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I. Unzureichende Erklärungsmethoden

Es liegt in dem moralischen Gesamtzustand, in den der Krieg die gesamte zivilisierte Menschheit versetzt hat, eine wenig bemerkte Paradoxie. Diese Paradoxie besteht darin, daß diesem Zustande zwei Eigenschaften zukommen, die sich auf den ersten Augenblick auszuschließen scheinen. Der Krieg, der uns umtobt, stellt dar die konzentrierteste und innigste Einheit des Erlebens, welche die mannigfachen Teile der Menschheit (Rassen, Völker, Staaten, Nationen usw.) in aller uns bekannten Geschichte erreicht haben. Er ist das erste Ereignis der Menschengeschichte, das man ein Gesamterlebnis der ganzen Menschheit nennen darf. »Weltgeschichte« – ein Wort, das bisher nur eine künstliche begriffliche Zusammenfassung einzelner Volksgeschichten und deren Wechselwirkungen bezeichnete, wurde in diesem Kriege zum ersten Mal zu einem realen Geschehnis. Selbst die Revolution von 1789 war diesem Ereignis gegenüber nur von einer partikularen Teilnahme der Menschheit getragen. Derselbe Krieg aber ist gleichzeitig der haßerfüllteste Vorgang aller uns bekannten Geschichte – der Vorgang, in dem sich die Menschheit durch das Gift des Menschenhasses am tiefsten entwürdigte und beschmutzte. Das erste Gesamterlebnis der Menschheit war das Erlebnis eines Gesamthasses. An dem unermeßlichen über die Erde geworfenen Netzwerk von Schienen, Drähten, Wasserwegen eben derselben modernen Kommunikationstechnik, von der die naturalistische Philosophie eine steigende Befreundung der Teile der Menschheit erwartete und die ein solches »Gesamterlebnis der Menschheit« erst möglich gemacht hat, läuft nicht die Liebe, sondern der Haß entlang, um sein Gift in tausendfachen Strahlen jedes bewohnte Plätzchen der Erde durchtränken zu lassen. Und dieser Haß: Er richtet sich mit verschwindenden Ausnahmen an erster Stelle gegen das deutsche Volk.

Treten wir einen Augenblick heraus aus unserem eigenen nationalpolitischen Denken, ja aus unserem fühlenden und handelnden Leben überhaupt und suchen wir diese niegesehene moralische Erscheinung zu betrachten und auf ihre Ursachen hin zu erforschen. Versuchen wir sie zu erforschen, wie eine seltene unerhörte Elementarerscheinung menschlichen Seelenlebens, etwa so wie Spinoza in seiner Ethik das Gewebe der menschlichen Affekte und Leidenschaften betrachten will: »als ob es Linien, Kreise und Flächen wären«. Und erst am Schlusse laßt uns fragen, wie wir Deutsche uns moralisch und als politisch praktische Wesen, d. h. als selbstfühlende, wollende und handelnde zu dieser Erscheinung innerlich einstellen und praktisch verhalten sollen. Eine solche Betrachtung ist weder historisch noch politisch: sie ist psychologisch. Das besagt nicht, daß sie nicht auch für den Politiker von hohem Wert sei. Der Politiker soll sich in Überlegung und Entschluß nicht von Haß und Liebe leiten lassen. Aber auch der eingefleischteste sogenannte »Realpolitiker« muß mit Haß und Liebe der Völker als Seelenmächten rechnen, nicht also darf er nur mit Soldaten, Kanonen, Münzen und Wirtschaftswerten rechnen – wenn er nicht das Gegenteil eines sogenannten Realpolitikers, nämlich ein fantastischer Narr sein will. Auch die Leidenschaft ist eine Großmacht. Um mit dem Hasse zu rechnen, muß auch er die Ursachen dieser befremdenden Erscheinung erwägen.

