Paul Scheerbart
Münchhausen und Clarissa
Paul Scheerbart

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Der Mittwoch

Am Mittwoch kam der Baron Münchhausen erst um acht Uhr abends in die Rabensteinsche Villa, entschuldigte sich garnicht, tat sehr eilig und bestieg im großen Saale eine Galerie, die an einer Ecke weit vorragte und beinahe den Eindruck einer Kirchenkanzel machen konnte.

Auf dieser Kanzel hob der Baron hoch beide Arme empor und rief mit mächtig dröhnender Stimme:

»Mit dem menschlichen Leben ist im Großen und Ganzen nicht viel anzufangen; der Mensch hat nur einen einzigen Kopf und nur einen einzigen Rumpf und nur zwei Arme und nur zwei Beine. Ein derartiges, ziemlich unbeholfenes Lebewesen, das nicht einmal fliegen kann, ist natürlich nicht in der Lage, den großen Bildhauern Melbournes als Modell zu dienen. Die Bildhauer Melbournes lachen, wenn man ihnen von der europäischen Skulptur erzählt. Man will in Melbourne Gestalten schaffen, die ein Leben führen können, das größer und weltumfassender ist als das menschliche. Die anderen Gestalten werden daher mit Organen ausgestattet, die komplizierter sind als die menschlichen. Sie werden natürlich, meine sehr verehrten Herrschaften, gerne behaupten wollen, daß die menschlichen Organe doch eigentlich schon kompliziert genug sind – und daß es vielleicht ein etwas frevelhaftes Beginnen sein könnte, die menschlichen Organismen durch andere Organismen übertrumpfen zu wollen. Der Mensch weiß von der Großen Welt nur durch Vermittlung seiner Augen und Ohren etwas scheinbar Gegenständliches – die Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinne gewähren dem Menschen nur noch wenige bestimmte Gegenständlichkeitsempfindungen. Und in diesen Sinneneindruckskreisen bewegt sich unser ganzes Leben, das dem von der Erkenntnistheorie nicht berührten Menschen so kompakt und fest erscheint. Der von der Erkenntnistheorie nicht berührte Mensch kann natürlich auch fürderhin seine naive Freude haben an dem, was ihm seine sogenannten fünf Sinne direkt vermitteln, für den Menschen aber, der da weiß, daß seine sogenannten fünf Sinne doch nur einen ganz kleinen Teil der Weltengroßartigkeit enthüllen, für den Menschen wird der Mensch als Darstellungsobjekt der Plastik ebenfalls nur einen verschwindend kleinen Faktor darstellen – und er wird wie die Bildhauer Melbournes über die Menschendarstellung hinauskommen wollen – er wird ganz anders als menschlich geartete Wesen sehen wollen. Und diesem Wollen kommt die Plastik Melbournes entgegen. Selbstverständlich unterschätzt man die Bedeutung des menschlichen Auges in Melbourne durchaus nicht – im Gegenteil; man will grade die anders gearteten Lebewesen andrer Welten dem menschlichen Auge näher bringen, sie auch für das menschliche Auge faßbar machen – denn sonst verlöre ja die Plastik allen Grund und Boden – der Plastik ist nur mit greifbaren sichtbaren Organen und Gliedern gedient – nicht aber mit unbestimmten Visionen und Empfindungsdelikatessen. Und ich will Ihnen gleich eine Melbourne-Skulptur schildern, um Ihnen zu zeigen, daß die Bildhauer in Australien doch weiter gekommen sind als die in Europa.«

Hiernach machten verschiedene der Zuhörer mit hochrotem Kopfe sehr eifrig Notizen in ihre Notizbücher, der Baron sah das, lächelte und machte eine kleine Pause, fuhr dann aber sehr lebhaft fort – wie folgt:

»Die Bildhauer Melbournes hatten anfänglich nur das Bestreben, an Stelle der menschlichen Beine andre Gliedmaßen zu setzen. Sie kennen ja, meine Damen und Herren, die Schlangenbeine der Titanen im Pergamon-Fries. Es handelte sich nun für die Australier darum, auch die Schlangen durch konzentriertere Gliedmaßen zu ersetzen, denn die Schlangenleiber sind ja nicht einmal so kompliziert wie die Menschenbeine. Aus diesen Beinbestrebungen heraus entwickelten sich nun Kompositionen, in denen alle Gliedmaßen aller irdischen Tiere, mit dem Denkbaren und Möglichen gemischt, schließlich Komposita hervorbrachten, in denen alles Irdische abgestreift erschien. So sah ich einen Brunnengott, der zwanzig dickknochige krebsscherenartige Beine hatte, deren Füße komplizierte feine Luftballons waren, die zusammengedrückt erschienen und aus denen ellipsoidartige Blasen mit grätenartigen Kämmen heraustreten. Die Beine selbst hatten in den krebsscherenartigen Auswüchsen so viele gelenkige Stacheln und Rüsselbildungen, daß ein Floh im Mikroskop ein ganz einfaches Tierchen dagegen sein würde. Und nun denken Sie sich jedes Bein und jeden Ballonfuß anders als den danebenstehenden. Und dann denken Sie sich bunte Wasserstrahlen aus jeder Rüsselbildung hervorspritzen. Und denken Sie sich die Rüsselbildungen an den äußeren Seiten der Krebsscheren – und denken Sie sich die Hauptglieder der Beine immer mit einem Dutzend von verschiedenartigsten Kniebildungen. Und über diesen Beinkompositionen müssen Sie sich nun einen ganz abenteuerlichen Riesenrumpf denken mit Ballons und Spiralschrauben – und oben an Stelle der Arme müssen Sie elegante blattartige Flügelbildungen denken mit trauerweidenhaft niederhängenden Flügelspitzen, aus denen ganz dünne Wasserstrahlen herunterschießen – dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung von diesem australischen Brunnengott, der vielleicht auf der Rückseite des Sirius ein lebendiges Dasein führen dürfte. Von dem gewaltigen Kopfe dieses Brunnengottes will ich Ihnen lieber garnichts erzählen, um Sie nicht zu verwirren. Sie werden mir aber zugeben, daß Sie derartige Skulpturen in Europa noch nicht haben – und daß alle Ihre hiesigen Brunnenspäße wirklich ein quarkiges Garnichts gegen diese australische Brunnenskulptur sind. Und diese soeben geschilderte ist nur eine – unter Tausenden. Jawohl, meine Damen und Herren, unter Tausenden! Nun bekommen Sie eine Ahnung von der australischen Plastik, nicht wahr?«

Der Baron fächelte sich mit seinem seidenen Taschentuche ein wenig Luft zu. Währenddem stieg aber die Gräfin Clarissa auf der anderen Seite des Saales auch auf eine Galerie, die ebenfalls einen kanzelartigen Balkon besaß. Und da sprachen nun die Beiden hoch über ihren Zuhörern, wie im Mittelalter streitende Doktores taten, von zwei Kanzeln zueinander. Das Ganze sah beinahe wie eine mittelalterliche Disputation aus. Die Gräfin Clarissa sagte mit feierlich erhobener rechter Hand:

»So sehr ich auch, Herr Baron, von der geschilderten Plastik entzückt bin, so muß ich doch erklären, daß mir diese freie Kompositionsart hauptsächlich nur einen dekorativen Wert zu haben scheint. Der Beschauer kommt zu dem Kunstobjekte in kein intimeres Verhältnis, da er ein derartiges Wesen nicht mit dem, was er sonst zu denken gewohnt ist, in innigeren Zusammenhang bringen kann. Wenn ich an die komplizierten Gefühlsempfindungen denke, die ich dem Standbilde eines alten Freundes gegenüber habe, so erscheinen mir die Gefühlsempfindungen, die ich dem australischen Brunnengott gegenüber haben würde, ganz einfach – schrecklich einfach. Die intimeren Gefühlseffekte bleiben dem komplizierten Werke gegenüber aus – und dadurch wird dieses für mich einfacher als das einfache Bild des alten Freundes.«

»Sie wollen sagen«, versetzte Münchhausen von seiner Kanzel aus, »das Neue sei nicht so interessant wie das Alte. Ich übersehe dabei, daß Sie mir damit eigentlich eine kleine persönliche Schmeichelei sagen wollen – und möchte nur bemerken, daß Sie ja das Neue noch garnicht gesehen haben; es könnte Ihnen doch, wenn Sies mehrmals gesehen, auch seine intimeren Reize entfalten. Das Intime hängt doch nicht nur an den Erinnerungen gemütlicher Art; es gibt doch auch noch andre Assoziationen, die nicht gemütsartig sind und doch sehr scharf wirken – durch neue Gedankenreihen, die auch durch ihre Neuheit einen komplizierten Gefühlseindruck auslösen.«

