarabischer Dichter sagte: »Die Menschen schlafen; wann sie aber sterben, dann wachen sie auf.« Der spanische Erzkatholik und Mystiker Calderon dichtete einen prächtigen dramatischen Kommentar zu seinem Texte: »Das Leben ein Traum.« Der geisteshelle deutsche Protestant Rückert sang:

»Die Zypress' ist der Freiheit Baum,
Weil man sie dir pflanzt aufs Grab.
Dein Leben nur im Kerker ein Traum,
Bis der Tod dir Flügel gab.«

Endlich wurde und wird das Leben gefühlt als eine Krankheit, und der Tod begrüßt als die Genesung. Sokrates, welcher, wenn man ihn auch nicht gerade dem delphischen Orakel zu gefallen für den weisesten Menschen hält, doch immerhin einer der weisesten gewesen ist, hat bekanntlich, als ihm nach geleertem Schierlingsbecher der Tod ans Herz trat, seine Freunde gebeten, dem Asklepios einen Hahn darzubringen als Dankopfer für seine Genesung von der Krankheit des Daseins.

Wenn nun schon ein antiker Mensch, noch dazu ein Hellene, ein Athener, das Gefühl der Daseinskrankheit hatte, um wieviel stärker muß dieses Gefühl in unserer modernen, durchweg gekünstelten, verkünstelten, auf Schrauben und Stelzen gestellten, an den Krücken einer verlogenen Konvenienz einherhinkenden Gesellschaft sich bemerkbar machen! Wo ist denn heutzutage ein Mensch – ich meine ein denkender und ehrlicher – welcher von sich sagen möchte, er sei leiblich und seelisch ganz gesund?

Wohin immer ein sehendes Auge sich wendet, überall treten ihm die tausenderlei Symptome der einen großen Krankheit »Leben ist Leiden!« entgegen, und noch erschreckender und betrübender als die Merkmale physischer Übel sind die immer mehr sich häufenden Symptome psychischer Störungen.

Die Zahl der Narrheiten und Narren heißt Legion.

Ich weise mit dem Finger auf die schwärende Wunde der modernen Gesellschaft. Ihr Name ist »Größenwahn«.

Freilich, auch dieses Neue unter der Sonne ist nur Altes.

Als Bonaparte am Fuße der Pyramiden von Gizeh zu seinen Grenadieren sagte: »Vom Gipfel dieser Monumente blicken vier Jahrtausende auf euch herab!« hätte er auch sagen können: Von der Spitze dieser gemauerten Berge grinst euch der uralte und immerjunge menschliche Größenwahn an!

Denn wenn so ein Pharao Chufu hunderttausend halb oder ganz nackte Sklaven zusammentrieb und sie Jahrzehnte hindurch zu fronden zwang, um einen Berg auszumauern, in dessen Grabkammer der Wurmfraß seiner pharaonischen Mumie der Zerstörung trotzen sollte, was war das anderes als naiver Größenwahn? Und wenn der Pharao Napoleon seinerseits sechshunderttausend uniformierte Sklaven zusammentrieb, um an ihrer Spitze dem Phantom Weltherrschaft nachzujagen bis ins brennende Moskau hinein, was war das sonst als raffinierter Größenwahn?

Ein großes Stück Weltgeschichte gehört eigentlich in die Psychiatrie. Geniale Irrenärzte sollten die Geschichte der römischen Cäsaren, der römischen Päpste, der Attila, Dschingiskhan und Nadirschah, die Geschichte Philipps des Zweiten und Ludwigs des Vierzehnten schreiben. Napoleon der Erste war ein tobender, Napoleon der Dritte ein grübelnder Größenwahnsinniger.

Und nicht etwa nur auf der Weltgeschichtebühne, nein, auch im Alltagsleben grassiert die unheimliche Geisteskrankheit. Sie ist geradezu die moralische Pest der Gegenwart. Der ordinäre Schmierung in irgend einem Winkelblatt, der ordinärere Maultrommler in irgend einem Winkelklub, der ordinärste Kathedrarier an irgendeiner Winkeluniversität, das verkannte Dichter-, verkanntere Maler- und verkannteste Zukunftsmusikhalbtalent, der große Patriot, größere Liberale und größte Dividendenschnapper, dessen A er selbst und dessen O die Million, die ganze Jobbers- und Robbersbande vom jüdischen Börsenschakal bis hinauf oder auch hinab zum christlichen Aufsichtsratfürsten und Gründerherzog: lauter arme – obzwar mitunter sehr reiche – Größenwahnbehaftete.