Erlauben Sie mir zuerst ein paar allzueinfältige Antworten auf unsere Frage abzuweisen. Es gibt ein Häuflein unter den Pazifisten – nicht alle Pazifisten denken so – die da sagen: Du frägst nach der Ursache des Hasses? Nichts einfacher als dies! Diese Ursache ist der Kriegszustand samt allem, was er an gegenseitiger Schädigung der Völker mit sich brachte. Könne es denn einen Krieg ohne Haß geben? Schaffe nicht der Krieg notwendig auch da den Haß, wo die Völker selbst vor dem Eintritt des Krieges nicht daran dachten, sich zu hassen? Und – fahren sie weiter fort – wird nicht dieser Haß zu demjenigen kleineren Teile, der nicht durch den Kriegs vorgang erst geboren wird, sondern ihn mitherbeiführte, von oben her, von den Leitern und Führern der Staaten, die den Krieg beschlossen, erst künstlich hervorgebracht durch falsche irreführende Nachrichten und Beurteilungen, welche die den Schichten von Kriegsinteressenten dienende Presse überall verbreitet – wobei in unserem Falle noch alle die Hemmungen hinzukamen, die der deutsche Nachrichtendienst teils vor, teils im Kriege erfuhr (Kabeldurchschneidung, schlechte Organisation unseres internationalen Nachrichtendienstes usw). »Man kennt uns Deutsche nicht, darum haßt man uns.« Diese Methode des Nachdenkens über unsere Frage kann man beliebig weit ausspinnen. Uns kommt es hier nur auf ihre Richtung an. Und diese Richtung ist so grundverkehrt wie nur möglich. Nicht etwa leugne ich, daß diese Methode zu einer Fülle richtiger Beobachtungen und Tatsachenbeschreibungen führen kann. Ich sage nur, daß die Tatsachen, zu denen sie führt, erstens nicht die wesentlichen Haß ursachen enthalten, und zweitens, daß die meisten von ihnen überhaupt nicht Ursachen, sondern nur ganz abgeleitete indirekte, oberflächliche Folgeerscheinungen des eigentlichen Hasses darstellen. Soweit man uns wirklich »nicht kennt« und vor dem Kriege nicht kannte – und man kannte uns, wenigstens außer England, doch ganz erheblich besser, als unsere Auslandsaufklärer meinen – kannte man uns vor allem darum nicht, weil man uns haßte und darum nicht kennen wollte. Drei Haupteinwände lassen Sie mich kurz – denn nicht zu lange wollen wir uns bei dieser These aufhalten – gegen diesen Gedanken formulieren.

1. Erstlich einmal sollten wir nach einem Jahrhundert Psychologie und Geisteswissenschaften seit Abschluß des sogenannten »Aufklärungszeitalters«, dessen Psychologie die Gefühle, Affekte, Leidenschaften im Menschen für unklare »verworrene« Ideen und Vorstellungen, und eben darum auch durch bloße Klärung dieser Ideen, das heißt eben durch »Aufklärung« zu verändernde, ja sogar zu beseitigende seelische Erscheinungen hielt, wirklich etwas Besseres gelernt haben als das, was bei dieser Erklärung des Hasses vorausgesetzt wird: daß nur falsche Urteile, unklare Vorstellungen des Auslandes von uns Deutschen diesen Haß verständlich machten. Es ist hier nicht der Ort, auf diese allgemeinpsychologische Frage wissenschaftlich einzugehen. Aber soviel ist gewiß, daß wir heute bestimmt wissen, daß schon die einfachste Sinneswahrnehmung, ja Sinnesempfindung nicht zustandekommt, wenn nicht außer dem normalen Reizvorgang und der normalen Reizleitung auch ein Faktor des » Interesses« und einer mindestens triebhaften Aufmerksamkeit, desgleichen eine in Fühlen, Vorziehen erfolgende primitive Bewertung der empfindbaren Sache mitbeteiligt ist; daß wir auch wissen, daß es im Seelenleben überall ein ganz primäres Sein und Leben der emotionalen Akte und ein primäres Streben und Widerstreben, Wollen und Nichtwollen, Lieben und Hassen gibt, die ihrerseits alle Vorstellungs- und Urteilsbildung, besonders aber die Zielrichtung aller gesonderten Reihen intellektueller Prozesse aufs stärkste lenken und bedingen. Gilt das aber schon für das intelligenteste Individuum im Zustand größter Ruhe und Klarheit, so gilt es zehntausendfach da, wo wir es mit großmächtigen seelischen Massenerscheinungen zu tun haben, wie in unserem Falle.

