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II. Affektmenge und Hintergründe des Hasses

Um die Ursachen unserer Erscheinung kennen zu lernen, müssen wir zuerst die nur indirekt wirksamen Hintergrundsfaktoren dieser Ursachen von den direkt wirksamen auf das Deutschland vor dem Kriege unmittelbar bezogenen Faktoren unterscheiden. Angesichts der Ersteren aber besteht eine Vorfrage, die man sich – soweit ich sehe – bisher überhaupt noch nicht gestellt hat. Sie betrifft Dasein und Möglichkeit einer so ungeheuren negativgerichteten Affektenmenge (Haßmenge) überhaupt, wie sie bei Gelegenheit dieses Krieges in die Erscheinung getreten ist. Daß sie sich gegen uns Deutsche richtet, davon müssen wir bei dieser Vorfrage zunächst absehen. Es handelt sich vielmehr gleichsam um das Haß kapital der ganzen europäischen Seele, das in diesem Kriege erst sekundär gegen uns flüssig gemacht wurde, das aber vor dem Einschlagen dieser Richtung und seiner Fruktifizierung gegen uns, als fluktuierende Masse schon dagewesen sein muß, wenn wir uns ernsthaft die ganze Sache begreiflich machen wollen.

Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, ist aber für die bloße Aufstapelung dieser gelben bösartigen Affektenmenge überhaupt die tiefgehende Verwilderung der moralischen Lebensformen des modernen Europa, ist der durch den Krieg jedem aufgewiesene (nicht erzeugte) jahrhundertewährende langsame Niedergang seines Ethos im ganzen verantwortlich. Um diesen lautlosen Umschwung und Niedergang des europäischen Ethos selbst, d. h. schon der europäischen Maßstäbe menschlichen Seins und Tuns, nicht also seiner an diesen Maßstäben gemessenen praktischen Moralität voll zu verstehen, müßte die ganze innere Geschichte dieses Ethos hinter ihren weltgeschichtlichen Erscheinungsformen aufgesucht werden. Das ist nicht dieses Ortes. Ich habe diesen Versuch mit der besonderen Absicht auf das Verständnis der langsamen Umgestaltung des europäischen Ethos in das Ethos des »bürgerlich kapitalistischen Zeitalters« aus dem fortschreitenden Siege der Werte, die ich »Ressentimentwerte« genannt hatte, über die echten christlichen Werte anderwärts in Extenso unternommen; und ich muß Sie für dieses sehr allgemeine Hintergrundsproblem der Erscheinung, mit der wir es zu tun haben, auf diese meine Ausführungen verweisen Siehe hierzu meine »Abhandlungen und Aufsätze« Band I: »Das Ressentiment im Aufbau der Moralen.«. Ihre Kenntnis gibt auch dem hier zu Sagenden erst das letzte volle Verständnis. Gerade das Werden und die das europäische Ethos umformende Bedeutung der negativen Affektenmengen (als da sind Haß aller Art, Neid usw.), die wir später – alle fast – während dieses Krieges so völlig unerwartet und so unsagbar verwundert emporschießen sahen, sollte in oben zitierter Abhandlung begreiflich gemacht werden. Hier hebe ich nur einen einzigen Punkt, der ein Ergebnis dieser Untersuchung war, nochmals hervor:

