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Ernst

Mein Freund ist ein großer Musiker, der viel herrliche Stücke ausgedacht und wunderschön und rührend die Geige zu spielen weiß. Man sollte es nicht glauben, was für ein wilder, unbändiger Junge er einst gewesen ist! Aber da er mir's selbst erzählt hat, muß es wohl wahr sein!

Der lustige kleine Springinsfeld hieß Ernst, ein Name, der wahrhaftig nicht zu ihm paßte. Er war einer armen Witwe Sohn, und er und sein Schwesterlein, die kleine Malvina, die das »Malvchen« genannt wurde, waren die ganze Hoffnung, das ganze Glück, die ganze Erdenlust der bekümmerten Frau.

Die Kleine war nun in der Tat ein rechtes Freudenkind, ein wahrer Schatz! So süß und treuherzig wie ihr zartes Gesichtchen, das wirklich einer blaffen, rosafarbenen Malvenblüte glich, war ihr ganzes Wesen. Sie half der Mutter schon im Haus, holte Milch und Semmel und wohl auch ein Stück Fleisch zum Mittagsessen herbei und nähte mit den kleinen geschickten Fingern die Bänder und Knöpfchen an die Wäschestücke, welche die Mutter auf ihrer surrenden Maschine tagaus, tagein für die Geschäfte nähte.

Ernst aber half gar nichts, er brachte nur noch lauter Unordnung und Unheil ins Haus. Die Mutter mußte wie ein Polizeileutnant aufpassen, daß er seine Schularbeiten ordentlich aufs Papier und in den Kopf brachte, ehe er mit seinen wilden Kumpanen hinaushuschte in Feld und Wald – Gott weiß wohin! Mußte sie mitten in der Arbeit aufstehen und ihre Schere suchen, so konnte sie sicher sein, Ernst hatte sie wegstibitzt und natürlich nicht wiedergebracht. Richtig hing sie dann wohl an einem Faden zwischen zwei Küchenstühlen, wo er sie hatte »aufschlagen« lassen, was, wie er dann zur Entschuldigung sagte, auch wirklich wie Glocken geklungen hätte. Wurde Ernst einmal mit irgendeinem Auftrag fortgeschickt, so war es ganz gewiß, daß er mindestens die Hälfte vergaß oder daß ihm unterwegs so merkwürdige Abenteuer passierten, daß er überhaupt nicht wiederkam.

Die arme Witwe sorgte sich recht herzlich um den Jungen, um so mehr als derselbe sich selbst trotz aller Vorstellungen und alles Tadels das Herz nicht im mindesten schwer machte, sondern nach jeder Strafpredigt, die ihn ein paar Minuten lang den Kopf hängen ließ, wie ein rechter Stehauf gleich wieder in die Höhe schnellte, pfiff, lachte und sang und sich vor Lebendigkeit nicht zu helfen wußte.

»Wenn er erst einmal eine Ahnung hat, was aus ihm werden soll, so wird es vielleicht besser,« dachte die arme Frau oft mit Seufzen. Sie sprach mit dem Nachbar Buchbinder und bat ihn, er solle doch den Wildfang zuweilen in seine Werkstatt holen, vielleicht bekäme er Geschmack an dem Handwerk und lerne das Stillsitzen. Aber Ernst fand in dem dumpfen Zimmer nichts fesselnd, als des alten Meisters gelehrigen Star, dem er alle seine Schelmenlieder vorpfiff. Im übrigen sprach er über das schöne Handwerk nichts weiter, als daß der Kleister sehr schlecht röche. Nein, Buchbinder wollte er ganz gewiß nicht werden!

Und doch lernte er noch beizeiten einen Beruf lieben, der ihn alle losen Streiche vergessen ließ.

Die Witwe hatte mit den Möbeln, die früher in besseren Zeiten in ihrem Salon gestanden, das größte Zimmer ihrer kleinen Wohnung ausmöbliert und vermietete dieses, um noch eine bescheidene Einnahme zu haben.

