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Anton

Ein Sonntagnachmittag allein zu Haus! Es hatte den Kindern anfangs gar nicht in die Köpfchen gewollt! Und nun war es doch so wundervoll geworden!

»Lustig jetzt! Anton wird nach Tisch zu euch kommen und mit euch spielen,« hatte der Vater gesagt, als die Kinder trübselig zuschauten, wie der Kutscher den Wagen putzte, in dem die Eltern über Land fahren wollten.

Im Nu waren die vier Gesichtchen wie mit Sonnenschein übergossen.

»Anton wird kommen!« das war viel tausendmal schöner, als die wundervollste Landpartie! Das bedeutete die lustigsten Spiele, die drolligsten Geschichten, die herrlichsten Einfälle! Max warf vor Freude das braune Hütchen hoch in die Luft, die kleine, schwarzäugige Käte stieß ihren wildesten Jauchzer aus, und selbst Illy, die ernste Große, schlug die Hände freudig zusammen. Das kleine Görgel krähte vor Lust.

Wer diesen Jubel sah, hätte glauben müssen, Anton, der so gern erwartete Besuch, sei der größte Spaßmacher der Welt. In der Tat aber war er ein blasser, ernster, fleißiger Junge, den niemand außer den Kindern je lachen sah. Er war eine Waise und wohnte in einer der engsten, ärmlichsten Gassen bei einer alten, tauben Verwandten, die zuweilen zu den reichen Vößlers ins Haus kam, um die zerrissenen Röckchen, Höschen und Strümpfe der Kinder zu flicken. Als Herr Vößler einmal einen Laufjungen suchte, hatte sich Anton gemeldet. Er besorgte nun schon seit Jahren allerlei Gänge und sonstige kleine Dienste im Geschäft, wofür Herr Vößler ihm so viel bezahlte, daß er statt der gewöhnlichen Armenschule eine bessere besuchen konnte. Er war bescheiden, ernst und treu, und weil in seinem stillen Wesen etwas lag, das einem immer ein wenig leid tat und das man gern leiden mochte, hatte Herr Vößler, den die Sorgen seines großen Geschäftes selbst ernst und streng gemacht, ihn oft und gern mit irgend einem Auftrag vom Geschäft in sein Wohnhaus hinausgeschickt, damit er einmal von der freundlichen Hausfrau ein liebes Wort zu hören bekomme und mit den vier gutherzigen, lustigen Kindern ein wenig Freundschaft schließen könne.

Mit Kindern umzugehen mußte der stille Junge nun außerordentlich gut verstanden haben, denn wenn er einmal ein halbes Stündchen allein mit ihnen zusammen war, so wußten sie dann immer stundenlang davon zu erzählen, wie viel schöne Dinge er wisse, wie er gut sei und wie wundervoll er mit ihnen spiele. War jemand Erwachsenes dabei, so war dies freilich nicht so; selbst die Freundlichkeit der Mutter konnte die Schüchternheit des armen Jungen nicht ganz verbannen.

»Du hast ihm vielleicht mit deiner Strenge ein wenig angst gemacht,« sagte sie zuweilen zu ihrem Mann. Das möge sein, gab dieser zu, aber in einem Geschäft, wie dem seinen, könne es nicht anders sein. Ernst, Strenge, Gehorsam aufs Wort, das mache so tüchtige Leute, wie er sie brauche. Anton werde ihm die strenge Schule schon noch einmal danken. Wenn er brav und strebsam bleibe, wolle er auch schon in Zukunft für ihn sorgen.

Dieser Anton also war es, der die Kinder heute darüber trösten sollte, daß die Eltern einmal ohne sie in dem schönen Wagen mit den goldbraunen Füchsen zu einem Besuch über Land fahren mußten.

Und wie herrlich gelang dies dem stillen Jungen!

Der ganze, große, schattige Garten hallte wider von hellem, seligem Kinderlachen. Man spielte Räuber und Versteck; aber Anton wußte alles so schön anzugeben, so eigen, so ganz anders, als die Kinder es allein vermocht hätten. Dann wurden Märchen aufgeführt; Illy war das Dornröschen und lag oben in der kleinen Borkenlaube unter lauter wilden Rosen, Max mußte der Prinz sein, der sie befreite; es gab eine herrliche Hochzeit mit Sang und Tanz, wozu die Vesperbrote mit den kleinen Frühbirnen die köstlichsten Speisen: Marzipantorten, Apfelsinen und Ananas, vorstellen mußten.

