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Karl Lachmann

Aus einer Besprechung von Lachmanns »Kleineren Schriften« (Preußisch« Jahrbücher 187S, Bd. 38).

Lachmann ist im Jahre 1851 gestorben, aber er lebt auf die wunderbarste Weise unter uns fort. Er wird geliebt und gehaßt wie ein Gegenwärtiger und Wirkender. Wer gegen Jacob Grimm polemisiert, der tut es mit dem Respekt und mit der Seelenruhe, als ob er einem alten griechischen Weisen gegenüberstünde, dem es ganz gleichgültig sein könnte, was wir heutigen kleinen Menschen über ihn dächten. Wer gegen Lachmann polemisiert, der setzt sich sofort in die Positur des gesinnungstüchtigen und unentwegten Kämpfers; und wenn es sich um besonders starke Fälle handelt, wo Haupthiebe erteilt werden, so stellt man dem jungen Helden das Zeugnis aus, daß er den Stier bei den Hörnern gefaßt habe. Über Lachmann reden die Abgünstigen stets so, als ob er lächelnd dabeistünde und voraussichtlich keine Antwort geben würde, durch sein bloßes überlegenes Lächeln aber doch das ganze Publikum auf seine Seite ziehen könnte. Man ereifert sich gegen ihn, etwa wie ein Abgeordneter der entschiedensten Minorität gegen einen mächtigen und populären Minister, der unterdessen die Zeitung liest oder gemütlich mit seinen Kollegen plaudert.

Wie kommt es, daß man einem ausgezeichneten Gelehrten nicht die wohlverdiente Grabesruhe gönnt? Daß man ihm gleichsam nach seinem Tode noch das undankbare Amt eines verantwortlichen Ministers der Philologie in Deutschland aufnötigen möchte?

Die merkwürdige Erscheinung wird wohl verschiedene Gründe haben. Der Hauptgrund liegt jedenfalls in Lachmanns eigener Persönlichkeit. Er imponiert durchaus. Er hat etwas vornehm Abgeschlossenes; dabei etwas erschreckend Makelloses. Man traut ihm wenig Erbarmen zu, wenig Nachsicht mit fremden wie eigenen Fehlern. Man fürchtet ihn, auch wenn man ihn liebt. Ein philologischer Nachwüchsling kann vor ihm einen Schrecken bekommen, wie ein sündiger Enkel, der sich plötzlich vor dem Bilde eines tugendhaften gestrengen Ahnen sieht. Lachmann hat eine sichere, stolze Art, diese oder jene mögliche Ansicht ohne Angabe von Gründen als »ungereimt« oder »verkehrt« zu bezeichnen, daß man nicht nachträglich derjenige sein möchte, dem es gilt.

Stolz aber ist eine Eigenschaft, die nie vergeben wird. Auch ein Toter muß den Haß aller derer dulden, welche ihm zutrauen, daß er sie im Leben achtungslos behandelt haben würde. Und Lachmanns Stolz wirkt darum so erregend, weil man ihn nicht etwa auf Herrschsucht oder andere unlautere Motive zurückführen kann. Es war ihm ein heiliger Ernst um die Wahrheit. Auch seine erbittertsten Gegner werden ihm im Innersten ihres Herzens nicht leichtsinnige Behauptungen zutrauen. Jedes Wort, das aus seiner Feder kommt, macht den Eindruck des Echten, des mühsam Erworbenen und aus einer starken Überzeugung Geflossenen. Er ist kein Gegner, der mit einer leichten Handbewegung beseitigt wird; und wer sich an ihm vorbeidrücken möchte, der fürchtet, daß er gewaltig hinterdrein kommen könnte.

