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VI. Notwendige nicht schuldhafte Mißverständnisse

1.
Was sind »notwendige« Mißverständnisse?

Es ist manchem von Ihnen wohl bekannt, daß Immanuel Kant von Antinomien gesprochen hat, die sich von gemeinen Widersprüchen dadurch scharf scheiden sollen, daß – wie Kant sagt – die menschliche Vernunft notwendig in sie verfällt, wenn sie über das Ansich der Dinge etwas ausmachen will. Nicht genau desselben Ranges aber doch gewisse Analoga zu diesen theoretischen Antinomien sind gewisse ethisch-politische antinomische Mißverständnisse, in die das moralische Werturteil ganzer Völker, sofern sie übereinander urteilen wollen, gerät und gleichfalls notwendig – in anderem als bloß historisch-psychologischem Sinn – gerät. Zwar – und das ist ein Unterschied zu den Antinomien Kants – muß, sofern wir, wie wir es mit Evidenz müssen, den objektiven Bestand einer an sich rechten einsichtigen Wertskala und Rangordnung voraussetzen, die für den Menschen darum gilt, da sie für alle endlichen Vernunftwesen gilt, für diese Antinomien eine Lösung bestehen und das einzelne Individuum mag sie auch suchen und vielleicht finden. Aber – für die Völker als Ganzes bleiben die hier gemeinten Mißverständnisse notwendig, und damit auch durch Aufklärung und gegenseitige Belehrung unlösbar. Der Grund der Erscheinung ist einfach.

Jedes große Volk hat sein eigenes Ethos und seine eigene Art und Weise, gewisse Werte anderen Werten vorzuziehen resp. nachzusetzen – eine Tatsache, die mit der jeweiligen praktischen Moralität, d. h. der Frage, wie weit die Völker ihrem eigenen Ethos auch praktisch gehorchen, noch nichts zu tun hat. Daß zum Beispiel Ehre und Ruhm für den Franzosen einen völlig anderen Stellenwert in der nationalgültigen Wertskala besitzt als bei uns Deutschen oder den Engländern und Russen – ist offensichtlich. Vergleiche über den tieferen Ursprung des gallischen Gloiregedankens meinen Aufsatz: »Das Nationale im Denken Frankreichs« in dem Buche »Krieg und Aufbau«. Nun aber beurteilt jedes große Volk als Volk jedes andere nicht nach einem über den nationalen Ethosformen der Völker stehenden Wertsystem, sondern eben nach seinem eigenen Ethos. Dieses Ethos bedingt aber zugleich den besonderen Charakter seines eigenen Verständnisspielraums für Wertmannigfaltigkeiten und deren Differenzen überhaupt. Da sich die Völker fortwährend moralisch anklagen oder preisen, sind sie also stets bei diesem Tun gleichsam Gesetzgeber, Richter und Angeklagter zugleich – dies wenigstens überall da und so lange, als sie keine höchste irdisch-moralische und spirituelle Autorität etwa so anerkennen, wie es die europäischen Völker während des kirchlichen Universalismus des Mittelalters bis zu einer gewissen wechselnden Grenze dem Papsttum gegenüber zu tun gewillt waren. Aber selbst in diesem Falle bleibt in allen konkreteren Beurteilungsfragen jede Nation auf die besondere Strukturform ihres national gebundenen Gewissens angewiesen. Schon die je besonderen unübersetzbaren ethischen und ästhetischen qualitativen Werteinheiten, welche die Wortprägungen der Sprachen der Völkerwelt am objektiven Wertreich herausfaßt, bilden für die Völker eine unübersteigbare Grenze des vollen Verstehens.

Erlauben Sie ein paar einfach gewählte Beispiele, die zunächst nur einzelne menschliche Eigenschaften betreffen, nicht ganze, höchstzusammengesetzte Einrichtungen wie etwa den sogenannten deutschen Militarismus. Wir Deutsche neigen z. B. dazu – so findet schon Schiller in »Kunst und Würde« – alle französische Anmut im Betragen als »Verstellung« zu werten; schärfer gesagt, das, was die Franzosen nach ihrem Ethos als den Wert »Anmut im Betragen« empfinden, fühlen wir als »Verstellung.« Sie ihrerseits aber fühlen eben dies, was wir deutsche »Offenheit, Ehrlichkeit, Biederkeit« nennen und positiv bewerten, als Roheit, Formlosigkeit, täppische Naivetät – Barbarentum, wenn Sie wollen. Wir neigen (ohne jedes Recht) dazu, das, was die Franzosen Ehre, Gloire nennen, für äffische »Eitelkeit« zu halten, ihre Rhetorik für künstlichen Schwulst; sie neigen (ohne jedes Recht) dazu, das, was wir die deutsche Treue nennen, für dumpfe Gewohnheits- und Schicksalsgebundenheit anzusehen, unsere durchaus positiv geschätzte sogenannte »Schlichtheit« im Verhalten und im Vortrag für Trockenheit, Nüchternheit, ja im lebendigen Verhalten als eine Art geistiger Untergeordnetheit und Dienerhaftigkeit aufzufassen. Wir neigen dazu, das, was sie in den Wissenschaften und in der Philosophie »Klarheit« nennen und was sie so gerne schon der Wahrheit gleichsetzen, als die ganz unsachliche Voraussetzung anzusehen, die Welt müsse so beschaffen sein, daß sie leicht und restlos in den Menschenverstand eingehe. Was ihnen »Wahrheit« ist, ist uns nur ein subjektives menschliches Bedürfnis, Und das, was wir wieder Ehrfurcht nennen vor der Fülle der Welt und der Feinheit des Daseinsgewebes und was uns stets behütet und nach unserem Empfinden behüten soll, die Erkenntnis einer Sache je für erschöpft zu halten, eben das nennen sie deutsche Verworrenheit der Darstellung und Steckenbleiben im Material. Oder nehmen wir ein England betreffendes Beispiel als Vergleichspunkt. Was in Deutschland an erster Stelle moralisch – nicht rein technisch-politisch – urteilte, empfand das Zugeständnis des Neutralitätsbruches seitens unseres Kanzlers in seiner ersten Rede über unseren Einmarsch in Belgien – sehen wir ab, daß er später seine Worte zurückzunehmen sich für berechtigt hielt – als eine »edle freie Offenheit«. Die ganze angloamerikanische Welt des Erdkreises empfand genau dieselbe Handlung – auch soweit sie ehrlich und objektiv urteilte – moralisch völlig anders. Das bekannte Urteil lautete: Nicht nur eingebrochen sind die Deutschen in Belgien wider alles Recht/ nein sie haben den unverschämten Kynismus, es auch noch zu sagen und zuzugestehen. Wie hätten wir wohl geurteilt, wenn England in Belgien einmarschiert wäre und Lord Grey nicht wie unser Kanzler – nach dem Maße seiner damaligen Sachkenntnis über die englisch-belgischen Verhandlungen und Abmachungen – es zugestanden hätte, sondern den Völkerrechtsbruch nach englischer Tradition geleugnet und juristisch zu rechtfertigen versucht hätte. Wir hätten gesagt: Seht diese Hypokrisie, diesen cant! Also dieselbe Handlung ist nach uns ein Zeichen von »cant«, die nach englischem Ethos ein Zeichen von »Kynismus« ist. Nicht etwa auf das Maß der Tatsachenkenntnis der urteilenden Subjekte, – nein auf verschiedene Ethos formen bauen sich Mißverständnisse dieser Art auf. Denn alle die angeführten Beispiele sind Mißverständnisse – und zwar gegenseitige Mißverständnisse. Glauben Sie nicht ohne weiteres, es habe hier eine der beiden Parteien anders »recht« – als eben nach ihrem nationalen Maßstab, d. h. einem Maßstab, den die andere a priori ablehnt. Wohl gibt es ein eindeutiges und absolutes Recht und Unrecht – aber »Völker« sind nicht berufen und werden nie berufen sein, es zu finden. Für Völker bleiben diese Mißverständnisse »notwendig«. Vermeidbare Mißverständnisse beginnen erst außerhalb jener Maßstabgegensätze sie beginnen erst bei dem praktischen Verhalten der Völker, dadurch sie selbst ja nach ihrem Maßstab zu leben suchen, ihm bald praktisch gerecht werdend, bald nicht. Und gar aufklärbare Mißverständnisse haben es ausschließlich nur mit einzelnen Tatsachenfeststellungen zu tun – nie mit den beiden oben genannten Arten.