Überall in Kleinem wie in Großem lag vor dem Kriege längst eine der ethischen Grundideen, die z. B. noch das gesamte europäische Mittelalter als christliche Korporationsidee beherrschte, lag die Idee der Solidarität und Gegenseitigkeit aller Individuen und aller menschlichen Untergruppen in Schuld und Verdienst, Schicksal und Wert zerbrochen am Boden. Im Wirtschaftsleben siegte der Geist grenzenloser Pleonexie und ungehemmter freier Konkurrenz, sei es zwischen Individuen, sei es zwischen Staaten; ein Geist, der Jeden mit Jedem um so stärker zu neiderregendem Vergleich zwingt, als steigende bürgerliche Gleichheit vor Verfassung und Gesetz zu diesem Vergleich einladet; der alle »Stände« in »Klassen« (Interessengruppen) verwandelte, alle Liebe zum Werke und seiner Qualität auflöste und alles nach dem Geldgewinn bemessen ließ. Im geistigen Leben sperrte gleichzeitig ein immer dumpferer und frecherer, immer kleinere Völker ergreifender Nationalismus die Völker immer stärker voneinander und von gegenseitigem Verständnis ab. Ins Maßlose wuchs dazu überall die Schätzung des irdischen sinnlichen Lebens, damit auch die Angst es zu verlieren. In der letzten Phase der europäischen Entwicklung vor dem Kriege aber übertrug sich dieser Geist der Pleonexie auf die Staaten, die nun alle eine merkantilistische imperialistische Politik gleich England, zuerst im Dienste der herrschenden Klassen inaugurierten. In jedem der europäischen Großstaaten samt Rußland aber war ein freilich sehr verschieden starker revolutionärer Geist und Wille der Unterschichten tätig – überall geladen von Haß, Neid, Ressentiment gegen Oberschichten, die man herrschen und genießen sah, und die man doch als herrschaftswürdig schon wegen ihres historischen Ursprungs aus demselben Stande, aus dem die revolutionären Unterschichten sich abdifferenziiert hatten, nicht anerkennen konnte.

Es ist nun aber die weitere Frage, die ich mir im Rahmen der zitierten Abhandlung noch nicht stellte, ob die Ursprungsformen und ob die Art der Wirksamkeit dieser generellen Faktoren der europäischen Geistesgeschichte (für die Europa auf alle Fälle als Ganzes und solidarisch die Verantwortung vor dem Richter aller Dinge trägt), so geartet gewesen sind, daß sie in allen Teilen Europas gleichmäßig stark und gleichförmig tätig gewesen sind oder ob dies nicht der Fall ist. Wäre es nicht der Fall, wären sie z. B. innerhalb der Sphäre der Mittelmächte weniger stark und weniger einförmig, desgleichen weniger früh tätig gewesen, so ließe sich begreifen, daß die aus diesen Umbildungen des Ethos und der sozialen Schichtungen in allen Teilen Europas resultierenden Haßmengen Gesamteuropas vermöge ihrer verschiedenen Druckverteilung in den Teilen Europas von vornherein auch einen gewissen Richtungs- und Neigungswinkel auf die Mittelmächte gehabt haben müssen – eine Tatsache die, wie das Folgende zeigen wird, nicht im entferntesten den gegenwärtigen Haß gegen uns zu erklären vermöchte, die aber gleichwohl einen sehr wesentlichen dispositionellen Hintergrund für seine Erscheinung bildet, ohne den sie nicht voll verstanden werden kann. So aber war es in der Tat. Zum dispositionellen Hintergrund hat auch der heute gegen uns tobende Haß der Welt einen weder ursprünglich national noch politisch (im Geiste der Staatsverfassungen, z. B. Monarchie contra Parlamentarismus) verankerten, sondern einen aus sozialgenealogischen und ethischen Schichtengegensätzen innerhalb aller Nationen und Staaten geborenen Affekt, der sich von seinem nicht national und staatlich, sondern querschichtenmäßig geborenen Ursprungsort schließlich gegen jene Länder und ethischen Geisteszonen fortsetzt, ja in einem allgemeinen Welthasse gegen sie gleichsam kulminiert, die an diesen moralischen und sozialen Umbildungsprozessen noch am vergleichsweise wenigsten teilgenommen hatten. Um dies zu begreifen, bedarf es nur weniger historischer Erinnerungen.

