Paul Scheerbart
Münchhausen und Clarissa
Paul Scheerbart

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Der Sonntag

»Erinnerungen«, sagte sonntags der Baron, »haben eine seltsame Eigenschaft: sie teilen unser Ich, sodaß man glaubt, ein Andrer hätte das erlebt, was wir erlebt haben – und das Ich, das von unsern Erlebnissen erzählt, wäre ein ganz andrer Mensch. Obs Ihnen schon so vorgekommen ist, weiß ich nicht. Aber daß es mir so vorkommt, das weiß ich. Und das stimmt recht sonderbar: man glaubt, wenn man eine ganze Woche hindurch alte Erinnerungen ausgekramt hat, plötzlich an die Doppelnatur des Menschen. Aber das Weitere davon will ich Ihnen nachher erzählen. Grade der erste Sonntag, den ich in der Weltausstellung Australiens verleben durfte, hat mir auch die Doppelnatur des Menschen zum lebhaften Bewußtsein gebracht. Doch davon, wie gesagt, nachher! Der Sonntag war in Melbourne der Tag der Maler. Nun dürfen Sie dabei natürlich nicht an europäische Kunstausstellungen denken. Die meisten Maler wohnen auf dem Ausstellungsterrain; viele wohnen oben auf den neun Bergen, einige wohnen auch in den Turmgebäuden, die in der Mitte des Sees erbaut sind. Die größten Maler wohnen aber im Innern der neun Berge, die derartig ausgehöhlt und durchwühlt sind, daß man sie eigentlich garnicht mehr Berge nennen darf. Jedes Atelier hat verschiedene Nebenräume, in denen so viele Zeichnungen und Bilder ausgestellt sind, daß der Ausstellungsbesucher ein ziemlich vollkommenes Bild von der Bedeutung des einzelnen Künstlers empfängt. Clarissa, gib mir einen Cognac!«

Eine Pause entstand, die Clarissa ging ins Liqueurzimmer und brachte den Cognac. Der Baron kratzte sich die linke Wange und sagte ganz leise:

»So hab ichs doch nicht gemeint; ich dachte, Du würdest einem Diener einen Wink geben.«

»Bist Du ovationsmüde?« fragte die Clarissa.

Und da lachte der Baron, trank den Cognac und sagte mit heller Stimme:

»Liebe Clarissa, ich bin überhaupt niemals müde; ich verstehe nicht, wie Du von Müdigkeit reden kannst.«

Und dazu lachte er sehr laut, und die ganze Gesellschaft lachte mit.

Münchhausen fuhr jedoch gleich also in seiner Erzählung fort:

»Jeder Maler stellt in seinen Ausstellungsräumen auch gleich ein paar hundert Photographieen aus und bemerkt bei den einzelnen Photographieen, in welcher Richtung sie seine Kunst beeinflußt haben. Das werden die versammelten Damen und Herren sehr merkwürdig finden, ist es aber garnicht, da es ja in der Melbourne-Kunst einfach verpönt ist, die Naturbilder noch einmal zu malen; die Nachmalerei gibts in Melbourne nicht mehr – und der Impressionismus ist dort bereits vollkommen überwunden. Der australische Maler geht der Natur gegenüber ganz anders vor; er bemüht sich nicht einmal in den ersten Anfängen seiner Kunst, dem in der Natur Daseienden auf Papier und Leinwand gerecht zu werden. Dabei meint der Australier nicht, daß die Natur etwas Minderwertiges sei – keineswegs! jedoch er ist der Meinung, daß das Nachmalen die Phantasie zerstört und doch gar keinen Zweck hat, da man ja zum Nachmachen die photographischen Apparate besitzt und diese doch etwas schneller arbeiten als Pinsel und Blei. Die hübsche Ästhetik des Impressionismus ist dem robusten Australier nicht angenehm; er versteht es einfach nicht, wie man hinter die Natur kommen will, indem man sie immerfort anstarrt und ihr immerfort nachgeht. Der australische Maler glaubt, daß er hinter das Wesentliche der Natur viel schneller kommt, wenn er die einzelnen Stücke der Natur voneinander trennt und sie nachher wieder in andrer Art zusammenbringt. Schaffen heißt für den Australier: Neues schaffen! Und Neues schaffen kann er nach seiner Meinung nur, wenn er die vorhandenen Naturbilder zerlegt – und mit den zerlegten Stücken neue – ganz neue – Bilder schafft. Schaffen ist eben komponieren. Und man komponiert in Melbourne nicht nur in der Musik – man komponiert dort in allen Künsten. Sie glauben garnicht, wie komisch mich das berührt, daß ich Ihnen das hier auseinandersetze; mir ist das alles schon so in Fleisch und Blut übergegangen, daß es mir sehr schwer fällt, mir vorzustellen, andre Menschen könnten anders denken.«