Unter den viel komplexeren »notwendigen und unvermeidbaren« Mißverständnissen dieser Gattung führe ich nun als Ursachen des Hasses politischer, nicht also nationaler Herkunft gegen uns vorzüglich zwei an, da sie mir die ausgezeichnetste Bedeutung zu haben scheinen: Das notwendige Mißverständnis unseres sogenannten Militarismus und das gleichnotwendige Mißverständnis unserer Freiheitsidee, d. h. Mißverständnisse dessen, was wir Freiheit und Knechtschaft nennen und was sich in unseren politischen monarchischen Institutionen ausgewirkt real für uns darstellt. Die Welt, besonders der Westen nennt uns auf Grund dieses zweiten Mißverständnisses unseres Wesens ein »serviles« Volk, oder noch übler ein Dienervolk oder auch in anderer Färbung den »Feind der Demokratie der ganzen Welt«.

2.
Das notwendige Mißverständnis unseres sogenannten Militarismus

Hinsichtlich unseres »Militarismus« ist vor allem eine Frage zu stellen, die eine starke Analogie hat zur falschen Ausdeutung unserer wirtschaftlichen Überarbeit als Mittel der wirtschaftlichen Welteroberung, eine Mißdeutung, die – wie wir sahen – zu der faktisch übermäßigen aber psychologischen nichtbegriffenen Arbeitshast noch hinzutrat. Diese Frage lautet: Wie war es psychologisch möglich, daß auch die vernünftigsten und ruhigsten Elemente des Auslandes fest überzeugt waren, daß wir mit einem ganz bestimmten Plane der militärischen Welteroberung umgingen? Denn dies und nichts anderes glaubten die Völker unseren Rüstungen unterlegen zu dürfen. Wieso glaubten selbst ausgezeichnete Gelehrte in Frankreich ernstlich – nicht etwa um Stimmung zu machen – so wie der Verfasser des kleinen einige Jahre vor dem Kriege erschienenen Buches »La guerre qui vient« sagt, daß der deutsche Kaiser, wenn er morgens aufgestanden, sich täglich an einen Tisch mit Karten setzt, um die besten Einfallspunkte in Frankreich ausfindig zu machen? Oder anders ausgedrückt: Wie konnte es zu diesem geradezu rätselhaften Kontraste kommen, daß unser Gesicht nach dem Auslande hin furchtbar, von Angriffsenergie gleichsam gewaltig gespannt, aufs äußerste bedrohlich war, während wir als Volk wie unsere Reichsleitung faktisch der Gesinnung und dem Willen nach tieffriedlich waren, so friedlich, daß keinem Volke der ganzen Erde, auch keinem neutralen Volk dieser Krieg so über alle Maßen überraschend kam wie dem unsrigen? Und wie kam es weiter, daß wir selber von unserem eigenen Gesicht, von seiner Furchtbarkeit, Bedrohlichkeit und Wildheit nicht die leiseste Ahnung hatten? Wenn das kein psychologisches Problem erster Ordnung ist, dann weiß ich nicht, was ein psychologisches Problem ist. Haben Sie denn schon einen normalen Menschen gesehen, der das wilde Gesicht eines Wütenden hat und der die Faust fortwährend zu schütteln scheint und der gleichzeitig, da er dieses Gesicht macht, in Gedanken Vokabeln einlernt oder nachdenkt, wohin er heute nachmittag spazieren gehen soll? Und der selbst außerdem nicht einmal weiß – ich sage nicht weiß –, daß er dies furchtbare Gesicht macht? Und doch genau so war es. Lüge, Verleumdung, Preßhetze, Angstphantasien unserer Feinde sagt man? Gemach! Das ist Unsinn! Das alles trat sekundär hinzu: die Ursache dieses Auseinanderfallens von Gesinnung und Gesicht war es nicht. Gewiß war der Auffassungsinhalt unserer Feinde nur »Phantasie«, verglichen mit dem nationalen Willen, der nationalen und staatlichen Gesinnung des deutschen Volkes und seiner Regierung, nicht aber war er Phantasie, bezogen auf unsere Erscheinung und auf unser Gesicht. Diese Erscheinung löste die Angst selbst erst aus, die dann ihrerseits zu den Angstphantasien erst hinführte. Nein, das gerade ist der Springpunkt der Sache: Wir sahen schon wirklich so ähnlich aus, wie es zu Beginn des Krieges das Ausland so plastisch mit den Worten »toller Hund«, der schon längst auf dem Sprunge stand um sich zu beißen usw. ausdrückte. Wir waren nur willensmäßig ganz anders eingestellt, als wir wirklich aussahen, ja sogar genau entgegengesetzt. Aber wir sahen faktisch so aus – und wir ahnten es nur nicht. Dieses Rätsels Lösung liegt also erheblich tiefer, als in bloß subjektiven Täuschungen des Auslandes. Hier sei nur der Grundgedanke seiner Lösung angedeutet. Zu seiner Ausführung bedürfte er eines Buches. Seine Lösung liegt auch nicht an erster Stelle in unserer oft ohne Sinn säbelklirrenden Außenpolitik (Marokkopolitik, Panther), obgleich ruhigere Tage die Politik des Fürsten Bülow auch in dieser Richtung einer scharfen Kritik unterziehen werden. Solcher Grund gehörte noch zu den »vermeidbaren Ursachen«. Und wir behaupten hier ein unvermeidliches Mißverständnis.