Die Rezensionen zeigen ihn manchmal entsetzlich streng. Aber überall merkt man das gewissenhafteste Streben nach Gerechtigkeit. Einem offenbar unsympathischen Manne wie v. d. Hagen zollt er die Achtung, die er ihm schuldig zu sein glaubt. Den offenbar sympathischen Koberstein und Rosenkranz sagt er schonungslos die Wahrheit. Selbst das grausame Strafgericht über Mone hat einen versöhnlichen Schluß, der den Betroffenen selbst überzeugen konnte, daß nicht persönliche Animosität wider ihn zu Felde liege, sondern Eifer für die Sache. Ganz ebenso finden wir ihn in den Schriften zur klassischen Philologie, namentlich in den herrlichen Tibull-Rezensionen, welche überhaupt einige der feinsten Seiten seines Wesens enthüllen.

Ich enthalte mich nicht, eine Stelle anzuführen, worin der Kultus der scheinlosen Wahrheit ebenso entschieden zu Worte kommt wie sein lebhafter Patriotismus. Er redet auf Anlaß einer französischen Übersetzung des Tibull über den gesunkenen Geschmack des französischen Volkes (Bd. II, S. 142): »Das reine Gefühl für das Große und Schöne, das in ihm noch war, haben die Greueltage des Freiheitsschwindels erstickt. Die Wissenschaft ist untergegangen, und der Charakter hat sich von Grund aus umgewandelt. In dem harten Joche gerechter Sklaverei verlernte nicht nur das entartete Geschlecht die Sprache der Wahrheit und der Natur vollends, sondern es kam auch sogar dahin, sie aus Überzeugung zu verhöhnen. Der leere Sinnenkitzel, den man durch immer neue Mittel in ihm zu erhalten suchte, um es über sein politisches Elend zu verblenden, ist ihm der Abgott geworden. Schreibet in edler Einfalt: man liest euch nicht; versteht ihr aber in den Schwall hochtrabender, aufs höchste geputzter Redensarten spielenden Witz, scharfe Gegensätze, glänzende Bilder, auserlesene Spitzfindigkeiten einzukleiden: ihr seid ein Schriftsteller von gutem Geschmacks. Doch sprechen sie noch, die Dummstolzen, von Griechen und Römern, aber nicht ein Teilchen des römischen und griechischen Geistes ist unter ihnen verbreitet; sie kennen nicht einmal die Werke, die nach dem Willen des Schicksals das Palladium aller wahren geistigen Kultur ewig sein sollen

Durch die letzten Worte legt Lachmann zugleich ein Zeugnis ab für die ästhetische Gesinnung, mit welcher die Begründer der altdeutschen Philologie an ihre Aufgabe gingen. Sie waren weit entfernt von jener dünkelhaften Überschätzung des heimischen Altertums, zu welcher man die Gegenwart verführen möchte.

Die angefühlte Stelle ist 1816 geschrieben: 1815 stand Lachmann gegen Napoleon zu Felde, und das erklärt den leidenschaftlichen Ton. Sachlich war das nationale Selbstgefühl der Deutschen damals berechtigt: heute wäre es Überhebung. Man lese, wie Lachmann S. 124 über Vossens Verdienste um die deutsche Metrik spricht, die bereits übertroffen seien: »In wenigen Jahren haben wir Deutsche bedeutende Fortschritte in der Ausbildung unseres Zeitmaßes und in der Vervollkommnung unserer ganzen Verskunst gemacht. Das Ohr ist feiner geworden und erträgt nicht mehr, was es vor einem Jahrzehnt ertrug. Es bedarf nur noch eines Schrittes, nur noch des Vorganges eines großen Meisterwerkes, und unsere deutsche Zeitmessung ist für alle Jahrhunderte geregelt.« Ach, die seligen Zeiten, in denen man solche Hoffnungen hegte, in denen die deutsche Verskunst eine ernste und wichtige Angelegenheit war, um die sich ernsthafte gelehrte und gebildete Männer sorglich bemühten. Wer denkt jetzt noch an deutsche Verskunst! Und wie schlecht sind die deutschen Verse geworden! Wenige wissen's und fühlen's, und den meisten von ihnen ist es gleichgültig. Vielleicht, weil doch nun das Sinken des deutschen Geschmackes auf einem Gebiete vor Augen liegt, vielleicht besinnt man sich, daß der Geschmack in allen Künsten solidarisch ist; daß man nicht die brotlosen Künste vernachlässigen darf, wenn man die broteinbringenden heben will; und daß die Grundlage eines geläuterten Geschmackes die klassische Bildung ist. Die klassische, die griechische Bildung, d. h. der Sinn für die unschuldige Schönheit der hellenischen Dichtung und Kunst; nicht, was jetzt auf unseren Gymnasien mehr und mehr sich ausbreitet, die Aneignung toter Kenntnisse von griechischer Sprache, Literatur, Geschichte und Altertümern, das Traktieren der Grammatik als Selbstzweck, dieses ganz äußerliche Treiben, das uns die Philologie eskamotieren möchte, um die Sprachwissenschaft an ihre Stelle zu setzen: so daß die Philologie ihre Heimat bald nur noch in den Hörsälen der Archäologen haben wird.