Als es dämmerig wurde und die Abendnebel unter den hohen Bäumen hingen, wurde im Hause weiter gespielt. Max hatte zu seinem Geburtstag neue Soldatensachen und ein stattliches Schaukelpferd bekommen; natürlich mußte nun ein wenig Krieg gespielt werden. Auch der kleine, blonde Görg wollte Soldat sein und auf einem stolzen Rößchen reiten. Anton wußte auch dafür Rat. Der gute Junge gab selbst den Rappen ab, ließ sich satteln und zäumen und trug den lieben, kleinen Reiter auf seinem eigenen Rücken in vorsichtigem Trabe durchs Zimmer.

»Ach Anton, wie gut du bist! Du glaubst nicht, wie lieb wir dich haben!« jauchzte das wilde Kätchen an diesem Nachmittag wohl zehnmal, indem sie den treuen Spielgefährten in ihrer ungestümen Weise immer von neuem mit den runden Ärmchen umschlang.

»Wirklich, Kätel?« fragte er einmal ganz ernsthaft, »hast du mich lieb?«

»Furchtbar lieb,« beteuerte sie. »Ich möchte dir einmal etwas Rechtes zu Gefallen tun.«

»So setze dich jetzt einmal einen Augenblick ruhig hin, kleiner Wildfang,« bat er. »Du bist so heiß.«

»Aber nur einen ganz kleinen Augenblick!« meinte sie lachend. Gleich darauf schon wirbelte sie wieder durchs Zimmer. Sie hatte eine wundervolle Idee. »Wir holen die kleine Spieldose aus Mamas Zimmer und tanzen.«

»Eurer Mutter Zimmer ist verschlossen,« sagte Anton. »Ich sah, wie sie den Schlüssel abzog.«

»Aber sie legte ihn hier in ihren Arbeitskorb, das tut sie immer, im Fall eins von uns etwas Wichtiges drüben zu holen hat,« erklärte Illy.

»Nun höre einmal, die Spieldose ist gerade nichts Wichtiges. Eure Mutter sieht es gewiß nicht gern, daß ihr hineingeht, wenn sie nicht da ist,« wandte der Spielkamerad ein.

»O, Anton,« rief Käte, »verdirb uns doch nicht den Spaß. Sie erlaubt es schon.«

»Ich glaube auch, sie erlaubt es,« gab Illy zu, obgleich sie wußte, daß die Mutter unter den wichtigen Dingen, die von drüben zu holen erlaubt waren, nichts anderes verstand, als höchstens einmal ein nötiges Stück aus dem Wäscheschrank oder aus dem kleinen Verbandkästchen im Fall eines Malheurs, wie es den wilden Kindern wohl zuweilen passierte.

Anton wandte, obgleich ihm die Sache nicht recht war, nun nichts weiter ein. Seiner Meinung nach hatten die Kleinen nun genug getollt. Aber die Mutter hatte vor dem Wegfahren so freundlich gesagt: »Mach ihnen nur einen recht lustigen Nachmittag!« Er brachte es wirklich nicht übers Herz, ihnen ihre Freude zu verderben.

Kätchen nahm den Schlüssel aus dem Nähkorb und ging über den Flur nach Mamas kleinem Eckzimmer hinüber.

Sie blieb merkwürdig lange drüben, und als man die Tür von Mamas Zimmer endlich gehen hörte, erschien noch immer kein Kätchen in der Kinderstube.

Besorgt, daß ihr vielleicht etwas geschehen sein könnte, blickte Anton endlich in den Flur hinaus. Alles war still, und nirgends war die Kleine zu erblicken.

»Kommst du denn nicht, Kätchen?« rief er und eilte rasch über den dunklen Vorsaal weg. Da sah er plötzlich eine kleine, dunkle Gestalt in einer Ecke, und zugleich klang ein leises, klägliches Weinen an sein Ohr.