Dieses Rätsels Lösung liegt im notwendigen unabwendbaren Mißverständnis, dem Völker eines vorwiegenden Zweckmilitarismus gegenüber einem Volke des vorwiegenden Gesinnungsmilitarismus mit Notwendigkeit verfallen müssen.

Um diesen Satz zu verstehen, haben wir uns den inneren Wesensunterschied dieser beiden Formen des Militarismus zuerst möglichst klar vor Augen zu führen. Ich kann dies nicht besser tun, als ich es in meinem jüngst erschienenem Buche »Krieg und Aufbau«, in dem Aufsatze »Über Gesinnungs- und Zweckmilitarismus« schon getan habe, und da ich die Kenntnis dieses Buches hier nicht voraussetzen darf, muß es mir verstattet sein, das Folgende aus diesem Aufsatze hier zu zitieren:

Das Wort Militarismus ist nach mehr als einer Seite hin vieldeutig. Man kann, ja man sollte darunter an erster Stelle verstehen ein gewisses Ethos und eine gewisse innere und äußere Menschenhaltung, d. h. eine im Gemüte der Menschen fest gewordene Art, gewisse Werte anderen Werten in Leben, Wählen, Handeln vorzuziehen und dies sichtbar auszudrücken: z. B. die Werte des Griech. Wort fehlt (Plato) den Werten des Angenehmen und Nützlichen, Ehre und Ruhm dem Leben, Macht dem Vorteil, die Sache des Staates individuellem Wohlbehagen. Solches Ethos, nach dem ein ganzes Volk leben will, stellt sich dann an zweiter Stelle in der Erscheinung seines Heeres und seiner Heeresverfassung dar; es drückt sich in seinem Heere aus wie Freude im Lächeln, wie der Zorn im Runzeln der Stirne und dem Schütteln der Faust. Die besonderen Zwecke, für die ein Heer im Frieden und Kriege verwandt wird, haben mit dieser Verwurzelung einer Art von Militarismus noch nichts zu tun. Denn dieser »Militarismus« ist Ausdrucksgeste des Ethos eines Volkes, desselben Ethos, das die Fassung seiner (auch politischer) Zwecke allererst bestimmt; dieser »Militarismus« ist also nicht der Name für eine Einrichtung oder für ein »Werkzeug« zu bestimmten Zwecken. Das Wort Militarismus kann aber auch etwas völlig anderes besagen wollen: das Vorhandensein eines möglichst starken, schlagkräftigen Heeres und eifrige Sorge für dessen Erhaltung und Verbesserung. Bedeutet das Wort dies, so kann solcher Militarismus noch Zweckbereichen, die grundverschiedenen Formen eines möglichen Volksethos entspringen, diensam oder ein »Werkzeug« für ihre Erreichung sein. Die Form des militaristischen Ethos ist dann nur eine einzige dieser möglichen Formen. Das Heer kann dann zum Beispiel auch dem Ethos (und der daraus entspringenden Politik) einer regierenden und für den Typus des Menschen dieses Volkes maßgebend und vorbildlich gewordenen Klasse von Religiösen, Priestern, Kaufleuten, Beamten oder einer im Wesen unmilitärischen Dynastie als Werkzeug dienen (wie die Flotte und Landmacht der Karthager, die venezianischen Söldnerscharen, die neuenglischen Heere, andrerseits die Janitscharen, die Cromwellschen »Erwählten«). Ein Volk kann also gleichzeitig ganz ummilitaristisch im ersten und äußerst militaristisch im zweiten Sinne sein. In einem Volke braucht also auch nicht derselbe Geist, der Heer und Heeresorganisation sich als zweckfreien Ausdruck schuf, auch die Gefüge politischer Ziele und Zwecke bestimmen oder mitbestimmen, zu denen das Heer verwandt wird.

