Johannes Scherr
Größenwahn
Johannes Scherr

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Erster Zwischensatz: Die tragische Geschichte von Ambrosius Gigax, dem Ordnungsfanatiker.

1.

Der ehrenwerte Langalibalele, Kaffernhäuptling a.D., gab eines Tages einem englischen Missionär auf dessen Frage, was für auszeichnende Merkmale er, Langalibalele, an den Engländern wahrgenommen hätte, zur Antwort: »Augen, die alles sehen, und Hände, die alles nehmen wollen«.

Diese unzweifelhaft beste Charakteristik der »hochherzigen« Briten kam mir zu Sinne, als ich, von der alten Taminabrücke her die Gasse zum Hof Ragaz heraufgehend, die schon gewohnte Schar von Neugierigen vor dem »Chalet« rechter Hand auf der Lauer stehen sah. Richtig fehlten denn auch in erster Linie nicht die langgestreckten Hälse verschiedener Traveller-Books in Hosen und die vorquellenden Glotzaugen diverser Prayer-Books in Lockenperücken. Doch muß ich sagen, daß eine erkleckliche Anzahl von Nasen, die da sind wie »der Turm auf dem Libanon, so gen Damaskus schaut«, aus der Gafferreihe hervorragten, und daß inmitten derselben, der Gafferreihe nämlich, nicht der Nasen, wenigstens ein Halbdutzend Rosen von Saron blühten, so in Wien oder Berlin gewachsen waren.

Maßen nun mir, als einem altfränkischen Menschen, erlaubt sein muß, die Rose allen neumodischen Treibhausblumen zum Trotz noch immer als die Königin der Blumen zu verehren, und maßen ich fernerweit für die Rosenspezies von Saron eine allem Indogermanentum hohnsprechende Vorliebe hege, so mischte ich mich, um die besagten Türme Davids herumlavierend, unter die mehrbesagten Rosen. Die Wahrheit zu gestehen, sie hatten jetzo kein Lächeln für mich, wie sie es doch auch schon gehabt. Wahrscheinlich sahen sie mich gar nicht, denn ihre Augen, ja und auch ihre Seelen – ich glaubte nämlich und glaube noch, daß sie solche »aus der Wissenschaft längst hinausgeworfene« Dinger besaßen – waren an das Chalet da drüben festgeleimt.

Es lohnte sich aber auch der Mühe, denn unter dem Dache des kleinen Holzhauses hauste zur Stunde ein rares Trifolium: – eine weggejagte Kaiserin, die Donna Eugenia, ein weggewunkener Kardinal, der Prinz von H. Sch., und ein weggeschickter Schwiegersohn des Khedive von Ägypten, Mustapha Sadyk Pascha. Der Pascha war ein nettes Kerlchen mit einem Bäuchlein im ersten Stadium und einem verbindlichen Lächeln. Die ungeschriebene Badchronik erzählte, der gute Türke langweilte sich wie der letzte der Möpse und fände die sämtlichen anwesenden Damen zu schlank. »Zu schlank?« rief Herr S., der Beherrscher von Ragaz, erschrocken aus – »und doch haben wir im Quellenhof eine Französin, welche sich nur seitlings zur Türe des Speisesaals hineinzwängen kann, und eine Mecklenburgerin, unter welcher schon drei Bettgestelle zusammengebrochen sind.« Der Herr Kardinal war leidend und ging an Krückstöcken. Kein Wunder also, daß er mit der rückwärts die Jahrhunderte, bis etwa zum elften, hinaufstürmenden Kirche nicht mehr recht hatte Schritt halten können. Was die Kaiserin anging, so war sie eben nur noch eine gemalte, und zwar eine mit dick aufgetragenen Farben gemalte. Die Badchronik sagte ihr nach, sie sei vor etlichen Tagen über einen ihr begegnenden Herrn aus Berlin, welcher dem verflossenen Verhuell wirklich täuschend ähnelte, so erschrocken, daß ihr ein Stück gemalter Wange abgefallen. Verhuellius Naso redivivus dagegen behauptete, vom Erschrecken habe er nichts bemerkt, wohl aber hätte die Donna eine Bewegung gemacht, als wollte sie dem Doppelgänger ihres höchstseligen Gemahls um den Hals fallen.

Was mich angeht, so muß ich gestehen, daß mich weder wirkliche noch gemalte Kaiserinnen, weder Kardinäle noch Paschas sehr interessieren. Wohl aber tat dies ein hagerer Mann, der, so er stand, ungewöhnlich lang sein mußte, ein Mann mit weißen Haaren und einem grauen Bart, vor den Augen blaue, runde Brillengläser von ungewöhnlicher Größe, darunter eine sogenannte Kartoffelnase und ein dünnlippiger, an den Winkeln sardonisch niedergekrümmter Mund, auf dem Kopfe ein Strohhut, dessen Krämpe von einer Breite, wie mir noch nie vorgekommen. Diese Figur saß auf einem Feldstuhl, hielt mit der linken Hand einen grüngefütterten Sonnenschirm über besagten Strohhut empor und lenkte mit der rechten einen kleinen Tubus, welcher an einem in die Erde gerammten Stock festgeschraubt war. Daß der Herr und Lenker dieses Tubus auf das Chalet jenseits der Straße vigilierte, brauch' ich nicht ausdrücklich zu sagen. Aber mich ergötzten die Umständlichkeit, der Apparat, der Forscherernst, womit des Mannes Neugier verfuhr. Hatte ich da einen letzten Mohikaner vor mir, eins der letzten Originale, welche in der breiten Verflachung modernster Mittelmäßigkeit und Uniformität mehr und mehr verschwinden? Wer war der Mann? Das alte liebe Nest Ragaz hat sich, nicht eben zur Freude von jedermann, zum »Weltbad« verwandelt, und man begegnet dort allsommerlich absonderlichen Figuren genug. Aber eine wie der Mann vom Feldstuhl und Tubus, der sich geschwind ein Observatorium eingerichtet hatte, ist doch auch im Ragaz von heute eine exotische Pflanze und verlohnt wohl der Mühe der Beobachtung.

Schade, dacht' ich, daß der Amadeus Hoffmann nicht mehr lebt oder der Edgar Poe. Der da wäre für diesen oder jenen ein gefundener Fraß.

Das mehr oder weniger zu verehrende Publikum verlor sich allgemach, da weder die weggejagte Kaiserin noch der weggewunkene Kardinal sich zu zeigen geruhte und es doch nachgerade langweilig wurde, den roten Fez des Paschas anzugaffen, welcher über der Balustrade der Veranda rechts sichtbar war. Zuletzt waren nur noch unser zwei da: der Tubusmann, welcher seine Beobachtung fortsetzte, und meine eigene liebwerte Person, welche den hartnäckigen Beobachter beobachtete. Beide erreichten wir schließlich unsern Zweck: er, indem er Madonna Eugenia und den Prinzen-Kardinal kurz nacheinander aus dem Holzhause treten sah; ich, indem ich Zeuge der geometrischen Regelrichtigkeit sein durfte, womit der Vigilator sein Observatorium abbrach.

