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Josef Diemer

»Presse«, 22. Juni 1869.

Es war im November 1064, als eine gewaltige Volksmenge sich die Donau hinab bewegte, durch Ungarn dem gelobten Lande zu; kleiner als ein Kreuzheer (die Kreuzzüge hatten noch nicht begonnen), weit zahlreicher als sonst die Scharen frommer Pilger: auf 7000 schätzte man die Teilnehmer. Hoch zu Roß zogen sie einher, mit goldenem und silbernem Gerät, im vornehmsten Schmuck der Kleidung und Rüstung: die ersten alten Sagen von den Nibelungen, von Gudrun, von Dietrich von Bern, an den neuen von König Artur, Parzival, Tristan: der ritterliche Geschmack dominierte. Dann kamen andere Zeiten, andere Interessen, keines aber führte zu jenen alten Dichtern zurück, bis das 18. und 19. Jahrhundert die Liebe zur vaterländischen Vorzeit teils in patriotischem, teils in wissenschaftlichem Sinne wieder erweckte.

Man strebte allmählich ein Bild auch der Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts zu gewinnen. Man fand dies und jenes. Einzelne Kräfte und Leistungen jener alten Epoche traten wieder hervor, nur der Zusammenhang, die innere Gliederung wollte nicht klar werden. Daß in den Bibliotheken österreichischer Klöster noch manches verborgen liegen müsse, erkannte man bald. Aus Deutschland kamen Graff, Maßmann, Hoffmann, Mone und durchstöberten einige. In Österreich selbst war Karajan mit unermüdlichem Spürsinn tätig. Man durfte meinen, nichts Wichtiges sei mehr zurück.

Und doch lag da in Steiermark ein kleines, vergessenes Chorherrenstift, das in einer dunklen Ecke seiner Handschriftensammlung eine Urkunde der geistlichen Poesie bewahrte, mit der sich nichts, was bis dahin aufgefunden war, an wissenschaftlicher Bedeutung messen konnte. Hier schlummerten Ezzo, Frau Ava, Priester Arnold und andere den Schlaf der Verzauberten und warteten auf ihren Erlöser.

Wer war dieser Erlöser?

Es war der Mann, dessen Namen ich über die vorliegenden Zeilen gesetzt habe: Josef Diemer, der am 4. d. M. als Regierungsrat und Direktor der Wiener Universitätsbibliothek gestorben ist, der still und prunklos, wie er lebte, im größeren Publikum wenig gekannt war, der aber weit hinaus über Österreich in der Wissenschaft hoch geehrt und geachtet dastand.

Josef Diemer war von armen Eltern zu Stainz in Steiermark 1807 geboren. In seinem 10. Jahre verwaiste er, im 12. verlor er das geringe väterliche Erbteil, auf welchem seine materielle Existenz beruhte, und war als armer Lateinschüler in Graz, ohne Freund, ohne Hilfe, auf sich selbst angewiesen. Ein bißchen Suppe, das ihm aus der Küche des Franziskanerklosters gereicht wurde, oder das Frühstücksbrot eines barmherzigen Mitschülers war oft sein einziges Mittagsmahl.

Aber des Knaben Kraft erlahmte nicht. Ein ausgezeichnetes Gedächtnis und ein nie nachlassender Fleiß war das Kapital, von dem er sich erhielt. Konnte er sich die Schulbücher nicht kaufen, so mußten die wenigen Minuten vor dem Beginne der Lehrstunde genügen, um aus einem entliehenen Buche sich das Nötige rasch einzuprägen. Seinen Unterhalt gewann er durch Lektionen.

So brachte er sich durch das Gymnasium und legte die damaligen philosophischen und dann die juristischen Studien mit dem besten Erfolge zurück.

Schon als Student begann er seine bibliothekarische Laufbahn an den Bibliotheken des Joanneums und der Universität zu Graz. 1842 kam er als Skriptor an die Wiener Universitätsbibliothek, die er seit 1850 leitete.

Diemer war, soweit ich urteilen kann, ein vortrefflicher Bibliothekar. Er wußte mit einer verhältnismäßig geringen Dotation ganz bedeutende Resultate zu erzielen. Die Wiener Universitätsbibliothek hat in ihren verschiedenen Fächern eine gleichmäßige Vollständigkeit erlangt, mit der sich viele weit reicher dotierte Bibliotheken nicht messen können. Daß sie noch manches zu wünschen übrigläßt, ist kein Wunder. Und vorschnelle Tadler mögen sich um die Größe der Summen bekümmern, über welche man dort zu verfügen hat. Billige Forderungen, die ihm von kundiger Seite zukamen, hat Diemer stets erfüllt, soweit seine Mittel reichten.

Doch ich wollte nicht von dem Bibliothekar Diemer sprechen: dem Gelehrten gelten in erster Linie meine Worte.

Erst in den letzten dreißiger Jahren warf sich Diemer auf das Studium der altdeutschen Literatur. »Ohne alle Anleitung, ohne Lehrer schritt ich dazu«, so erzählte er selbst. »Wer in ähnlicher Lage gewesen, der weiß, wie langwierig dieser Weg, und mit welcher Mühe und Aufopferung er verbunden ist. Wohl wäre auch ich durch die Schwierigkeiten, die sich mir entgegentürmten, entmutigt, von dem Versuche abgestanden, hätten nicht mein fester Entschluß und immer neu erscheinende Werke des Faches meine Tatkraft stets wieder neu belebt Und mir die Mittel geboten, alle Hindernisse zu überwinden.