Die historische innere Kontinuität des gesinnungsmilitaristischen Geistes des preußischen Heerwesens seit seinem Ursprung über Friedrich den Großen hinweg und über die beiden großen Heeresreformen der Befreiungskriege und Wilhelms I. bis zur Gegenwart ist von B. Delbrück und anderen in eingehenden Darstellungen der deutschen Heeresverfassung dargelegt worden. Trotz der Einführung der allgemeinen Dienstpflicht behielt der alte Geist des königlichen Berufs- und Standesheeres (durch die zweitgenannte Reform aufs neue befestigt und niemals, wie bei dem Heerwesen Englands und Frankreichs, durch eine große revolutionäre Staatsumwälzung in seiner Eigenart gebrochen), bis zum Beginn dieses Krieges das entschiedene Übergewicht im Ganzen des Heeres. Das Ausland hat denn auch darin völlig recht, wenn es uns in einem Sinne ein Militärvolk und einen Militärstaat nennt, in dem das Gleiche auch dann nicht von England, Frankreich oder Rußland gesagt werden könnte, wenn seine riesenhaften Heere relativ zu Bevölkerungszahl und Reichtum der Länder noch beliebig größer wären als sie sind. Das preußisch-deutsche militaristische Ethos bliebe uns auch dann eigentümlich. Wenn »Aufklärer« des Auslandes fort und fort darauf hinweisen, es sei der »Vorwurf des Militarismus« unberechtigt, weil doch die uns feindlichen Staaten ebenso große, schlagkräftige Heere aufgebaut haben wie wir selbst, ja pro Kopf auf den einzelnen, z. B. in Frankreich ein größerer Anteil der Rüstungslasten fällt, daß weiter beim Wettrüsten in mehreren Fällen das Ausland (z. B. dreijährige Dienstzeit der Franzosen) als die antreibende Kraft erschien, so machen sie sich, ohne es zu wissen, einer Preisgabe des deutschen Ethos schuldig – wobei ich hier die faktische und historische Berechtigung ihres Satzes nicht genauer untersuche. Diese Heere und die Opfer, die jene Länder dafür brachten, machen sie weder der Ehre teilhaftig, unseren Militarismus zu besitzen – gesetzt, es sei dies eine Ehre – noch des gleichen Vorwurfes schuldig, den sie gegen uns wenden – gesetzt, unser Militarismus im ersten Sinne sei ein moralisches Übel. Auch andere Argumente der Aufklärer – scheinbar – zugunsten unseres Militarismus sind faktische Preisgabe gerade des Charakteristischen und nach unserem deutschen Ethos »Edlen« unseres Militarismus. Man darf zuerst zusammenfassend sagen: Alle, die ihn anstatt erst an zweiter Stelle aus dem Zwecke unseres Heeres und aus unserer geographischen Lage und Wirtschaft, an erster Stelle aber aus der Eigennatur unseres Lebenswillens abzuleiten, umgekehrt an erster Stelle aus jenen Momenten erklären und dabei unser militaristisches Ethos nur als Folgeerscheinung des Bedarfs eines starken Heeres zwecks Schutz unserer Grenzen oder um bestimmter machtpolitischer Zwecke willen usw. usw. verstehen wollen, verfehlen ihr Ziel. Viele unserer der Aufklärung beflissenen Professoren und Akademiker fordern das Ausland fortgesetzt auf, daß es sich doch in unsere zentraleuropäische Lage einmal voll hineindenken und hineinfühlen möge, um unseren Militarismus zu verstehen. Man sagt: es fehlen uns die natürlichen Grenzen, welche für England ganz und gar das Meer, für Frankreich, Italien zum großen Teil die Meeresgestade bilden. Eingezwängt in die Mitte Europas, nach zwei Fronten ohne natürliche Deckung, im Süden ohne Verbindung mit dem Meere, nur im Norden mit einem der Verbreitung deutscher Stammesart längst nicht entsprechenden Zugang zur See, umringt von deutschen und halbdeutschen Kulturländern, die wie die deutsche Schweiz, Holland, die flamischen Provinzen, die baltischen Provinzen sich einst vom deutschen Reiche abspalteten und ein Eigenleben begannen, sind wir ebenso genötigt, ein mächtiges Werkzeug der Verteidigung und der freien Bewegung stets bereit zu halten, als wir durch die natürliche Zentripetalkraft deutscher Kulturländer, an den Kern des deutschen Staates anzuschließen, fortwährend gereizt sind, durch Wiedereroberung des einst uns entgangenen Teiles deutscher Lande unseren alten Besitzstand wiederherzustellen. Ich verkenne die Kraft dieser Argumente zur Erklärung der Größe und Sondergestaltung unserer, besonders der neudeutschen Heeresorganisation und der Größe unseres Aufwandes für sie nicht im mindesten. Aber das, was das Ausland unseren »Militarismus« nennt, ist von diesem Zwange der Not und unseres geographisch-politischen Milieus völlig unabhängig. Er ist allem voran der freie Ausdruck, die natürliche Lebensform des spontanen Ethos und Grundwillens unseres Volkes, nichts also, was uns Lage und besondere historische Schicksale abgenötigt hätten. Wir sind und waren an erster Stelle Militaristen einfach aus dem Grunde, weil es uns wohl gefiel, also zu leben und nicht anders! Säßen wir auf Englands Inseln, so würde sich an dieser letzten preußisch-deutschen Willensrichtung nicht das mindeste ändern, – wie grundverschieden auch die Heeres- resp. Flotten organisation wäre, die dieser Umstand zur Folge gehabt hätte. Auch dann wäre es uns nicht eingefallen, den kriegerischen Geist durch den der Hygiene dienlichen Sport zu ersetzen, auch dann hätten wir das Grundverhältnis von Volk und Heer niemals als ein solches von Werkmeister und Werkzeug für beliebige »Zwecke« betrachtet – für Zwecke, die von einem außerkriegerischen Herrschaftsethos dem Heere äußerlich vorgespannt werden; auch dann hätten wir nicht Geld und Söldner, Kontinentaldegen und fremde Völker so lange in den Kampf geschickt, als es nur möglich ist, um an dem eigenen als zu »edel« zum Kriegsopfer empfundenen Blut nach Möglichkeit ökonomisch zu sparen. Auch dann wären uns die militärischen Lebensformen etwas unserem Wesen wie ein gutes Kleid prall Ansitzendes gewesen und wäre uns Heer und Flotte kein »Werkzeug«, sondern dasselbe Ethos, dessen Ausdruck sie sind, das auch all unsere politische Zwecksetzung leitende Moment gewesen. Ein Werkzeug ist im Unterschiede von einem Kunstwerk, das den Geist eines Volkes ausdrückt, nur um des Zweckes willen da, für das es Werkzeug ist. Der deutsche Militarismus aber gleicht mehr einem Kunstwerk als einem Werkzeug. Er hat sich dem Gesamtleben des Volkes nicht von außen angesetzt, sondern ist, wie gewisse kalkige Schalen von Meerestieren, ein Werk wesentlich innerer organphysiologischer Arbeit. Erst sekundär tritt daher bei uns sein Ausdruck, das Heer, in den Dienst politischer und sonstiger Zwecke. Zuerst und zunächst stellt das Heer nur die sichtbar gewordene Form eines bestimmten Wertungs- und Lebenswillens dar, eine Form, an der der gesamten moralischen Welt sichtbar, fühlbar, greifbar wird: es lebt hier ein Volk, das die Ehre dem Nutzen voransetzt, die Macht des Ganzen allen bloßen Interessen und Vorteilen von Gruppen und Klassen, Kampf und Arbeit der Behaglichkeit, Zucht der Erwerbs- und Genußgier, die Spannung der Pflicht den angenehmen Folgen ihrer Erfüllung, den Wert der Opferkraft selbst dem Werte aller Dinge, für die man opfert, vitale Kraft, Gesundheit und Leibesschönheit aller Fülle guter, toter Gebrauchsdinge, das Glück in der Spannung des Kampfes dem Glück der Ruhe und der erreichten Ziele.