Der Haß gegen die Mittelmächte ist ein Haß der Peripherie gegen die Mitte, der Außenglieder gegen das Herz Europas nicht nur im räumlich geographischen Sinne, sondern auch vor allem im Sinne des moralischen Mittel- Quell- und Herzpunktes derjenigen älteren europäischen Institutionen, unter deren Herrschaft Europa den Rang eines »Führers der Menschheit« so lange innegehabt hat. Das Deutschland vor der Entstehung der großen geschlossenen Nationalkörper der modernen Welt war eben dadurch der Sitz der tiefsten und stärksten Einheitsgarantie Europas und seines Einheitsgeistes, daß es nichts Eigenes zu sein beanspruchte, daß es aus sich heraus und ohne fremden Zwang, (wie ihn später Frankreichs Nationalismus auf die ganze Welt und auch auf uns übte), zu keinem einheitlichen Nationalstaat hinstrebte, dafür aber im Besitze der Kaiserkrone des alten römischen Reichs seine Söhne, vor allem seinen Adel in aller Herren Länder sandte, um die es umgebenden Völkerwelten moralisch und politisch zu organisieren. Der hierzu nötige »kosmopolitische« Geist, sowie die mit ihm eng verhaftete besondere Fähigkeit, Fremdes zugleich zu verstehen und es nach den dem Fremden selbst einwohnenden Richtlinien höchster Anlagen zu einem besonderen idealen Dasein erzieherisch umzubilden, machte mit der einzigartig organisatorischen und staatskonstruktiven Begabung der Oberschichten deutschen Ursprungs und mit diesem so spät erst (1870) zurückgenommenen Verzicht auf nationale Eigenmacht, erst das volle Ganze der deutschen Wesensanlagen aus. Nichts konnte man aus dieser ethnischen Anlagenganzheit, die mit der geographischen europäischen Herzlage Deutschlands wie in gottgewollter Harmonie schien, vollständig wegnehmen, ohne das Ganze zu gefährden. So waren die Germanen überall als Staaten- und Herrschaftsgründer und Gesetzgeber aufgetreten. Die englischen Institutionen des gemeinen Rechts sind deutschen (sächsischen) Ursprungs; das französische Königtum ist deutschen Ursprungs. Vermöge der großen Bedeutung fränkischen und anderen deutschen Adels im Aufbau der inneren französischen Herrschaftsverhältnisse in Verwaltung und Heer bis in die Kriege Ludwig des XIV. hinein, sind auch die älteren französischen Institutionen überhaupt ursprünglich aufs stärkste durch deutsches Wesen und deutschen Geist mitbestimmt. Ja, es gibt eine gut gestützte Theorie, – als Nichthistoriker wage ich nicht, das Maß ihrer Wahrheit genau zu bestimmen – nach der die große französische Revolution, oder besser die sie erst ermöglichende Adelszersetzung und die fortschreitende Unterordnung des alten französischen Adels unter die königliche Zentralgewalt, schließlich seine immer kläglicher werdende Kammerdienerrolle am französischen Hofe wesentlich darauf zurückgehen, daß der alte fränkische Adel in den vielfachen Kriegen, die Frankreich, die besonders Ludwig XIV. geführt hat, immer stärker ausstarb – sein Ethos und seine Herrschaftswürdigkeit mit ins Grab nehmend. Etwas Analoges gilt aber auch für Rußland. Das Zarentum ist nicht nur germanisch-schwedischen Ursprungs – auch während der ganzen Geschichte des russischen Reiches ist germanisches Fürstenblut immer neu dem russischen Herrschergeschlecht zugeflossen und vor nicht allzulanger Zeit haben die baltischen Barone deutschen Ursprungs in Heer, Verwaltung und staatsmännischen Dienstleistungen eine kaum zu überschätzende Rolle in der Geschichte Rußlands gespielt. Die eigentümlich dämonische Anziehungskraft, die germanische Aktivität, Herrschaftslust und -kunst, und die weiche, zur Organisation wenig befähigte, durch die religiös fundierte Machtscheu und »heilige Ironie« Vergleiche in meinem Buche »Krieg und Aufbau«: »Westliches und östliches Christentum.« noch gestützte russische Slawenseele aufeinander ausüben, die dabei psychologisch notwendig eintretende Neigung des germanischen Elementes zur Aufrichtung von Institutionen von der Art und dem Typus der russischen Selbstherrschaft in jeder solchen Umwelt, wo es nicht auf seinesgleichen treffend auch vom Freiheitsgeiste seinesgleichen in Schranken gehalten wird, habe ich anderwärts schon hervorgehoben. Noch in den Herrschafts- und Sozialverhältnissen des ostpreußischen Junkertums mit seiner stark slawisch durchsetzten Unterschicht gewahren wir den schwachen Nachhall einer Erscheinung, die für die russische Geschichte grundlegend geworden ist. Für die Geschichte und den Geist der Institutionen Italiens zeigt schon ein oberflächlicher Blick auf die Geschichte die eminent konstruktive Bedeutung, welche die Züge deutscher Kaiser, Könige und Fürsten und die stark germanisch durchsetzte Bevölkerung der norditalienischen Städte für den inneren Herrschaftsaufbau dieses Landes gehabt haben. Vergleiche hierzu die Ergebnisse der Forschungen L. Woitmanns: »Die Germanen und die Renaissance in Italien«. Eisenach, 1915.

