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Moriz Haupt

Ein Nachruf in der »Deutschen Zeitung« (18., 21. Februar 1874).

Moriz Haupt tot! Ich will zu sagen versuchen, was das bedeutet. Ich will mich versenken in das Wesen der gewaltigen Persönlichkeit, die von uns entwichen. Ich weiß nicht, ob ich soviel betrachtende Stimmung aufbringen werde. Es steht mir vor, wie ich ihn zaghaft zum erstenmal besuchte. Alle die Stunden fallen mir ein, die er mir bereitwillig schenkte, alle Belehrung, die ich in Vorlesungen und Gespräch von ihm empfangen, alle Förderung, die er mir auf meinem späteren Lebenswege zuteil werden ließ, alle guten und schönen Erinnerungen, an denen der persönliche Verkehr zwischen Lehrer und Schüler so reich ist, verfolgen mich schattenhaft und beinahe quälend in diesen Tagen der Trauer; mein Herz bleibt in unauslöschlicher Dankbarkeit an das Andenken des Mannes gekettet – wie soll ich mich besinnen, um über ihn zu reden?

Der äußere Umriß seines Lebens wird aus bekannten Quellen in allen Zeitungen jetzt wiederholt. Er war in Zittau 1808 geboren. Die Art seiner Vorfahren tritt uns in Gustav Freytags »Bildern aus der deutschen Vergangenheit« Bd. IV, S. 325 ff. anschaulich entgegen.

»In den ersten Regierungsjahren Friedrichs des Großen« – erzählt Freytag – »lag in Kleuden bei Leipzig ein armer Lehrer auf dem Totenbette; langer Ärger und Verfolgungen, die er durch seinen Vorgesetzten, einen heftigen Pfarrherrn, erduldet, hatten ihn auf das Krankenlager geworfen. Der geistliche Gegner suchte die Versöhnung mit dem Sterbenden; er gelobte, für seine unerzogenen Kinder Sorge zu tragen, und er hielt Wort.«

Ein Leben in Kampf und Fehde, gedrückt, gequält, verdüstert, aber schließlich mit der Aussicht auf das Emporsteigen der Nachkommen: dieser arme, elend dahinsterbende Lehrer war der Urgroßvater von Moriz Haupt.

Der Großvater, Kaufmann in Zittau, arbeitete sich aus bitterer Armut durch eigene Anstrengung zum Wohlstand empor. Er war ein streng rechtlicher Ehrenmann. Einfach im Leben und Wollen, jeder Prahlerei feind, schmucklos und klar in seinem Denken; rastlos tätig, dachte er nur darauf, sein Geschäft zu behaupten und zu erweitern, seine Kraft zu steigern. Außerordentlich energisch und konzentriert, arbeitete er täglich zehn bis elf Stunden, nichts zog ihn ab. Aber er wandelte stets auf gerader Bahn, alle kleinen Vorteile verschmähte er. In seinen Urteilen über Menschen traf er den Nagel auf den Kopf, – erzählt der Sohn – doch war er, wie alle rechtlichen Seelen, oft kaustisch, oft scharf und bitter. Hatte er einmal gesagt: »Der Kerl taugt nichts!« so blieb es dabei.

Der Vater von Moriz Haupt berichtet bei Freytag über einige Jahre seiner Jugend, und vielfach charakterisiert er sich selbst. Durch seine Erziehung in einer ästhetisch aufstrebenden Zeit wurde das Gefühl für das Anmutige und Schöne in ihm gepflegt. Gedichte wurden gelernt und in der Familie deklamiert; Stellen, die man den Kindern erklärt hatte, erklärten sie dann wieder. Dies weckte in dem Knaben den ersten Gedanken, sich den Studien zu weihen, und anfangs den Wunsch, Prediger zu werden. Aber man lenkte ihn auf die Jurisprudenz. Er ging darauf ein, als er hörte, daß es auch juristische Professoren gebe. Der Wunsch, öffentlich zu sprechen, zog ihn an. Auch als Schauspieler mochte er sich gelegentlich gerne denken; das öffentliche Sprechen übte in jeder Form seinen Zauber: alte Rollen, Rollen, die ihm Autorität gaben, reizten ihn zumeist. Er grübelte nicht, wie sein Bruder, über die Geheimnisse der Welt und Religion. Sein leichterer Sinn, seine Phantasie, die ihn zu den alten Dichtern zog, auch überhaupt sein Gemüt half ihm über die dornenvollen Stellen der Grübelei hinweg. Die Literaturkenntnis schon des Gymnasiasten war auffallend groß. Latein sprach und schrieb er geläufig. Sein Gedächtnis war außerordentlich stark. Für seine Hauptfehler erklärter »Jähzorn bis zur Schlagfertigkeit« und aufbrausende Hitze, Bitterkeit in der Rüge fremder Fehler ist ihm geblieben. Aber stets war er versöhnlich; sich zu rächen, war ihm unmöglich. Den Ernst des Lebens hatte er kennengelernt, geliebte Geschwister verlor er, das Gefühl erlittenen Unrechtes war ihm nicht fremd und wurzelte stark in ihm. Aber ein Fonds von Heiterkeit ging ihm nicht aus, Witz und launige Einfälle standen ihm leicht zu Gebote.