In den Briefen Friedrichs des Großen, in denen er Freunden oder Verwandten seine so oft wiederkehrende Bedrängnis schildert, finde ich als letztes maßgebendes Wertmotiv für sein und seines Heeres Durchhalten immer nur ein und dasselbe: die Ehre, seine Ehre als König, die Ehre seines Staates und seiner Armee; niemals etwas wie Gewinnsucht, Habsucht, Eroberungsgier.

Es ist im Werden des modernen deutschen Reichsmilitärwesens nicht so sehr der »kriegerische« Geist (den freilich auch der sogenannte Militarismus voraussetzt), was von Preußen ausging, als der Geist der Ordnung, der Pflichtgedanke, der Organisation, der Pünktlichkeit, der Disziplin und der Sachlichkeit. Den kriegerischen Geist besitzen alle deutschen Stämme in annähernd gleichem Maße; und sicher kommt Preußen hierin kein Vorrang zu. Aber eben erst durch diese Verbindung des allgemeindeutschen kriegerischen Sinnes mit seinem preußischen, auch außerhalb der preußischen Armee (Beruf, Wirtschaftsleben usw.) in gleichstarkem und gleichursprünglichem Maße sich auswirkenden Geiste des Ordnungs-, Sach- und Pflichtgedankens konnte das militaristische Ethos eine Kraft der Einigung Deutschlands werden. Dieser kriegerische Sinn für sich genommen ist in allen Zeiten der deutschen Geschichte ja gerade der tiefste Grund für die Uneinigkeit Deutschlands, für die endlosen Kämpfe von Germanen wider Germanen gewesen; Grund auch für alle deutsche Unverträglichkeit, Zanksucht, Parteizerklüftung, Unfähigkeit zur Selbstorganisation. So wenig eben beruht der Kern des deutschen Militarismus auf dem Zwange der Not, auf Zweckmäßigkeit und der Notwendigkeit eines starken Heeres als Werkzeug »gegen die Feinde Deutschlands«, daß vielmehr gilt, daß die Deutschen schließlich immerdar miteinander kämpften, wenn sie gegen andere nichts zu kämpfen hatten.

Diesem Gesinnungsmilitarismus entsprechen nun auch mehr oder weniger äußere, aber für unsere ausländische Bildwirkung wichtige Folgeerscheinungen. Zu allererst die Tatsache, daß der Offizier in Deutschland zum sozialen Vorbild auch der außermilitärischen Berufsstände wurde, sein Ehrbegriff aber derjenige ist, an dem sich die Ehrbegriffe anderer Klassen, Berufe, Gruppen wie an einem Höchstmaß (wenn auch heimlich und oft mit äußerem Widerspruch) messen, daß weiter die soziale Stellung des Offiziers eine von seiner Stellung in allen anderen Ländern wesensverschiedene ist, daß alle Rangklassen nach den militärischen Rangverschiedenheiten der Gesellschaft gemessen werden, daß durch Militäranwärtertum und Reserveoffizierseinrichtung Sitte und Ton der gesamten Gesellschaft vom militärischen Wesen durchwirkt wird, daß bei der für die Formung des künftigen Typus Mensch so wichtigen Liebeswahl das »bunte Tuch« und die mit ihm verbundenen militärischen Tüchtigkeiten auf die Weiblichkeit aller Stände und Klassen die stärkste Zugkraft äußern, daß der Kaiser (der »oberste Kriegsherr«) wie die höchsten Beamten in ihrer äußeren Erscheinung bei festlichen Gelegenheiten die Uniform anderer Bekleidung vorziehen und tausend anderes.

Das feindliche Ausland hat also (unter weitgehender Zustimmung der Neutralen) darin durchaus recht, wenn es den Deutschen eine besondere Art des Militarismus zuspricht, eine Art, die dem Ausland trotz seines nicht minder großen, ja größeren Aufwandes für die Heeresorganisation fehlt. Bringen wir den Unterschied hier und dort auf eine Formel, so kann man sagen, daß bei uns ein Gesinnungsmilitarismus die innere, auch historische Grundlage des auch bei uns bestehenden Instrumentalmilitarismus sei, wogegen bei unseren Gegnern das System des Instrumentalmilitarismus vorherrscht, das Heer an erster Stelle also ein Werkzeugsverhältnis zum politischen Willen von Regierungen und solchen herrschenden Klassen besitzt, deren Ethos von Haus aus wesentlich un- oder sogar antimilitaristisch, bald mehr utilitarisch und kaufmännisch (England, Amerika), bald mehr religiös-romantisch (Rußland), bald mehr durch den Gloiregedanken, schließlich den unmilitärischen Rachegedanken und den Ressentimenthaß der empfundenen Schwäche bestimmt ist.