Hierauf rauchte der Baron so heftig, daß sich eine große blaue Wolke über ihm bildete.

Und dann sprach man vom Tauwetter und von der Politik, von der Berliner Möbelfabrikation und von anderen künstlerischen und ästhetischen Angelegenheiten.

Und dazwischen fragte eine alte Dame:

»Sagen Sie bloß, verehrter Herr Baron, wie ist es nur möglich gewesen, daß man in Europa von all dieser großen Melbourne-Kunst keine Ahnung hatte?«

»Melbourne liegt«, versetzte der alte Münchhausen ernst und mit gerunzelter Stirn, »sehr weitab von Europa. Und dann vergessen Sie nicht, daß die europäischen Journalisten nicht so gerne was Neues in ihren Zeitungen bringen, da sie ein großes Schamgefühl besitzen.«

»Wie meinen Sie das? Wie ist das zu verstehen?« riefen nun viele Stimmen durcheinander.

»Sehr einfach«, gab der Baron zurück, »die europäischen Journalisten schämen sich, daß sie nicht selber dieses Künstlereldorado erfunden haben.«

»Aber Münch«, rief nun die Clarissa mit hocherhobenen Armen, »das hört sich ja so an, als wenn Du die ganze Melbourne-Kunst ›erfunden‹ hättest.«

»Possen!« versetzte sehr ärgerlich der alte Münchhausen, »wie kannst Du mir so was bei meinen hundertundachtzig Jahren zutrauen. Die Journalisten ›erfinden‹ immer sehr gerne; ich aber bin doch kein Journalist. Die europäischen Journalisten müssen sich doch ärgern, wenn durch die veritablen Tatsachen, die in Melbourne schlechterdings da sind, alle andern Zeitungsgeschichten übertrumpft und in den Schatten gestellt werden. Und sehen die Herren nun ein, daß das veritable Melbourne alles Andre übertrumpft, so schämen sie sich natürlich, daß sie nicht schon vorher an andrer Stelle ein andres Melbourne – ein anderes Künstlereldorado – ›erfunden‹ haben. So ist die Sache doch ganz plausibel. Ich verstehe nicht, liebe Clarissa, wie Du es wagen kannst, an meiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln. Das geht doch über die Hutschnur.«

Da sank die Gräfin Clarissa vor dem alten Baron Münchhausen auf beide Kniee und rief schluchzend:

»Verzeih mir, Münch! Verzeih mir, Münch! Ich hab ja garnicht an Deiner Wahrhaftigkeit gezweifelt. Verzeih mir! Oder – wenn Du mir nicht verzeihst, so weiß ich nicht, was ich tu!«

»Du!« rief da lachend der alte Herr, indem er die Knieende aufhob, »Du darfst doch nicht vor mir knieen. Ich bin dir ja niemals böse gewesen. Du hast den Tonfall meiner Worte nicht beachtet.«

»Ach so!« sagte da leise die Clarissa, wischte sich zwei Tränen aus ihren zwei Augen und lächelte.

Und dann ging man zu Tisch.

An diesem Sonntag gabs ein Diner von dreiunddreißig Gängen – auf ganz kleinen Tellern – in chinesischer Art serviert.

Das Diner war einfach köstlich.

Und der Baron lobte jeden neuen Gang – und besonders die chinesische Art der Zubereitung.