Das ging alles so gemessen, als gelte es, mit der bekannten »Harmonie der Sphären« Takt zu halten. Schon die Art seines Aufstehens zeigte den Mann, welcher nie einen Fuß vor den andern setzte, ohne daß er sich zuvor genau vergewissert hätte, wohin er träte. Als sich die lange dürre Gestalt zu ihrer vollen Höhe auseinandergeschoben hatte, galt es vor allem, klar zu sehen. Es wurde daher die Brille sachte von der Kartoffelnase genommen und wurden die großen runden blauen Gläser mit einem aus der rechten Westentasche gezogenen Lappen weichen Leders nachdrücklich abgerieben. Nachdem Lederlappen und Brille wieder an ihren Orten waren, ging es an das Geschäft des Aufräumens, ohne Hast, aber auch ohne Rast. Zunächst wurde der Tubus losgeschraubt, zusammengeschoben, mit einem großen rotseidenen Taschentuch um und über abgewischt und in eine lederne Kapsel verschlossen, welche zuvor sorgsam ausgeblasen und dann behutsam auf den Feldstuhl niedergelegt ward. Hierauf ging es an den Stock, der als Tubusgestell gedient hatte, bei näherer Bekanntschaft aber als ein wahres Wunder, ja sozusagen als ein Kompendium oder Konversationslexikon von Stock sich auswies. Offenbar war er der Stolz und die Freude seines glücklichen Besitzers. Das konnte man dem Wohlgefallen abmerken, womit er die verschiedenen Federn des komplizierten Möbels spielen ließ, um die zahlreichen Metamorphosen aufzuzeigen, welche den Stock nach und nach als ordinären Spazierstock, als ramassierten Bergstock, als Regenschirm, als Hacken, als Steinhammer, als Stilett, als Lichtschere, als Lesepult, als Korkzieher, als Trinkbecher, als Stemmeisen, als Schreibzeug und noch als sonst allerhand zum Vorschein kommen ließen. Ich würde mich zuletzt wahrhaftig nicht mehr gewundert haben, wenn sich das vexierliche Ding auch noch als Landtagsredner oder Reichstagsschweiger entpuppt hätte.

Der Mann konnte mir die unverhohlenste Bewunderung und die reinste, menschenbrüderlichste Teilnahme leicht vom Gesichte lesen und sagte daher, auf seinen wieder in alltägliche Rohrgestalt gebrachten Stock deutend: »Das Resultat fünfjähriger theoretischer Studien und dreijähriger praktischer Konstruktionsversuche. Ja, mein Herr, mit Genie und Ordnung bringt man doch etzliches Ordentliche zuwege auf dieser unserer unordentlichen Erde.«

Damit lehnte er den Wunderstock vorsichtig an einen Platanenstamm, schnallte die Tubuskapsel an einen breiten Riemen, welcher ihm wie ein Bandelier von der rechten Schulter herabhing, nahm den Feldstuhl auf, machte daran herum, bis derselbe zu einem winzigen Volumen zusammengeschoben und eingeklappt war, und schnallte das Ding, in welchem jetzt kein Mensch einen Stuhl hätte vermuten können, ebenfalls an den Riemen. Hierauf nahm er sein Stockkompendium zur Hand, stieß die Spitze leicht auf den Boden und sagte mit dem Vollbewußtsein wohlgetaner Arbeit: »Alles in Ordnung! Kardinal, Pascha, Exkaiserin abgemacht, in aller Ordnung.«

»Heil'ge Ordnung, segensreiche!« stimmte ich bei, die Schillerglocke läutend.

»Ja, mein Herr, das ist das gescheiteste Wort, welches der unsterbliche Marbacher von sich gegeben hat. Um das zu können, mußte er selber ein Mann der Ordnung sein. Und das war er auch, wie sein jetzo gedruckter Schreibkalender ausweist. Leider sind seine Abführpillenrechnnngen noch nicht veröffentlicht. Item leider auch noch nicht Goethes Rheinweinrechnungen, wie uns ebenso leider der gedruckte Nachweis fehlt, wie viele Fidibus dem Johann Heinrich Voß seine sorgsame Hausfrau Ernestine gedreht habe. Ich muß aber zugeben, daß doch allmählich Ordnung in unsere Literarhistorie kommt. Auf die exakte Forschung muß sie basiert sein. Nur dadurch fällt Licht in das Chaos. Erst wenn es gelungen sein wird, das Verhältnis von Goethes Verdauung zu seiner dichterischen Produktion unanfechtbar klarzustellen, kann man daran denken, das Verhältnis des ersten Teils vom Faust zum zweiten richtig zu bemessen. Glücklicherweise leben und streben dermalen Männer, welche wissen, daß die sogenannten Minutien und Lappalien eigentlich das Wichtigste sind. Ich kenne einen Leipziger Magister, welcher den wissenschaftlichen Beweis erbracht hat, daß die wahre Literatur die sei, welche man schnöderweise die Papierkorbliteratur zu nennen pflegt. Ich kenne einen andern dito Leipziger Alexandriner, welcher demnächst ein von der lieben Kameradschaft mit Recht schon zum voraus als epochemachend signalisiertes Werk edieren wird, dessen Titel lautet: ›Die Wäschezettel unserer Klassiker und Romantiker als Akten- und Urkundensammlung zu einer induktiv-wissenschaftlich zu schreibenden Geschichte der deutschen Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.‹ Ich kenne einen dritten abermalen Leipziger Byzantiner, welcher die diplomatische Geschichtschreibung auf den Gipfel der Vollendung führen wird. Er hat nämlich die verschiedenen Sorten Tabak, welche Friedrich der Große nach und nach schnupfte, zum Gegenstande seiner ›grundlegenden‹ Forschungen gemacht, um den Nachweis zu führen, welche Einflüsse Rapé, Pariser oder Doppelmops auf die Gehirnnerven besagten Friedrichs und folglich auf die Geschicke der Menschheit gehabt haben. Sehen Sie, mein Herr, das ist echte Wissenschaftlichkeit, gesunder Realismus, gediegene Exaktität. Haß und Krieg jeder Unordnung! Es ist unglaublich, was diese zu unserer Zeit für Unheil anstiftet. Hat sich nicht neulich einer erfrecht, ein ganzes Buch hindurch beharrlich Göthe statt Goethe – G.o.e.th.e – zu schreiben? Ja, so hat er. Zum Glück hat man ihm mit dem Schulmeisterbakel tüchtig auf die Finger geklopft. ›Göthe‹, was? Zwar ist es Blödsinn, im Deutschen die Diphthongen ä, ö, ü mit ae, oe, ue zu schreiben, ich geb' es zu, und Göthe selbst würde sich wohl heutzutage das e in der ersten Silbe seines Namens ersparen und sich auch nicht mehr ›Geheimbde-Rath‹ unterzeichnen; allein die Schreibweise G.o.e.th.e ist einmal als ordnungsmäßig anerkannt, und nur Anarchisten und Rebellen sind daher gottlos genug, das e in der ersten Silbe wegzulassen. Ordnung muß sein, im Großen und Größten, im Kleinen und Kleinsten....«

Er hielt erschöpft inne und schnappte nach Luft.