Hat das Ausland aber darin recht, so hat es gleichzeitig ganz und gar unrecht, wenn es annimmt, daß solcher Gesinnungsmilitarismus eine dauernde » Bedrohung aller umliegenden Völker, ja der ganzen Welt« sei, daß mithin eine Beseitigung dieses Militarismus auch für die Sicherheit und Wohlfahrt Europas, ja der ganzen Welt notwendig sei. Gerade dieser Charakter einer fortwährend die Nachbarn bedrohenden Macht muß vielmehr einem Heere von Hause aus fehlen, das nicht an erster Stelle für gewisse Zwecke und als Werkzeug für die Pleonexie einer außermilitärischen Klasse organisiert ist, sondern an erster Stelle nur der einfache Ausdruck eines bestimmt gerichteten Wertens- und Lebenswillens ist. Der Gesinnungsmilitarismus gerade ist es also, der sich mit größter Friedfertigkeit zusammenfinden kann. Dieser psychologische Zusammenhang erklärt erst vollständig, daß Deutschlands Politik in den letzten vierzig Jahren gleichzeitig stärkste Rüstungspolitik und die friedfertigste Politik aller Großstaaten gewesen ist, daß uns auch bei diesem Kriege jeder partikulare »Zweck«, dessen Erreichung der Krieg dienen sollte, in dem Maße fehlt, daß heute noch die tiefgehendsten Differenzen über »Kriegsziele« bestehen. Der Gesinnungsmilitarismus ist eben von Hause aus das gerade Gegenteil eines Militarismus des Eroberungsdranges. Gerade dieser Drang ist mit dem instrumentalen Militarismus aufs engste verbunden. Die Kraft der Pleonexie einer herrschenden Händlerklasse, Finanz- und Industriearistokratie ist ihrer inneren Natur nach im kapitalistischen Zeitalter unbegrenzt. Ist ein Heer als Werkzeug in ihrer Gewalt, so gibt es auch in dessen Anwendung für diese ihre Zwecke kein inneres, kein im Ethos der herrschenden Schicht selbst liegendes Maß mehr, sondern allein nur die äußere Kraft des Widerstandes, auf den solches Werkzeug aufstößt. Ganz anders, wenn – wie es Clausewitz in seiner Erörterung vom Verhältnis des Oberfeldherrn und des Staatsmannes als »Ideal« darstellt – der Oberfeldherr und der oberste Leiter der Politik in einer Person, nämlich im König, zusammenfällt, und wenn das Bildungsgesetz des politischen Willens eines Volkes im Kriege und beim Friedensschluß durch dasselbe militärische Ethos wesentlich mitbestimmt ist, dessen konkreter Ausdruck Heer und Heeresverfassung sind. Hier ist das Heer nicht »Werkzeug« eines Staates, der selbst wieder den wirtschaftsmächtigsten Individuen und Kreisen des Landes mehr oder weniger dient, sondern der Staat selbst ist es, der im Heere und dessen oberstem Führer kulminiert. Ja noch mehr: der Staat verwandelt sich gleichsam im Kriege in das Heer wie in einen nur anderen Aggregatzustand seines immer gleichen Wesens. Der Staat selbst ist hier vom militärischen Ethos erfüllt. Denn dieses Ethos ist hier keine gesonderte Berufsmoral, sondern ein integrierendes Element des Staatsgeistes und Staatswillens, auch im Frieden.

Sie werden vielleicht sagen, daß doch auch unsere schwer teueren Rüstungen, die Land- wie die Seerüstungen, immer und überall mit strengen Zweckmäßigkeitsgründen vor dem Reichstag vertreten worden sind. Darauf muß ich antworten: Auch ich leugne ja nicht, daß die Art und das Maß der Ausgestaltung einer jeden, also auch unserer Armee von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten abhängt. Aber historischer Ursprung und Ausgestaltung sind für jede historische Erscheinung grundverschiedene Dinge! Und auch nachträgliche Begründung der Rüstungen und die bei den leitenden Männern leitenden seelischen Motive sind gar sehr zweierlei. Ein sehr mächtiges Motiv war z. B. während unserer gesamten Rüstungsgeschichte, besonders stark auch bei unserer maritimen Rüstung eben dasselbe Motiv, das in unserem Hochschulwesen als übertriebener, bei keinem Volke vorfindlicher Fachspezialismus, in unserer Politik nach Bismarcks alter Klage als »Ressortpartikularismus« des Beamten, Geheimrats, aber auch der höchsten Militärs, so stark in die Erscheinung trat. Eminent gesteigert mußte natürlich dieser Ressortpartikularismus in dem Maße hervortreten, als kein so mächtig synthetischer, diese partikularen fachinteressierten Kräfte zur Resultante zwingender Wille, wie Bismarck ihn besaß, die bloße »Fachtüchtigkeit« in Schranken hielt, um sie einheitlichen politischen Zielen zu beugen. Daß hinterher dann, wenn ein eminenter Fachmann aus purem Antrieb, zunächst in seiner Sphäre etwas besonders »Tüchtiges zu leisten«, wie es bei uns ja auch der gute Fabrikant, der gute Gelehrte, der gute Schuster will, er außerdem versucht – ist er politisch interessiert und klug, kann er dies natürlich besser – für das, was er sachlich will, viele Menschen zu interessieren, so darf man die hierzu angewandten für seine Sache Stimmung machenden Argumente und ihre Wirkung, nicht mit den treibenden Motiven und Ursprüngen der Erscheinung verwechseln.