»Schrecklich bequem«, sagte er, »ist es, wenn man alles mit Löffeln essen kann; dieses Essen mit Messern und Gabeln konnte sich wirklich auch nur in Europa einbürgern.«

»Ißt man in Australien«, fragte nun ein alter Herr, »auch nicht mehr mit Gabeln?«

Der Baron sah den Alten erstaunt an, räusperte sich verlegen und sagte danach:

»Doch! Man ißt in Australien immer noch mit Gabeln; ich glaube, das ist die einzige europäische Sitte, die sich in Australien noch erhalten hat. Na – die wird ja auch bald aussterben.«

Hiernach war der Baron etwas mißgestimmt.

Und das merkten bald Alle.

Und die Mißstimmung Münchhausens übertrug sich auf die ganze Gesellschaft, sodaß die Clarissa von ihrem Vater beauftragt wurde, den alten Münchhausen wieder aufzuheitern.

Und als es nun für ein Augenblicke an der langen, reich mit Blumen geschmückten Galatafel ganz still war, sagte die Clarissa – es war grade nach dem siebzehnten Gericht – zu ihrem alten Herrn:

»Münch, Du wolltest noch was von der Doppelnatur des Menschen erzählen; Du fingst heute Morgen gleich damit an, bemerktest aber, daß Du später noch auf die Doppelnatur des Menschen zurückkommen würdest.«

Da blickte der alte Herr lange in sein volles Glas, ohne zu trinken, und erzählte dann das, was jetzt folgt:

»Es war ein sehr sonderbarer Sonntag, dieser erste Sonntag in der Weltausstellung zu Melbourne.

Ein Betriebsinspektor trat abends um fünf Uhr in das höhlenartige Felskabinett eines Malers, der uns grade sein neuestes Gemälde zeigte und erklärte. Dieses Gemälde war durch ein fünf Meter breites Felsenloch zu sehen und führte uns eine wilde Partie aus dem Andromeda-Nebel vor, in dem sich ganz schroffe wildzerklüftete Felsenleiber weit ins Innere hineinschoben; diese Felsenleiber gehörten kolossalen Ungetümen, die ganz aus gigantischen Hochgebirgslandschaften komponiert waren.

Als der Maler seinen erklärenden Vortrag beendet hatte, sagte der Betriebsinspektor zu uns:

›Heute ist in unsrem Kaskadenberge den Besuchern der Ausstellung die Gelegenheit geboten, das sogenannte Schlafwunder kennen zu lernen. Es ist aber eine sehr kostspielige Sache, und jeder Besucher darf nur ein einziges Mal der Geschichte näher treten. Ich selber kenne sie noch nicht, mitgeteilt wird darüber auch nichts Näheres. Die meisten Besucher sparen sich dieses Wunder zum Schlusse auf. Jedenfalls kostet das Billet bare fünfzehnhundert Francs, die einfach vertrauensselig vorher bezahlt werden müssen.‹

›Das ist ja eine Beutelschneiderei!‹ erklärten verschiedene Herren.

Ich aber sagte sehr ruhig:

Die Ausstellung bietet so großartige Kunstgenüsse, daß ich nicht glauben kann, man möchte mir hier fünfzehnhundert Francs für garnichts abnehmen. Jedenfalls bin ich bereit, das Billet sofort zu bezahlen.

Ich begleitete darauf den Inspektor zum Kaskadenberg, bezahlte das Billet und wurde in einem kleinen Zimmer, in dem alles mit schwarzem Sammet bedeckt war, hypnotisiert. Das Zimmer wurde nur von einer dunkelgrünen Smaragdglasampel erleuchtet. Und ich verlor sehr bald das Bewußtsein, wurde dann aber geweckt und von einigen Herren stark gerüttelt und auf die Füße gestellt.

›Sie sehen dort auf dem Divan‹, sagte der eine Herr, der mich am stärksten gerüttelt hatte, ›einen alten Mann schlafen; das sind Sie selbst. Es ist uns gelungen, Ihre Natur zu spalten. Derjenige, den wir soeben gerüttelt haben, ist die andre Hälfte Ihres Ichs, die phantomhaft leicht ist und als solche eine Reise durch den Kosmos machen kann.‹

Gestatten Sie, daß ich mein andres Ich berühre! sagte ich dazu.