»Kätchen!« schrie er erschrocken. »Was hast du denn? Scherzest du? Oder sprich doch, was ist dir denn geschehen?«

Er bückte sich zu der Kleinen nieder und bemerkte, daß ihr Gesicht ganz mit Tränen überströmt war. Ihre weichen, runden Ärmchen schlangen sich um seinen Hals, und ein leises, flüsterndes Stimmchen flehte:

»Lieber, lieber Anton, hilf mir doch! Ich habe etwas Schreckliches begangen; ich stieß im Dunkeln an die schöne, kleine Engelsfigur, die Mama so sehr liebte, und habe sie heruntergeworfen. Sie ist in tausend Stücke zerbrochen! O, Anton, wie wird Mama schelten! Bitte, bitte, sage doch nicht, daß ich drüben im Zimmer war!«

»Verschweigen?« fragte Anton. »Das wäre sehr unrecht. Auch ist es ja gar nicht möglich. Deine Geschwister wissen es alle, daß du drüben warst.«

»Könntest du nicht sagen, ich sei gar nicht drüben gewesen und dir sei, als du mich dort gesucht, das Unglück passiert?« sagte Kätchen schüchtern. »Sieh, dich wird Mama gewiß nicht halb so sehr schelten, wie mich!«

Erstaunt und traurig sah Anton sein geliebtes, kleines Kätchen an. »So schlecht kannst du sein?« fragte sein Blick. Aber er sprach die Worte nicht aus, sondern sagte nur: »Wenn du es übers bringst, einen andern anzuklagen, wenn du selbst ein Unrecht getan hast, so tue es nur. Ich werde dich gewiß nicht verraten! Daß es eine große Sünde ist, jemand zu belügen, weißt du ja!«

Auf die letzten Worte hörte Kätchen schon nicht mehr. »Ich will Mama sagen, daß du es aus Versehen getan hast und daß du sehr traurig darüber warst. Sie wird dir gewiß nicht böse sein. Und ich will dich noch viel, viel lieber haben für diesen Gefallen, den du mir tust,« schmeichelte sie, während sie die letzten Tränen aus ihrem schon wieder lächelnden Gesicht trocknete.

Anton sagte kein Wort mehr. Er ließ sich von dem Kinde ins Zimmer ziehen und hörte auch schweigend zu, wie Kätchen drinnen den Geschwistern die Unwahrheit erzählte, die sie sich soeben ersonnen.

»Armer Anton, daß dir das geschehen mußte!« sagte Illy.

»Ich will Mama recht für dich bitten,« versicherte Fritz.

»Ja, tut das nur«, sagte Anton mit trauriger Stimme. »Es tut mir sehr leid, eure Eltern zu betrüben, denen ich so viel Dank schuldig bin!«

Die Freude und Lust des Abends war vorbei. Kätchen klagte, daß sie müde sei und zu Bett wolle, und auch den anderen Kindern war es auf einmal nicht mehr wie Spielen und Frohsein zu Mute. Anton verabschiedete sich bald; das Mädchen brachte den Kleinen ihre Abendmilch, und als die Eltern gegen halb neun Uhr von ihrer Besuchsfahrt heimkehrten, fanden sie ihre kleine Gesellschaft, die sich sonst immer sehr gegen das Zubettgehen sträubte, eben ruhig und weich in ihre weißen Nestchen gebettet.

Im Chor erzählten die Kinder, was ihrem Spielgefährten geschehen sei. Illy und die Knaben schilderten die Sache, wie sie dieselbe vorhin von Kätchen gehört, so lebhaft, daß das kleine, böse Mädchen beinahe selbst an deren Wahrheit glaubte.

Die Mutter war außer sich über den Verlust der schönen Figur, die ihr ein liebes, teures Andenken war. Aber die Kinder baten so stürmisch um Verzeihung für ihren lieben Kameraden, daß Frau Vößler bald gerührt war und dem armen Jungen seine Unachtsamkeit zu verzeihen versprach.

Die ganze Sache schien am andern Morgen vergeben und vergessen zu sein.

Umsomehr staunten die Kinder, als sie vor dem Mittagessen plötzlich in der Mutter Zimmer gerufen wurden und von den Eltern, die beide hier anwesend waren, im tiefsten Ernst noch einmal nach dem Verlauf des gestrigen Nachmittags gefragt wurden.

»Ist außer Anton gewiß niemand in meinem Zimmer gewesen?« fragte die Mutter streng.