So trat er ins Leben. Es verlief anders, als er sich gedacht: ernst und nicht ungetrübt. Er wurde Syndikus, später Bürgermeister in seiner Vaterstadt Zittau, »ein Mann von gewaltigem Wesen und tiefem Sinn«. Aber in den unreifen politischen Regungen des Jahres 1830 wurde die Wucht seiner energischen Persönlichkeit der jüngeren Demokratie unter den Bürgern lästig. Er zog sich, tief verstimmt, von allem öffentlichen Leben zurück, und nie hat er die Kränkung verwunden. »Wenn er still vor sich hinsehend durch die Straße ging, eine schöne, finstere Greisengestalt, dann zogen die Leute mit scheuer Ehrfurcht von allen Seiten die Mützen; er aber schritt, ohne rechts und links zu sehen, durch den Haufen.«

Die Wissenschaft tröstete ihn nur halb über den Undank seiner Mitbürger. Er vertiefte sich in historische Studien und gab Jahrbücher seiner Vaterstadt aus dem Mittelalter heraus. Auch lateinische Gedichte sind von ihm gedruckt, Übersetzungen Goethescher, fein und elegant und wohlgelungen.

Die Grundlinien seiner Persönlichkeit kehren im Sohne wieder, fast Zug um Zug. Wer ihn kannte, dem springt die Ähnlichkeit in die Augen. Das Innere wie das Äußere scheint gleichermaßen verwandt. Wie die finstern Augenbrauen sich vom Großvater auf Sohn und Enkel vererbten, so setzt sich auch der tiefste Grund des Wesens von einem zum anderen gesteigert fort. Derselbe Charakter, dieselben Neigungen, dieselbe Mischung der Seelenkräfte, fast dasselbe Verhältnis zu den Menschen. Aufbrausende Heftigkeit, tiefer Ernst, dabei schlagender Witz und Humor. Strenge gegen sich selbst und gegen andere – im Grunde der Seele aber eine Weichheit, die wenige kannten, und wer sie kannte, wem er sich mild und gütig erzeigte, dem bleibt es unvergeßlich. Haupt konnte vernichtend tadeln, aber er vermochte auch zu loben wie kein Mensch, seine Anerkennung war wie ein Adelsdiplom. Wem sie zuteil wurde, der hatte das Gefühl, als ob er über sich selbst hinauswüchse.

Aber auch die Energie und das gewaltige Gedächtnis sind ihm vom Großvater und Vater angeerbt, und von dem letzteren der Sinn für lateinische Dichtung, die er übte und liebte und die ein Mittelpunkt seiner Studien der klassischen Philologie geblieben ist.

Ein großer Unterschied besteht zwischen Vater und Sohn. Was jener erträumt und erstrebt, in diesem hat es sich erfüllt. Der Urenkel des armen Dorfschulmeisters beherrscht das erste Katheder seines Faches. Der Genuß öffentlicher Rede ist ihm vollauf zuteil geworden, und er sprach außerordentlich gut, aber lateinisch und deutsch wirkte er nicht so sehr durch die fließende Geläufigkeit oder den blendenden Glanz der Perioden, als durch die markige Kraft und die niederschmetternde Wucht des überlegten, scharf treffenden Wortes.