Aber die Herren erklärten mir, daß das unmöglich wäre, und ich bemerkte, daß meine Hände auf dem Rücken festlagen, als wären sie angeklebt. Angebunden waren meine Hände nicht. Ich wollte nun noch einmal mein andres Ich deutlicher sehen, und ich sah auch für ein paar Augenblicke ganz deutlich, daß der schlafende Mann genau das Gesicht hatte, das ich selber habe – auch meine Kleider erkannte ich.

Darauf wurde ich hinausgeführt und durch eine niedrige Türe in einen länglichen Raum geschoben, in dem sich jener Professor befand, der schon in den unterirdischen Höhlen nicht von meiner Seite wich.

›Wir fahren heute‹, sagte der Professor, ›zwanzig Millionen Meilen durch den Weltenraum – zur Sonne und dann um die Sonne rum – und dann durch die Sonne durch und wieder zurück.‹

Hierauf bat mich der Professor, mich einfach auf den Rücken zu legen.

Ich sagte, daß ich vorher gerne meine Hände vom Rücken losgelöst hätte.

›Seien Sie froh!‹ rief er da, ›legen Sie sich ruhig auf den Rücken; die Bodenpolsterung ist vortrefflich.‹

Ich tat nun, wie er sagte, und da zogen sich rechts und links die Gardinen von den Seitenwänden zurück – und ich sah – in den großen Sternenraum.

Fliegen wir schon zur Sonne? fragte ich heftig.

›Allerdings!‹ erwiderte der Professor.

Nun bemerkte ich, daß ich mich in einer Art Glasröhre befand; die Seitenwände waren ganz von Glas und stark ausgebaucht, sodaß ich mich, wenn ich nach unten in den Raum blicken wollte, nur auf die linke Seite zu legen brauchte. Die Situation war keineswegs so unbequem, da ich auf der Bodendecke tatsächlich außerordentlich weich lag.

Im Innern unsrer Röhre ging jetzt das elektrische Licht aus, und der Professor setzte sich drei Schritte von mir entfernt auf den Boden wie ein Pascha mit gekreuzten Beinen hin.

Ich vergaß mein andres Ich, das in Melbourne ruhig weiterschlief, und blickte hinunter in die große mächtige Sternenwelt; noch niemals hatte ich Sterne so tief unter mir gesehen.

Man hörte nur ein leises Summen vorne an der Spitze unsrer Glasröhre.

Der Professor sagte, als hätte er meine Gedanken gehört:

›Das Summen, das Sie vorne hören, ist vielleicht der Ton einer Maschine, die wir aber nicht kennen; es ist uns ganz unmöglich, in den vorderen Raum unsres Cylinders zu gelangen. Jedenfalls besteht dieser Cylinder nicht aus Glas – wir haben beide nur Phantomschwere, und dieser Cylinder ist daher natürlich auch nur ein Phantom für uns. Jedenfalls ist mir mitgeteilt – eine heisre hastige Stimme sagte mirs – daß wir zur Sonne fahren werden, um die Sonne herum und nachher durch die Sonne zur Erde zurück. Wem aber die heisre Stimme gehörte, das weiß ich nicht. Mein andres Ich schläft auch in Melbourne. Seien Sie froh, daß Sie Ihre Hände auf dem Rücken haben; ich riß meine rechte Hand so heftig los – und da!‹

Ich erschrak, denn er zeigte mir plötzlich diese rechte Hand, die ganz groß wie ein Arm war – und schneeweiß; er bewegte die Riesenhand zweimal auf und ab und legte sie dann wieder auf den Rücken.

Sie können sich denken, meine Damen und Herren, daß mir dabei etwas unheimlich zumute wurde.

Aber ich sagte zu dem Professor:

Was gehen uns unsre zweiten Ichs an? Sperren wir die Augen auf und sehen wir, was wir sehen können. Eine Fahrt nach der Sonne, um die Sonne rum und durch die Sonne durch kann man nicht alle Tage haben. Und – ich habe fünfzehnhundert Francs dafür gezahlt.

›Ich auch!‹ sagte der Professor, ›wenn ich nur nachher meine große Hand wieder loswerde.‹

Hören Sie, rief ich nun ärgerlich, jetzt blicken Sie hinaus. Wenn Sie Ihre große Hand nachher nicht loswerden, so schadets doch auch nicht.