»Auf Erden und am Himmel,« ergänzte ich aufs Geratewohl den Satz.

»Am Himmel? Hm, hat sich was damit!« sagte er mit niedergekniffenen Mundwinkeln. Zugleich ließ er aus seinem erhobenen Stock die Lichtschere hervorgucken, als wollt' er damit geschwind etliche »anarchische« Sterne da droben ausputzen. »Wissen Sie, am sogenannten Himmel ist auch keine rechte Ordnung. Sonst hätte man ja den unordentlichen Lebenswandel der Kometen schon lange nicht mehr geduldet. Und dann dieses Vorübergehen der Venus vor der Sonnenscheibe, was sagen Sie dazu? Ist das in der Ordnung? Die Venus soll hübsch ordentlich unter oder meinetwegen über der Sonne dahingehen, aber nicht quer vor Ihro allerhöchsten Nase vorüber. Das heißt ja der Sonne sozusagen ein Schnippchen schlagen und ist wider allen Respekt, wider alles Dekorum, wider alle Ordnung.«

So sprechend, schoß er von mir weg – wir waren derweil in den Hof Ragaz und im rechten Flügel bis ins erste Stockwerk gelangt – und fuhr wie der Wind auf einen im Korridor stehenden Tisch zu, an welchem, wie es schien, etwas nicht in Ordnung sein mußte.

»Da haben wir es wieder!« murmelte er und fuhr langsam mit der Spitze des Zeigefingers über die Tischplatte, bis auf der nicht abgestaubten Fläche in Frakturbuchstaben »Staub!« zu lesen war.

»So sind die Weibsleute!« brummte der Besitzer des Wunderstockes. »Können Sie es für möglich halten, daß ich schon gestern auf dieselbe Tischplatte denselben Ordnungsruf geschrieben habe? Umsonst!«

Und mit temperierter Energie seinen vielseitigen, aber rücksichtsvoll zu behandelnden Stock auf die erste Stufe der Treppe zum zweiten Stockwerk setzend, fuhr er fort: »Sagen Sie, mein lieber Herr, ist Ihnen jemals ein weibliches Wesen vorgekommen, Kind, Mädchen, Frau, Greisin, welches jemalen mittels Ermahnung, Güte, Ernst, List oder Gewalt zu vermögen gewesen wäre, eine Türklinke ganz ins Schloß zu drücken oder einen Fensterriegel ganz zuzudrehen?«

»Nein; die Wahrheit zu sagen, so ein weibliches Wesen ist mir noch nicht vorgekommen.«

»Nicht wahr?« fuhr er mit frohlockendem Lachen fort. »O, wenn Sie wüßten, welche Mühe, welche unsägliche Mühe ich mir jahrelang gegeben, meinen Frauenzimmern daheim die Türklinken- und Fensterriegelordnung beizubringen. Rein umsonst! Aber wissen Sie, wie ich bei mir zu Hause das unordentliche Geziefer bestrafe? Wo ich eine Tür nur angelehnt, wo ich ein Fenster nur halb geschlossen finde, hebe ich sofort die Türe oder den Fensterflügel aus den Angeln und stelle sie seitlängs an die Wand. Das verursacht den Damen hübsch Ärger und Arbeit, namentlich im Winter. Ordnung muß sein, sag' ich. Aber ist das da Ordnung, wie?«

Und mit sittlicher Entrüstung wies er auf eine Stufenfolge von frischen Milchflecken hin, welche sich die Treppe hinaufzog. Ein mit dem Frühstücksapparat die Treppe hinauf- oder herabgeeiltes Zimmermädchen mußte den Milchtopf nicht »ordentlich« im Auge behalten haben.

Was tat nun mein Ordnungsfanatiker? Etwas, das ich noch nie gesehen hatte. Er zog nämlich ein Stück Kreide aus der Tasche und zeichnete damit Treppenstufe für Treppenstufe um jeden der verschütteten Milchtropfen her einen sauberen Kreis.

»Sehen Sie,« sagte er, »dies ist die Art und Weise, wie ich daheim bei mir meine Frauenzimmer auf derartige Verstöße gegen alles Scham- und Schicklichkeitsgefühl, die sie natürlich nicht von sich aus sehen und korrigieren würden, aufmerksam mache. O, Unordnung, dein Name ist Weib!«

2.

Ich beeilte mich, meiner aus dem Bade gekommenen Reisegefährtin von dem kostbaren Funde zu erzählen, welchen ich soeben gemacht. Allein die Gute war von dem Tubusmann und Staubfeind viel weniger erbaut als ich.

»Unstreitig ein Prachtexemplar von Haustyrann,« meinte sie. »So ein Töpfegucker und Staublappenwüterich! Mich erbarmen nur seine ›Frauenzimmer daheim‹. Dieses Ausheben von Türen und Fensterflügeln! Im Winter! Das ist ja die pure, blanke Verrücktheit. Der Mann gehört ins Narrenhaus. Hast du ihm das nicht gesagt?«

»Wie sollt' ich? Konnte ihm doch nicht so ganz unrecht geben. Du weißt ja, das bewußte Verhalten von frauenzimmerlichen Händen zu Türklinken und Fensterriegeln ist eine weltgeschichtliche Tatsache, gegen welche man nicht aufkommen kann, und ...«

»Was? Auch du, Brutus? Warte nur, ich will es dem Herrn mit der blauen Brille und der Kreide bei erster Gelegenheit schon sagen ...«

Die Gelegenheit kam aber nicht so geschwind.

Als ich vor Tische noch einen Gang in der Umgebung des Hofes machte, ergab ich mich einem Hauptlaster der Ragazer Kurgäste, will sagen der zudringlichen Begaffung, womit man Ankommende, wenn sie aus den vom Bahnhofe herfahrenden Omnibussen aus- oder in die zum Bahnhofe hinfahrenden Omnibusse eingepackt werden, schonungslos zu behelligen pflegt.