»Nein, niemand,« beteuerte Illy. »Ich habe den Schlüssel Käte gegeben, die die Spieldose holen wollte –«

»Und ich fand das Schlüsselloch nicht im Dunkeln,« log Käte. »Da kam Anton dazu und ich bat ihn, er solle doch in das Zimmer gehen und die Dose holen. Als er herauskam, sagte er mir, daß er die Figur zerbrochen habe.«

»Es ist gut,« sagte der Vater mit finsterem Gesicht. »So haben wir uns in Anton bitter getäuscht. Wer hätte das von ihm gedacht?«

»Daß er die Vase zerbrochen hat?« fragte Käte schnell. »Hattet ihr ihm das nicht schon verziehen?«

»Gewiß,« sagte Herr Vößler. »Aber es kommt nun noch etwas sehr Schlimmes dazu. Geht nur jetzt. Die Sache geht euch nichts weiter an.« –

Die Kinder wußten, daß sie aufs schnellste gehorchen mußten, wenn der Vater in so ernstem Tone sprach. Stillschweigend gingen sie nach dem Kinderzimmer hinüber, um hier ihrem Erstaunen um so lauter Luft zu machen. Was war denn geschehen? Was konnte denn Anton noch Schlimmes getan haben? Hatte er noch etwas verdorben oder zerbrochen? Wenn er doch bald käme, daß man ihn fragen könnte! Alle wünschten dies dringend. Nur Käte hatte eine unbestimmte Angst, Anton jetzt wiederzusehen. Sie hatte seit gestern abend nicht mehr an ihre Lüge gedacht, erst jetzt fiel es ihr schwer aufs Herz, daß sie Anton doch ein großes Unrecht getan habe und daß dieser nun doch vielleicht noch Schelte ihretwegen bekommen werde. Sie hatte fast Angst, ihn wiederzusehen. Wenn er lieber nicht so bald käme, dachte sie, wenn die andern ihn recht lebhaft herbeiwünschten.

Und Anton kam wirklich nicht so bald. Tage, Wochen vergingen, ohne daß die Kinder ihn wiedersahen.

»Anton wird überhaupt nicht mehr kommen,« sagte die Mutter eines Tages, als der kleine Görg sie – wohl zum hundertstenmal – mit der Frage quälte, wo Anton denn bleibe, ob er denn nicht endlich einmal wiederkommen werde, um mit ihm zu spielen.

»Überhaupt nicht mehr?« riefen die Kinder, aufs höchste erschrocken. »Ja, weshalb denn? Waren wir nicht gut zu ihm? Hat er uns denn gar nicht mehr lieb?«

»Anton ist nicht mehr in des Vaters Geschäft,« erwiderte die Mutter kurz. »Papa braucht nur ganz treue, ehrliche Leute und ein solcher ist Anton nicht gewesen. Er hat ein Unrecht begangen und wurde deshalb fortgeschickt. Fragt weiter nicht nach ihm, vergeßt ihn, er war unserer Liebe nicht wert. Ihr werdet schon einen anderen Spielgefährten finden.«

Die Kinder brachen in ein lautes Jammern aus. Anton vergessen, das war wahrhaftig nicht so leicht! Ach, und daß Anton schlecht sein solle, das konnte man sich doch nicht denken! Und daß man ihn nie Wiedersehen sollte, noch viel weniger!

Nur Einer war die Neuigkeit beinahe lieb. Kätchen hatte Antons Wiederkommen immer im stillen gefürchtet. Nun brauchte sie wenigstens nicht Angst zu haben, daß er sie verriet und daß ihre Unwahrheit, an die sie immer denken mußte, noch ans Tageslicht kam.

Sie hatte damals gar nicht bedacht, daß es mit dem Lügen ein so unheimliches, schreckliches Ding sei. Sie hatte nie vorher eine Unwahrheit gesagt und jene eine war ihr gar nicht als ein so ungeheures Unrecht erschienen. Nun aber erinnerte sie das böse Gewissen fortwährend daran; sie war nicht mehr so froh und ausgelassen, wie sie es gewesen, und oft, wenn sie abends ihr Nachtgebet gesagt, lag sie noch lange wach und dachte an die zerbrochene Engelsfigur, an Anton und an die ernsten Worte, die der Lehrer in den letzten Religionsstunden über die Lüge gesprochen hatte. Am liebsten hätte sie jetzt noch alles gestanden, aber eine tiefe Scham vor Eltern und Geschwistern hielt sie zurück.