2. Zweitens ist es unrichtig, daß der wesentliche Kern dieses Hasses erst durch den Eintritt des Kriegszustandes entstanden sei. Nicht der Krieg hat den Haß hervorgebracht, sondern der längst überall glimmende und nur nicht zum offenen Ausdruck kommende Haß gegen deutsches Wesen in allen seinen Erscheinungsformen hat zum mindesten die seelischen Dispositionen und Gemütslagen bei den Völkern geschaffen, die bei den Führern der Völker die Entschließungen zum Kriege möglich – darum nicht notwendig – machten. Überall bei Russen, Engländern, Franzosen, Italienern, auch im größten Teile der neutralen Länder waren insbesondere die breiten Schichten des Mittelstandes auf Deutschland und deutsches Wesen »geladen« – wie man zu sagen pflegt. Wer das nicht sieht, der verwechselt den Haß selbst mit seiner Äußerung und Abfuhr in Reden, Schriften, in Schimpf, Verleumdung, Geschrei usw. Der Eintritt des Kriegszustandes bewirkte an erster Stelle nur die Beseitigung all der Schranken, die der Entfaltung und Ausdruckgabe des latenten Hasses im Wege standen, als da sind die Gebote der internationalen Höflichkeit und Sitte in Gesellschaft, Handel, Verkehr, die schon kaufmännisch gebotene äußere Freundlichkeit gegen den Kunden und Verkäufer usw. Der Eintritt des Kriegszustandes entwickelte auch wohl den Haß in dreifacher Weise: erstens so, wie überhaupt in der Anfangsphase des Ausdrucksvorganges eines lange gestauten Affektes der Affekt zunächst selbst das Bewußtsein stärker erfüllt, dann in der Weise, daß der Haß innerhalb jedes Volkes immer neue Menschen-, Klassen- und Berufskreise ergriff, die, wie etwa Bauern und Arbeiter, zunächst schon aus Teilnahmslosigkeit am öffentlichen Leben und aus Unkenntnis den internationalen Gegensätzen ferne stehen; endlich auch in der Form, daß sich der Haß von seinem ursprünglichen besonderen Zielgegenstande im Ganzen des deutschen Wesens – ich komme noch darauf, welcher Gegenstand das ist – auf immer neue und neue deutsche Inhalte, z. B. auch auf deutsche Kultur, Kunst, Wissenschaft, Religion ausbreitete, und auch von der deutschen Gegenwart ausgehend die deutsche Vergangenheit immer stärker hineinzog. Daß dann sekundär auch die Kriegshandlung selbst, insbesondere unser Einfall in Belgien und diese und jene militärische Maßregel, daß vorgegebene oder auch in keinem Heere vermeidbare wirkliche schuldhafte Überschreitungen des Kriegsrechtes neuen Haß auslösten, das soll natürlich nicht geleugnet werden. Aber überall wurde im Auslande von solchen Dingen – ihr Hauptgrund ist ja, daß wir im Feindesland stehen und nicht unsere Gegner – weit mehr im Tone einer fast freudig ergriffenen Bestätigung des schon bestehenden Hasses und des ihm entsprechenden Urteiles als im Tone überraschter oder entsetzter Entrüstung Gebrauch gemacht. »Seht ihr es jetzt,« hieß es fast überall in freudigem Tone, »so sind die Deutschen« usw. Nur so erklärt sich ja auch die fast unermeßliche Zahl ungeheuerlichster Fabeln, die im Auslande in Bild und Druck, in Rede und Schrift über unsere Kriegführung verbreitet wurden, und die weitere Tatsache, daß diese Fabeln weitaus zum größten Teile in gutem Glauben vorgetragen und verbreitet wurden. Nur als Phantasieausgeburten und Wunschillusionen