Mit welcher Feinheit redet Lachmann S. 155, 156 über die Auslegung lateinischer Gedichte! Er unterscheidet seine Weise von der seines Freundes Dissen: er lasse anfangs das Kunstgefühl walten, Dissen den Kunstverstand. Und wie bewährt er dieses Kunstgefühl sogleich! Die Übung kunstmäßiger Interpretation scheint mehr und mehr aus der Mode zu kommen, und das Kunstgefühl wird ebensowenig gepflegt wie der Kunstverstand, wenn ich nach den Erfahrungen urteilen darf, welche ich Jahr für Jahr über die Unfähigkeit akademisch gebildeter junger Männer mache, auch nur das einfachste deutsche Gedicht angemessen und sinnvoll zu erklären.

Lachmann hat schriftlich nur einige wenige bedeutende Proben seiner Interpretationskunst gegeben. Er besaß die wichtigste Vorbedingung dazu in hohem Maße: den hingebenden, weichen, anschmiegsamen, ehrfürchtigen Sinn. Das philologische Talent entspringt aus der Tiefe seines menschlichen Charakters.

Man hat darüber gespottet, daß in der trefflichen Biographie Lachmanns von Martin Hertz das Wort »sittlich« so oft vorkomme. Es entspricht dies aber durchaus Lachmanns eigener Art, Menschen und menschliche Leistungen zu beurteilen. Der »Eifer für die Wahrheit und wider den Schein« durchzieht schon die frühesten Rezensionen, wie er nachher in der Vorrede zum Iwein als die höchste Forderung an den Gelehrten auftritt. Immer sind es sittliche Eigenschaften, die Lachmann rühmt oder die er vermißt. Harte Worte fallen gegen das »blinde Raten«, gegen den »sogenannten Scharfsinn, der ohne Fleiß und Streben nach Wahrheit mit trüglichem Schein prunket«. Auch die Bezeichnung »unredlich« scheut er gelegentlich nicht. Das »Opfer der strengsten Arbeit« fordert er von einem Herausgeber des Nibelungenliedes. »Fehler« – sagt er – »wollen wir uns alle, denke ich, gerne nachweisen lassen, aber nicht Trägheit und Anmaßung. Gott erlöse uns von denen, die es bloß gut meinen und weder Gutes tun, noch gut tun wollen.« Es liegt ein furchtbarer Ernst in Äußerungen wie diese: »Darum ist es Pflicht der Redlichen, jedem Unfuge zu steuern, die Mitlebenden vor dem Fluche der Nachwelt zu warnen, der wir, durch unnützes, verkehrtes Treiben, die Arbeit, die uns befohlen war, aufladen.« Oder diese: »Die Achtung der Edlen ist, auch ohne Lobpreisen, zu gewinnen durch Tüchtigkeit; die Achtung des Pöbels erwirbt man durch unablässiges Schreien, Großtun und scheinbar geistreiches Wesen.« Auch sein Haß gegen die Symbolik und ihre Mythendeutung nimmt eine sittliche Wendung: »Beklagenswert ist, wer in gutem Glauben auf solchen Abwegen der Forschung irrt, aber wehe, wer sich hochmütige Sicherheit und trügliche Künste zu Begleiterinnen wählt! Ihn treffe Verachtung, bis er der schnöden Gesellschaft Urlaub gibt und umkehrt zur Wahrheit und Redlichkeit.«

