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Der Helm

In einem hohen, dunklen Vorstadthaus im Südviertel der Stadt Leipzig wohnte seit kurzem ein blutarmer junger Schüler, den der heiße Wunsch im Herzen brannte, dereinst ein geschickter Arzt, ein Helfer und Tröster aller Armen und Kranken, zu werden.

Vorderhand lag die Erfüllung dieses Wunsches fern, denn der Vater des blonden Johannes war vor nicht langer Zeit gestorben und konnte nun nicht mehr, wie er es früher getan hatte, von seinem schmalen Schullehrergehalt die Studien des Sohnes bezahlen.

Der arme Junge war aber trotzdem hoffnungsfroh nach der berühmten alten Universitätsstadt gekommen, da er dort zweierlei zu finden hoffte, was ihm zu seinem Fortkommen helfen sollte: das eine war der Beistand Gottes, der überall am Wege wächst wie wilde Rosen, und das andere ein alter Jugendfreund seines Vaters, der Professor Gottfried Jahn, welcher zur Zeit einer der bewährtesten Meister der Heilkunde war und ihm, wie sein sterbender Vater gesagt hatte, sicher Mittel und Wege zu einem unentgeltlichen Studium angeben könne.

Leider wollte es Johannes aber nicht gelingen, den vielbeschäftigten vornehmen Herrn zu sprechen. Er hatte schon zweimal vergeblich an seine Tür geklopft, hatte ihm dann in einem langen, beweglichen Briefe gar eindringlich seine Not und Herzenssehnsucht geschildert und war endlich, nachdem sein Mut einen harten Strauß mit seiner Schüchternheit bestanden hatte, zum drittenmal den weiten Weg von seiner Wohnung nach der im Westviertel gelegenen des Professors gewandelt, um sich die lange verzögerte Antwort auf sein Schreiben selbst einzuholen.

Aber auch diesmal wies ihn der Diener ab, und zwar mit unsicherer, leidumflorter Stimme. Das einzige Söhnchen des Professors war nämlich am Tage zuvor am Scharlachfieber gestorben, und der gelehrte Arzt, der seinen geliebtesten Patienten trotz aller Mühe nicht zu retten vermochte, war wie gebrochen vor Schmerz und für keinen zu sprechen.

Erschüttert schlich der arme Johannes wieder von dannen. Schmerz und Sorge drückten so auf sein junges Gemüt, daß die helle Märzsonne schwere Mühe hatte, durch ihr goldenes Flackerlicht seinen gesenkten Blick emporzuzwingen. Ihre Strahlen tanzten aber so übermütig um ihn her, daß er endlich, fast am Ende seines Weges, doch ihrem süßen Geheiß folgte und in die blaue, leuchtende Lenzesferne hinausblickte, die zwischen den letzten Häusern der endlos langen Vorstadtstraße, die er durchschritt, hereinlachte.

Da tauchte es plötzlich wie ein wandelndes Meer mit goldenen Wogenkämmen vor ihm auf, und zugleich hallte eine frohe, schmetternde Marschmelodie an sein Ohr.

»Soldaten, Soldaten!« riefen die kleinen Gassenbuben neben ihm, streckten die Beinchen und rannten dem sich in gleichmäßigem Takte näher bewegenden Regiment entgegen, welches von seinen Frühlingsübungen im Freien durch die Südvorstadt der als Kaserne dienenden Pleißenburg zumarschierte.

Johannes blieb stehen und ließ den Zug an sich vorbeidefilieren.

Eine Schar von Mädchen und Knaben, zahlreicher als die Vaterlandsverteidiger, spazierte nach den Klängen der Trommeln und Trompeten lustig und lachend vor, neben und hinter dem Zuge her.

Ein winziges Kerlchen, das stramm und ernsthaft mitten unter ihnen schritt, erregte Johannes' Entzücken.

Leicht und lockig flog ihm das lichtbraune Haar um das zarte, von der sonnigen Märzkühle rosig angehauchte Gesichtchen. Sein glänzender Blick, die stolz und gerade gestreckte kleine Gestalt, die frisch ausschreitenden Bloßfüßchen, die fest an die Flanken gepreßten Arme, das alles zeigte die reizendste und drolligste Begeisterung für das Waffenhandwerk.

Unwillkürlich schritt Johannes ein paar Schritte hinter dem prächtigen Jungen her und hörte, wie er in einer Musikpause strahlend und auf einen schmucken Soldaten deutend, zu seinem kleinen Nachbar sagte:

»Du, nur so einen Helm sollt' ich noch haben! Was meinst du, wenn ich den Herrgott einmal bäte?«

In demselben Augenblick schlug die Turmglocke von fern die Mittagsstunde. Erschrocken trennte sich der kleine brave Mann sofort aus den Reihen und rannte schnurstracks in eine Seitengasse hinein, so daß Johannes, dessen Wohnung ebenfalls in dieser Gasse lag, Mühe hatte, ihm zu folgen. So gut es ging, hielt er sich jedoch hinter ihm und sah zu seinem Staunen, daß der Kleine in demselben hochstöckigen Bau verschwand, der ihm seit einigen Tagen zum Aufenthalt diente, ja, daß er auch gleich ihm die vier düsteren, schmalen Holzstiegen hinaufstieg und in eine niedere braune, dicht neben der seinen gelegene Tür hineinschlüpfte.