eines primär schon vorhandenen ungeheuren latenten Hasses ist dieser psychologische Tatbestand überhaupt zu begreifen. Gerade aus diesem Grunde heraus vermag ich in dem furchtbaren Haß ausbruch, besonders im ersten Jahre des Krieges, nicht etwas ganz so Beklagenswertes zu sehen, als dies meist geschieht. Das psychologische Verhältnis von Haß (Emotion und Affekt überhaupt) und Ausdruck ist verwickelter Natur. Während der Anfangsphase des Ausdrucks verstärkt der Ausdruck den Affekt, sicher ist aber auch, daß sich im Fortgang des Ausdrückens der Affekt durch seine Entladung langsam selbst verzehrt und eine gewisse Reinigung der Seele bewirkt. Auch das ist eine günstige Folge des maßlosen Ausdruckes von Gruppenaffekten in illusionär unterbauten Schimpf usw., daß erst durch ihn eine Korrektur dieser Illusionen durch besonnenere Kreise möglich wird – denn die inneren und nur gemütswirksamen Phantasiebilder des latenten Affektes sind keiner Korrektur fähig – und daß vermöge dieses Ausdruckes auch Gegenbewegungen gegen diese Übertreibungen und Illusionen bei allen Völkern eintreten. Solche in der feindlichen Presse mehr verborgenen Gegenbewegungen konnten wir in starkem Maße auch bei uns gegenüber dem deutschen Hasse auf England wahrnehmen – ein Haß, der im Laufe der Zeit doch schon ganz bedeutend abgeflaut ist. Analoga hierzu finden wir aber in allen Staaten, selbst in Frankreich. Mag der bloße Kriegszustand und seine Vorkommnisse also auch dort und da alten Haß bestätigt und zum kleineren Teile neuen Haß geschaffen haben, so kam dem Eintritt des Kriegszustandes, gegenüber der mächtigen latenten Haßspannung gegen alles Deutsche schon lange vor dem Kriege, doch in weitgehendem Maße auch jene zweifache günstige Wirkung jeder Affektabfuhr zu.

3. Ein dritter Irrtum, der dieser Denkweise zugrunde liegt und den ich am häufigsten in pazifistischen Büchern finde, ist die Meinung, es läge überhaupt im Wesen kriegerisch-militärischer Lebensformen von Völkern, solchen Haß oder Dispositionen zum Haß zu entwickeln, wie wir ihn jetzt auf uns gerichtet fühlen. In dieser allgemeinen Form ist dieser Gedanke so verkehrt und so irrig wie nur möglich. Im Prinzip ist das genaue Gegenteil richtig. Ich schrieb anderwärts: Mein Buch »Krieg und Aufbau« (Leipzig 1917).

Je mehr der Krieg überhaupt mit dem Makel des Verbrechens, der Sünde, des Massenmordes belegt wird, desto weniger wird man geneigt sein, sittliche Wesensunterschiede in der äußeren und inneren Gestaltung der Kriegführung zu machen. Ein Krieg zwischen Pazifisten – er wäre der Idee nach der unritterlichste, furchtbarste, der haßerfüllteste und grausamste Krieg, der sich denken läßt. Je größer die Erwartungen auf die Haager Konvention vor diesem Kriege waren, desto mehr mußte die Genfer Konvention mißachtet werden. Der gegenwärtige Krieg ist darum der furchtbarste und unsittlichste Krieg, den die Geschichte kennt, da er im großen ganzen gesehen ein Krieg der stark pazifizierten, unkriegerischen und hochkapitalisierten Völker Europas ist – ein Krieg der Völker selbst, nicht nur ihrer Heere, Dynastien und Regierungen –, nicht auch ein Krieg vorwiegender Standesheere, sondern vorwiegender innerlich demokratisierter Volksheere.