Ich kann sehr gut verstehen, wie Lachmann zu solchen Äußerungen gekommen ist. Aber ich bedaure, daß er sie nicht unterdrückte. Er hat dadurch ein Vorbild gegeben, das leicht zur Ungerechtigkeit verführen kann. Wer sehr starke, in gewissenhafter, schwerer Arbeit errungene Überzeugungen besitzt, wird nur zu leicht geneigt sein, einem widerstrebenden Gegner das Schlimmste zuzutrauen, was man einem Gelehrten nachsagen kann, daß er gegen eigenes besseres Wissen der Wahrheit nicht die Ehre geben wolle. Und doch wird dieser Fall, wie ich glaube, in Wirklichkeit sehr selten vorkommen. Meist sind mangelhafte Bildung oder Methode, geringer Verstand, unkontrollierte Vorurteile und unbewußter Einfluß der Eigenliebe, der persönlichen Zu- und Abneigung vollkommen ausreichende und sogar überwiegend wahrscheinliche Erklärungsgründe für solche Phänomene. Ich würde bei einem obstinaten Gegner niemals bösen Willen voraussetzen, um nicht seinem Verstande zu viel Ehre zu erweisen. Und sich über schlechte Leistungen sittlich ereifern, mag in vielen Fällen sehr natürlich sein, in den meisten ist es sehr unklug, weil dann ein geschickter Widersacher sofort und mit Erfolg das Publikum an den höchst bestreitbaren, aber stets wirkungsvollen Satz erinnern kann: »Wer heftig wird, hat unrecht.«

Ich glaube nun, daß Lachmann wiederholt in seinen Beurteilungen sittliche Begriffe angewendet hat, wo sie nicht hingehören, daß er Trägheit und Arbeitsscheu zu finden glaubte, wo nur ungeschulte Vieltätigkeit; Eitelkeit und Prahlerei, wo nur regelloses Phantasieren vorlag.

Es kann noch heute einem unverdrossenen und bescheidenen Forscher begegnen, daß in einer erregten Stunde die Wolken, die uns umhüllen, wie von selbst zu zerreißen scheinen und daß er auf einen Blick die tiefsten Geheimnisse zu erfassen meint: voll Begeisterung teilt er seine Entdeckungen mit: und über Jahr und Tag stellt sich heraus, daß alles oder vieles Täuschung war. Wie leicht mußten junge strebsame Gelehrte solchen Gefahren unterliegen in den Tagen der intuitiven Methode! Die Welt ist voll Rätsel: sollte zu ihrer Lösung die ehrliche Arbeit allein genügen? Sollte nicht manchmal ein glücklicher Moment und verwegenes Raten mehr dabei helfen? Lachmann würde das gewiß nicht in Abrede stellen, plötzliche Erleuchtungen haben auch ihm den Weg gewiesen, wie jedem großen Gelehrten. Aber er wußte, daß wir nicht fliegen können, daß viele scheinbar ebene Wege in den Sumpf führen und daß nur ruhig zähe Ausdauer, die sich selbstlos und zielbewußt durch das Gestrüpp durcharbeitet, jene Erleuchtungen wahrhaft nutzbringend machen kann. Diese Erkenntnis verlangte er von allen seinen Fachgenossen auch. Aber wenn sie irgendwo fehlte, in einer Zeit wissenschaftlicher Gärungen und Neubildungen irgendeinem Anfänger fehlte: brauchte er darin mehr zu sehen als eben Mangel der Erkenntnis?