Aber der bevorzugte Tummelplatz des Größenwahns war und ist doch das Gebiet der Religion. Da hat er sich von jeher in allen Formen und Farben geoffenbart, als höchste Tragik wie als tiefste Komik. Ein riesigeres Sammelsurium von Narrheit als das christliche Legendenbuch, die dreiundfünfzig von den Bollandisten redigierten Folianten der »Acta Sanctorum« ist kaum denkbar. Und durch die ganze ungeheure Kakophonie geht als Grundton der Größenwahn. Wollt ihr eine ganz meisterliche Kennzeichnung dieses christlichen, d. h. mit Demut geschminkten Größenwahns kennen lernen, so lest des Engländers Tennyson »Sankt Simeon Stylites«. Nur ein Eingeborener des Lieblingslandes der Scheinheiligkeit vermochte uns die unter der Selbsterniedrigungsmaske hervorbrechende grenzenlose Eitelkeit des religiösen Größenwahnwitzigen so aufzuzeigen. Ich wünschte, ein rechter Dichter machte sich einmal daran, uns jenen gelehrten Mönch des neunten Jahrhunderts vorzuführen, den Paschasius Radbertus, den Erfinder oder wenigstens Ausbildner und Feststeller der Lehre von der Transsubstantiation, welcher zufolge jeder beliebige Priester tagtäglich den Herrgott schafft, indem er Brot und Wein in das Fleisch und Blut Christi verwandelt. Der Mensch macht den Gott, gewiß ein erbauliches Beispiel von mittelalterlich-gläubigem Größenwahn! Oder war der närrische Paschasius etwa ein vorweggenommener Feuerbach? Einem Shakespeare der Zukunft könnte man auch die seiner würdige Aufgabe stellen, einen Arbues oder Torquemada als Typen des religiösen Größenwahns zu zeichnen, und vielleicht dürfte man noch den Luther hinzufügen, in Anbetracht, daß er den Papst kaum vom Stuhle der Unfehlbarkeit hinabgestoßen hatte, als er schon sich selber recht breit darauf setzte, die Bibel als einen unantastbaren Schild zwischen seine unfehlbare Autorität und die Vernunft stellend, welche er ja bekanntlich »des Teufels H... andlangerin« schalt. Die Arme ist das für die richtigen lutherischen »Diener am Worte« bis zum heutigen Tage geblieben und mußte es bleiben. Denn wie könnten sie sonst ihren römischen Kollegen, den richtigen »Dienern am Altar«, die Stange halten und wetteifernd mit diesen den »Frieden Gottes unter den Menschen« fördern? ...

Wo der Größenwahn in weltgeschichtlichen Gestalten, in einem siebenten Gregor, einem Luther, einem Napoleon zur Erscheinung kommt, erinnert er an den Satz Senekas, daß dem Genie immer eine Dosis Wahnsinn beigemischt sei (»nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae«). Shakespeare hat, wie jedermann weiß, das auch vom Dichtergenius geglaubt (»Des Dichters Aug', in schönem Wahnsinn rollend, blitzt auf zum Himmel, blitzt zur Erde nieder«). In beiden Fällen kehrt uns die Krankheit ihre tragische Seite zu. In die komische sodann schlägt sie um, wenn das Können des größenwahnsinnigen Individuums zu seinem Wollen in einem gar zu burlesken Mißverhältnisse steht. Indessen kommt auch hier, wie überall, das Reintragische ebenso selten zum Vorschein wie das Reinkomische, sondern zumeist verbinden sich beide Seiten zur Tragikomik. Natürlich! Das ganze Menschendasein, persönlich und geschichtlich genommen, ist ja die vollendete Tragikomödie.

Von den vier Größenwahngeschichten, welche ich auf Grund quellenmäßiger Zeugnisse in diesem Buch erzählen will, spielen zwei, die erste und die dritte, auf spezifisch-religiösem Boden, eine, die zweite, auf religiös-politischem und eine, die vierte auf sozialpolitischem. Die erste trägt einen vorwiegend komischen Charakter, während die drei übrigen als echt tragikomische Auftritte der großen menschlichen Tragikomödie sich darstellen.

Ist dieses Drama ein ebenso zufällig entstandenes wie zwecklos verlaufendes?

Ist es von einem »Gott« gedichtet und von einem »Teufel« travestiert in Szene gesetzt?

Ist es eine Generalprobe für die Aufführung auf einer »höheren« Bühne?

Wer weiß es?

Als Meister Rabelais im Fahre 1553 in Paris zu sterben kam, tat er es mit den Worten: »Je m'en vais chercher un grand Peut-être.« Wir verbringen unser Leben mit dem Suchen nach einem andern »grand Peut-être« Denn all unser Wissen vom Wissenswertesten ist und bleibt ein großes »Vielleicht!«


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