»Also mein Nachbar!« sagte Johannes, indem er sein Kämmerchen betrat, dessen ganze Einrichtung in einem Feldbett, einem rohen birkenen Tisch und einem alten Stuhl bestand.

Drinnen schüttelte er sofort den Inhalt seines mageren Beutels, der seine ganze Erbschaft enthielt, auf den Tisch, zählte, rechnete und teilte von dem geringen Häufchen eine blanke Reichsmark ab, für welche er am Nachmittag im ersten besten Spielwarengeschäft einen blitzenden Kinderhelm kaufte. Verstohlen und glückselig lächelnd legte er diese Errungenschaft – ehe er sich abends zur Ruhe streckte – sauber in Seidenpapier gepackt und mit rotem Seidenband umwickelt, auf der Schwelle der Nachbarwohnung nieder.

Im Morgengrauen des nächsten Tages weckte ihn ein heller, glückseliger Kinderschrei, dem ein heimlich leises, langandauerndes Lachen, ein Stampfen und Trappen und ein halbunterdrückter Jubel folgte.

Das alles ließ Johannes erraten, daß sein Scherz gelungen sei, und so saß er denn fröhlich, wenn auch mit knurrendem Magen, bis zur Mittagszeit bei seinen Büchern und lächelte froh in sich hinein, wie einer, der mit sich und der Welt zufrieden ist. Gegen zwölf Uhr konnte er sich's nicht versagen, beim fernen Klang des Regimentsmarsches hinunter zu steigen und seinen kleinen Liebling zu belauschen, der stolz wie ein König, mit dem neuen Helm auf den goldbraunen Locken, zwischen seinen Kameraden und den wirklichen Soldaten dahinzog.

Auch an diesem Tage wartete der arme Student vergeblich auf eine Nachricht von dem Professor.

Als die Nacht hereinbrach, spielte die Verzweiflung so arg mit seinem jungen Herzen, daß er es in seinen engen vier Wänden nicht mehr aushielt und hinauseilte, um auf den vom Märzwind durchwehten Gassen frischen Hoffnungsmut zu schlürfen.

Als er aber den dunkeln Vorsaal betrat, stolperte er, und zwar über einen großen rundlichen Gegenstand, in welchem er beim Scheine eines rasch entzündeten Streichholzes zu seinem Staunen nichts anderes als den wieder sorgsam eingehüllten und umwundenen Helm erkannte.

Ein dem Paket beigefügter Zettel trug die mit schlechter, krauser Kinderschrift geschriebenen Worte:

»Lieber Gott, nimm doch den Helm wieder und gib uns dafür das Geld, das er kostet. Wir hätten es nötiger, sagt die Großmutter. Aber weißt du, wenn dir's recht ist, kannst du mir den Helm für morgen noch einmal borgen, ich leg' ihn abends wieder her.«

Kameradschaftlich traulich und mit einem Klex verziert stand: »Ein Gruß von deinem Fritz« unter dem sonderbaren Schreiben.

Johannes nahm dasselbe, legte es zärtlich zusammen und kehrte, indem er es in seiner Brusttasche verbarg, wieder in seine Kammer zurück.

Dort leerte er beim hellen Schimmer des Lenzmondes seine Börse abermals aus, rechnete, wieviel Mahlzeiten ihm der spärliche Inhalt noch gewähren könne, und nahm dann abermals mit leisem Lächeln eine Mark davon, wickelte sie ein und legte sie neben dem Helm vor die Nachbartüre nieder.

Am nächsten Morgen weckte ihn ein neuer Jubel, und mittags sah er Fritz von fern wieder im hellblitzenden Kriegerschmuck die heimkehrenden Rekruten begleiten. Er selbst hatte heute weder Zeit noch Ruhe, den lieben kleinen Kerl lange zu beobachten. Es war ihm eingefallen, daß er gewiß im Hospital erfahren könne, ob der Professor Jahn zu bestimmten Stunden daselbst zu erscheinen pflege, um ihm vielleicht dort endlich sein Anliegen vortragen zu können.

Der Bescheid, daß derselbe täglich die Zeit von drei bis vier Uhr mit seinen Schülern an den Krankenbetten zuzubringen gewöhnt sei, war ihm denn auch hochwillkommen, und er beschloß, noch an demselben Tage zur bezeichneten Stunde wiederzukehren und sich dem allverehrten Meister vorzustellen.