»Unterschätzen Sie auch nicht«, fragte die Gräfin, »den Erinnerungswert in der Kunst?«

Da erwiderte Münchhausen:

»Mein sehr verehrtes, gnädiges Fräulein, vergaßen Sie auch nicht bei Ihrer letzten Frage, daß ich immer noch hundertundachtzig Jahre alt bin und in den letzten drei Tagen drei Tage älter geworden bin und nicht jünger? Und vergaßen Sie auch nicht, daß alte Leute über die Bedeutung der Erinnerungswucht ganz gehörig nachzudenken pflegen – schon im achtzigsten Jahre? Und haben Sie daher nicht bedacht, daß ich über hundert Jahre über den Wert der Erinnerungsassoziationen auch nachgedacht habe? Entschuldigen Sie gütigst, gnädigste Gräfin, daß ich so rhetorisch rede, aber ich möchte nur feierlich erklären: es haben alle Dinge auch ihre Schattenseiten – und ganz gewiß auch die neuen Dinge; manche Dinge werden von uns nur durch ihren Erinnerungswert voll und bedeutsam, aber manche Dinge werden uns auch durch ihren Erinnerungswert abgeschmackt und banal. Dies ist eine veritable Tatsache, die von den Bekämpfern des Neuen nicht vergessen werden darf.«

»Aber, Herr Baron«, rief da die Gräfin, »ich bekämpfe ja nicht das Neue; ich möchte nur vor dem Neuen noch mehr empfinden als vor dem Alten – und daher wagte ich, Ihren geschätzten Ausführungen ein paar Worte entgegenzusetzen.«

Da sagte der Baron:

»Was ich Ihnen von der australischen Brunnengottheit schilderte, sollte ja natürlich nur ein dekoratives Stück sein; das Intimere der Melbourne-Plastik soll ja gleich nachher kommen. Ich will nur noch bei der dekorativen Außenseite ein wenig verweilen, da später dazu keine Zeit mehr übrig sein könnte. Sehen Sie nur: die australischen Bildhauer sind nicht nur bemüht, ihre Bildwerke mit den Wasserkünsten in Verbindung zu bringen; sie wollen auch das Licht, das Feuerwerk und die glänzenden Materialien aus Glas und Stein mit ihrer Plastik zusammenführen. Dadurch wird die dekorative Seite ihrer Kunst so lebhaft beeinflußt, daß man allerdings von den intimeren Wirkungen der Kunst anfänglich nicht viel sagen kann, nicht viel sagen darf – da ein allzu rücksichtsloses Vorgehen nach der einen Seite immerhin Schädigungen auf anderen Seiten hervorruft. Dadurch soll man aber nicht traurig werden – und hauptsächlich nicht ängstlich. Grade die Ängstlichkeit sollte man sich in der Kunst abgewöhnen – wenn auch da und dort durch ein allzu lebhaftes Vorwärtsstürmen etwas zerstört wird – nur nicht ängstlich werden! – das Zerstörte kann auch leicht wieder rekonstruiert werden. Und – für die Ewigkeit, das vergessen Sie nicht, Fräulein Clarissa, wird überhaupt keine Kunst gemacht; die Ewigkeit ist ja viel zu ausgedehnt. Man muß sich immer rechtzeitig daran gewöhnen, daß alles, was Menschen machen, auch mal zugrunde geht. Auch der alte Münchhausen wird mal zugrunde gehen; das ist nun mal nicht anders; daran muß man sich eben gewöhnen.«

Da nahmen alle anwesenden Damen ihre Taschentücher vor und fingen an zu weinen. Und die Gräfin Clarissa nahm auch ihr Taschentuch vor und fing auch an zu weinen und verließ weinend ihre Kanzel.