Je kriegerischer das Ethos irgendwelcher Gruppen, desto weniger bedürfen diese Gruppen des Hasses als Antrieb, um sich im Kriege gut zu schlagen. Den typischen Bourgeois kann man daher fast definieren als einen Mann, der hassen muß, um Krieg zu führen. Das ungeheure Haßquantum, mit dem dieser Krieg geladen ist, ist ein Zeichen von zweierlei: wie eng die Teile Europas schon zusammengewachsen waren und wie unkriegerisch der fortschreitende Kapitalismus und der Materialismus der Lebensführung den typischen Durchschnittseuropäer gemacht haben. So wild haßt man sich nur in der Familie. Wie gering und wie wenig nachdauernd war dagegen der Haß in dem ein ganzes Jahr und sieben Monate währenden japanisch-russischen Krieg! Hier waren die kulturellen Berührungsflächen zum Haß zu klein. Wie kurzdauernd auch zwischen Engländern und Buren! Überblickt man diesen Krieg, so bestätigen sich die obigen Gedanken auch nach den Kurvenzügen, mit denen die Herrschaft des kapitalistischen Geistes unter den nach verschiedensten Gesichtspunkten faßbaren Gruppeneinheiten einerseits, der Haß andrerseits wächst und abnimmt. Man nehme zuerst die Volkseinheit! Das Volk mit dem einseitigsten Kriegerethos, Japan, haßt am wenigsten; es ließ nicht nur in diesem Kriege, sondern auch während des in seinen Bestand soviel tiefer eingreifenden russisch-japanischen Krieges alle Angehörigen des feindlichen Staates in ihren Ämtern. Die Gefangenen wurden gut, ja vorzüglich behandelt. Der russische Haß (man vergleiche nur das Verhalten der Gelehrten Rußlands, welche die vom Ministerium gewünschte Streichung der Petenten des Aufrufes an die Kulturwelt aus den Listen der russischen gelehrten Gesellschaften ablehnten, mit dem Verhalten der meisten Gelehrten Frankreichs, Belgiens, Italiens, Englands, Amerikas) ist weit geringer als der Haß des Westens gegen uns. Der Affekt hat weit mehr den Charakter einer stumpfen Wut als den des Hasses. (Mit Wildheit gar, Zerstörungslust, selbst Grausamkeit hat ja der »Haß« nichts zu tun.) Soweit er vorhanden, ist er (beim Muschik) stärker genährt durch die Idee, daß die Zentralmächte die osmanischen Feinde des Kreuzes unterstützen sowie (in Handels- und Industriekreisen) durch den Gedanken, daß in Rußlands Innerm das deutsche kaufmännische Element das herrschaftsmächtige und herrschaftsgierige sei als durch unmittelbaren Haß gegen uns. Die Kurve dürfte dann im Sinne zunehmenden Hasses weitersteigen in der Richtung Serbien, Italien, Frankreich, England (das nur zu stolz und zu selbstbeherrscht ist, seinen Haß so unbeherrscht und wütend zu äußern wie Frankreich), Belgien. Diese Kurve aber ist im großen ganzen mit jener zunehmenden kapitalistischen Industrialisierung identisch. Je unkriegerischer und pazifischer die Gruppengesinnung bei diesen Völkern war, desto weniger wurde in Gefühl und Gedanken auch Krieg und Mord unterschieden. Daß, wenn Krieg »Massenmord« ist, auch umgekehrt ganz konsequent der Mord des Franktireurs mit der Erfüllung der Soldatenpflicht gleichwertig erscheinen muß, hat uns Belgien zu Beginn des Krieges genugsam gezeigt. Innerhalb jedes Volkes aber steigt der Haß mit fast wunderbarer Gesetzmäßigkeit mit der örtlichen und seelischen Entfernung der Gruppen von Front und Frontgeist. Der zum Angriff und Nahkampf ohne Zweifel nötige Affekt des Zornmutes hat mit giftigem Hasse ja nicht das mindeste zu tun. Innerhalb aller kriegführenden Nationen hat der Haß seinen Hauptsitz unter den