Gerade war ein riesiger Omnibus mit Scheidenden vollgepackt oder eigentlich vollgepökelt. Aus dem Hinterfenster ragte der Griff eines Alpstocks hervor, und über dieser Gestalt meiner Stockbekanntschaft von heute morgen erschienen ein Paar große runde blaue Brillengläser, jedoch nur für einen Moment, denn im folgenden fuhr eine breite Strohhutkrämpe über die Brillengläser herab, und zugleich ertönte eine Stimme aus dem wuselnden Innern: »Herrgott, ist das 'ne Ordnung! Einen so zu stoßen, was? Einem sozusagen den Hut antreiben, wie? Die reine Anarchie, Herr Justizrat.«

Und siehe, der Bergstocksgriff verwandelte sich in eine Stilettspitze. Der lustige Justizrat, ein guter Bekannter und lieber Tischnachbar von mir, intonierte ernsthaft:

»'s ist keine Ordnung in der Schweiz,
Im Winter regnet's, im Sommer schneit's ...«

»Ja, da haben Sie sehr recht, bester Justizrat. He, wer stößt mir mit einem Regenschirm oder so was in den Rücken? Einen Omnibus so vollzustopfen! Schreckliches Land! Nicht der Schatten einer Idee von Ordnung! Gestern hört' ich in Chur einen Bierwirt mit ›Herr Präsident!‹ anreden. Nein, so was! Solche Begriffeverwirrung und Ständeverwechselung! ›Herr Präsident, ein Glas Bock!‹ Schauder! Wo Bierwirte Präsidenten sein, wie kann die Ordnung da gedeihn?«

»In's Dreiteufelsnamen, Herr!« rasselte eine fette Stimme in dem Wagen. »Machen Sie selber Ordnung mit ihrem Dings von Stilett da! Sie hätten mir ja fast ein Auge ausgestochen.«

»Bitte tausendmal um Entschuldigung, mein Herr.« (Die gefährliche Stilettspitze machte einem harmlosen kleinen Trinkbecher Platz, als sollte dem unwirschen Gegenüber daraus der Versöhnungstrunk kredenzt werden.) »Aber, Herr Justizrat, Sie bringen mir die fragliche Sache auch gewiß in Ordnung, nicht wahr?«

»Ganz gewiß, mein lieber Herr Gigax. Alles soll ordentlich, ordentlicher, ordentlichst geordnet werden.«

»Und noch von hier aus, wie? Denn Sie wissen, Ordnung, ordentliche Ordnung soll und muß sein, in allem und jedem ...«

»Im Größten wie im Kleinsten,« ergänzte der Justizrat.

»Auf Erden und am Himmel,« schloß ich.

»Ja, ganz richtig. Ord–«

Die Pferde zogen an ...

»Nung!« scholl es noch aus dem Wagenschlag und dahin fuhr der Ordnungsmann.

»Ein Prachtkerl!« sagte der Justizrat, als der Omnibus linkshin auf die neue Taminabrücke eingebogen und unseren Blicken entschwunden war. »Aber kennen Sie ihn denn?«

»Seit heute vormittag von Person, aber nicht von Namen. Sie nannten ihn Herr Gigax, wenn ich recht verstand.«

»Ja, Gigax, Ambrosius Gigax heißt er, ist aber bei uns zu Hause allgemein bekannt als der ›Ordnungsfanatiker‹, welchen Spitznamen er keineswegs als einen solchen übelnimmt, sondern vielmehr als einen Ehrennamen betrachtet und hochhält.«

»Der Ordnungsfanatiker? So hab' ich ihn ja auch im stillen heute früh genannt, nachdem ich sein punktilios ordentliches Gebaren zu beobachten und seine Bekanntschaft zu machen Gelegenheit hatte.«

»Wie war denn das?«

Ich erzählte und der Justizrat sagte dann: »Ja, der ganze Ordnungsfanatiker!«

»Er ist Ihr Landsmann?«

»Und Hausnachbar. Auch ein sehr guter Klient, denn ohne etliche Prozesse auf den Armen zu haben, kann er nicht leben. Er nennt das Ordnung machen. Sie können sich nicht vorstellen, was für abenteuerliche Querelen er schon ausspintisiert und angesponnen hat. Keineswegs aus Händelsucht, denn er ist im Grunde der gutmütigste Mensch von der Welt, sondern aus purer Ordnungswut.«

»Also nicht ganz richtig im Oberstübchen?«

»Nun, Sie sahen ja selbst, wie polizeiwidrig lang der Mann gewachsen ist. Häuser von sechs oder gar von sieben Stockwerken pflegen aber bekanntlich im obersten nicht am besten bewohnt zu sein. Übrigens war der Herr Geheimrat Professor Dr. Ambrosius Gigax früher ein berühmter Gelehrter, eine vielgenannte Kathederkerze, geradezu eine Autorität.«

»Zu meiner Schande muß ich gestehen –«

»Daß Sie von dem großen Gigax nichts wußten? Nun, trösten Sie sich! Von gar vielen berühmten Gelehrten, Geheimräten, Professoren, Doktoren, Kathederkerzen und Autoritäten von heute wird man schon morgen auch nichts mehr wissen. Das stupend gelehrte Opus, an welchem Gigax viele Jahre lang gearbeitet hatte, ist ja auch nie fertig geworden. Es sollte den Titel führen: ›Das Kehrichtfaß der Weltgeschichte‹ – und begeisterte Gigaxianer behaupteten, es würde die Philologie, die Philosophie, die Historik, die Politik und was weiß ich, was alles sonst noch reformieren, die Lehre vom Unendlich-Unbedeutenden zu einem neuen Weltgesetz entwickeln und aus jedem verschollenen Papierschnitzel den einen oder den anderen Paragraphen dieses Gesetzes herausbuchstabieren.«

»Ah, jetzt dämmert es mir auf! Die vielen gelehrten Lappalienkrämer, Lumpensammler und Minutienbossler, welche sich heutzutage so mausig machen, sind eigentlich Gigaxianer?«

»Freilich, der Mann hat eine zahlreiche, weichselzopfig verfilzte Schule gegründet, und wie der Meister es trieb, treiben es die Schüler. Das ist ein Aufstöbern von Briefschnitzeln, ein Aufstäuben von altem Kehricht, eine Lesartenjagd, eine Variantenklauberei, ein Zank, ob ›und‹, ob ›oder‹, ob › et‹ oder ›ac‹ zu lesen sei, ein Stank, ob in der Handschrift oder im ersten Druck von Goethes Götz jene berühmteste zum Fenster der Burg Jaxthausen hinausgerufene Stelle rund und nett ausgeschrieben oder aber bloß mit den Anfangsbuchstaben gezeichnet oder gar nur mit Gedankenstrichen angedeutet gewesen sei. Und das alles ›um Hekuba‹!«

»Doch nicht so ganz. Sie vergessen, daß die Herren Stöberer und Stäuber, Jäger und Klauber, Zänker und Stänker in ihrer Impotenz quälendem Gefühle sich gedrungen fühlen, mit ihren ›Fünden‹ das ›Ginnungagap‹ das gähnende Hohl und Leer unter ihren Schädeldecken einigermaßen auszufüllen, wohl wissend, daß den guten Deutschen und besseren Deutschinnen nichts so imponiere, wie die Ordinärietät oder Ördinarietät, welche sich gelehrt zu schminken und zu frisieren versteht....«

Eine Woche nach diesem ruchlos unwissenschaftlichen Gespräche gingen wir an einem heißen Augustmorgen durch die Gassen der alten Konzilsstadt am Bodensee. Wir hatten uns müde gegangen, und da wir gerade das Münster vor uns hatten, machte ich meiner Begleiterin den Vorschlag, einzutreten und uns in der Kühle auszuruhen. Es war aber da drinnen nicht kühl, sondern schwül, denn wir trafen eine zahlreiche Versammlung von mehr oder weniger Andächtigen und fielen mitten in die Festpredigt – es war Mariä Himmelfahrt – hinein.