Wucht, das ist der Begriff, der sich überall zuerst darbietet, wo man sein Wesen zu fassen sucht. Anders als der Vater, hat er eine kaum jemals bestrittene Macht über seine Umgebung ausgeübt. Er brauchte sich nicht verstimmt zurückzuziehen, weil ihm die Zügel des Regimentes einen Augenblick entglitten. Er war eine Herrschernatur. Und er herrschte wirklich in dem Kreise, dem sein lebendiges Interesse angehörte. »Vor Haupt hatte jeder Respekt,« – schreibt ein Berliner Freund – »auch wer ihn haßte oder fürchtete.«

Gustav Freytag hat ihm einige entscheidende Züge entlehnt, um den Professor Felix Werner in der »Verlornen Handschrift« damit auszustatten; sogar das Grundmotiv wird wohl Haupt hergegeben haben. Auch er hat eine Handschrift, nicht des Tacitus, sondern des Livius verfolgt: die letzte Spur führte ihn in das Kloster Cismar der Lübecker Diözese. Aber niemals freilich hat Moriz Haupt die Selbstbeherrschung so weit verloren wie jener blinde Philolog, der über der Jagd nach dem alten Klassiker die nächsten Pflichten versäumt.

Über Haupts Bildungsgeschichte ist nur wenig bekannt. Ein Biograph müßte nachzuweisen versuchen, wie sein Lehrer und Schwiegervater Gottfried Hermann, wie sein älterer Freund Karl Lachmann auf ihn wirkten und wie er sich fortbildete. Das Andenken beider pflegte er mit nie nachlassender Pietät.

Er selbst berichtet in seiner Antrittsrede vor der Berliner Akademie (1854): »In früher Jugend ward ich von dem deutschen Altertume, der Sprache und der Dichtung unserer Altvordern angezogen, und zu der Gewalt, die das Heimische auf mich übte, kam der kaum mindere Reiz der neuen, werdenden Wissenschaft. Es war dies vor mehr als dreißig Jahren, wo die deutsche Philologie vor allen durch Jacob Grimm hervorgerufen ward, wo die Reiser, die seine glückliche Hand in die Erde senkte, bald aufsproßten und auf öder und verwüsteter Stätte ein junger Wald emporwuchs. Wer damals dieses Gebiet der Philologie betrat, der konnte nicht bloß sich belehren lassen; wie ungeübt auch seine Kraft sein mochte, er mußte mitforschen – und er hatte, selbst in einsamer Stille, ein Gefühl tätiger Teilnahme, während die klassische Philologie ihre Sätze den Lehrlingen als überkommene und fertige darbot« ... Zur Erläuterung der hervorgehobenen Worte darf ich aus mündlicher Mitteilung hinzufügen, daß Haupts Beziehungen zu Jacob Grimm mit anonymen Zusendungen begannen, Nachträgen zur Grammatik und dergleichen, welche lange zu Grimms Verwunderung und Freude von Zittau nach Göttingen wanderten, bis der Absender endlich erkannt wurde. »So bin ich anfangs«, fährt Haupt fort, »von dem deutschen Altertums fast allein gefesselt worden, bis dann das griechische und römische und die höhere Schönheit der antiken Poesie mir heller aufgingen und mich festhielten, ohne mich dem Studium des Mittelalters, und besonders des deutschen, zu entfremden. Ich habe dann von Gottfried Hermann die Richtung auf kritische Philologie empfangen, der ich treu geblieben bin, weil sie meiner Neigung und dem Maße meiner Kraft entspricht.«

Nach seiner Universitätszeit lebte er in Zittau bei dem Vater, um ihn nicht allein zu lassen in seiner Verdüsterung. Es war eine Zeit der Sammlung und ausgedehnter Studien. Ehrgeiz besaß er, wie es scheint, gar nicht. Sein Freund Klee holte ihn dort weg, indem er ihn überzeugte, daß er an die Universität müsse. Das führte denn zur Habilitation in Leipzig, und rasch stieg er die akademische Stufenleiter empor. Das Jahr 1848 fand ihn in Amt und Würden.