Sie wollte gewiß nie wieder unwahr sein, – ach, wenn nur niemand von diesem einen Mal etwas erführe!

Ein halbes Jahr verging, und es schien, als ob die Sache wirklich begraben sei. Auch Kätes böses Gewissen begann endlich zu schweigen. Der Winter kam und brachte so viel Neues und Schönes: Schlittenfahrten und Schlittschuhbahn, lustige Kindergesellschaften und die große Freude auf das nahe Weihnachtsfest.

Einige Wochen vor letzterem kam Fritz einmal sehr traurig und aufgeregt aus der Schule nach Hause. Es war ein grimmig kalter, windiger Tag, und Frau Vößler hatte sich schon um ihren kleinen Sohn geängstet, der etwas später als die anderen daheim eintraf.

Fritz war außer sich. Er hatte Anton unterwegs getroffen, und Anton hatte so blaß und traurig ausgesehen, daß er ihn kaum wiedererkannt. Er hatte ein dünnes, zerrissenes Jäckchen angehabt und war mit einem Korb voll Papiersterne und Ketten durch die Straßen geeilt. An ihm war er so rasch vorübergegangen, daß er nicht einmal genau wußte, ob er seinen freundlichen Gruß erwidert hatte oder nicht.

»Sollte Anton in Not sein?« fragte die Mutter nachdenklich, während die Kinder, namentlich Ilse und der kleine Georg, in lautes Wehklagen ausbrachen.

»Vielleicht hat er keine Stelle wieder gefunden,« meinte der Vater, ebenfalls sehr ernst. »Ein gutes Zeugnis konnte ich ihm natürlich nicht schreiben. Aber ich will mich doch einmal erkundigen, was er treibt und wie es ihm geht.«

Noch an demselben Tag beauftragte Herr Vößler einen seiner Leute, sich gelegentlich nach Anton umzusehen. Aber der Mann brachte schlechte Auskunft: Anton wohnte schon längst nicht mehr in der früheren Wohnung und niemand konnte sagen, wohin er mit seiner alten Verwandten gezogen war.

Ehe man noch näheres erfahren konnte, waren die Vößlerschen Kinder eines Nachmittags zu dem Geburtstagsfest einer kleinen Cousine geladen. Es sollte eine sehr große Kindergesellschaft stattfinden und die Mutter entschloß sich, die neuen, schönen Kleider, welche die Mädchen zu Weihnachten bekommen sollten, ihnen heute schon zu schenken und anzuziehen. Zu Kätes rotem Kleidchen fehlte nur noch ein passendes Schärpenband, doch war ein solches, noch schön und neu, an einem gelben Sommerkleidchen vorhanden, von welchem Frau Vößler es abzutrennen und auf das neue, weiße Wollenkleid zu nähen beschloß.

Als sie das alte Kleidchen auf dem Schoß hielt, um die Arbeit zu beginnen, fiel auf einmal ein ganz kleines, schweres Paketchen, das in den Falten des roten Bandes gesteckt hatte, zu Boden, ging im Fall auseinander und ließ vier blitzende Goldstücke über die glatte Diele rollen.

»Um Gottes willen,« rief Frau Vößler, ganz bleich vor Schreck, »das ist ja das Geld, das Anton gestohlen haben soll! Wie kommt denn dies hierher? In Kätes Kleid? Ist es denn möglich? Sollten wir dem armen Jungen ein so schweres Unrecht getan haben? Käte, Käte,« rief sie ins Nebenzimmer, »komm sofort einmal her!«

Käte kam herbei und wußte anfangs gar nicht, was die Aufregung der Mutter, das verstreute Geld und das zertrennte Sommerkleid bedeuten solle. Bald aber wurde ihr alles klar.