Nun aber befindet sich schon seit Jahrhunderten der revolutionäre Geist nicht etwa des vierten Standes, sondern des dritten und des vierten nur soweit, als er dessen Traditionen in sich aufnahm und fortbildete – nicht also soweit er einen eigenen Revolutionsgeist und einen positiven Bauplan der Gesellschaft in sich ausbildete – mit den ethischen, institutionellen Spuren und politischen Daseinsformen, welche die Germanen in diesen Ländern zurückgelassen haben, in stärkstem Gegensatz. Nimmt man noch hinzu, daß Deutschland niemals eine ähnliche, das Ethos und die Institutionen oder doch ihren Geist umstürzende Revolution erlebte, wie sie England, Frankreich, Italien und zuletzt Rußland erlebt haben, und insbesondere keine, die dem Heerwesen und dem es durchwaltenden Ethos eine so grundsätzlich veränderte, die feudalen Traditionen endgültig zerbrechende Stellung in Staat und Gesellschaft gab, wie dies im Gefolge der großen westlichen Revolutionen lag, so kann man es wohl begreifen, daß die zunächst rein schichtenmäßig geborene Ressentiment- und Haßmenge, die innerhalb der jetzt uns feindlichen Länder jahrhundertelang seelenumformend an der Arbeit war, sich nur logisch konsequent mit einem scheinbar nationalen Richtungswinkel auf uns Deutsche fortsetzt; daß sie gleichzeitig sich unterirdisch geeinigt fühlt, und daß sie ihre vorher noch mehr getrennt wirksamen Teilprozesse wie in einem gewaltigen Strome auf die Mittelmächte sich ergießen läßt. Von diesem Standort aus gesehen reichen sich die Kryptorevolutionen aller Länder, in denen Europa und Rußland seit langem leben, beben und erzittern, und damit die gesamten, durch die modernen Lebensformen überhaupt erzeugten Haßaspirationen Europas, ja der Welt, gegen uns die Hände. Zugleich bilden sie den dispositionellen Hintergrund für die Aufnahme, für Auswahl und Verstärkung aller der anderen Haßreize, von denen später zu reden sein wird. Moralisch und soziologisch – nicht national und politisch gesehen, zugleich gesehen mit der Blickeinstellung auf Europa als Ganzes ist daher dieser ganze Krieg, ist wenigstens der moralische Krieg gegen uns überhaupt nicht zuerst ein Vorgang von der Natur und dem Wesen eines » Krieges«, sondern etwas von der Natur und dem Wesen eines revolutionären Ausbruches, einer » Revolution«: Ist die kumulative Enderscheinung der Revolution des peripheren und neubürgerlichen Europas gegen seinen eigenen geographischen und moralischen Kern, gegen sein »Herz«, im Sinne räumlich-geographischer Lage wie im Sinne der Anatomie seiner gesamten moralischen Welt und Atmosphäre. Bedarf es für die Wahrheit dieses wichtigen Satzes noch einer besonderen Bestätigung, so ist sie – ich komme später genauer darauf zurück – darin gelegen, daß die Hauptträgerschaft des Hasses gegen uns in allen Staaten und Nationen, zugleich die Hauptträgerschaft des wahrhaft wirksamen, wenn auch nicht immer bewußt eingestandenen Kriegs willens weder die feudal-konservativen Kreise, noch die Arbeiterschichten des vierten Standes sind, sondern der bürgerliche Mittelstand, politisch also im wesentlichen der sogenannte Liberalismus, und d. h. dieselbe typische Menschenschicht, die im Laufe der Geschichte der Neuzeit auch der Hauptträger dreier wesensmäßig zusammengehöriger Erscheinungen, des Nationalismus, des ökonomischen Individualismus und des kapitalistischen Geistes gewesen ist. Der deutsche Nationalismus – so stark er schließlich gewesen ist, ist nicht aus dem Zentrum deutschen Wesens und Geistes hervorgegangen, sondern als von außen erzwungene Schutzwehr gegen den französischen Nationalismus und Imperialismus der napoleonischen Zeit. Deutschland ist zum Nationalstaat allmählich zusammengedrückt worden; es hat sich nicht zu ihm »entwickelt«. Der kapitalistische Geist Deutschlands – so mächtig er schließlich wurde – ist nicht aus deutschem Wesen autochthon entsprungen, sondern nur im gleichen Maße entstanden, als der Eintritt in die uns umgebende Weltwirtschaft und der damit erst gegebene Konkurrenzzwang ihn uns im Gegensatze zu unserer älteren, nach dem Gegenseitigkeitsprinzip organisierten Wirtschaft aufnötigten. Vergleiche hierzu meinen Aufsatz im Märzheft des Hochlandes: »Die christliche Gemeinschaftsidee und die gegenwärtige Welt.« Und auch der neudeutsche Imperialismus ist im wesentlichen Ansteckung durch den englischen Weltreichsgedanken gewesen. Alle drei so wesentlichen Elemente des modernen Ethos überhaupt sind nicht unser deutsches Eigenprodukt, und alle drei werden von denjenigen Klassen der uns feindlichen Völker am wesentlichsten getragen, die uns in ihnen am stärksten hassen. Und umgekehrt ist eines der Grundelemente desjenigen älteren Ethos, das durch das moderne der Zerstörung anheimfiel, die christliche Korporations- und Gegenseitigkeitsidee in Verantwortung und Schuld – so stark sie auch bei uns zurückging und so sehr sie ihre religiöse Sanktion und ihren religiösen Gehalt auch unter uns längst verleugnete, wenigstens formal und politisch in der Idee der deutschen Bundesstaatsverfassung und als Gefühl in dem deutschen Menschen als Amtsauffassung aller Arbeit noch am relativ stärksten als moralische Macht gegenwärtig.