In einer Leipziger Rede vom 18. Mai 1848 sagt er: »Aus den alten Geleisen des Denkens und Empfindens sind wir in ungewohnte Hoffnungen, in ungewohnte Sorgen gedrängt, in Hoffnungen für das Vaterland, dessen Einheit und Größe nicht mehr als verlorenes Gut nur den rückwärts gewendeten Blicken erscheint, sondern vor aller Augen steht als hehres Ziel rasch vordringenden Strebens, in Sorgen um das Vaterland, dem größere Gefahren nie gedroht haben, als in dem Drange dieser gewaltigen Zeit. Wohl ist ein grelles Morgenrot vor uns emporgestiegen; es verkündet sturmvolle Tage.«

Der Sturm hat seine eigene Existenz erschüttert. Nicht der Frühlingssturm der Revolution, sondern der eisige Frostwind der Reaktion. Scharfe journalistische Angriffe auf Herrn v. Beust, die von Haupt und Mommsen vorzugsweise ausgingen, waren nicht der einzige, aber ein Grund der Absetzung.

Einen Teil dieser Verwickelungen hat mir Haupt einmal ausführlich erzählt; meinem schlechten Gedächtnis ist nur das derbe Wort erinnerlich geblieben, womit er eine versöhnende, aber nach seiner Ansicht schimpfliche Zumutung der Regierung abwies. »Das ist eine Infamie!« sagte er dem Beamten, der ihm die betreffende Proposition machen mußte, nahm seinen Hut und ging. Der Bruch war entschieden. Die Absetzung erfolgte.

Damals hat die Berliner philosophische Fakultät, nicht ohne Mühe, seine Berufung auf Lachmanns Katheder durchgesetzt.

Er war der würdigste Nachfolger, der für diesen großen Kritiker gefunden werden konnte. Wie Lachmann beherrschte er gleichmäßig klassische und deutsche Philologie. Wie Lachmann ist er fast ausschließlich – ich habe seine eigene Erklärung darüber angeführt – der kritischen Seite, den formalen Aufgaben dieser Wissenschaft zugewendet.

Bescheiden trat Haupt in den Kreis der Berliner Gelehrten. »Ich habe keine Leistungen aufzuweisen,« – das sind seine Worte – »die tief eingriffen in den Gang der Wissenschaft, ihre Grenzen erweiterten oder in unerforschte Tiefe zu den Gründen der Erscheinungen drängen.«

Er sucht in dieser Äußerung geflissentlich die Gesichtspunkte hervorzuheben, unter denen ihm seine Leistungen klein erscheinen mußten. Anders urteilen die Zeitgenossen, und anders wird die Geschichte der Philologie in Deutschland urteilen.

Haupt gehörte freilich nicht der ersten, großen Gelehrtengeneration unseres Jahrhunderts an wie Jacob Grimm und Karl Lachmann. Diese waren Bahnbrecher und Zielzeiger; ihre nächst jüngeren Genossen konnten nur Helfer sein, sie konnten nur fortsetzen, was jene begonnen. Die neuen Methoden brauchten umfassende Anwendung, diese Methoden selbst waren nicht ohne weiteres übertragbar, wie man eine neue Maschine fertig aufstellt, die dann in jeder Fabrik nachgemacht und zu deren Gebrauch jeder beliebige Arbeiter geübt werden kann. So sind wissenschaftliche Methoden überhaupt nicht, und die Methoden der Geisteswissenschaften, die Philologie voraus, am allerwenigsten. Die übertragbarkeit beruht bei ihnen wesentlich auf der inneren Verwandtschaft der forschenden Individuen. Und da hätte der deutschen Philologie ein größeres Glück gar nicht begegnen können, als daß ihr neben und nach Lachmann ein Fortsetzer und Mitarbeiter wie Moriz Haupt erstand.

Haupt war vor allem von einer staunenerregenden Gelehrsamkeit.

