Paul Scheerbart
Münchhausen und Clarissa
Paul Scheerbart

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Das Nachspiel

Am darauffolgenden Montag, dem dreiundzwanzigsten Januar des Jahres eintausendneunhundertundfünf, war der Graf Adolf vom Rabenstein pünktlich um zwölf Uhr vormittags in Berlin in Münchhausens Hotel am Alexanderplatz.

Münchhausen kam dem Grafen im Lesezimmer des Hotels lachend entgegen und sagte gleich:

»Adolf, weißt Du, weswegen ich heute noch mal mit Dir sprechen wollte?«

»Nein!« versetzte der Graf.

»Ich wollte«, fuhr nun der alte Münchhausen lebhaft fort, »heute nachmittag mit Deiner Tochter ›durchgehen‹ und – und daher hatte ich das Bedürfnis, noch vorher in dieser Angelegenheit mit Clarissas Vater Rücksprache zu nehmen.«

»Welche Umstände!« rief der Graf lachend, »denkst Du denn, ich werde meiner Tochter, wenn sie verrosteten europäischen Anschauungen vor den Kopf stoßen will, irgendwie hinderlich in den Weg treten? Lieber Münch, es tut mir doch sehr leid, daß Du mich für einen alten Komödienvater gehalten hast; Du hättest mich doch für ernster halten sollen.«

Da sagte der Baron:

»Adolf, laß Dich umarmen!«

Und sie umarmten sich.

Als das Lesezimmermädchen diese Umarmung sah, reckte sie die Hände zum Himmel empor und flüsterte mit großen Augen:

»Diese alten Herren!«

Als diese das hörten, lachten sie aus vollem Halse und ließen sich gleich ein Frühstück bringen.

»Wie denkst Du denn«, fragte der Baron den Grafen beim ersten Glase, »über eine Heirat? Würdest Du etwas dagegen haben, wenn wir uns – das heißt: Clarissa und ich – wenn wir uns im Jahre 1919 ›verloben‹ würden?«

»Ja«, erwiderte Adolf, »wenn Du mir versprichst, im Jahre 1991 Hochzeit zu machen – dann bin ich mit der Verlobung im Jahre 1919 vollkommen einverstanden.«

Der Baron nickte.

Und dann war das, was der Eine sagte, immer das, was der Andre auch sagen wollte.

Schließlich sagte der Münch:

»Wenn ich mich mit Deiner Tochter immer ebenso leicht verständige wie mit Dir heute – so wird das ein prächtiges Zusammenleben werden.«

Der Graf vom Rabenstein runzelte bei diesen Worten die Stirne und entgegnete:

»Ich habe meine Tochter mit einer so vorzüglichen Erziehung bedacht, daß es mir sehr schmerzhaft ist, wenn der Baron Münchhausen meint, er könnte sich mit meiner Tochter jemals nicht so leicht verständigen wie mit mir.«

»Adolf«, rief der Baron, »zürne mir nicht; das halt ich nicht aus. Ich glaube ja an den Verstand Deiner Tochter in jeder Hinsicht.«

Darauf umarmten sich die Beiden nochmals und fuhren darauf in Münchhausens Automobil zum Anhalter Bahnhof.

Hier stieg der Graf aus; der empfing noch Münchhausens Brief an die Gräfin Adolfine.

 

Der Baron fuhr zu Josty und kam dort um fünf Uhr nachmittags an.

 

Der Graf Adolf öffnete den Brief an seine Gattin und las.

Hochverehrte liebe Adolfine!

Wenn dieses Schreiben in Deine Hände gelangt, so wird Dir schon bekannt sein, daß ich mit Deiner Tochter durchgehe. Du wirst natürlich mit Erstaunen fragen: warum geht der Baron nicht mit mir durch? Für den Baron bin ich doch nicht zu alt – während meine Tochter zweifellos zu jung für ihn ist. Wenn Du so sprächest, liebe hochverehrte Adolfine, so müßte ich Dir wohl Recht geben – aber ich müßte Dir gleich danach erklären, daß es nicht den geringsten Wert hätte, wenn ich mit Dir durchginge; das würde doch keinen Effekt machen. Wenn ich aber mit Deiner Tochter durchgehe, so wirkt das ohne Weiteres skandalös – und das Skandalöse macht Effekt. Darum bitte ich um Deinen Segen! Wir hoffen, daß es uns gelingen wird, durch unser skandalöses Vor- und Durchgehen den Grundmauern des europäischen Gesellschaftslebens einen ordentlichen Knacks beizubringen. Tu bitte das Deinige, daß unser Verfahren an die Öffentlichkeit kommt, damit sich alle diejenigen, die die hohe Melbourne-Kunst niemals begreifen werden, sich recht bald mausetot ärgern können.

Ich grüße Dich und küsse in Gedanken voll Ehrfurcht Deine alten beiden Hände und bin im Diesseits und im Jenseits für immer

Dein alter Münchhausen.

 

Die Gräfin Clarissa saß um fünf Uhr schon bei Josty und trank wieder Grätzer Bier.

Der Baron tat das, als er angekommen war, gleich ebenfalls.

Und dann fuhren die Beiden zum Anhalter Bahnhof und lösten allda zwei Billets nach Wien.

Fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges kam der alte Graf Adolf vom Rabenstein auf den Bahnhof und rief seiner Tochter lachend zu:

»Liebe Clarissa, Du hättest mir doch mitteilen können, daß Du heute mit dem Baron zusammen ausreißen willst; hast Du denn gar kein Vertrauen zu Deinem Vater?«

Die Clarissa entschuldigte sich, empfing noch von ihrem guten Vater hundert Tausendmarkscheine und sagte:

»Glücklich ist die Tochter, die heute einen guten Vater hat; ein guter Vater ist in diesen stumpfsinnigen Zeiten garnicht hoch genug zu schätzen.«

Dann aber rief die Clarissa zum Baron gewandt plötzlich sehr heftig:

»Münch, Du scheinst uns verraten zu haben; wie kommt es, daß der Vater von unsrer Abfahrt weiß?«

Münchhausen lachte und sagte:

»Du sagtest doch, daß Dein Vater stets mit Deinen Handlungen einverstanden sei. War das etwa gelogen? Alles kann ich vertragen – nur das Lügen nicht!«

Das sagte die junge Gräfin:

»Ich lüge nie; es war, wie ich sagte.«

»Demnach«, rief der Baron, »darfst Du nicht von ›Verrat‹ sprechen!«

»Ich bitte Dich um Verzeihung«, stotterte die Clarissa, »ich nehme Alles zurück.«

»Ich aber«, rief nun die alte Gräfin Adolfine vom Rabenstein, die jetzt ebenfalls plötzlich auf der Bildfläche erschien, »nehme meine Tochter unter keinen Umständen mehr zurück. Münchhausen, Du kannst meine Tochter behalten für alle Zeiten; ich freue mich, daß meine Tochter endlich ihren Mann gefunden hat.«

»Einen alten Herrn«, rief nun die Tochter heftig, »der nicht mehr und nicht weniger als einhundertundachtzig Jahre alt ist, nennst Du meinen Mann?«

Da lachten die Bahnbeamten und baten die Reisenden, sofort einzusteigen.

Und im Coupéfenster sagte die Clarissa zu ihren Eltern:

»Papa und Mama, Ihr dürft von uns lauter schlechte Geschichten erzählen, aber daß wir – Münch und ich – ein Liebespaar sind, das dürft Ihr nicht sagen; das wäre zu lächerlich.«

Da stiegen Adolf und Adolfine in den Wagen, umarmten ihre Tochter und den Baron – und stiegen dann mit Tränen auf den Wangen, die lächelten, wieder ab.

Und dann fuhr der Zug mit Münchhausen und Clarissa nach Wien.

Der Graf Adolf sagte, als er mit seiner Gattin den Bahnhof verließ:

»Wie leicht ist es heute, einen Witz zu reißen, der mehrere Jahre hindurch nicht zu zerreißen ist! O du glückliches Zeitalter!«

Die Clarissa aß Bonbons währenddem.

 

Die Clarissa war in Wien sehr überrascht, als sie bemerkte, daß es Niemand anstößig fand, wenn sie sagte, daß sie mit dem alten Baron Münchhausen ›durchgegangen‹ sei.

»Das hätten wir ebenso gemacht!« sagten alle Damen. Und alle Herren stimmten dem immer bei und fanden garnichts an der Sache; es kam ihnen Allen die Geschichte so schrecklich natürlich vor.

Darüber war natürlich die Clarissa mächtig traurig.

Aber der Baron tröstete sie und sagte:

»Wir müssen alles Ungemach im menschlichen Leben mit Humor ertragen; es hat auch jedenfalls eine angenehme Seite, daß wir nicht für ›unverheiratet‹ gehalten werden.«

»Die wäre?« fragte die Clarissa.

»Die – die«, erwiderte der alte Münchhausen, »die Hotelrechnungen werden dadurch so maßvoll gemacht.«

 

Nun erzählte die Clarissa überall alles das, was sie vom Baron gehört hatte; das fiel ihr nicht schwer, da sie einen Stenographen für die Baronswoche engagiert hatte.

Aber das Verständnis für die Melbourne-Kunst war bei allen Zuhörern und Zuhörerinnen ein derartig minimales, daß sie zum Münchhausen voll Verzweiflung sagte:

»Münch, ich hoffte, Alles mit Dir zusammen umkrempeln zu können, aber nun krempelt sich mir nur das Herz im Leibe um, denn auf diesen ›brüllenden‹ Stumpfsinn war ich denn doch nicht gefaßt.«

»Tröste Dich«, versetzte Münchhausen, »es ist immer besser, daß uns die Leute ›garnicht‹ verstehen; wie leicht könnten sie uns ›mißverstehen‹ und uns für politische Revolutionäre halten und uns ins Gefängnis sperren lassen.«

»Wäre das möglich?« fragte die Clarissa.

»Na, natürlich«, versetzte der Baron.

 

Nun fuhren die Beiden von Stadt zu Stadt und von Land zu Land, und überall erklärte die Clarissa die köstliche Melbourne-Kunst.

Aber selbst die Künstler sagten:

»Wir möchten das ja so gerne entzückend finden. Aber wir verstehens doch nicht. Das geht uns zu weit. Wie gerne würden wirs begreifen wollen, wenn wirs nur könnten!«

Und das sagten Alle mit solchem Ernst und solchem Eifer, daß Münchhausen ganz gerührt wurde und schließlich überall erklärte:

»Na seid nur still! Mit der Zeit pflückt man Rosen! Wenn Ihr älter werdet, dann werdet Ihr die ›neue Kunst‹ schon begreifen. Seid nur still! Vielleicht werdet Ihr noch mal hundertundachtzig Jahre alt – dann habt Ihr die neue Kunst ganz bestimmt begriffen.«

Münchhausen hielt sich mit seiner Clarissa überall nicht lange auf – er fuhr immer sehr bald weiter – immer weiter – weiter –––


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