Nun wurde der junge Arzt, der es bisher bewohnt, in eine andere Stadt berufen, und an seiner Stelle zog, nachdem der gelbe Vermietungszettel ein paar Tage an der Haustür gehangen und die Witwe in rechter Angst nach einem Mieter ausgeschaut hatte, ein alter schweigsamer Herr hinein, unter dessen Gepäckstücken ein riesiges, doppelt gebauchtes Futteral dem kleinen Ernst am meisten nachzudenken gab. Schon am ersten Abend klangen aus dem Zimmer des neuen Hausgenossen, der seine Sachen ganz ohne Hilfe und fast lautlos in Kommoden und Schränken untergebracht hatte, tiefe, wundersame, langgezogene Töne in das Nachbarstübchen hinüber. Ernst, der ungeduldig die heiße Suppe blies, um recht schnell wieder auf die Gasse zu kommen, wo die Kameraden ein von ihm erfundenes Räuberspiel aufführten, legte auf einmal den Löffel ganz weg, faltete die Hände und lauschte, wobei sein wildes Schelmengesicht einen beinahe sanften und frommen Ausdruck annahm. Nach dem Essen rückte er sein Stühlchen an die Tür, vergaß Freunde und Räuberspiel und schien jeden Ton der halblauten, süßen Musik, die aus des alten Nachbars Zimmer herüberdrang, mit wahrer Begierde in sich aufzunehmen.

Auch die Mutter und das Malvchen mochten sich das holde Abendkonzert wohl gefallen lassen, und erstere erklärte den Kindern, als das Spiel verklungen war, daß das Instrument des alten Nachbars ein sogenanntes Cello, eine Art großer Geige von ganz besonders schönem und zauberhaftem Klange sei. Ernst wußte am anderen Morgen noch die Hauptmelodien aller drei Stücke, die der Nachbar gespielt hatte, genau aus dem Kopf, und er pfiff und sang sie mit seiner frischen Stimme der Mutter und dem Schwesterchen als Extragenuß noch einmal vor.

Seit jenen Tagen hatte Ernst einen großen, sehnlichen Herzenswunsch. Nichts auf Erden dünkte ihn so schön, als mit dem alten Herrn gut befreundet zu sein, in seinem Zimmer aus und ein zugehen, seinem Spiel zuzusehen und in nächster Nähe zuhören zu dürfen. Zu ihrer großen stillen Freude bemerkte die Mutter, wie der tolle Sausewind die früheren Streiche und Wildheiten vergaß und sich so viel wie möglich im Hause zu tun machte, um womöglich bei irgendeiner Gelegenheit dem alten Mieter unter die Augen zu kommen und einmal von ihm angesprochen zu werden. Die Mutter hätte ihrem wilden Jungen diese Freude selbst recht von Herzen gewünscht. Aber der alte Herr schien durchaus nicht Lust zu haben, mehr als »Guten Tag« zu seinen Nachbarsleuten zu sagen; er war merkwürdig still und verschlossen, traurig fast, saß den ganzen Morgen über seinen Büchern und nachmittags an seinem Schreibpult, empfing niemand und ging zu niemand, ja ging überhaupt nicht aus, außer früh in halber Dämmerung um den Wall der kleinen Stadt und mittags in sein Speisehaus, bei welcher Gelegenheit er Ernst wohl manchmal auf der Straße oder auf der Treppe traf. Jedesmal blieb er dann, wenn der Junge sein Mützchen fast bis auf die Erde zog, einen Augenblick stehen und blickte ernst und prüfend in die braunen Schelmenaugen, die wiederum in stummer, heiliger Ehrfurcht an seinem welken, faltigen Antlitz hingen. Irgendein Wort an den Knaben zu richten, fiel ihm nie ein. Man hätte ihn für recht hart und herzlos halten können, wenn man ihn nicht allabendlich so herzergreifend auf seinem alten Instrument hätte spielen hören. Das war jeden Tag aufs neue ein unbeschreiblicher Genuß für die Zuhörer im Nachbarstübchen, der größte für Ernst, der bald einen ganzen Schatz von Melodien im Kopfe hatte und immer aufs neue dem herrlichen Cello, das er den Vorsänger nannte, nachsang und -pfiff, was er ihm abgelauscht.