Daß Lachmann dabei nicht hochmütig war, daß er nicht seine Art, die Dinge zu behandeln, für allein berechtigt hielt, dafür gibt es mehr als einen Beweis. Stets hat er mit Bewunderung und Verehrung zu Jacob Grimm aufgeblickt, der den Mut des Fehlens zu den Tugenden des Gelehrten rechnete. Achtungsvoll hat er sich mit Gervinus auseinandergesetzt, über den heute allerhand kleine Leute teils vom philologischen, teils vom literarischen Standpunkte, ihrer eigenen Trefflichkeit froh, mit überlegener Miene geringschätzig zu reden wagen. Die schuldige Anerkennung zollt er auch dem Freiherrn von Laßberg und verteidigt dem Andersgesinnten gegenüber seine textkritischen Leistungen, als ob er dafür Nachsicht brauchte. Über den Dilettantismus spricht er ein gerechtes Wort, das sich von dem »Kampf gegen den Dilettantismus«, den heute die Halbgelehrten und Handlanger mit vielem Pochen auf echte Wissenschaftlichkeit zu ihrer eigenen Erbauung führen, vorteilhaft unterscheidet. »Uns sind auch bloße Liebhaber sehr willkommen«, – erklärt er – »wenn sie bescheiden einzelnes bemerken, wenn sie Hilfsmittel aus Handschriften oder aus entlegeneren Fächern der Gelehrsamkeit zutragen.«

Soll diese mildere Auffassung, die jedem sein Recht gibt, nur dem guten Willen des Urteilenden überlassen bleiben? Sollte es nicht möglich sein, dafür allgemeine Grundsätze aufzustellen? Daß unser Rezensierwesen nicht in Blüte steht, ist bekannt. Wenn man eine objektive Analyse deutscher Bücher zu lesen wünscht, so muß man sie oft in der Pariser Revue critique suchen., Niemand kann wissenschaftliche Bücher kritisieren, wenn er nicht von einem Idealbilde des Gelehrten ausgeht, woran er den einzelnen Mann und die einzelne Leistung mißt. Aber unsere Rezensenten konstruieren sich ihr Ideal meist ganz roh und naiv nach ihren eigenen, vielleicht sehr geringen Fähigkeiten. Worin sie selbst sich stark glauben, das verlangen sie von anderen; worin sie selbst sich schwach fühlen, das erklären sie für unnötig oder verkehrt. Ein wissenschaftlicher Handwerker, der sich mühsam die vorhandenen und erlernbaren Kunstgriffe und Methoden angeeignet hat, wird wenig Verständnis dafür besitzen, wenn jemand diese Methoden zu erweitern sucht. Ein roher Empiriker wird über metaphysische Träumereien klagen, wenn jemand über den Wust einzelner Tatsachen hinaus nach Generalisationen strebt. Ein schwerfälliger oder geschmackloser Fachskribent wird denjenigen für einen »Journalisten« erklären, der die Resultate seiner Forschungen allgemeinverständlich darstellt.