»Dieses Kleid hattest du zum letztenmal an, als die Engelsfigur in meinem Zimmer zerbrach,« sagte Frau Vößler, indem sie fest und streng in Kätes Gesicht sah. »An jenem Tage aber verschwand dies Geld, das unter der hohlen Figur gelegen hatte und da niemand als Anton in dem Zimmer gewesen sein sollte, so mußten wir annehmen, daß Anton ein Dieb sein und das Geld gestohlen haben müsse; er leugnete auch nicht, er ging betrübt und beschämt von uns, wie es uns schien, noch froh, daß wir ihn unbehelligt gehen ließen. Aber hier – aber jetzt« – – eine furchtbare Ahnung sprach aus dem erblaßten Gesicht der Mutter. »O, Käte, sprich die Wahrheit, war's wirklich Anton, der an jenem Tage in mein Zimmer ging und die Figur zerbrach, oder – wärest du es gar gewesen und er – nahm die Schuld auf sich?« –

Im ersten Schrecken sann Käte auf eine Ausrede, auf eine neue Lüge, doch nur wenige Sekunden lang; nicht umsonst hatte sie während eines halben Jahres die Last ihrer Lüge, ihres schlimmen Geheimnisses in sich verborgen getragen, hatte ihr Gewissen unablässig an ihr kleines, verstocktes Herz geklopft, hatte sie so oft Antons trauriges Gesicht vor sich zu sehen, seine vorwurfsvollen Worte: »ich werde dich gewiß nicht verraten« zu hören gemeint. Nein, Käte fand den Mut nicht zu einer neuen Lüge, welcher ihr erglühendes Gesicht und ihre entsetzten Augen ja doch auch widersprochen hätten. Aufschluchzend, stoßweise kam das Bekenntnis ihrer großen Schuld von ihren Lippen. »Verzeihe, Mama! Sei nicht böse,« – bat sie am Ende ihres Geständnisses, schwieg aber, als sie den furchtbaren Ernst im Gesicht ihrer Mutter sah. Frau Vößler war außer sich; ihr Kind, ihre süße, kleine, unschuldige Käte war einer solchen Lüge, einer solchen Verstellung fähig gewesen, hatte verschuldet und ertragen, daß man ihretwegen einen Unschuldigen straft, und sie und ihr Mann waren durch diese Lüge verleitet worden, den armen, guten Jungen mit solchem Schimpf fortzujagen, ins Elend hinaus, und er hatte in übermenschlichem Edelmut geschwiegen und geduldet! –

Sich rasch erhebend, sagte Frau Vößler ernst und streng: »Vorläufig bleibst du heute zu Hause und Illy wird allein gehen. Ich werde erst mit dem Vater reden, was ferner geschehen soll. Wie und wo wir den Ärmsten finden, um unser Unrecht an ihm wieder gutzumachen? O, Käte, welch bitteres Weh ist deiner ersten Sünde, deiner ersten Lüge entsprossen!«

Und dann stand die kleine, zerknirschte Sünderin allein. Die Mutter gab draußen einige Befehle und Käte hörte, wie sie eilig die Wohnung verließ.

Nach einiger Zeit vernahm sie auch, wie Illy mit dem Mädchen fortging; im Nebenzimmer spielten die Brüder, in der Küche war die Köchin, sonst war niemand in der Wohnung.

Und aus ihrem von Reue, Angst und Schmerz erfüllten Herzen stieg jetzt der Gedanke auf: »Ich will ihn suchen und ihm sagen, wie sehr, sehr ich bereue; ich werde ihn schon finden und zurückbringen. Hatte Fritz ihn nicht gesehen in dünner Jacke, wie er Papiersterne feilbot? Daran muß ich ihn ja erkennen! Ja, ganz sicher!« –

Damit verließ Käte das Zimmer, nahm ihr Mäntelchen und Pelzmützchen vom Kleiderständer und eilte hinaus in den kalten, dämmernden Abend.