Um die moralische Innenseite dieses Krieges, oder doch um ihren welthistorischen Hintergrund, um die Disposition des Hasses gegen uns als Fortsetzung der seelischen Kryptorevolution Europas zu sehen, scheint es freilich eines Abstandes von den Ereignissen und Schauplätzen des Krieges zu bedürfen, den wir nur schwer gewinnen können. Japaner- und Chinesenaugen scheinen erst die natürliche Distanz zu besitzen, welche den Sinn des blutigen, uns allzu nahen, nur als Chaos von Farbenflecken erscheinenden Gemäldes voll erfassen lassen. Nicht nur das naheliegende japanische »Harakiri Europas«, in weit höherem Maße das so naive als kluge und das Gesagte im wesentlichen bestätigende Urteil des Chinesen Ku Hu Ming geben hiervon Zeugnis Siehe Kung Hu Ming: »Der Geist des chinesischen Volkes und der Ausweg aus dem Krieg«. Jena, 1916.. Ku Hu Ming sieht den Krieg vor allem als einen »Aufstand der bürgerlichen Massen« an und blickt wenigstens in die Richtung der eben gekennzeichneten Wahrheit.

Man kann auf das Gesagte hin scheinbar mit Recht die Frage stellen, ob unsere Meinung von dem Hintergrunde des Hasses nicht solchen englischen, belgischen, französischen und russischen Sozialisten Recht gäbe, die ja gleichfalls in diesem Kriege einen Krieg »universaler Demokratie« gegen den Ausgangspunkt aller »europäischen Reaktion« sehen, und die gleichfalls ein Sichdiehändereichen besonders der französischen und russischen Revolution behaupten, – sicher nicht ohne die Absicht, ihre Arbeitermassen für den Krieg gegen uns zu gewinnen. Auch mit einigen Elementen der oben genannten Theorien über die Herkunft der französischen Revolution und der russischen Selbstherrschaft ist ja diese Meinung z. B. von Van de Velde und seinen russischen Freunden schon unterstützt worden. Dieser Frage diene zur Antwort das Folgende; Nicht die revolutionäre oder mehr reformatorische Arbeiterbewegung, sondern die bürgerliche Revolution des dritten Standes und jene des vierten Standes nur, soweit als sie sich vom bürgerlichen Liberalismus ethisch und gedanklich noch nicht selbständig gemacht hat und soweit sich ihre Massen gleichzeitig in ökonomischer Abhängigkeit vom bürgerlichen Kapitalismus befinden, – nicht aber soweit sie gedanklich und durch ihre Assoziationen selbständig geworden ist und ein wahrhaft neues Bewegungselement in die Geschichte hineingetragen hat, setzt ihren Schichtenhaß auf uns Deutsche fort. Es ist der alte aufgesparte Haß der bürgerlichen Jahrhunderte, es ist nicht die neue positive Arbeiterbewegung, auch nicht der neue Haß des vierten Standes, der in diesem