Jeder Beruf hat seine Spezialethik. Auch für den Gelehrten gibt es eine besondere Güter- und Pflichtenlehre. Fleiß und Wahrheitsliebe, die Lachmann immer betont, sind allerdings notwendig. Aber sie sind Pflichten so elementarer Natur wie die Gebote »du sollst nicht töten« und »du sollst nicht stehlen«. Näher streift Lachmann an die Forderungen, die ich meine, wenn er von der Arbeit spricht, »die uns befohlen war«. Jede Generation, jede Zeit hat ihre besonderen Aufgaben, und aus der Vergleichung dieser Aufgaben mit der individuellen Leistungsfähigkeit ergeben sich die Pflichten des einzelnen. Wer sich in einer leitenden Stellung befindet und diejenigen, auf die er Einfluß hat, zu falschen Aufgaben verlockt, der lädt eine schwere Verantwortung auf sich. Aber auch wer selbst nur treibt, wozu er gerade Lust hat, was ihm gerade Spaß macht, der ist ein Egoist und versäumt seine Pflicht gegen die Wissenschaft. Es gibt eine Rangordnung unter den Problemen, und wer die höheren, für die er begabt ist, beiseite laßt, um sich an den niedrigen wohlfeile Lorbeeren zu sichern, der ist nicht bescheiden, sondern ein Verschwender des ihm anvertrauten Gutes oder ein Feigling. Auch Fragen, wie die, ob es unter Umständen erlaubt oder geboten sei, Resultate ohne Beweis zu publizieren oder unfertige Untersuchungen der öffentlichen Prüfung zu unterwerfen oder bloß Probleme zu stellen oder auf andere Weise die Fachgenossen anzuregen, anstatt direkt die Wissenschaft durch neue Wahrheiten zu bereichern – alle solche Fragen sind einer allgemeinen Erörterung fähig, die Entscheidung aber kann nur aus dem jeweiligen Stande der Wissenschaft entnommen werden.

Die großen Begründer der deutschen Philologie, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Benecke, Lachmann, haben ihre Pflicht auf bewunderungswürdige Weise erfüllt. Jeder hat das seinen Kräften angemessene Gebiet gefunden und den Nachfolgern ein mächtiges Stück vorgearbeitet. Haben die Nachfolger ihrerseits nichts versäumt?

Ich müßte weit ausholen, um diese Frage zu beantworten. Aber ich kann mir nicht denken, daß alles in Ordnung ist, wenn über einen Gelehrten, wie Lachmann, die Ansichten so weit auseinander gehen, daß er von der einen Seite als der Begründer der altdeutschen Textkritik und Metrik verehrt wird, dessen Editionen als schwer erreichbare Muster gelten, während ihm die andere Seite auf allen wesentlichen Punkten Irrtümer, Willkür, falsche Methode und falsche Resultate nachweisen zu können glaubt. Wenn ein solcher Streit unentschieden schwebt, so muß die Entscheidung wohl auf einem Gebiete liegen, das man noch nicht betreten hat, und das auch mit der gewöhnlichen Routine gar nicht zu erreichen ist. In der Tat sind alle Streitfragen, welche wir jetzt mit Lachmanns Namen vorzugsweise verknüpft sehen, ganz allgemeiner Natur und keineswegs der klassischen oder deutschen Philologie eigentümlich. Die Entscheidung über die höhere Kritik der homerischen Gedichte oder des Nibelungenliedes liegt in der vergleichenden Poetik, welche die Natur des Epos und die Natur dichterischer Produktion überhaupt zu untersuchen hat. Die Entscheidung über die Methode der Textkritik liegt in einer Untersuchung, welche die in der Überlieferung literarischer Werke möglichen und nachweisbaren Veränderungen auf Gesetze zurückführt und diesen Gesetzen gemäß das vermutlich Entstellte von dem vermutlich Echten abzusondern versucht. In beiden Fällen aber ist es notwendig, sich über die sogenannte exakte Feststellung einzelner Tatsachen zu erheben und etwas mehr philosophische Neigungen mitzubringen, als unter den Philologen jetzt üblich ist. Sollte es nicht auch zu der Berufsmoral des Gelehrten gehören, daß er über die Berechtigung der Methoden theoretisch im klaren sei, mit denen er zu arbeiten versucht? Die Forderung wird innerhalb der Geisteswissenschaften so selten erhoben, daß es dem einzelnen kaum zum Vorwurfe gleichen kann, wenn er ihr nicht genügt. Hierin auf Besserung hinzuwirken, Lachmanns Methode theoretisch auszubilden oder umzubilden, das weiße Blatt endlich zu füllen, welches die Logik und Wissenschaftslehre für uns offen hält, das wäre die schönste und würdigste Art, Lachmanns Gedächtnis zu feiern.


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