Da schlug der alte Münchhausen mit der Faust auf die Brüstung seiner Kanzel und rief zornig:

»Aber, meine Damen, zum Weinen sind wir hier wahrhaftig nicht zusammengekommen.«

»Ich dachte doch«, rief da unten angekommen die Gräfin Clarissa, »Sie, Herr Baron, wären wenigstens unsterblich.«

»Bin ich auch«, versetzte der Baron, »aber gleichzeitig weiß ich auch, daß wir alle unsterblich sind. Es kommt jedoch nicht darauf an, daß unsre sogenannte Persönlichkeit unsterblich ist – wenn nur unsre gute Laune unsterblich ist – die ist noch wichtiger als unser liebes Ich.«

Da lachten alle Damen und steckten ihre Schnupftücher ein. Und die Herren lachten auch und klatschten in die Hände. Und einzelne der Anwesenden riefen mit gedämpfter Stimme »Bravo!« –

Der Baron verbeugte sich, lächelte verschmitzt und fuhr fort:

»Ich habe die Bildhauer Melbournes auch in ihren Ateliers aufgesucht, die sich sämtlich im Ausstellungsgebäude befinden. In diesen Ateliers findet man keine weiblichen und männlichen Modelle; mit Kindereien gibt sich der australische Bildhauer nicht mehr ab. Es fällt den Leuten dort unten in der Nähe des Südpols nicht mehr ein, die Großartigkeit der Natur durch sklavisches Nochmalmachen festlegen zu wollen; dazu sind doch die photographischen Apparate da – die hätten ja sonst gar keinen Zweck. Dagegen finden wir in diesen Ateliers Lebewesen vom Saturn und vom Sirius und von vielen anderen Sternen und Nebelflecken. Da können Sie Organe sehen, mit denen man nur das Leben auf und in den Meteoren mitempfinden kann. Andre Organe reagieren nur auf das kolossale Leben, das sich weitab in anderen Milchstraßensystemen entwickelt. Und derartige seltsame Organe geben den fremdartigen Gestalten ganz wundervolle, höchst intime Reize. Sie dürfen nicht glauben, daß diese Organe einfache Teleskopgestalt haben; diese Organe gehen zumeist weit über die Augenform hinaus – mit sehr sinnreich durchdachten Gliedmaßen, die öfters komplizierte Ohrenform zeigen. Für ganz abnorm erklärt der Bildhauer Melbournes die irdische Ernährungsart; er setzt überall auf anderen Sternen eine andere Körperhaltung als die unsere voraus und kommt dadurch eben zu ganz anderen Lebensbedingungen und dementsprechend zu ganz anderen Körperformen und Gliedmaßen. Auch hält der australische Bildhauer das Gehsystem des Menschen für sehr primitiv und unbequem, was ich, wenn ich an meine alten Beine denke, sehr wohl verstehen kann. Ich halte es auch für besser, wenn uns an Stelle der Hühneraugen tragende Luftballons wachsen. Man denkt in Australien auch an verfeinerte Flügel – ist da überhaupt, wie gesagt, in jeder Beziehung weiter als hier in Europa. Daß man sich die Fortpflanzung der außerirdischen Lebewesen nicht irdisch denkt, brauche ich ja wohl nicht hinzuzufügen, da ja das Lächerliche und Unbequeme der tellurischen Artentstehung zur Genüge bekannt ist. Stellen Sie sich Wesen vor, die an Stelle der Ohren sehr bewegliche Luftballons mit komplizierter Flügelbildung besitzen – stellen Sie sich Wesen vor, die an Stelle des Rumpfes einen baumartigen Leib mit komplizierten, weit ins Freie greifenden Wurzeln haben – stellen Sie sich Wesen vor, deren Köpfe statt der Haare mit weiten blattartigen Schirmkompositionen ausgestattet sind – stellen Sie sich Wesen vor, die ihren ganzen Leib wie ein dickes Tuch um ihren Kopf wickeln und darin verschwinden können – wie die Schnecke in ihrem Haus! Und dann – müssen Sie sich auch kleine Sternkörper denken, deren Gliedmaßen wie die Stacheln des Igels hervorragen. Ach, meine verehrten Damen und Herren, es wird mir außerordentlich schwer, Ihnen eine Vorstellung von allen diesen Jenseitsdingen zu geben – Sie müssen schon mit Ihrer Phantasie mitarbeiten. Leider habe ich die Photographieen, die ich mir in Melbourne kaufte, auf der Herreise verloren.«

Da riefen viele Damen wieder »Oh!« und »Ach!« und auch viele Herren schüttelten traurig mit dem Kopfe.

Und der Baron kam von seiner Kanzel herunter in den Saal und bat um eine kleine Erfrischung.