›Ich kann aber die Finger der großen Hand nicht bewegen!‹ sagte er darauf.

Sehen Sie hinaus! Sehen Sie hinaus! rief ich heftig.

Und da sahen wir links von mir weiter nach unten ganz seltsame, ganz dunkelgrüne Schleiergebilde, die sich von dem samtschwarzen Nachthimmel geisterhaft abhoben und auf uns zuschwebten.

Aber gleich danach waren sie wieder verschwunden.

Und dann wurde ein Stern, der rötlich aussah, immer größer und dann so groß wie der Erdmond und dann dreimal so groß wie der Erdmond.

›Das ist die Venus!‹ rief der Professor.

Aber kaum hatte er das gesagt, so verschwand sie unter uns.

Wir fahren schnell! sagte ich leise.

Den Merkur sahen wir ebenso, doch er wurde nicht so groß wie die Venus; er war wohl weiter ab.

Und danach sahen wir den intramerkuriellen Planeten – und den sahen wir ganz in der Nähe.

Und dieser kleine Planet hatte drei ganz kleine Monde, die ganz länglich sind – wie gebogene Würste. Es würde mich zu weit ablenken, wenn ich Ihnen diese Planeten näher schildern möchte – nur so viel möchte ich sagen: sie waren in der Farbe entzückend und so beweglich in allen Teilen.

Mein Professor meinte:

›Zweifellos sind diese Farbeneffekte großen Wolkenbildungen zuzuschreiben.‹

Da wir nun aber besonders die Teile der Planeten sahen, die von der Sonne momentan nicht beschienen wurden, so sagte ich, daß mir die Farbeneffekte durch die Existenz von Wolkenbildungen noch nicht erklärt seien.

Zu weiteren Auseinandersetzungen kams aber nicht, da wir gleich danach in die Corona der Sonne hineinfuhren.

Hatten wir solange die Empfindung gehabt, im Schatten unsres Cylinderkopfes zu fahren, wo wurden wir jetzt plötzlich in eine flimmernde Helligkeit gebracht.

›Passen Sie auf‹, rief mir da mein Professor zu, ›was jetzt mit unsern Fensterscheiben passiert!‹

Und ich sah, daß über die großen bauchig ausgerundeten Scheiben große schwammartige Gebilde auf und ab gewischt wurden – und daß dadurch die Scheiben dunkler wurden.

›Wir würden bald geblendet sein‹, sagte der Professor, ›wenn die Scheiben nicht verdunkelt wären.‹

Nun fesselte aber die Corona der Sonne unsre ganze Aufmerksamkeit.

Zuerst sah ich raketenartig dicke Funkenbündel vorüberschießen.

›Das sind‹, erklärte mein Professor, ›äußere Glieder der sogenannten Haufenprotuberanzen.‹

Und dabei hob er seine riesenhafte Hand hoch auf und rief dann gleich:

›Da drüben aber sehen Sie echte Strahlenprotuberanzen mit metallischen Gasdämpfen.‹

Und wir fuhren dicht an dem glänzend aufstrebenden Körper vorüber; der hatte aber Dimensionen!

Und nun fuhren wir durch einen ganzen Protuberanzenwald durch.

Und diese ungeheuren Riesenleiber zeigten zuweilen auch Bildungen, die man wohl als Köpfe bezeichnen könnte.

Wir sahen meilengroße Glanzaugen mit furchtbaren Pupillen – aber niemals zwei Augen – immer nur eins.

Das war ein gigantisches Feuerwerk.

Es läßt sich nicht beschreiben; es war zu groß.

Und die rasend schnellen Bewegungen verwirrten mich dermaßen, daß ich ein paar Sekunden hindurch die Augen schließen mußte.

Danach sah ich hinunter auf die rötliche Chromosphäre, die nach der Corona die nächste Haut ist – eine Haut von über tausend Meilen Durchmesser, aus der sich die Protuberanzen immer wieder herausreckten.

›Bewohner der Sonnenoberfläche‹, sagte mein Professor, ›sind diese sämtlichen Protuberanzen. Wir können derartig riesenhafte Lebewesen, die ihre Gliedmaßen so schnell vergrößern können, nicht begreifen. Aber daß es lebendige Lebewesen sind – das merken wir wohl.‹

Und wir fuhren weiter durch die großen Protuberanzenwälder, und unser Cylinder bog immer sehr geschickt jedem aufstrebenden Raketengliede aus.