Die alte dogmatische Wassersuppe mit den Unschlittaugen einer barocken Mythologie darauf. Im übrigen gab sich der Prediger alle erdenkliche Mühe, zu beweisen, daß der Ruhm aller berühmten Männer von Adam bis herab auf Bismarck, verglichen mit dem Ruhme der allerseligsten Jungfrau und Himmelskönigin, doch eigentlich nur Basel sei.

Wir warteten den Beginn der Messe ab und das alte Lied, die alte Leier klimperte mir nach dreißigjähriger Entwöhnung seltsam im Ohre. Was sich wohl die Nonnen, die da knieten, dabei dachten? Wahrscheinlich nichts. Aber die Tradition ist doch eine wunderbare Macht! Dieselben Händefaltungen und Armespreitungen, dieselben Neigungen und Kniebeugungen, dieselben Murmelungen, Sprengungen und Räucherungen, welche wir hier vor uns sahen, haben schon vor Jahrtausenden im Tempel des Sonnengottes Ra zu On im alten Ägypten gläubige Seelen »erbaut«, ohne daß sie wußten warum und wie. Alles wohl erwogen, ist der Glaube doch ein bequemerer Gesellschafter als der Gedanke. Schade nur, daß dieser, wo er einkehrt, jenen unerbittlich und für immer zum Hause hinauswirft.

Wir blieben nicht bis zur Peripetie und Katastrophe des liturgischen Messedramas. Hatten schon an der Exposition genug; die Kirche war schon so lange nicht gelüftet worden und der Weihrauch roch so schlecht!

Als wir uns einem der Seitenportale zuwandten, kam mir vor, eine dem Ordnungsfanatiker ähnelnde Figur an einer Säule lehnen zu sehen. War er es wirklich? War es eine optische Täuschung? Nein, denn kaum waren wir zu der Pforte hinaus, als ich richtig die Stimme des Herrn Ambrosius Gigax hinter mir vernahm: – »Ah, Herr ... r ... r, Sie haben es auch nicht länger ausgehalten in der Unordnung da drinnen?«

»Unordnung? Daß ich nicht wüßte!«

»Ja, so sagt' ich. Da will sich der sogenannte Fels Petri für den Grund- und Eckstein aller Ordnung ausgeben und weiß nicht einmal im eigenen Hause Ordnung zu halten. Schmählich! Was?«

»Ich verstehe Sie nicht, verehrter Gönner und Freund.«

»Wie? Haben Sie denn nicht bemerkt, daß da drinnen Verstöße gemacht werden, welche der Würde des Kultus geradezu hohnsprechen? Auf dem Hochaltar steht der mittlere der drei Leuchter auf der rechten Seile mindestens einen Zoll zu weit links, wodurch die Symmetrie und mit dieser natürlich zugleich die Symbolik, die Leuchtersymbolik garstig beeinträchtigt wird. Sodann ist die Mechanik des Rauchfasses ganz elend: der Deckel ließ sich nicht regelrichtig auf- und niederziehen, sondern blieb an einer der drei Seitenketten unästhetisch hängen. Aber das Tollste waren die vier Ministranten! Nämlich drei davon lange Bengel und der vierte ein wahrer Knirps. Wem durch diese maßlose Ungleichheit nicht alle Illusion und Andacht gestört und vernichtet wurde, der hat keine Augen im Kopfe und keine Seele im Leibe. Was?«

Er war ganz rot im Gesichte vor heiligem Ordnungseifer. Meine Begleiterin blickte zur Seite, um ihr Lächeln zu verbergen, ich aber sagte mit geziemendem Ernst: »In der Tat, das sind bedenkliche Ausartungen. Sie sollten dieselben den sogenannten Altkatholiken verraten. Da hätten diese bei ihrer nächsten Generalsynode doch mal einen Verhandlungsgegenstand, welcher Hand und Fuß hat. Aber erlauben Sie, hochverehrter Herr, daß ich Ihnen meine Frau vorstelle.«

»Sehr verbunden,« sagte Herr Gigax und entwickelte bei dieser Vorstellung eine so regelrechte, umständliche, mit dem Zirkel abgemessene Galanterie, wie sie nur immer in einem Komplimentierbuch aus dem Anfang unseres Jahrhunderts gedruckt steht.

Meine Frau behauptete aber nachher schnöderweise, Herr Ambrosius habe sicherlich ihre Hände darauf angesehen, ob dieselben wohl schon jemals eine Türklinke oder einen Fensterriegel ganz zugedrückt hätten.

Es fand sich, daß der Ordnungsfanatiker wie wir im »Inselhotel« abgestiegen war und uns bei Tische gegenüber saß.

Da war es nun ein großer Genuß, zu sehen, wie sehr Herr Gigax in allem und jedem der Würde des Ortes eingedenk blieb. Der Speisesaal im Inselhotel ist nämlich bekanntlich eine ehemalige Klosterkirche und durchweg im kirchlichen Sinne restauriert und eingerichtet. Die Speisen und Getränke hatten auch entschieden etwas Asketisches. An den Wänden hat man da und dort fürchterlich schöne mittelalterliche Heiligenfresken stehen lassen, mit Füßen wie Froschkeulen und Leibern, bei deren Betrachtung einem Wesen und Bedeutung der geraden Linie aufgeht. Ob die Essigblicke dieser Fresken oder Fratzen zu der fünf Tage lang von mir erprobten Trübheit der Weine im Hotel in einer mystisch-spiritistischen Beziehung standen, konnte ich nicht ergründen, sondern nur glauben.

Herr Ambrosius ließ Falkenblicke die Tafel auf- und niedergehen, um zu sehen, ob alles in Ordnung. Soweit seine Hände reichten, besserten sie allfällige Mängel der Ordnung und Symmetrie in der Tafelbeschickung gemeinnützlich aus. Insbesondere ließ er es sich angelegen sein, Salzfaß, Pfefferbüchse und Senftopf so zu ordnen, daß sie die Winkel eines tadellos regelmäßigen Dreiecks bildeten. Was seine persönlichen Vorbereitungen zum Aktus des Essens angeht, so hätte seine Vor-, Um-, Neben- und Rücksicht selbst dem »Eßkünstler« Börnes Bewunderung abgezwungen. Beschreiben läßt sich sowas nicht, man muß es sehen. Genug, unser Ordnungsfanatiker saß, nachdem er seine Teller, sein Besteck, sein Brot, sein Wasser- und sein Weinglas in die richtige Ordnung gebracht und seine Serviette umgebunden hatte, in Erwartung der Suppe da mit einer Sammlung, einer Würde, einer Feierlichkeit, wie sie mein hochwürdiger Herr Vetter, der Erzbischof von München-Freising, zu entwickeln weiß, wann er sich anschickt, ein Hochamt zu zelebrieren.

Hernach tranken wir unseren Kaffee und rauchten unsere Glimmstengel in dem ehemaligen, »stilvoll« – wie die modische Redensart lautet – wiederhergestellten Refektorium der Dominikanermönche. Und da hat mir nun mein Herr Gigax einen seiner tiefsinnigsten Ordnungsgedanken anvertraut.