Nur Samstag Abend war es im Zimmer des alten Herrn still, denn Samstag Abend war eine ganz besonders wichtige Zeit für ihn sowohl wie für sein Instrument. Er selbst war an diesem Abend der Woche nicht zu Haus; in festlicher Tracht, einem langen braunen Leibrock und dunkelblauer Krawatte, in der eine schöne Rosette von Diamanten funkelte, machte er sich dann immer, sobald die Dämmerung eintrat, auf den Weg, und seltsam, das Cello ging mit, nicht steif und aufrecht zu Fuß natürlich wie sein Besitzer, sondern auf dem Rücken eines Dienstmannes, der jedesmal zur bestimmten Stunde bei dem Alten eintraf. Dieser Träger hatte es der Witwe einst beim Öffnen der Tür erzählt, daß der Samstag Abend schon seit Jahren der »Quartettabend« des Herrn sei. Samstag komme er immer mit zwei anderen Musikern, von denen der eine eine Geige und der andere eine Flöte mitbringe, bei dem alten, lahmen Senator Keller zusammen; der letztere spiele sehr schön Klavier, und alle vier führten dann die herrlichsten Stücke auf, die sie eben mit dem Namen »Quartette« bezeichneten.

Unter diesen »Quartetten« dachte sich der kleine Ernst etwas über alle Beschreibung Schönes, und er konnte sich recht lebhaft vorstellen, wie der alte Nachbar sich immer auf diese Samstagsabende freute. Um so verdrießlicher waren dieselben natürlich für ihn. Er hatte sein kleines Herz schon so an die liebe Abendmusik gewöhnt, daß er sie kaum entbehren konnte; so saß er meist an diesen Abenden ganz nachdenklich in einer Ecke oder er gab seiner doch nicht ganz erstorbenen Wildheit wieder einmal nach und trieb sich mit den Schulgefährten lärmend und singend auf den Gassen oder den schmalen Wegen zwischen den Dornhecken der Vorstadtgärten umher.

»Wieder solch ein trauriger Samstag!« sagte er einst an einem herrlichen Sommernachmittag, als er eben den letzten Strich seiner Schulaufgaben beendet hatte.

Die Mutter lächelte dazu, aber ihr schmales Gesicht sah trotzdem gar schmerzlich aus. »Was wißt ihr Kinder vom Traurigsein!« seufzte sie. »Wenn ich so reden wollte! Sieh, heut' schaut die Sorge wirklich einmal bei uns zum Fenster herein. Der Diener von Grafensteins sollte heute bestimmt die fertige Wäsche abholen und mir die Zahlung bringen. Ich warte so dringend auf das Geld. Nun kommt er natürlich nicht mehr! Ach, wenn ich doch wüßte, daß du einmal ordentlich auf Malvchen achten könntest; ich ginge selbst noch hinaus auf Grafensteins Gut und lieferte die Arbeit ab!«

Ernst konnte herzlich schmeicheln und versprechen, und so bat er die Mutter jetzt auch gar dringend, ihm doch zu vertrauen, er werde nicht aus dem Haus gehen und ganz väterlich auf Malvchen achten. Ob ihm die Witwe recht traute, weiß ich nicht. Aber Not kennt oft kein Gebot, und so nahm sie nach mehrmaligen guten und herzlichen Ermahnungen das Päckchen auf den Arm und begab sich auf den Weg.

Als sie kaum ein Viertelstündchen fort war, begab sich etwas noch nie Dagewesenes. Nach einem sehr leisen höflichen Anklopfen trat der alte Mieter, mit dem braunen Gehrock und den Besuchsbrillanten angetan, ins Zimmer, fragte erst in seiner kurzen Art nach der Mutter der Kinder und sah, als er hörte, daß diese nicht zu Hause sei, Ernst ein paar Minuten lang mit prüfender Strenge ins Gesicht.