Und dann gings durch die umkehrende Schicht, in der uns alle möglichen Metalle in Gasform umglühten, zu der Sonnenhaut, die uns von der Erde aus als solche erscheint; und da sahen wir denn auf der sogenannten Photosphäre die unzähligen Sonnenflecke.

›Die Sonnenflecke‹, sagte mein Professor, ›sind veränderliche Organe der Sonnenhaut, die oft zwanzigtausend Meilen breit sind.‹

Das waren nun Organe mit Dimensionen!

Wer das beschreiben könnte!

Ich mußte immer wieder an den Südpol der Erde denken; der hatte nur ein viel kleineres Loch.

Wir sahen tief hinein in alle diese beweglichen Riesenorgane und schwebten in unserm feuerfesten Cylinder dicht über der Sonnenhaut rasend rasch dahin um die halbe Sonne rum – das ging so durch mehrere hunderttausend Meilen, da ja der Durchmesser der Sonne fast zweihunderttausend Meilen beträgt.

An den Rändern der Sonnenflecke schienen sich die Protuberanzenriesen ganz besonders wohl zu fühlen – da flackerten sie umher mit einer Hast und Wildheit – das war ein richtiges Riesenleben!

›Die Riesenleiber der Protuberanzen‹, sagte mein Professor, ›entsprechen teilweise den Nordlichtern und Südlichtern der Erde, sind hauptsächlich magnetischer und elektrischer Natur, haben aber wohl noch viele andre Naturen.‹

Und über die Sonnenflecke, diese Hautorgane der Sonne, sagte er noch:

›Nur durch die organische Tätigkeit der Hautorgane der Sonne, die wir Sonnenflecke nennen, entsteht die ungeheure Hitze der Sonnenoberfläche; die Tätigkeit der Hautorgane ist ohne Unterbrechung eine kolossale Bewegungstätigkeit, die vergleichbar ist den rollenden Augen der Raubtiere. In welchem Verhältnis die Lebewesen, die wir Protuberanzen nennen, zu den großen Hautorganen der Sonnenoberfläche stehen, wissen wir nicht, da wir nicht erkennen können, ob diese Protuberanzen mit ihrem Unterkörper fest auf der Sonnenhaut angewachsen sind oder sich auf dieser frei zu bewegen vermögen.‹

Ich lag nun auf der linken Seite und starrte hinunter und sah immer wieder neue Gliedmaßen der Protuberanzen wie Nordlichter aus den Hautorganen der Sonne herausspritzen – und diese in einer Bewegung, gegen die Orkanwellen auf irdischer See Bachgeplätscher vergleichbar sind.

Und dann fuhren wir in solch ein Hautorgan hinein, und rechts und links flogen die kolossalsten Dampfwirbel vorüber in unzähligen Farben.

Und dann sahen wir rechts und links abenteuerliche Riesenfelsen, die sich dehnten und knackten und knirschten und plötzlich auseinanderplatzten, daß wir weit in seltsame Grotten sahen, in denen Alles in Bewegung war.

Und dann gings tiefer und tiefer, und dann ward es finstre Nacht, daß wir nichts sahen. Nur die Riesenhand meines Begleiters leuchtete, sodaß ich öfters erschrak.

Danach wurde es wieder hell – und wir sahen – große Planeten im Innern eines großen Raumes herumschweben; die Wände des Raumes konnten wir nicht erkennen – wohl aber diese Planeten, die im Sonneninnern lebten.

Nur einzelne dieser Planeten hatten runde Gestalten, die meisten waren mit langen beweglichen Rüsseln ausgestattet.