Diese Liebe zum militärischen Wesen als solchem – im Unterschiede zum unwilligen Ertragen des Heeres, wie bei unseren Feinden – und dieser militärische Ressort- und Fachspezialismus, der die Rüstungen stark aus sich selbst heraus – nach einer in ihnen selbst liegenden, von allen Zwecken abgelösten Ordnungslogik gleichsam – wachsen läßt, können nun natürlich mit größter Friedfertigkeit des politischen Willens verbunden sein. Gibt es einen friedfertigeren Militaristen als den Feldwebel, der nach Friedensschluß sagt: »So Kerls, jetzt wirds wieder ernst«? Und doch ist er Militarist pur sang, ja sogar eigentlich gleichsam der in Reinheit gezüchtete Fall des Gesinnungsmilitarismus. Bestünde die Welt aus reinen Gesinnungsmilitaristen, so wäre der Krieg genau so unmöglich, als wenn die Welt aus lauter Pazifisten bestünde. Aber darüber dürfen wir uns nun auch nicht wundern, daß das Gesicht, das bei diesen unseren Heeresaufbau tragenden und treibenden Potenzen für solche Völker herauskommt, die unter den Kategorien des vorwiegenden Zweckmilitarismus bei sich selbst wie bei der Auffassung fremder Armeeerscheinungen denken, völlig anders aussieht, als es gemeint ist und als es diesem Friedenswillen entspricht. Und darum dürfen wir uns auch nicht wundern, daß die Völker notwendig unserem militärischen Gesamtapparat einen Plan der Welteroberung unterlegten. Sie müssen dies ja, indem sie auch unser Heerwesen unter die, ihnen gewohnten Zweckkategorien bringen, wobei sie sich außerdem noch auf die Begründungen stützen können, welche die Träger des gesinnungsmilitärischen Geistes in einer demokratisch-utilitarisch überzweckhaften Zeit im Parlamente zu geben genötigt zu sein pflegen, wenn sie das militärische Budget bewilligt erhalten wollen. Zu diesem prinzipiellen Mißverständnis unseres Militarismus trat aber freilich noch eine gewisse faktische Verschiebung der Stelle hinzu, die im jüngsten Deutschland im Unterschiede und im zweifellosen Gegensatze nicht nur zum alten Preußen, sondern auch zum Zeitalter Bismarcks, Heer und Heeresgeist im Verhältnis zur politischen Leitung einerseits, zu den wirtschaftlichen Interessenkreisen andererseits, eingenommen hatte. Nachdem einmal die großen wirtschaftlichen Interessenkorporationen oder einzelne der höchsten Spitze nähertretende und von ihr (im Gegensatz zu den älteren preußischen Traditionen) willig aufgenommene und willig in ihren oft widerstreitenden Wünschen gehörte Vertreter des großen Industrie» und Handelskapitals jenen völlig neuen unverantwortlichen Einfluß selbst auf die Lösung der höchsten Fragen der hohen innereuropäischen Bündnispolitik erlangt hatten, – einen Einfluß, der unter der (auf die Formverwandtschaften der Staaten) in europäischen Bündnisfragen noch wesentlich feudal und staatspolitisch gerichteten Bismarckschen äußeren Politikmethodik eine pure Unmöglichkeit gewesen wäre, – wurde zwar der wesentlich gesinnungsmilitaristische Geist unseres Heeres nicht im mindesten berührt oder gar abgeschwächt in zweckmilitaristischer Richtung. Wohl aber wurde die Einheit des Stiles dieses gesinnungsmilitaristischen Geistes und seiner politischen Voraussetzungen mit der Leitung und dem Geiste unserer Außenpolitik stark in Frage gezogen, wenn nicht geradezu zerstört. Noch immer zwar kulminierte das Heer ausschließlich in seinem König und Kaiser und seinem obersten Kriegsherrn und unterstand ausschließlich der Armee- und obersten Kommandogewalt eines Fürsten, der von den edelsten gesinnungsmilitaristischen Traditionen Preußens beseelt war und ist. Aber bei der eben geschilderten prinzipiell neuen Lage der Dinge, die dem Auslande und seinen politischen Bevollmächtigten natürlich nicht unbekannt bleiben konnte, bei der Wirkung jener unverantwortlichen, unsichtbaren und im einzelnen in ihren Wirkungen verborgen bleibenden neuen Kräfte, welche die großen wirtschaftlichen Interessengruppen auf eben dieselbe Spitze des Staates in deren anderer Eigenschaft als selbsttätigen politischen Höchstleiter auch der äußeren Staatspolitik nun auszuüben schienen, konnte doch der Anschein leichter wie ehemals sonst in der Geschichte Preußen-Deutschlands entstehen, daß das Heer samt dem ihm innewohnenden gesinnungsmilitaristischen Geiste gelegentlich auch bei uns als bloßes Werkzeug für Zwecke des großen Kapitals einmal verwandt werden könne. So entstand nach außen das Bild einer gewissen trüben Vermischung von Gesinnungs- und Zweckmilitarismus – ein Bild, das der wahren Sachlage nicht genau entsprach, aber in seiner Entstehung wohl begreiflich ist. Da die geahnten und in der Phantasie vergrößerten Einflüsse der großen Interessen erstens nicht so wie in parlamentarisch regierten Staaten wesentlich sichtbare und durch Verantwortung begrenzte waren, zweitens aber von Leuten ausgingen, die zwar ausgezeichnete Fachleute in ihrem industriellen oder kaufmännischen Kreise sind, aber schon durch die (außerhalb des Beamtentums und der Diplomatie) uns mangelnde Tradition politischen Denkens nur sehr wenig Gesamtüberschau über die Konstellation aller außerpolitischen Faktoren besaßen, mußte dies Bild viel unheimlicher und gefahrdrohender auf das Ausland wirken, als es unter der Voraussetzung reiner, sei es (älterer) gesinnungsmilitärischer, sei es rein zweckmilitärischer (westlicher) Grundverhältnisse zwischen Armee- und Staatsleitung gewirkt hätte. Und dies doppelt darum, weil in dem Falle, daß die Heeresorganisation eines Volkes wesentlich gesinnungsmilitaristische historische Fundamente besitzt, die gleichwohl gefahrdrohende, wie auch immer vermittelte Verwendung solcher Heeresorganisation als Werkzeug für verborgene ökonomische Interessengruppen eine weit größere und dunklere Gefahr bedeutet als in dem anderen Falle, in dem Heer und Heeresorganisation sich als zweifellose Werkzeuge einer, dem militärischen Gesinnungsgeiste entfremdeten, regierenden politischen Klasse von Kaufleuten, Industriellen, Rechtsanwälten usw. von vornherein offensichtlich darstellen. Wie man von irgendeinem politischen Parteistandpunkt über diese Vermengung urteile, ob man mit den Konservativen in der gleichen Erscheinung eine beklagenswerte Preisgabe des alten Preußengeistes gesehen hat oder umgekehrt mit den Liberalen eine erfreuliche, sogenannte »notwendige« Tendenz auf das dem Westen eigentümliche Werkzeugsverhältnis von Heer und Staatsleitung darin erblicke, ist für unsere Frage ganz gleichgültig. Denn beide Teile müssen heute zugeben, daß das Bild jener dunklen Vermischung die Angst und Furcht des Auslandes jedenfalls nur steigern konnte.