Und während nun im Stehen etwas gegessen und getrunken wurde, erklärte der Baron den Nächststehenden die Wandskulpturen der Rabensteinschen Villa und sagte schließlich:

»Es wird mir immer unbegreiflich bleiben, wie nahe verwandt diese Wandplastik mit der australischen Plastik ist; Sie sehen auch hier in den durchbrochenen Arbeiten überall statt der früher üblichen Astplastik – Schlangenleiber mit beliebigen Gliedmaßen und an Stelle der früher üblichen Blätter dünnere und dickere Flügel. Nun denken Sie sich all Dieses in Australien tausendfach verfeinert, dann haben Sie einen kleinen Begriff von dem großen Jenseits am Südpol. Dort denkt man auch höchst heftig über neue bequeme Kunstmaterialien nach und macht die entzückendsten Geschichten mit einfachem Zink und Blech. Ein gutes Kunstmaterial soll ja doch nur haltbar und leicht zu bearbeiten sein; auf die Kostbarkeit kommts doch nicht an. Der Kunstwert allein entscheidet. Gold sieht man dort unten in den Ateliers sehr selten, öfters noch Silber – aber auch viel Blei, und einzelne Künstler arbeiten mit sämtlichen Steinen und Metallen, dies gibt – und suchen auch durch Legierungen und Verbindungen neue Stoffkompositionen mit neuen Eigenschaften herzustellen. Ein Kunstwerk nur aus einem Materiale herstellen zu wollen, ist ja der leichter herzustellenden einheitlichen Wirkung wegen auch da unten immer noch sehr beliebt – aber man empfindet diese einfache Einseitlichkeit nicht als ein Bestes. Hier in der Rabensteinschen Villa sehen Sie ja auch Stein, Holz und Metall vielfach zusammengestellt, ohne daß die einheitliche Wirkung darunter leidet.«

Nach diesen Worten bat die Gräfin Clarissa den Baron, für einen Augenblick ihr in eine tiefe Fensternische zu folgen.

Und dort sagte sie ihm:

»Morgen bin ich in Berlin, kann ich Sie nicht vormittags um elf Uhr im Café Josty am Potsdamer Platz sprechen?«

»Selbstverständlich«, sagte der Baron, »mit Vergnügen. Ich bin pünktlich da; Sie können sich fest darauf verlassen.«

»Danke schön!« sagte die Clarissa.

Und danach gingen sie wieder in den Saal, und der Baron sprach weiter zu dem kleinen Kreise, der ihm vorhin zugehört hatte.

Da ward es aber plötzlich ganz still im Saale, sodaß Alle zuhören konnten.

Und der alte Münchhausen sagte:

»Es ist doch ganz unerhört von der Gräfin Clarissa, daß sie behaupten möchte, die intimen Wirkungen könnten bei der Melbourne-Plastik ausbleiben. Ist denn ein Kunstwerk, das uns zwingt, unsre Gedanken in ganz andre Sternallwelten hineinzuzwängen, nicht ohne Weiteres geeignet, unsre Empfindungssphäre mit unsäglich vielen komplizierten Nebenvorstellungen anzufüllen? Andrerseits – ist nur die Plastik, die in kleinen Dimensionen sich uns darbietet, ganz alleine imstande, eine intime Stimmungswirkung in uns zu erzeugen? Kann man nicht auch vor einer Plastik mit kolossalen Dimensionen eine intime Wirkung verspüren? Stellen Sie sich vor: die größte Plastik kam in Melbourne erst, als ich einige Tage da war, zur Erscheinung; von einem großen Berge, der sich an der einen Spitze der Seeellipse befand, fiel plötzlich die ganze Architektur, die nur Gerüstarchitektur war, herunter – und wir sahen statt des Berges ein astrales Ungeheuer von kolossalen Dimensionen. Knorrige wilde Arme von sechsfacher Baumstammdicke reckten sich hoch auf und hatten Fackeln in den komplizierten Krallen. Und mitten im Felsen zwischen all den mächtigen Baumarmen war ein Medusenhaupt zu sehen mit einer zwanzig Meter langen Steinnase. Und der obere Teil des Berges bildete den Schädel des Medusenhauptes. Oh – ein famoser Schädel mit tiefen Furchen, in denen unzählige bunten Steine funkelten! Und des Abends fing das ganze große Medusenhaupt zu glühen an – und spiegelte sich im See. Und die riesigen Augen des Kopfes wurden furchtbar, aber sie schlossen sich nach einer Weile. Und dann wurden die Stirnfurchen heller. Und wenn die Augen wieder aufgingen, schlugen oben auch die Flammen aus den Fackeln heraus. Und das Ganze spiegelte sich immer wieder im See.«

Der Baron erhob sich und wollte fort.