Mein Begleiter, der in diesen Gegenden schon bekannt zu sein schien, sagte mir:

›Die Sonne ähnelt einem irdischen Badeschwamm. Aber nur im Äußeren ähnelt sie diesem, im Innern sind ganz große leere Räume vorhanden. Die Sonnenflecke, diese Hautorgane, sind nun so groß, daß durch sie mit Leichtigkeit große Planeten ins Innere der Sonne hineinkommen und dort weiterleben können. Die Annahme, daß jemals der Merkur in die Sonne stürzen und diese teilweise zerstören könnte, ist eine irrige, da die Planeten mit höchster Vernunft begabte Lebewesen sind – die längst zerstört wären, wenn sie nicht mit höchster Vernunft begabt wären. Überall erhalten sich nur diejenigen Wesen, die allen Gefahren aus dem Wege zu gehen wissen. Ob nun mal Merkur, Venus oder Erde auch ins Innere der Sonne gelangen werden, wissen wir nicht; aber Platz genug ist dort für sie da. Wahrscheinlich ist es jedenfalls, daß die Drei auch hineinkommen. Das Verhältnis der außen lebenden Planeten zur Sonne ist bereits außerordentlich intensiv. Der Einfluß der Sonne auf diese Planeten ist nicht zu bestreiten. Daß aber die im Innern der Sonne lebenden Planeten in einem noch viel intensiveren Verhältnis zu der großen kosmischen Natur der Sonne leben, das wird uns nach dem, was wir hier sehen dürfen, ohne Weiteres ganz klar sein.‹

Wann mögen diese Planeten, fragte ich nun, die wir hier sehen, in das Innere der Sonne gekommen sein?

›Wie kann man‹, versetzte da mein Professor mit hoch erhobener Riesenhand, ›derartig fragen? Daß die Sonne und die Planeten nicht so entstanden sind, wie die Europäer nach Kant und Laplace annehmen, das braucht wohl nicht erst lange erörtert zu werden. Organisch gebildete Weltkörper entstehen nicht nach simplen materialistischen Theorieen. Es ist aber doch so natürlich, anzunehmen, daß die höher entwickelten Sterne auf die noch nicht so hoch entwickelten eine große Anziehungskraft ausüben – und daß nun die Sterne, die so groß sind, daß sie in ihrem Innern noch Platz haben für kleinere Sterne – auch diesen gerne diesen Platz einräumen, wenns verlangt wird – das ist doch auch so natürlich. Für derartige große kosmische Verbindungen einen Zeitpunkt angeben zu wollen – ist ein kindisches Unterfangen. Das ist ja ebenso naiv, als wenn man fragen wollte, wann und wo die großen Sterne unsres Sonnensystems entstanden sind. Über derartige Geburtstage wünscht ein vernünftiges Lebewesen nicht unterrichtet zu werden.‹

Hat der Jupiter, fragte ich da, vielleicht auch ein paar Planeten in seinem Innern?

›Sehr wahrscheinlich ist das!‹ erwiderte mein Professor.

Und dann starrte ich die inneren Planeten der Sonne an und konnte mich nicht satt sehen; da sah ich seltsame kleine Leute auf den Planeten herumkrabbeln und herumfliegen.

Und ich bedauerte, daß ich kein Fernrohr bei mir hatte.

Und ich dachte darüber nach, warum wohl diese kleinen Planeten im Innern der Sonne lebten – ob sie für immer hier lebten – ob sie ganz mit der Sonne zusammen ein Wesen geworden seien.

Und ich sprach darüber mit meinem Professor, und er sagte schließlich:

›Das größte Geheimnis unsrer sichtbaren Welt ist jedenfalls das Gesellschaftsleben der Lebewesen untereinander. Die unzähligen Fäden, die die Sterne und die Bewohner der Sterne miteinander und mit den Sternen verbinden, bilden ein so kompliziertes Gewebe, daß unser Geist vorläufig noch nicht reich genug erscheint, dieses Gewebe stellenweise übersichtlich zu gliedern und geordnet vor uns erscheinen zu lassen. Das ist aber die Kardinalaufgabe unsrer neuen Literatur.‹

Er sprach nicht weiter.

Und ich sah noch unzählige Gestalten.

Wir fuhren dann zur Sonne wieder hinaus und wieder durch die Chromosphäre und durch die Corona ins Weltall hinein.

Da sah ich denn wieder die unzähligen Sterne unter mir, und ich sagte:

Daß aber die Planeten im Innern der Sonne die andern Sterne des Himmels nicht sehen können – das erscheint mir doch beklagenswert.