Wir befanden uns ja im neuen Deutschen Reiche und konnten also anstandshalber nur von dem Glücke reden, Bürger dieses obzwar vorderhand noch etwas lotterigen und schlotterigen Reiches zu sein. Kurzum, wir fühlten uns nicht nur als Deutsche, sondern auch als Teutsche, obgleich wir nicht umhin konnten, zu finden, daß man da drüben beim »Erbfeind« in Frankreich bedeutend besseren Kaffee tränke als im neuen Deutschen Reich. Ich stellte den verwegenen Satz auf, der Reichskanzler, als der einzige Verantwortliche Reichsminister, sei auch für den schlechten Reichskaffee verantwortlich, und mein Herr Ambrosius fand diesen Satz »ganz in der Ordnung«. Dann kamen wir auf das Parteiwesen zu sprechen und fanden es höchst beklagenswert, daß sogar die Nationalli-vreebedienten dann und wann so täten, als könnten und wollten auch sie maulen und mucksen, ja geradezu gegen den Bismarcksstachel »löcken«.

»Das ist der anarchische Höllengeist unserer Zeit – was?« rief Herr Gigax aus. »Nirgends in Staat und Kirche Übereinstimmung, Gleichklang, Ordnung, Harmonie. Kein Kosmos, sondern ein richtiges, d.h. unrichtiges, ich meine ein solches Tohu Wabohu, wie es in der Genesis, Kaput 1, Vers 2, steht. Das muß ein Ende nehmen. Jeder anständige Mensch hat die Verpflichtung, nach Maßgabe seiner Kräfte« – (hier sprang er auf, um ein schief an der Wand hängendes Bild geschwind ins Gleichgewicht zu rücken) – »Ordnung zu schaffen. Uns Deutschen insbesondere fehlt ein Zentralordnungsprinzip ...«

»Ja,« unterbrach ich den Eifrigen, »das hat schon der selige Heine gefühlt und gesagt. Uns fehlt – wissen Sie?

›Uns fehlt ein Nationalzuchthaus
Und eine gemeinsame Peitsche.‹«

»Was, Sie wagen sich auf den verschollenen Heine zu berufen? Entschuldigen Sie, aber ich kann nicht umhin, Ihnen bedauernd zu sagen, daß Sie erschrecklich hinter der Zeit, in der wir leben, zurückgeblieben sein müssen. Den Heine zitieren! Jetzo, wo der zeitgemäße katalische Quell nur noch in Berliner und Leipziger Teekesseln sprudelt und nachgewiesen, wunderschön nachgewiesen und dargetan ist, daß unsere Bärenhäuter von Ahnen nur von Marzipan und Zuckerwasser sich genährt und bei der Mademoiselle Madeleine de Scudery Privatunterricht in der Poetik, Konversation und Orthographie genommen haben. Den verruchten Heine zitieren, was? Zu einer Zeit, wo der deutsche Parnaß kein mit Felskolossen und Riesenfichten bekrönter, rauschende Wildbäche zu Tale schickender Berg mehr ist, auf welchem Götter mit Nymphen scherzen, Göttinnen Heroen küssen, Titanen gegen die Ananke rebellieren und Satyrn mit Bacchantinnen Blindekuh spielen, sondern nur noch ein ordinärer Salon, allwo ordinäre Konversation gemacht, den Gästen schönseliges Butterbrot und loyaler Tee gereicht und zu ihrer Extraerbauung eine Gliederpuppe herumgeboten wird, die abwechselnd als altdeutscher Recke oder als moderner Bauer, als Pastor oder Bankier, als Dichter, Maler, Bildhauer, Musiker, Philosoph oder sonstiger Reichsprofessor frisiert und kostümiert, aber immer dieselbe Gliederpuppe ist.« »Um des Himmels willen!« rief ich entsetzt. »Sie werden ja ordentlich satirisch, Verehrtester.«

»Satirisch, ich? Ordentlich satirisch? Da muß ich Sie doch auf einen horribeln Widerspruch aufmerksam machen. Es gibt ja keine ordentliche Satire. Die Satire ist Unordnung schlechthin. Ordentliche Satire? Das ist gerade, als sagten Sie: nationalliberale Konsequenz.«

»Bitte, bitte sehr, lassen wir das häkelige Thema. Sie wissen, der Nationalliberalismus besitzt das Patent der deutschen Intelligenz, das Monopol des deutschen Patriotismus und das Privilegium der deutschen Staatsmännischkeit. Mit einem so großen Herrn ist nicht gut Kirschen essen.«

»Ei was! Ich bin selber ein Nationalliberaler höchster Potenz und mit teutschestem Mannesstolz. Und gerade, weil ich das bin, will ich, daß endlich einmal ordentliche Ordnung in die Partei komme. Sie wissen, ich beschäftige mich viel mit physikalischen Studien und mechanischen Konstruktionen. Nicht ohne Erfolg, wie ich ja wohl sagen darf.« – (Hierbei hob er seinen Zauberstock in die Höhe, der jetzt die Gestalt eines Lesepultes hatte.) – »Sehen Sie«, fuhr er fort, während ich eine bewundernde Verbeugung machte, »ich glaube der Mann zu sein, welcher die vorhin genannte große oder vielmehr einzige, d.h. die einzig und allein existenzberechtigte Partei der Intelligenz, des Patriotismus und der Staatsmännischkeit auf eine Basis von Granit zu stellen, dieselbe als einen wahrhaftigen › rocher de bronze‹ zu ›stabilieren‹ vermag.«

»Wirklich? Quibus auxiliis? Sie spannen meine Neugier auf die Folterbank.«

»Ja, es ist allerdings etwas Großes, um was es sich da handelt. Nämlich um die Erfindung und Herstellung eines Gradmessers der öffentlichen Stimmung, beziehungsweise eines Regulators der politischen Gesinnung.«

»Aber wir haben ja die Presse.«

»Die Presse? Bleiben Sie mir gefälligst damit vom Leibe! Das ist ja die personifizierte Unordnung. Hätte ich die Macht dazu, die Presse sollte bald nirgends mehr zu sehen sein, es wäre denn als Kuriosität in einem Raritätenkabinett. Nein, ich denke an etwas ganz anderes. Wir haben Baro-, Thermo-, Hydro-, Hypso- und andere Meter, aber ein Stimmungs- und Gesinnungsmeter, wohlverstanden! ein obligatorisches, haben wir nicht. In einigermaßen geordneten Städten sind Baro- und Thermometer aufgestellt, nicht selten in Verbindung mit elektrischen Uhren. So eine Konstruktion hab' ich im Auge. Auf allen Plätzen, an allen Straßenecken, item auch in Kirchen, Theatern, Parlamentshäusern, Konzertsälen und Wirtschaften sollten Stimmungs- und Gesinnungsmeter aufgestellt werden, verbunden mit elektrischen Uhren, deren Leitdrähte allesamt im Reichskanzleramte zu Berlin zusammenlaufen müßten. Die Idee ist mir bereits wasserklar, nur in betreff dieser und jener Einzelnheit der Ausführung bin ich noch nicht ganz im reinen. Der Apparat muß eben, wie leicht begreiflich, ein sehr sinnreicher sein. Die Quecksilbersäule soll den politischen Luftdruck von außen oder von innen, soll Stille oder Sturm in der diplomatischen Welt signalisieren und den amtlichen Wärme- oder Kältegrad, die ordnungs- und ordonnanzmäßige Staatstemperatur angeben, während die Bewegung der Zeiger auf dem Zifferblatte der Uhr bestimmt ist, die einzelnen Modalitäten und feineren Nuancen in den Anschauungen, Velleitäten und Tendenzen des leitenden Staatsmannes zu markieren.«