3.
Das notwendige Mißverständnis unserer Freiheitsidee

Das zweite notwendig haßerregende Hauptmißverständnis trifft unsere Art der Auffassung von Freiheit und Dienst, Volk und Staat. Sagen wir ganz kurz seine allgemeine Wurzel: Unsere Feinde können auf Grund des Verständnisspielraums ihres Ethos die fundamentale Tatsache nicht sehen, daß unser Freiheitsgeist oder die Idee der Freiheit, wie wir als Deutsche sie »meinen« – ihren fundamentalen und ersten Ort überhaupt nicht im politischen Menschen, im Bürger hat, auch nicht in der politischen und öffentlichen Sphäre überhaupt also, d. h. nicht da hat, wo sie die Freiheitsidee im Westen hat, sondern ganz wo anders: Im Denken und Schauen, im Gemüte, ferner in der streng sachlichen Facharbeit, in Gewissen und Religion, in Familie und Heim. Und sie vermögen ferner nicht zu sehen, daß unser Freiheitsgeist nicht auf das zielt, worin jeder dem andern gleich ist, nämlich in der staatsbürgerlichen Qualität, sondern auf das andere, wo jeder von dem anderen verschieden ist, d. h. auf die Sphäre der menschlichen Individualität eines jeden. Blickt man wie unsere Feinde nun auf die politische, öffentliche, rechtliche Sphäre ganz einseitig hin, vergißt dabei der Engländer seine geistige und gemüthafte Unfreiheit, seine Insularität, Borniertheit, seinen Dilettantismus und seine, die Welt zu seinen Inselsitten verengende Maulwurfsperspektive in allen Dingen der geistigen Kultur und Wissenschaft, vergißt der Franzose seinen altererbten Konventionalismus und Aberglauben an den absoluten allmächtigen Staat auch bis ins Menschliche hinein – so müssen wir unfrei, sklavisch, servil erscheinen. – Wenn man gar noch die Grundtatsache übersieht, daß wir Deutsche das sozial- und gefühlsdemokratischste Volk der Erde sind, dasjenige Volk, in dem Besitz und Familie als Eingangspforten in die höhere Gesellschaft wie bei keinem zweiten zurücktreten und in dem das seinem Ursprünge nach demokratische Prinzip der Bildung die stärkste sozialgliedernde Macht entfaltet – ja dann verstehe ich, daß wir genau so, wie man uns schimpft, erscheinen müssen: Als ein »serviles« Volk, als eine Art gutmütige »Herde,« die sich von ihren Führern überall hinführen läßt. Aber die Fehler der Tugenden des einen Volkes nicht – wie es allein vernünftig ist – wieder mit den Fehlern der Tugenden der anderen Völker zu vergleichen, sondern nur die eigenen Tugenden mit Abzug der obligaten Fehler mit den Fehlern der Tugenden des anderen und mit Abzug der Tugenden: das ist, wenn auch instinktiv, Heuchelei – freilich wieder eine Art notwendiger Heuchelei, gegründet in der Enge der nationalen Wertkategorien und der geistigen Auffassungsformen der Völker. Damit will ich nicht sagen, daß, so wie die Geschichte hier schon viel geändert hat, sie auch fürderhin auch noch vieles in unserem Charakter ändern werde. Aber immer nur in den Grenzen des dauernden Wesens der Nationen können solche Veränderungen gedacht werden. – Solange Deutsche Deutsche bleiben, wird niemals der Geist des westlichen Demokratismus und Parlamentarismus bei uns herrschen und niemals werden seine Abarten von Freiheitsidee die unseren sein können; wird niemals auch der gemeinsame Grundglaube dieser in ihren Freiheitsideen sonst so verschiedenen Völker in uns einkehren, daß die Wahrheit und das Gute vor allem und in erster Linie durch die Form des Dialoges möglichst Vieler erreicht werde, das heißt jener parlamentaristischen Streitkunst, welche englische und amerikanische Studenten schon in den Colleges, ja die Kinder in der Schule üben. Immer wird für uns der evangelische Satz gelten: Die Wahrheit (und das Gutsein) wird euch frei machen – nie der umgekehrte: Die Freiheit wird euch zur Wahrheit und zum Guten führen.

Aber mit der politischen Kampffrage Demokratie als Partei gegen Konservatismus hat dieser Gegensatz des Volksethos hier und dort gar nichts zu tun. Der Geist der Demokratien als politischer Parteien ist eben national grundverschieden (siehe hierzu auch mein Buch »Krieg und Aufbau«). Dieser Parteigeist ist überall und bei allen Völkern mit dem entgegengesetzten Geist der konservativen Parteien von diesen ganz andersartigen Gegensätzen nationaler Herkunft umspannt, von denen wir eben sprachen. So unsinnig daher die Haßthese ist, es sei der Krieg überhaupt ein Krieg der »europäischen Demokratie« gegen die feudalen Reste Europas, genau so unsinnig ist es, wenn bei uns konservative Parteileute diesen Gegensatz des Völkerethos und Völkergeistes für die Begründung ihrer besonderen Parteiprogramme und gegen die demokratisch-politischen Parteien Deutschlands verwerten wollten, dem Haßgeschrei unserer Feinde in einer ihrer Hauptanklagen hierdurch recht gebend und neue Zufuhr spendend.


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