Zurückgebliebenen, und hier wieder findet sich der Haß um so mehr, je weniger die Menschen bestimmte Arbeiten und Pflichten haben, durch die sie sich in die große Gesamt handlung des Krieges einfügen. Das ist nicht verwunderlich. Tat- und Handlungsgeist spülen die Seele wie von selbst vom Hasse rein; nur Ohnmacht hat die bloß gefühls- und phantasiemäßige, das heißt auf die Handlung verzichtende Negation des Feindes, die wir »Haß« nennen, zur Folge. Auch unser Haß gegen England erhielt durch die Unangreifbarkeit der englischen Inseln durch eine reguläre Armee erst seine Schärfe. Innerhalb der Armeen ist der Haß im aktiven Offizierskorps geringer als bei den Reservisten, im Offizierskorps überhaupt sehr viel geringer als bei den Mannschaften, an der Front überhaupt geringer als in der Etappe. Es ist ein tiefer Irrtum, wenn die im Kriege untätige sog. »Intelligenz« der Völker den Haß der Völker gegeneinander nur zu formulieren meint. Im Gegenteil ist sie der Hauptsitz und Ursprungsort desjenigen Hasses, der erst durch den Krieg entsprang, und der nicht nur in ihm sich ableitet; und sie erst war es, welche die übrigen Volksteile mit dieser sittlich verwerflichen, dazu überlegung- und tathemmenden Emotion ansteckte. Die naivste Selbsttäuschung aber ist es, wenn diese »Intelligenz« in der Meinung befangen ist, daß sie durch ihre haßgeborenen Predigten, Gesänge usw. auch für den Krieg und Sieg etwas leiste, da sie doch die zum Durchhalten nötigen Affekte in Volk und Armee nähre und befeure. Liebe zum Vaterlande und Achtung des Feindes, dazu Angriffszorn (der mit dieser Achtung durchaus in der Seele zusammengeht), und edle Geduld nähren die lautlose Flamme in den Seelen, die zum Siege führt. Feindeshaß läßt sie prasselnd verzischen. Denn unabtrennbar von allem Hasse ist psychologisch einmal die Täuschung, die er über die faktische Realität, hier die Kriegslage, bewirkt; sodann aber die antizipatorische Phantasiebefriedigung des feindseligen Wollens, welche naturgemäß ein Nachlassen der auf die praktischen Ziele dieses Wollens gerichteten Willensenergie und Willensfestigkeit zur Folge hat. Wie der Haß stets ohnmachtgeboren ist, so ist er auch ohnmachtsteigernd und tathemmend – nicht aber befeuernd, wie kriegerische Journalisten immer wieder gegen diejenigen einwenden, die sich gegen den Haß aussprechen. Indem die »Intelligenz« also Volk und Heer mit ihrem Hasse ansteckt, würde sie – gelänge es ihr – auch Volk und Heer mit ihrer Ohnmacht und der bloßen Phantasiebefriedigung ihres Wollens anstecken. Sie würde damit den Siegeswillen hemmen und schwächen.

Es ist ein zweifelloses Verdienst vieler Pazifisten, die sich zur Zeit besonders in der Friedenswarte äußern, den Völker haß energisch zu bekämpfen. Aber es ist von dem nichtpazifischen – sagen wir gesinnungsmilitaristischen Standpunkt aus, den der Schreiber dieser Zeilen einnimmt, beklagenswert, daß diese Arbeit gerade den Pazifisten überlassen wird. Und es ist nicht nur beklagenswert – es entspricht auch keineswegs dem inneren Zusammenhang, den pazifische und militärische Gesinnung und Moral zur Haßfrage besitzen. Denn so paradox es klingen mag: gerade die überwiegend pazifische Einstellung der europäischen Völker vor dem Kriege samt der Ideologie dieser Einstellung ist – wie dies schon aus der oben angeführten Gesetzmäßigkeit hervorgeht – die Hauptursache dafür, daß der Völkerhaß in diesem Kriege so sehr viel größer ist als bei anderen Kriegen der Geschichte.