Aber die alte Gräfin Adolfine vom Rabenstein sagte traurig:

»Müssen Sie heute schon wieder nach Potsdam?«

»Nein«, sagte der Baron, »heute nicht.«

»Dann«, rief die alte Gräfin, »lassen wir Sie noch nicht fort – Sie müssen uns erst noch was Neues von Potsdam erzählen.«

Der alte Münchhausen setzte sich und sagte langsam:

»Na ja – nachher! Man vergißt so viel, wenn man so viel zu erzählen hat. Da fällt mir eben noch ein, daß die Bergplastik garnicht einmal die Plastik war, die in Melbourne mit den größten Dimensionen arbeitete – die sogenannte Lichtkettenplastik war noch viel größer. Sie erinnern sich, daß abends immer achtzehn Fesselballons zum Himmel emporstiegen. Als nun mal der Himmel so bewölkt war, daß man die Ballons, solange sie dunkel waren, garnicht sehen konnte, da erleuchtete man die Ketten, mit denen die Ballons aneinander und an die Erde gefesselt waren, nicht in der gewöhnlichen Art – man schuf durch neue Lichtketten oben in der Luft plötzlich Lichtungeheuer. Da sah man die ganze Melbourne-Plastik oben im Himmel. Und das war ein Anblick! Und die Plastik von Licht wurde oben in jeder halben Stunde ganz anders – man konnte auch allmähliche Veränderungen sehen. Stellen Sie sich die Gliedmaßen der Ungeheuer aus unzähligen elektrischen Flammen gebildet vor – in tausend und aber tausend Farben. Und stellen Sie sich diese Lichtglieder in Bewegung vor. Einzelne Besucher wollten schließlich auch einen Kampf der Lichtungeheuer sehen. Da kamen sie aber bei den großen Bildhauern Melbournes schön an; die erklärten, daß die großen astralen Wesen, die von ihnen verkörpert würden, an Kämpfen keine Freude hätten; die Kämpfe wurden ›kindliche Erziehungsmittel unintelligenter Barbarenvölker‹ genannt.«

Hiernach sprach man in der Rabenstein-Gesellschaft vieles über den Krieg und über die bedauerlichen Kämpfe der Menschen untereinander.

Münchhausen aber sagte noch zum Schlusse:

» Ein plastisches Kunstmaterial hätte ich bald vergessen: das durchsichtige Glas! Na – das ist ja ein ganz besonderes Thema, von dem ich Ihnen morgen mehr erzählen will. Heute bin ich zu müde.«

»Aber«, rief da die alte Gräfin Adolfine vom Rabenstein, »Sie wollten uns ja noch was Neues von Potsdam erzählen. Das können wir Ihnen nicht erlassen. Früher dürfen Sie nicht fort.«

Der Baron wurde sehr ernst und sprach leise:

»Es wäre mir nur sehr peinlich, wenn Sie mir das Neue, das ich Ihnen von Potsdam erzählen könnte, nicht glauben würden; es klingt nämlich einfach unglaublich.«

»Wir glauben Alles!« rief man da gleich von allen Seiten.

Da sagte der Baron leise:

»Ich habs durchgesetzt, daß das Tempelhofer Feld nicht mehr zu Paradezwecken verwandt wird; man will aus dem Tempelhofer Felde einen großen Stadtpark mit Melbourne-Skulpturen machen. Man will aus naheliegenden Gründen fortan auf sämtliche militärische Paraden verzichten. Das klingt unglaublich, ist aber wahr; man sieht eben ein, daß man mit den ›unkünstlerischen‹ Militärausstellungen nur einen peinlichen Eindruck in dem ›künstlerischen‹ Teile der Bevölkerung erweckt. Darum rufe ich begeistert: die Melbourne-Plastik auf dem Tempelhofer Felde zu Berlin – lebe hoch!«

Stürmisch riefen alle ebenfalls »Hoch!« –

Sie riefen es mehrere Male.

Und drei Minuten später fuhr der Baron in seinem Schlittenautomobil von dannen – durch den Grunewald nach Berlin.


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