»Phänomenal!« rief ich begeistert aus. 8 »Nicht wahr? Erst dann, wann mein Stimmungs- und Gesinnungsmesser in Tätigkeit sein wird, kann man von Realpolitik reden?«

»Gewiß, und die erste wohltätige Folge Ihrer Ordnung und Harmonie schaffenden Erfindung wird sein, daß unsere Realpolitiker sich nicht mehr wie bis dato die Hälse zu verdrehen und auszurenken brauchen, um rechtzeitig zu erlickern und zu erlauschen, auf welche offizielle Tonart die liberale Nationalgeige zu stimmen sei.«

»Ganz recht. Schon das ,ist des Schweißes der Edlen wert'. Aber was will es sagen gegenüber der sicheren Aussicht auf eine Zeit, wo mein Ordnungsregulator oder vielmehr mein Kosmoharmonium – denn so soll der Apparat heißen – die leitenden Staatsmänner in den Stand setzt, die Staaten so leicht und sicher, so ruhig und ordentlich zu regieren, wie ein Leierkastenmann sein Stücklein herunterorgelt?«

Und mit elegischem Ausdrucke setzte er hinzu: »Schade, wahrhaft schade, daß ich dannzumal nicht mehr leben werde. Ein Genuß, ein Hochgenuß müßte es sein, in einer solchen Ordnungswelt ordentlich herumzuspazieren.«

3.

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er dasaß, mit auf die Nasenspitze oder vielmehr Nasenknolle vorgerutschter Blaubrille, über welche hinweg seine Augen durch die offenstehende Türe auf den Seespiegel hinausblickten – ganz Stolz und doch zugleich auch ganz Wehmut. Durch die Furchen seiner Stirne schlängelte sich ein Abglanz des Bewußtseins, der Träger einer großen Mission zu sein; aber seine Mundwinkel hingen traurig herab, als wollten sie andeuten, daß am Ende aller Enden doch alles eitel sei, auch das »Kosmoharmonium« nicht ausgenommen.

Man konnte nach Belieben an allerhand denken: an den großen Marius auf den Trümmern von Karthago, an den großen Napoleon unter den Weiden von Longwood, an den großen Schopenhauer an der Table d'hôte im Schwan zu Frankfurt, an einen großen, größeren, größten Nationalliberalen oder Liberalnationalen, dem eine Redeverhaltung Bauchweh macht, usw.

Seine weltschmerzliche Situation hinderte jedoch meinen verehrten Gönner nicht, im Interesse der Ordnung tätig zu sein, d.h. er ordnete dem ihn vermutlich durchtobenden Gedankensturm zum Trotz seinen Rauchapparat mit einer so bewunderungswürdigen Sauberkeit und Genauigkeit, daß ich dafür das Wort Appetitlichkeit erfinden würde, so es nicht bereits erfunden wäre und mir nicht außerdem einer der Nachtwächter der ungeheuerlich großen civitas virorum obscurorum bei Strafe seiner Ungnade die Wortefindungen strengstens untersagt hätte. Mein Herr Ambrosius Gigax hätte sollen von Rechts wegen als Ordinarius an eine große Hochschule berufen werden, um die Ästhetik des Rauchens vorzutragen. Ich bin auch überzeugt, daß eine Raucherin – emancipata fumosa vulgaris Linn. – so eine dagewesen wäre, die scharfsinnige und edle Manier, womit der Ordnungsfanatiker Papierstreifen zu rollen verstand, um damit die Zigarrenspitze zu reinigen, zum küssen liebenswürdig gefunden haben würde....

Mein würdiger Freund reiste unmittelbar nach der mir gegönnten Vertrauensstunde weiter, und ich habe ihn nicht wiedergesehen.

Werde ihn auch nicht wiedersehen, zu meinem nicht geringen Leidwesen.

Denn ich habe ja um der Wissenschaft, um des neuen Deutschen Reiches und um der alten Menschheit willen den vorzeitigen Tod Ambrosii Gigacis zu beklagen. Den vorzeitigen Tod, maßen selbiger sich ereignete, bevor das herrliche Kosmoharmonium konstruiert und in Funktion gesetzt war.

Kaum nämlich war ich im Herbst in meine Zweisiedelei am Zürichberge heimgekehrt, als ich einen Brief von dem lustigen Justizrat erhielt, der mich in einer Prozeßsache um eine Auskunft ersuchte und dann also fortfuhr:

»Lugete, o Veneres Cupidinesque! Unser über die Maßen trefflicher Ambrosius Gigax ist nicht mehr, der Ordnungsfanatiker ist tot!

Wer wird künftig unsre Mägde lehren
Staub vertilgen und die Treppen kehren
Und die Fensterriegel drehen zu?