Die Gelehrsamkeit ist unter den Gelehrten seltener, als man denkt. Nicht jeder Forscher ist ein Gelehrter. Es gibt wichtige Entdeckungen, die mit großem Aufwand an Denkkraft aus nur mäßigem Wissen entspringen. Haupts Wissen war ein kolossales. Die entlegensten Gebiete kannte er, und die Fülle der Tatsachen stand ihm leicht zu Gebote. Er hatte in seinem Gedächtnis, was andere nur auf den Repositorien ihrer Bibliotheken. Bei ihm haftete alles. Jedem Historiker, der eine Spezialuntersuchung fühlte, konnte begegnen, daß ihn Haupt auf eine übersehene Notiz aufmerksam machte. Die modernen Kultursprachen kannte er alle bis in ihre Feinheiten. Auch böhmisch hat er in Zittau gelernt, und an der Aufdeckung der bekannten tschechischen Literaturfälschungen gebührt ihm ein wesentliches Verdienst. Die ältere deutsche Literaturgeschichte und die Erklärung unserer alten Dichter verdanken ihm eine große Masse von Tatsachen, die er feststellte. Die Minnesänger waren zum großen Teil Privatpersonen ohne öffentliche Stellung, die Chroniken melden nichts von ihnen, bloß in Urkunden finden wir sie als Aussteller oder Zeugen: kein neu erscheinendes Urkundenbuch daher, welches Haupt nicht auf altdeutsche Dichter hin durchsuchte. Topographien las er mit der größten Passion; in Niederösterreich z. B. kannte er jedes Dorf, denn er hatte die Gedichte des Ritters Neidhart von Reuenthal herausgegeben, in denen zahlreiche niederösterreichische Lokalitäten erwähnt werden; um diese nachzuweisen, waren die ausgedehntesten Lokalstudien nötig.

Aber es genügt nicht, der Tatsachen mächtig zu sein; man muß wissen, wie sie zu verwerten sind. Jede seiner Vorlesungen begann Haupt mit dem Satze: »Ich will versuchen, Sie Methode zu lehren.« In der sicheren Handhabung der Methode war er unvergleichlich. Niemand verstand es wie er, das Urteil zu schulen. Aber wohlgemerkt: er führte nicht zu den höchsten Problemen hin. Er diente einer Wissenschaft, in welcher allzu leicht die Grundfesten zu wanken beginnen. Nicht einen schwindelnden Bau hoch aufzuführen strebte er, sondern er suchte die Fundamente zu sichern.

Das Fundament der Geschichte, der Literatur- und Sprachwissenschaft ist die richtige Erklärung der überlieferten schriftlichen Denkmäler. Wie kann die vergleichende Sprachwissenschaft gedeihen, wenn wir versäumen, aus den literarischen Quellen die Bedeutung der Wörter festzustellen? Wie kann eine Geschichte des menschlichen Denkens gelingen, wenn wir die leisen Unterschiede im Gebrauche der Wörter zu fühlen verlernen? Was wäre die Geschichte und Literaturgeschichte ohne methodische Interpretation? Aber die Interpretation genügt nicht. Die Texte liegen uns nicht vor, wie sie aus der Hand der Verfasser hervorgingen. Der Text Goethescher Dichtungen hat unter Goethes eigenen Augen tiefgreifende Verderbnisse erfahren, und das in dem Zeitalter der Buchdruckerkunst und der wissenschaftlich gebildeten Korrektoren. Wie übel hat die Mißgunst der Zeiten erst den griechischen und römischen und den mittelalterlichen Schriftstellern mitgespielt! Die Verbesserung der Texte, was wir im engsten Sinne Kritik nennen, ist eine der elementarsten Aufgaben des Philologen, aber auch eine der wichtigsten. An der richtigen Wiederherstellung einer verderbten Stelle hängen für den Historiker oft die eingreifendsten Erkenntnisse. Wenn in die Kritik und Interpretation das subjektive Meinen und Belieben einreißt, wenn hier die richtige Methode verloren geht, so gerät die ganze Wissenschaft ins Schwanken. Wenn die Anatomen plötzlich verlernten, das Messer zu führen, wenn man nicht mehr wüßte, wie ein Muskel zu präparieren, wie ein Nerv bloßzulegen ist, da kämen schöne Ärzte und Zoologen heraus. In der Philologie treten von Zeit zu Zeit solche Erschütterungen ein, wo die Elemente unsicher werden. Die Natur ist immer da, und sie korrigiert die Willkür der Menschen. Der mißhandelte Horaz oder Plautus kann nicht seine verschlimmbesserten Verse reklamieren. Ein genialer Philolog kann der Versuchung unterliegen, einen alten Autor wirklich besser zu machen, als er war.