Kriege aus seiner Latenz hervorgetreten ist und sich gegen uns Deutsche gesammelt hat. Der durchsichtigen politischen Tendenz aber, die in jenen Reden der Van de Velde usw. liegen, dürfen wir den Gedanken entgegensetzen, daß nach dem Kriege und vermöge der weiteren soziologischen Entfaltungen, die er hervorruft, es sich wohl noch ereignen könnte, daß sich das Älteste und das Jüngste, daß sich die vom kapitalistischen Geiste noch nicht angefressenen, d. h. radikal-konservativen Kulturelemente, daß sich der germanische und gleichzeitig christlich-kirchliche Korporationsgedanke, der Geist unseres Gesinnungs-Militarismus und das formale deutsche monarchische Staatsethos einerseits und die innerlich neugeformte Arbeiterbewegung, soweit sie nicht durch den Geist des bürgerlichen Liberalismus angesteckt und nur sein etwas radikalerer Schleppträger geworden ist, zu einer einzigen moralischen Macht zusammenschlössen – um nicht nur in unserem Staate, sondern in einem gewissen Maße in ganz Europa das Zeitalter gründlich zu bestatten, das man nicht mit Unrecht das »bürgerlich-kapitalistische« genannt hat. Und auch darum ist die Rede vom Krieg und Haß der »Demokratie« gegen uns so unsinnig, da – wie ich anderwärts Vergleiche hierzu in »Krieg und Aufbau« die Studie: »Bemerkungen zum Geiste und den ideellen Grundlagen der Demokratieen der großen Nationen«. zeigte – der Geist der verschiedenen nationalen Demokratien ein so grundverschiedener ist, daß mit Abzug dieser Verschiedenheit und bei gehöriger Scheidung der liberalen von der sozialen Arbeiter-Demokratie so etwas wie eine einheitliche »Demokratie« gar nicht übrigbleibt, ja im Grunde – Nichts übrigbleibt In obigem Aufsatz wird gezeigt, daß es die Ententeerfindung einer sogenannten »Demokratie der ganzen Welt« als einheitliches Gebilde nicht gibt..

So wichtig aber das Gesagte uns die starke ältere Haßdisposition überhaupt, und auch ihre vornehmliche Richtung auf die Mittelmächte als die Völkerschaften erklärt, die keine große Revolution hatten, so wenig gibt das Gesagte die unmittelbaren Ursachen des gegenwärtigen Hasses wieder. Diese Ursachen können ja nicht in so alten historischen Spannungsverhältnissen beschlossen liegen, als sie eben aufgeführt wurden. Neuere und nicht so alte Entwicklungen müssen hier ins Auge gefaßt werden.

Ehe ich diese eigentliche Ursachenfrage der unmittelbar wirksamen Ursachen berühre, will ich die Größenanordnung und die Träger des Hasses gegen uns, sowie Art und Ausdruck des Hasses noch etwas kennzeichnen.


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