Da erwiderte mein Professor:

›Aber Herr Baron von Münchhausen, den Menschen ist es bereits möglich, durch Röntgen-Strahlen jeden festen Körper zu durchblicken. Glauben Sie, daß die Planeten des Sonneninnern nicht Organe haben, mit denen sie durch die Sonnenhaut durchblicken können? So mangelhaft dürfen wir uns doch nicht kosmische Sternorgane vorstellen.‹

Ich schwieg nun und sah den Merkur noch einmal und auch ein paar kleine runde Kometen – und schlief dann plötzlich ein und träumte wildes Zeug zusammen; Protuberanzen packten mir an die Kehle, und ich nahm den intramerkuriellen Planeten mit seinen drei Wurstmonden in die Hand und schlug mit ihm auf die Protuberanzen los.

Da erwachte ich und sah, daß ich auf dem Divan in dem schwarzen Sammetzimmer lag, die Smaragdglasampel brannte wie vorhin, und ein junger Mann trat ins Zimmer und fragte mich, ob ich etwas zum Abendbrot essen möchte.

Ich sprang auf, rannte hinaus und hätte meinen Professor beinahe umgerannt.

Der Professor brachte mich zum Ufer des großen Sees, wir setzten uns in einen Wagen, der auf den Seedrähten herumfährt, ließen das Wagendach aufmachen und uns ein kräftiges Abendbrot verabreichen – Bratwürste aß ich, und Münchner Bier trank ich dazu.

Es war halb zehn Uhr abends.

Über uns leuchteten die achtzehn Fesselballons in tausend Farben.

Und Musik ertönte oben in den Lüften.

Und ich war ganz verwirrt; der Professor erzählte mir, daß seine rechte Hand ganz steif geblieben sei – aber sie war wieder so groß wie die linke.

Ich mußte mich verpflichten, solange ich auf dem Ausstellungsterrain blieb, nichts von diesem großen Schlafwunder zu erzählen.

Aber jetzt in Deutschland darf ich davon erzählen. Und ich freue mich, daß ich Ihnen, meine Damen und Herren, so viel davon erzählen durfte, daß Sie eine ungefähre Vorstellung davon bekommen haben. Leider ist es mir nicht möglich, so an einem Abend plastischer zu erzählen. Die Geschichte ist zu groß – jedenfalls die großartigste, die ich in meinem Leben erlebt habe. Ob ich noch mal was Großartigeres erlebte, weiß ich nicht.«

Der Baron schwieg und trank sein Glas Wein aus, das während der ganzen Sonnenfahrterzählung unberührt vor ihm gestanden hatte.

Danach brachte man dem Baron stürmische Ovationen.

Und dann wurde das achtzehnte Gericht aufgetragen.

»Herr Oberkoch«, rief der Baron, »ist das Essen nicht kalt geworden?«

»Nein, Herr Baron«, erwiderte der Oberkoch, »beim Beginn Ihrer Erzählung wurde sofort in der Küche Pause gemacht.«

»Das war vorsichtig!« rief der alte Herr.

Und beim dreiunddreißigsten Gericht sagte er zur Gräfin Clarissa ganz leise, daß es Niemand weiter hörte:

»Morgen nachmittag um fünf Uhr bist Du im Café Josty, nicht wahr?«

»Ja!« sagte die Gräfin.

Und nach dem Diner sagte der Baron zum alten Grafen Adolf vom Rabenstein:

»Könntest Du mich morgen vormittag um zwölf Uhr in meinem Hotel am Alexanderplatz besuchen?«

»Ja!« sagte der Graf.

Und danach brachte man dem alten Baron von Münchhausen unsäglich viele Ovationen, und er sprach dabei mit allen Gästen und fuhr erst nach zwölf Uhr nachts wieder davon.

Es war eine finstere Nacht, und das Automobil des Barons mußte sehr langsam fahren, sodaß er erst sehr spät auf dem Alexanderplatz zu Berlin anlangte.

Aber der Baron war in seinem Hotel in so guter Stimmung, daß er vor dem Schlafengehen noch einen Brief an die alte Gräfin Adolfine vom Rabenstein schrieb; den Brief packte er sorgfältig in seine umfangreiche Brieftasche.


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