Durch die großen, vom Christmarkttrubel belebten Straßen eilte nun die kleine Käte, mit ihren verweinten Augen unter dem Pelzmützchen hervor ängstlich nach allen Seiten spähend. Der kleinen Händler mit Christbaumschmuck in dünnen, zerrissenen Jacken und mit blassen Gesichtern gab es genug, aber wenn Käte auf einen zulief, der Anton zu sein schien, so war es wohl auch eines jener armen Kinder der Not, doch nicht der Gesuchte. Manchem Vorübergehenden fiel das kleine, gutgekleidete Mädchen auf, welches so ängstlich umherspähte, aber jeder hatte mit sich genug zu tun, umsomehr, da es spät wurde und stark zu schneien begann. Noch nie war Käte so weit allein und unter so viel fremden Leuten gegangen. Plötzlich fühlte sie sich furchtbar müde und hungrig; es fiel ihr ein, daß sie nach Hause müsse, und daß sie durch ihr Davonlaufen zu ihrem ersten Unrecht noch ein zweites gefügt habe. Da war auch gleich ein Seitengäßchen, welches gewiß nach der Straße führte, wo ihre Eltern wohnten. Gleich bog sie ein, doch als sie ein Stück gegangen war, kam ihr alles fremd vor. Ein Weilchen mußte sie ruhen, sie setzte sich auf eine Türschwelle und schlief gleich ein, während der Schnee auf sie herabrieselte. Da kam jemand das Gäßchen daher, sah das kleine Bündel am Wege, bückte sich und suchte das schlafende Kind aufzurütteln. »Käte!« ertönte ein Schreckensruf. Käte öffnete die Augen schlaftrunken und lallte, vor Frost zitternd: »Anton, – lieber Anton; – ich – suche dich – schon – lange; – ach – bitte, – bringe mich – nach Hause.« –

Anton, der eben müde seinem armseligen Heim zuwanderte, dachte nicht daran, wie weh ihm die kleine, böse Käte getan, er bemühte sich nur, sie zum Gehen zu bringen, und als das nicht möglich war, schob er seinen Korb auf den Rücken und trug die für seine schwachen Arme schwere Last viele, viele Straßen weit fort. Unterwegs fiel ihm ein, daß man ihm verboten hatte, das Haus wieder zu betreten. So gedachte er, nur zu klingeln, Käte dem Dienstmädchen zu übergeben und schnell fortzugehen. Als er aber keuchend an der bekannten Wohnung ankam, stand die Eingangsthüre offen. Leise schlich er sich hinein und wollte eben Käte auf ein im Vorsaal befindliches Sofa legen, als die Glocke gezogen wurde, gleich darauf Frau Vößler aus der Zimmertüre trat und die Stimme eines eintretenden Mannes sagte: »Wir haben sie noch nicht gefunden, doch werden wir sie gewiß noch finden.«

»Mama,« rief Käte plötzlich, die von der lauten Stimme aufgewacht war; da erblickte die Mutter das gesuchte Kind und Anton daneben, der wie ein armer, ertappter Sünder sagte: »Ich gehe gleich wieder, ich brachte nur Kätchen, die ich auf einer Türschwelle schlafend gefunden.« – »Anton, armer, lieber Junge, auch das noch tatest du!« rief Frau Vößler aufs tiefste bewegt. »Nein, nein, du sollst nicht wieder gehen, sondern du bleibst bei uns. Wir wissen, daß du unschuldig bist und wir wollen gut machen, was wir dir Leides getan. Ich schicke zur Muhme, daß sie sich nicht sorgt. Wo wohnt ihr denn jetzt?« – »Die Muhme ist tot,« sagte Anton mit schwacher Stimme, denn die Erschöpfung und die plötzliche Freude überwältigten ihn und er wäre umgesunken, wenn ihn Frau Vößler nicht umfangen und an ihr Herz gedrückt hätte. – – –

Käte hatte sich durch ihr Umherstreifen eine starke Erkältung zugezogen und lag am andern Tage fiebernd im Bett, neben welchem der nun schon neu und sauber gekleidete Anton saß; denn die kleine, reuevolle Käte ruhte nicht, wenn sie Antons Hand nicht in der ihren fühlte. Und schlief sie ein und Anton ging zu den andern Kindern hinüber, was war da für ein Jubeln und Freuen! Weder Vater und Mutter, noch die Kinder wußten, wie viel Liebe sie dem guten, wiedergefundenen Anton erzeigen sollten.

Und dann gab's ein fröhliches, seliges Weihnachtsfest. Zwei von den Kindern, die neben den reichen Geschenken unterm Christbaum standen, waren wohl noch etwas blässer als die andern, aber gerade diese beiden waren die glückseligsten von allen; denn Anton, der arme Waisenknabe, hatte ein Vaterhaus gefunden, und Käte, die eben erst von ihrem Krankenlager aufgestanden, hatte für ihre erste, und wie sie heilig versicherte, auch zugleich letzte Lüge ihres Lebens die Verzeihung ihrer Eltern erlangt.

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