Hierzu trat noch das mit dem Gegenstande eng verknüpfte vaterländische Interesse und die Überzeugung, daß auf diesem bei uns wenig gepflegten Gebiete zuerst eine Ausbeute möglich sei, und daß meine schwachen Kräfte vielleicht ausreichen dürften, da etwas zur Ehre des Vaterlandes und seiner Literatur zu leisten.

Um dieses ersehnte Ziel zu erreichen, glaubte ich dem Beispiele jener Männer des Auslandes folgen zu müssen, welche unermüdet im Forschen alle Gauen Deutschlands und auch unsere Lande durchsuchten, um die Bausteine zum Dome der altdeutschen Literatur zu sammeln.

So nahm ich denn, gehörig vorbereitet und mit den vorhandenen Sprach- und Literaturdenkmalen vertraut, mein Ränzlein auf den Rücken und wanderte jährlich in den Ferien in Steiermark, Österreich und Kärnten von Archiv zu Archiv, von einem Kloster und Stifte zum anderen, um deren Bibliotheken und ihre Handschriften zu durchsuchen und so wenigstens eine gründliche Nachlese zu halten.

Meine Forschungen waren nicht vergeblich. Gar manches fand ich, was seither in meinen ›Beiträgen zur älteren deutschen Literatur‹ zum Teil für die Wissenschaft verwertet ist. So erfreulich diese Funde auch waren, so treten sie gegen die im Stifte Vorau, die mir das Jahr 1841 bescherte, weit in den Hintergrund. Ich fand nämlich dort nach gewohnter Durchprüfung schon fast aller anderen Handschriften zwölf größere Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts von höchster Wichtigkeit.

Es war nun meine Hauptsorge, diese Dichtungen, wie einiges andere, was ich sonst gefunden hatte, ihrer, der Wissenschaft und des Vaterlandes würdig in die Öffentlichkeit zu bringen. Sieben Jahre arbeitete ich Tag und Nacht bei der mir durch den Bibliotheksdienst und meine Lektionen karg zugemessenen Zeit, um die gefundenen Werke ordentlich verstehen und ihre Beziehungen zu dem anderwärts Vorhandenen kennenzulernen und so der Aufgabe des Herausgebers zu genügen.«

In der Tat, um den Vorauer Fund, der unter dem Titel »Deutsche Gedichte des XI. und XII. Jahrhunderts« (Wien, Braumüller 1849) erschien, gruppierte sich mehr oder weniger die ganze wissenschaftliche Tätigkeit Diemers.

Und diejenige Eigenschaft, die allein auch wissenschaftliche wie andere Entdeckungen sichern kann, der gründliche, nie ablassende Eifer des Spürens und Suchens charakterisierte Diemer durchweg in seinen Arbeiten. Er gab sich nie zufrieden mit dem Vorhandenen und bereits Erlangten. Er grub immer tiefer und tiefer und hörte nicht auf zu graben, bis Wasser kam. Nie hat er das Werkzeug zu früh aus der Hand gelegt, weil sich nicht gleich Früchte seiner Bemühungen zeigten.

Dieses Gefühl der Beunruhigung durch ein wissenschaftliches Problem, das uns nicht schlafen läßt, das uns quält und neckt wie ein ungelöstes Rätsel, das uns die Wahrheit in der Ferne zeigt wie ein Nebelgebilde, das wir nicht erhaschen können, dies führt allein zu bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen. Und dies Gefühl war in Diemer sehr lebendig.

Es tat sich nicht leicht genug. Er war stets bereit, das scheinbar schon Festgestellte abermals zu prüfen, um und um zu wenden und nach neuen Gesichtspunkten der Betrachtung dafür zu suchen.

Dabei war Diemer von reiner und makelloser wissenschaftlicher Gesinnung. Jeder Tadel, der ihn fördern konnte, war ihm willkommen. Es fiel ihm nicht ein, freimütigen Widerspruch zu mißdeuten. Er warb förmlich um die Äußerung und nähere Darlegung abweichender Meinungen. Ich habe ihn einmal eigens besuchen müssen, um seine letzte Schrift mit ihm eingehend zu diskutieren . . .

Und was war nun das Resultat dieses ernst und pflichttreu vollbrachten Lebens?

Eine Summe neuer, wichtiger Wahrheiten, welche für alle Zeiten mit seinem Namen in der ehrenvollsten Weise verknüpft bleiben.

Klingt das nicht pompös genug? Will man fragen: Was ist der Welt damit gedient?

Das Ansehen der Wissenschaft ist in Osterreich noch kein so festbegründetes wie anderwärts. Die populäre Anschauung des 16. und 17. Jahrhunderts, die sich in dem Sprichworte: »Die Gelehrten, die Verkehrten« ausprägte, scheint bei uns noch nachzuwirken. Man schätzt das Wissen vor allem nach seiner praktischen Verwertbarkeit. Auch die bloße Verbreitung des Wissens, besonders wenn sie sich vielleicht glänzender äußerer Form bedient, achtet man oftmals höher als die eigentliche gelehrte Produktion. Und selbst in wissenschaftlichen Kreisen sollen ähnliche Anschauungen zum Teil sehr hoch hinaufreichen.

Wer aber den Wert der Wahrheit um ihrer selbst willen begriffen hat, wem eine Ahnung innewohnt von dem stillen Glück des einsamen Forschers, dem ein schwieriges Problem in plötzlicher Klarheit sich enthüllt, dem wird auch der Wert des Lebens nicht fraglich sein, das ich hier in wenigen Hauptzügen vorzuführen versuchte.


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