Solchen Versuchungen und Versuchen hat sich Haupt stets entgegengestellt. Er hat Achtung vor der Überlieferung und maßvolle Kritik gepredigt. Der Schwerpunkt seines Unterrichtes war eindringende und schützende Interpretation. Wie ein Löwe verteidigte er seinen Autor gegen unberechtigte Erklärungs- und Verbesserungsversuche. Ein Schlag nach rechts – und da lag ein Gegner. Ein Schlag nach links – und da lag ein zweiter. Dann ließ er das Richtige in die Augen springen, daß man gar nicht zweifeln konnte. Was er so hinstellte, das war wie in Stein gemeißelt. Seine Rede klang monumental, er sprach immer kurz, bündig, mit unbeirrbarer Sicherheit. Haupt war ein einziger Interpret. Ich habe etwas Ähnliches nie wieder gehört.

Mit derselben plastischen, packenden Art wußte er seine Verbesserungen zu begründen. Im Augenblicke, wo man ihn hörte, war man jedenfalls überzeugt, es konnte nicht anders sein. Noch prächtiger aber, ihn eine solche Verbesserung finden zusehen. Dann rötete sich seine Wange, und die Freude des Triumphes glänzte ihm aus den Augen. Es war, als ob eine geniale Urkraft ausbräche und alle Wirrnis mit einem Male zerrisse. Haupts Fähigkeit des Treffens hatte nicht ihresgleichen. Alle Befreundeten brachten ihm die verzweifeltsten unter den verderbten Stellen, und selten entließ er den Frager ungetröstet. Man kann auf ihn anwenden, was Jacob Grimm von Lachmann sagte: »Er war zum Kritiker geboren.«

Der Kritiker ist ein Künstler. Er muß das Werk, das ihm vorliegt, nachschaffen. Er muß das Gedicht, das er in echter Gestalt herstellen soll, nachdichten. Er muß sich in die Seele des Autors versetzen, er muß aus dem Zentrum der produktiven Persönlichkeit heraus entscheiden, ob ein Dichter so oder so geschrieben haben könne. Wie ein Künstler ist er von Laune und Stimmung abhängig. Er kann sich und dem Stoffe nichts abzwingen; der glückliche Augenblick muß es schenken. Mitten im Schaffen kann die Lust plötzlich ausgehen, und wenn sie nicht wiederkommt, so bleibt die Arbeit ungetan. Einer der schönsten Pläne Haupts ist auf diese Weise unausgeführt geblieben: die altfranzösischen Lieder des 16. Jahrhunderts. Deutsche Studenten jener Zeit, die bei den großen Juristen Frankreichs studierten, hatten sie nach Hause mitgebracht, die meisten deutschen Bibliotheken besitzen davon: Haupt hat alles gesammelt, das Schönste ausgewählt – es sind wahre Perlen der Poesie darunter, und das meiste ganz unbekannt – ein großer Teil ist sauber ins reine geschrieben und zur Herausgabe fertig; das liegt seit Jahren und blieb unvollendet.

Haupt war nicht bloß ein Künstler: er war ein Virtuos der Konjekturalkritik. Aber wie maßlos sein oft leidenschaftsvolles Wesen erscheinen mochte, der Grundzug seines wissenschaftlichen Charakters ist maßvolle Energie.

Die Energie bewies er in den ungeheuren Massen an Material und Arbeit, die er zu bewältigen verstand. Die Energie bewies er in der Konzentration, womit er alle diese Massen auf ein Ziel lenkte, womit er sich in die vorliegende Aufgabe, mochte sie an sich noch so klein sein, vertiefte und nichts Zweckdienliches beiseite ließ. Die Energie bewies er in der Rührigkeit, womit er fremde Kräfte zu einem gemeinsamen Tun vereinigte. So gründete er die »Zeitschrift für deutsches Altertum«, die er jahrelang ruhmvoll geleitet. So gründete er mit Sauppe die Sammlung der Schulausgaben lateinischer und griechischer Klassiker, welche durch ihre erklärenden Anmerkungen eine vernünftige Methode der Interpretation befördern sollten. So hat er auch auf das gelehrte Ehrendenkmal unserer Nation und Sprache, auf das deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm, anregend und fördernd eingewirkt. »Was meinen Sie zu einem Plan,« – schreibt Jacob Grimm an Lachmann am 12. März 1838 – »den der Leipziger Reimer und Haupt anregen, von einem ausführlichen deutschen Wörterbuche?«