»Kann man dir einen Auftrag anvertrauen. Junge?« fragte er dann. »Wirst du etwa in einer Stunde zu Hause sein?«

Ernst wurde ganz rot vor freudigem Eifer. Er versicherte, daß er den ganzen Nachmittag dableiben und alles, was der Herr nur von ihm wünsche, aufs beste besorgen werde.

»Nun, etwas Großes ist's eben nicht, um das ich dich bitte,« war die Antwort. »Du sollst nur dem Dienstmann, der in einer Stunde wie allwöchentlich klingeln wird, die Türe aufmachen und ihm sagen, er brauche mir das Instrument nicht nachzutragen; ich werde heute einmal auf einem anderen spielen. Damit er den Weg aber nicht umsonst gemacht hat, soll er wie immer seine fünfzehn Groschen haben. Ich habe sie in Papier gewickelt, du brauchst ihm nur das Päckchen zu geben.

Mit dem freundlichsten Gesicht versprach Ernst, alles auszurichten, und es ist möglich, daß der schwärmerische, glänzende Blick seiner braunen Augen dem alten Herrn doch ungewöhnlich gut gefiel, denn wieder sah er das freie, offene Knabengesicht eine ganze Zeitlang stumm an und sagte dann in halb barschem, halb freundlichem Ton:

»Bist du es, Schelm, der mir alle meine Melodien nachsingt und nachpfeift den lieben langen Tag über?«

Verlegen und verwirrt senkte der kleine Mann den Kopf.

»Na, es gibt schlimmere Sünden,« sagte der Herr, indem er mit seiner merkwürdig feinen und weichen Hand dem Knaben unter das Kinn griff und das gesenkte Köpfchen emporhob. »Gib nur acht, daß du keine schlimmeren begehst, gib acht! gib acht! hörst du?«

Mit dieser seltsamen Warnung verließ er das Nachbarstübchen, nachdem er mit der beringten Rechten noch einmal sanft und freundlich über Malvchens braunes Lockenköpfchen gestreichelt hatte. Die Kinder hörten, wie er draußen Hut und Überrock vom Kleiderhalter nahm und wie seine leisen, bedächtigen Tritte dann auf der Treppe verhallten.

Dem Knaben war es zu Mute, als habe er ein schönes und liebes Geschenk erhalten, da er doch nun einmal seinen still verehrten Freund in der Nähe gesehen und mit ihm gesprochen hatte. Er saß eine Zeitlang mit ganz hell leuchtendem Gesicht am Fenster und sah demselben, der bedachtsam die lange Gasse hinabging, nach. Als der Alte seinen Blicken entschwunden war, fiel es ihm plötzlich ein, daß man von dessen Zimmer aus, das einen weiten Erkerausbau nach der Straße zu hatte, doch noch ein viel größeres Stück überschauen könne, und ohne zu überlegen, lebhaft und unbedacht, wie er war, nahm er Malvchen bei der Hand und lief in das unverschlossene Nebenzimmer, das der Fremde bewohnte.

Beim ersten Blick in diesen Raum war der Plan, auf die Gasse herab dem Nachbar nachzuspähen, vergessen. Ernst sah etwas, was ihn sogleich so mit Entzücken und Staunen ergriff, daß er seine lauten Schritte plötzlich dämpfte und samt der Kleinen, die ihm gern alles gleichtat, auf den Zehenspitzen vorwärtsschlich. Das Cello stand offen, ohne Futteral, an die Wand gelehnt. Das war es, dies singende, klingende Ding, das alle Abende so herrlich zu ihnen hinüber getönt hatte! Auf einem Stuhl neben ihm lag der mit schwarzen und weißen Saiten bespannte Bogen. Ohne recht zu wissen, was er tat, hatte Ernst diesen ergriffen und führte ihn mit zagen, zitternden Fingern über die große Geige hin. Ein leiser, seltsamer Laut klang wie eine Mahnung durch das Zimmer. Aber Ernst hörte auf diese nicht. Die Gelegenheit war zu verlockend. Er zog den Bogen hin und her, versuchte ihn oben und unten über die Saiten zu führen und freute sich unbeschreiblich über jeden neuen Ton.