4. Aber auch das wäre ein methodischer Grundirrtum, wenn man aus den ökonomischen Interessenspannungen zwischen Mittelmächten und Ententeländern, welche die Entstehung des Krieges ja zweifellos stark, wenn auch durchaus nicht ausschließlich, nach meiner Ansicht nicht einmal primär, mutbedingten, Siehe mein Buch: »Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg« (Leipzig, 2. Auflage 1917) desgleichen aus den Spannungen, die den Kampf um den Weltmarkt, um Kolonien und außereuropäische Einflußzonen betrafen, nicht nur die Entstehung des Krieges, sondern auch den Ursprung des Hasses gegen uns erklären wollte. Zwischen der Erklärung der Kriegsentstehung und jener des Hasses ist ein großer Unterschied. Beide Dinge sind weitgehend von einander unabhängig. Nie und nimmer verursachen Interessengemeinschaften Liebe, nie und nimmer bloße Interessengegensätze Haß. Ein Mensch kann mein Interesse in beliebigem Maße fördern: darum allein liebe ich ihn nicht; ein anderer Mensch kann meinem Interesse und Fortkommen in beliebigem Maße hinderlich sein – darum hasse ich ihn nicht. Im ersten Falle freue ich mich – gewiß –; im zweiten Falle gerate ich über den Konkurrenten vielleicht in äußerste Wut, Zorn, Ärger usw.; niemals aber werde und kann ich ihn deswegen hassen. Und haßt uns nicht gerade das Volk am intensivsten und einheitlichsten, bei dessen Feindschaft zu uns ökonomische Interessengegensätze, ja Interessengegensätze überhaupt, die allergeringste Rolle spielen, Frankreich? Gewiß: gespürte Interessenförderung lenkt durch dieses Spüren die Aufmerksamkeit und den geistigen Blick leichter auf solche Eigenschaften, auf Werte und Charakterzüge des Fördernden, die – wenn sie da sind, Liebe zu erwecken geeignet sind, und dasselbe Spüren verhüllt vor dem Bewußtsein zugleich leicht die eventuellen – wenn sie da sind – haßerweckenden Eigenschaften. Und umgekehrt wirken Interessengegensätze gleich Fackeln licht- und schattengebend auf die Erfassung der entgegengesetzten Eigenschaften. Aber diese Wirkung der Interessen ist nur ein sogenannter »Auslösungs«vorgang von Haß und Liebe, niemals deren volle erklärende Ursache. Dies gilt ganz besonders auch für den sogenannten »englischen Konkurrenzneid«. Was den steigenden englischen Ärger, die englische Wut über die sich in den wechselnden Verhältniszahlen der deutschen und englischen Kohlen-Eisen-Stahlproduktions- und Ausfuhrziffern spiegelnden relativen Niedergang der Weltbedeutung der englischen Produktion und des englischen Handels zum Hasse gegen uns gestaltete, das war erst die zu diesem Zustande hinzutretende einseitige Einstellung auf diejenigen menschlichen Eigenschaften des deutschen Kaufmanns, die gemäß der Meinung der Engländer und gemäß ihrem kaufmännischen Ethos als »verächtlich« charakterisiert, unsere steigende Überlegenheit erst möglich machten: als da sind »servile« die nationale Eigenform der Ware verleugnende Anpassungsbereitschaft an den Kunden- und Massenbedarf jedes beliebigen Marktes, Preisunterbietung, Art der Reklame, in Bedarf und Gewinnchancen nicht fundierte Neigung zu Betriebserweiterungen, Schleuderpreisen usw. Nicht daß sie wirtschaftlich zurückgedrängt wurden, sondern daß sie – nach ihrer Meinung – durch Eigenschaften zurückgedrängt wurden, die sie nach ihrem Ethos verachten zu müssen glaubten, dies erweckte ihren »Haß«.


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