Die Kunst des Maßhaltens bewies Haupt als Kritiker durch den Respekt vor dem überlieferten Buchstaben, den er nicht ohne Not verließ; als Gelehrter überhaupt durch die Selbstüberwindung, womit er Nebensächliches beiseite warf (»Das Nötigste für den Philologen ist der Papierkorb!« pflegte er zu sagen), in der Selbstbeschränkung, womit er einem begrenzteren Gebiete die treueste Pflege widmete, in dem gesunden Konservatismus, womit er die überlieferten und bewährten Methoden der Philologie fortführte und auf neue Gegenstände anwendete. Er bewies die Kunst als Mensch bei tausend Gelegenheiten – vielleicht nur nicht (um mir das Urteil eines befreundeten Mannes anzueignen) in dem schweren Ernst, womit er dem Leben gegenüberstand. Aber in der Auffassung der großen Angelegenheiten der Nation hatte er eine wahre Angst vor Maßlosigkeit und Überhebung. Im September 1866, nach den preußischen Siegen in Böhmen, schrieb er mir: »Uns geht es hier sehr gut, und wir sind nicht hochmütig, aber froh. Von den österreichischen Zuständen habe ich trotz allem, was der Krieg gelehrt hat, keine deutliche Vorstellung. Aber ich hoffe, daß das deutsche Element sich mitten in der Fäulnis und Zersetzung doch erhalten und bewähren werde... Grüßen Sie Karajan, dessen Kummer wohl schwer ist.« Dies mitfühlende Wort für den österreichischen Patrioten ist ganz in seiner Art...

Aber ich muß mich wohl kürzer fassen. Unter dem Schreiben sind mir so viele Einzelheiten aufgegangen, daß ich sie jetzt nicht alle wiedergeben kann.

Der Interpret und der Kritiker: das ist die hervorragendste Seite von Haupt, aber es ist keineswegs die einzige. Die Beschränkung, die er sich auferlegte, ist wirklich eine Selbstbeschränkung, keine Begrenztheit der Natur. Er seinerseits übte nicht vergleichende und nicht psychologische Sprachwissenschaft; aber wer seine Vorlesungen gehört hat, der erinnert sich, wie er etwa eine lateinische Partikel mit Berufung auf Potts etymologische Forschungen erläuterte; wie er auf dem Gebiete der Satzfügung einzelne Beobachtungen zu generalisieren verstand; wie er an auffallenden syntaktischen Erscheinungen niemals vorüberging, ohne eine psychologische Erklärung dafür zu versuchen.

Die Methode der Kritik und Erklärung, die er übte, ist an das lebendige Gefühl des Individuellen geknüpft. Der Schriftsteller als einzelne, endliche und begrenzte Persönlichkeit muß dem Kritiker bis in die letzten Falten des Herzens klar sein. Das hatte Haupt früh erkannt. In seiner Jugend trieb er einmal bloß Griechisch und legte weitschichtige Kollektaneen an, worin er alles beobachtete und eintrug, was nur irgend zu beobachten war. Eines schönen Tages warf er sie ins Feuer, »denn das Gefühl des Individuellen wäre mir dabei verlorengegangen«, sagte er. Und in der Tat las er für größere Aufgaben lieber die ganze vorhandene Literatur von neuem durch, als daß er systematische Sammlungen angelegt und fortgeführt hätte.

Dies Individuelle, das ist der Stil des Schriftstellers. Aber der Stil ist mannigfach bedingt. Vieles darin teilt der Autor mit anderen, weniges ist ihm allein eigen. Das Charakteristische beruht meist in der unbewußten Auswahl. Der eine Stil gestattet größere Freiheit, der andere wird zur vielfältig begrenzten Manier. Ganze Schichten und Gruppen bestimmter Stileigentümlichkeiten, die sich von einem Dichter zum anderen vererben, lassen sich beobachten. Die eigensinnigste Beschränkung der Sprache und Verskunst macht sich oft geltend. Nach dieser Seite hin hat Haupt auf lateinischem wie auf altdeutschem Gebiete die umfassendsten, in ihren Resultaten sehr merkwürdigen Beobachtungen gemacht und damit einem der tiefsten sprachwissenschaftlichen Probleme gedient, ja dieses Problem erst recht deutlich und greifbar hingestellt: die Bedingtheit und Begrenzung der individuellen Rede, das Verhältnis des Wortkapitals, worüber der einzelne verfügt, zu dem gesamten Wortschatze einer gegebenen Sprache.