Nach einem mehrmaligen Rundgang um die alte innere Stadt, erschien er kurz vor drei Uhr pünktlich wieder und wußte durch sein treuherziges Bitten und den herzgewinnenden Blick seiner ängstlichen, feuchtglänzenden Augen den Aufwärter dahin zu bringen, daß er ihm den großen Krankensaal öffnete und einen an einem Kinderbett stehenden und von drei jungen Leuten umringten ältlichen Herrn als den Herrn Professor Jahn bezeichnete.

Ein Blick auf die edlen, von Trauer und Güte verklärten Züge des Arztes wirkte wie ein Hauch himmlischen Trostes auf das beklommene Herz des jungen Mannes. Hochatmend trat er näher und übersah nun das Bettchen, über welches sich der Professor barmherzig neigte. Da erblickte er auf dem groben, bunten Kissen ein lockiges, braungoldenes Köpfchen, ein schneeiges kleines Gesicht, über welches ein feiner purpurner Blutbach rieselte und neben dem Lager auf einem Stuhle neben einem zerschlissenen Leinenhöschen und einem fadenscheinigen wollenen Wams den bekannten blitzenden, kupferroten Helm, den er neulich selbst beim Händler erstanden hatte.

Ehe er seine erschrockenen Gedanken sammeln konnte, tönte ein herzbrechendes Klagen an sein Ohr:

»Nach Haus! Nach Haus! Ich muß dem lieben Gott den Helm wiedergeben. Er hat ihn mir ja nur geborgt! Ich muß, ich muß!«

»Wenn man nur aus ihm herausbekommen könnte, wer er ist, wo er wohnt, oder wenn man seinen Jammer verstände, um ihn trösten zu können,« sagte der Professor zu einem seiner Schüler gewandt.

Schnell entschlossen und mit höflicher Entschuldigung trat Johannes an das Bettchen heran, streichelte des Kleinen heiße Stirn und sagte: »Sei nur ruhig, Fritz, der liebe Gott schickt mich zu dir, er schenkt dir den Helm.«

»Ist's wahr?« jubelte der Kleine.

»Ja, sieh her, daß du's glaubst,« bestätigte Johannes. »Da ist dein Briefchen von gestern. Das gab er mir aufzubewahren.«

Mit einem Blick voll stolzer Wichtigkeit betrachtete das Kind sein Geschreibsel, das durch des lieben Gottes Hände gegangen war, nickte dann, schloß die Augen und legte sein Köpfchen stillächelnd in die Kissen zurück.

Der Professor, der die kleine Szene stumm und verwundert mit angesehen hatte, bat Johannes nun durch einen freundlichen Blick um Aufklärung; dieser erzählte, was er wußte, und erfuhr dagegen, daß der arme kleine Soldat während des Marsches von einem großen Hunde zu Boden gerissen und durch eine scharfe Ecke des zerbrochenen Helmes so schwer verletzt worden sei, daß man ihn bewußtlos hierher gebracht habe.

»Woher wissen Sie aber, daß er hier sei?« fragte der Professor, seinen gütigen Blick in die offenen, klugen Augen des blonden Schülers versenkend.

»Ich wußte es nicht; ich kam gar nicht um des Kindes willen,« stotterte dieser.

»Nicht um des Kindes willen?«

»Nein. Ach, ich war wohl sehr verwegen: Ich versuchte so oft vergeblich. Sie zu sprechen, Herr Professor, daß ich nun diesen letzten Versuch wagte,« gestand Johannes.

Der Professor sah ihn einen Augenblick lang schmerzlich und forschend an. Dann sagte er leise: »Ich habe in den letzten Tagen so viel Schmerz durchlebt, daß ich das Weh anderer zu vergessen vermochte. Ich weiß es jetzt, daß Sie Johannes Werner sind. Eine solche Tat, wie die mit dem Helm, die ich aus Ihren und des Kindes Reden errate, hätte Ihrem seligen Vater auch ähnlich gesehen. Von dieser Stunde an sind Sie mein Freund und Schüler. Gott segne Sie! Aber nun schnell das Verbandzeug her für den Jungen.«

Als der Aufwärter, den man zur Benachrichtigung sofort zu den Eltern des Kindes sandte, nach einer knappen Stunde zurückkam, saß der Professor mit Johannes noch an dem Bett des nun sanft schlafenden Knaben.

»Von Eltern hat der Fritz da nur noch eine Großmutter,« berichtete der Bote. »Die hat sich aber nicht um ihn gesorgt. Sie war schon lange krank und ist heute kurz vor Mittag gestorben.«

Von diesem Augenblick an betrachtete der Professor den Jungen als sein Kind.

»Sie haben ihn mir geschenkt,« sagte er, Johannes feuchten Blickes die Hand reichend. »Ohne den Helm hält' ich ihn nie zu sehen bekommen. Aber ich lohne es Ihnen! – Sie sollen einmal ein tüchtiger Mann werden – mein Nachfolger vielleicht, wenn der Himmel will!«

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