Ich weiß, Sie sind imstande, das ganze Volumen der Einbuße würdigen zu können, welche das Vaterland durch diesen so plötzlichen Todesfall erlitten hat. Und zu denken, daß der würdige Mann an seinem Ordnungssinn zugrunde gehen mußte, welche Ironie Satans! Mit Recht haben Sie irgendwann gesagt, daß dem Menschen häufig gerade seine Tugenden zu Fallstricken würden. Aber genug der Klagen und Sentenzen. Vernehmen Sie lieber die kondensierte Geschichte der Todesfahrt unseres großen Ambrosius. Hier ist sie... Der Selige war gewohnt, vom Frühling bis in den Herbst hinein täglich ein Strombad zu nehmen. Er behauptete, während er bis an den Hals im Wasser säße, kämen ihm die luzidesten Gedanken in betreff seines grandiosen Kosmoharmoniums. Wohl, saß also vor acht Tagen eines schönen Morgens, wie gewohnt, im Wasser, Strohhut auf dem Kopfe, Blaubrille auf der Nase, tief meditierend wie ein indischer Jogi. Mit einmal – Sie verstehen, ich habe die Tatsachen dieses Berichtes mit großer Sorgfalt nach und nach ermittelt; für dies und das mußte auch Kombination zur Hilfe genommen werden – mit einmal, sag' ich, fährt er aus seinem Nachsinnen auf: etwas Unordentliches hat sich in seinen Gesichtskreis gedrängt! In der abgelegenen Bucht, wo er sein Morgenbad nahm, waren mehrere Tags zuvor den Fluß herabgekommene Holzstöße am Ufer befestigt. Einer derselben mußte nachlässig angebunden oder das morsche Bastseil mußte geborsten sein, kurz, der Floß kam in Bewegung und trieb langsam an unserm badenden Freunde vorüber. ›Halt, halt! Was ist das für eine Ordnung?‹ rief er aus, stand auf, watete eilends tiefer in den Fluß hinein und faßte eins der an der Seite des Flosses herabhängenden Tauenden, in der verwegenen Absicht, das auf eigene Faust davonschwimmende Ding aufzuhalten. Natürlich hatte da der Teufel leichtes Spiel. Der alte Mann war viel zu schwach, den rebellischen Floß zu halten, und wollte doch nicht davon ablassen, dieser Unordnung zu steuern. Noch zerrte er mit beiden Händen an dem Tau, als er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. Der Floß war in tieferes Wasser und in raschere Strömung gekommen, Ambrosius aber war kein Schwimmer, und so blieb ihm, wollte er nicht ertrinken, nur der Versuch übrig, sich auf den verdammten Floß hinaufzuschwingen. Nur mit Mühe und Not gelang das und mit Hinopferung des Strohhutes, welchen der Flußgott an sich nahm.... Fürs erste war der Mann der Ordnung nun allerdings geborgen. Aber was war das für eine Bergung? Nur eine, daß Gott erbarm'! Der Floß trieb rasch und immer rascher dahin, ganz regelrecht und fein mitten im Strom. Unter andern Umständen hätte unser armer Freund wahrscheinlich seine Freude daran gehabt, daß der Floß so selbständig, selbstdenkerisch und selbstlenkerisch, sozusagen ganz volksmündig hinschwamm. Allein in diesem Kostüm, d.h. nur mit einer blauen Brille angetan, den unfreiwilligen Flößer zu spielen, das ging doch gegen alle physische und moralische Kleiderordnung. Zum Glück tritt der Strom unterhalb der Stadt sofort in eine recht ländliche, ja einsamliche Wiesen- und Waldgegend. Aber dieses Glück konnte Herr Ambrosius auch nicht lange als ein solches anerkennen. Ihn begann ja erst zu frösteln, dann arg zu frieren, und der Floß ging immerzu, immerzu. Um sich zu erwärmen, ging und sprang der Ordnungsmann auf den Balken und Bohlen hin und her, als er links ans dem Walde – der Fluß war derweil in den großen Attisforst eingetreten – ein erstauntes und erschrockenes ›Herr Jesses!‹, vernahm. Er schaute hinüber und nahm ein paar Dörflerinnen wahr, welche mit Holzauflesen beschäftigt gewesen, als der Floß mit seiner absonderlichen Fracht in Sicht kam. Die erste Regung unseres unglücklichen Freundes war, sich platt auf den Floß niederzuwerfen und vor Scham- und Schicklichkeitsgefühl zu vergehen. Nun gibt es aber Lagen und Stunden, worin und wann sogar einen Ordnungsfanatiker das Scham- und Schicklichkeitsgefühl verläßt. Unser armer Freund mußte das auch erfahren, indem er, alle Rücksicht auf das Dekorum vergessend, beweglich um Hilfe rief. Allein das hatte nur zur Folge, daß sich die beiden holzlesenden Frauenzimmer mit einem abermaligen ›Herr Jesses!‹ noch seitwärtser in die Büsche schlugen. Freilich scheint in dieser Seitwärtsigkeit die weibliche Neugier über das weibliche Zartgefühl den Sieg davongetragen zu haben; denn es ist ja konstatiert, daß die beiden Dorfdamen das Ende von Ambrosii Flußfahrt mit angesehen haben. Sie sagten nämlich nachmals ungefähr also aus: – ›Als der Adam mit der blauen Brille merkte, daß ihm keine Hilfe käme – und wie hätten denn wir ihm welche bringen können? – suchte er sich selber zu helfen. Der Floß hatte sich dem rechten Ufer etwas genähert, und wir sahen über den Strom hinweg, daß der Mann sich anschickte, zu versuchen, ob es ihm gelänge, mit den Händen einen der Fichtenäste zu erfassen, welche da und dort in geringer Höhe über das Flußbett sich hereinstreckten. Das Wasser ist da tief und reißend. Der Floß schoß nur so dahin. Es mußte demnach nicht leicht sein, so einen Baumast zu fassen und festzuhalten. Nun sahen wir den Mann auf dem Floß, als dieser unter einer mächtigen Fichte vorüberglitt, einen Luftsprung machen, und richtig kriegte er mit beiden Händen einen Ast zu fassen. So hing er in der Luft, während der Floß unter ihm wegfuhr; aber nur einen Augenblick sahen wir ihn so dahangen. Denn sogleich hörten wir den Ast, der Wohl ein dürrer war, krachen, und der unglückliche Mann stürzte in den Strom, der ihn fortriß und bald über ihm sich schloß.' So die Aussage der beiden Dörflerinnen. Sie fügten derselben noch hinzu, daß der Mann, bevor sein Kopf unter dem Wasser verschwand, noch ein Wort gerufen habe, welches sie aber in ihrem Schrecken nicht verstanden hätten. Es habe geklungen wie Ort, dort, fort, oder so etwas. Ich denke, lieber Freund, es wird keine zu kühne Aufstellung sein, wenn ich vermute, daß unser armer Ordnungsfanatiker mit seinem Schlachtruf ,Ordnung!' auf den Lippen gestorben sei.... Zwei Tage darauf wurde eine Wegstunde weiter stromabwärts in einem Weidengebüsch am Ufer der Tote gefunden, und vorgestern haben wir ihn zu Grabe gebracht, Plenis manibus date lilia!

P.S. Ich öffne den Brief noch einmal, um Ihnen zu sagen, daß – dank den Göttern! – der große Gedanke des Kosmoharmoniums nicht mit seinem Finder begraben sein wird. Es hat sich eine testamentarische Verfügung vorgefunden, kraft welcher alle auf den Gesinnungs- und Stimmungsregulator bezüglichen Pläne, Berechnungen und Kostenanschläge, sowie auch die gesamten zur Herstellung des Menschen- und Völkergeschicke bestimmenden Apparates gesammelten und präparierten Materialien einem unserer vorragendsten Realpolitiker zur Verfügung gestellt sind. Der glückliche Erbe hat sich nach Art von manchen seiner gelehrten Kollegen im neuen Reich sein Leben lang weislich gehütet, jemals einen Gedanken zu haben, welcher nicht schon gedruckt und approbiert vorgelegen hätte; aber er ist ganz der Mann dazu, unter Beihilfe seiner Parteigenossen die Idee unseres verewigten Freundes für seine eigene anzusehen und auszugeben. Auch verwirklichen wird er sie, vorausgesetzt, daß das höheren Ortes als ein Unternehmen des patentierten Patriotismus gebilligt und anerkannt wird. So hätten wir denn Aussicht auf die Harmonie der Sphären, zunächst wenigstens im Deutschen Reiche. Glückliche Zukunft, wo es keinen Kulturkampf, keine Rechte und keine Linke, keine parlamentarischen Differenzen, keine Strafgesetznovelle, keinen Plötzensee mehr geben wird und alle Klugen in irgend ein Reichsamt und alle Narren unter einen Hut gebracht sein werden!«


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