Ein anderes Problem der allgemeinsten Art, engverknüpft mit den höchsten Aufgaben der Kultur- und Geistesgeschichte, hat er in seinen Vorlesungen selbst bezeichnet als die Naturgeschichte des Epos. Gemeint sind Beobachtungen über die analoge Entwicklung der epischen Poesie bei den Griechen, Deutschen, Franzosen, Serben, Finnen usw. Von solchen Beobachtungen teilte er mündlich viele mit, seine ausgebreitete Literaturkenntnis bot ihm dazu den Stoff. In früherer Zeit las er in Parallelvorträgen über Homer und das Nibelungenlied. Er bahnte damit eine vergleichende Literaturwissenschaft an, wie es eine vergleichende Politik, eine Naturlehre der Staatsformen seit Aristoteles gibt. Er zog damit die Konsequenz der Anschauungen über das Volksepos, welche Friedrich August Wolf und Lachmann begründet hatten.

Von hier aus muß man nun zurückblicken auf die bescheidenen Worte, womit Haupt sich in der Berliner Akademie einführte. Man wird den edlen Stolz empfinden, der sie eingegeben hat, den Stolz auf die Selbstbeschränkung, die ein ungeheures und ausgebreitetes Wissen in den Dienst scheinbar kleiner und bescheidener Zwecke hingab.

Haupt war weit entfernt, die Philologie isolieren zu wollen. Er wollte sie nur auch nicht herabdrücken lassen. Wie sehr ihm das Ganze der Wissenschaften überall gegenwärtig war, das ersieht man aus seiner Leipziger Rede vom Jahre 1848 über die Beziehungen der deutschen Philologie zur klassischen.

Das war schließlich die Quelle der Macht, die von ihm ausging: dieser stolze Philolog stand fest und tapfer ein für die großen Traditionen unserer letzten literarischen Blüteepoche. Mit der ganzen Wucht seiner imponierenden Persönlichkeit wehrte er dem Verfall, dem uns handwerksmäßige Beschränktheit unter der lockenden Firma des modernen Fortschrittes überliefern möchte. Universität und Schule suchte er zu schützen gegen die unreifen Experimente, welche die freie Entwicklung des humanen Bildungsideals zugunsten einseitiger Fertigkeiten in Frage stellen möchten. Meinen alten Wiener Bundesgenossen im Kampfe für die ungeteilte philosophische Fakultät will ich die letzten Zeilen nicht vorenthalten, die ich von Haupt in Händen habe: »Unsere Universität ist groß,« – schreibt er – »und unsere Fakultät ist zahlreich, und der Geschäftslauf ist dadurch erschwert; dennoch glaube ich, daß unsere Fakultät keinen hat, der nicht den Segen der Ungeteiltheit erkennt und sich nicht gegen Teilung wehren würde. Eine ungeteilte philosophische Fakultät ist Bedingung einer wirklichen Universität.«

Haupt stand fest und unentwegbar in der Verteidigung des Einfachen und Bewährten. Vor seiner gefürchteten Autorität verstummte manches törichte Projekt. Auch Fernerstehende haben sich bei ihren Handlungen unwillkürlich die Frage vorgelegt: »Was wird Haupt dazu sagen?« Und man scheute zurück vor einem verdammenden Urteil, das er aussprechen könnte. In Haupt ist eine Säule gestürzt, die ein gut Teil des deutschen Bildungswesens stützte und trug. Wird er jemals ersetzt werden? – –

Sein Tod war glücklich – wie viele sich wünschen möchten, zu sterben. Des Abends hatte er Gesellschaft in seinem Hause, er zog sich früher zurück, klagte über leichtes Unwohlsein. Am Morgen fand man ihn tot im Bette. Er war eingeschlafen ohne eine Spur von Todeskampf und Schmerz, ohne daß die Seinen etwas davon gemerkt.

»Der Eindruck, den sein Tod auf die Menschen machte,« schrieb mir ein Freund, »ist einem Entsetzen ähnlich: als wenn plötzlich eine alte, feste Burg vor unseren Augen von der Erde verschlungen würde.«

In einem fürchterlichen Unwetter, unter Sturm und Schnee, in schneidender Kälte und bei sinkender Nacht gegen 6 Uhr wurde er Sonntag, den 8. Februar, auf dem Dreifaltigkeits-Kirchhofe begraben.


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