.

»Ach, Ernst, wenn nun der Herr heimkommt,« warnte Malvchen, die der Dreistigkeit des Bruders bisher ganz verblüfft zugesehen hatte.

»Der kommt nicht!« versicherte Ernst ganz getrost, fuhr aber im selben Augenblick wie ein ertappter Sünder zusammen, denn mit einem Male begann draußen die alte Vorsaalklingel, wie vom Krampf geschüttelt, zu lärmen und zu schrillen.

»Der Dienstmann!« dachte Ernst, als das erschrockene Gewissen das erste Zusammenzucken überwunden hatte, und lief, von Malvchen gefolgt, hinaus.

Da tönten den beiden mindestens acht lustige Stimmen entgegen. Die ganze Kinderschar der Nachbarschaft stand vor der Tür. Doktors Ruth hatte heute im Garten große Puppentaufe, erzählten ein paar Plappermäulchen zugleich, die Frau Doktorin hatte ihr die schönste Puppe der Welt von der Reise mitgebracht und nun für alle kleinen Kameraden Ruths Schokolade gekocht, um eine recht feierliche Taufe auszurichten. Zur rechten Zeit hatte man bemerkt, daß unter den lustigen Gästen, die alle auf der Straße geladen worden waren, Ernst und Malvchen fehlten. »Kommt schnell, schnell! Ernst, du kannst gleich der Pastor sein,« drängte die lustige kleine Ruth.

Wie schwer wurde es Ernst, die freundliche Bitte abzuschlagen! Aber er durfte ja nicht fort, ehe er seinen Auftrag an den Dienstmann ausgerichtet hatte. Halb traurig, halb wichtig erzählte er den Freunden von diesem.

»Ach, eine Geige steckt also in dem Rumpelkasten, den der Mann immer trägt?« fragte ein Nachbarkind.

»Zeig sie uns doch einmal!«

»Ja, zeig sie uns, bitte, tue es!« rief die lustige Gesellschaft durcheinander.

Ernst war wirklich so schwach und gab den übermütigen Bitten nach. Eine Menge Kinderfüße trappelten über die weißgescheuerte Diele des stillen Zimmers, vorlaute Kindermäulchen lachten und witzelten über die alte Geige, des alten Mannes Heiligtum, und fürwitzige Hände begannen nun ohne alle Scheu den Bogen über die tönenden Saiten zu führen.

»Ja, geige, Fritz,« rief ein kleines, keckes Mädchen, »hier auf dem Wandtisch steht eine Klingel, ich klingle dazu.« –

»Und Ernst holt seine Trommel und Trompete, dann spielen wir auch Quartett,« fügte ein großer Junge hinzu. Ehe Ernst abwehren konnte, hatte er die beiden Sachen selbst aus dem Nebenzimmer herbeigetragen; ein Übermut ohnegleichen kam nun über alle, jedes wollte sein »Instrument« haben, und wirklich kam es fast so weit, als die wilde Ruth auf den Gedanken kam, Topfdeckel, Eisenkasserollen, Pfannen und Trichter aus der Küche zu holen und als Pauken und Trompeten zu benutzen.

Ernst hatte erst ganz verzweifelt dem Treiben zugesehen, aber als die Sache nun in Gang kam und der ohrenzerreißende Lärm des Streichens, Blasens und Paukens das Zimmer erfüllte, vergaß er seine Angst und rief nur ganz außer sich: »Wenn ihr schon spielen müßt, so spielt doch wenigstens vernünftig! Haltet Takt! Schlagt zusammen an! Wartet, ich will euch einmal etwas vorblasen! Wie ihr es treibt, kann es ja kein Mensch mit anhören.«

Und mit hellem Eifer sprang er auf einen Stuhl und pfiff, so laut er konnte, jeden Takt mit dem schwarzen Trommelschlägel anschlagend, die Melodie eines Marsches, den er nun schon oft von dem Nachbar gehört hatte. Klar und deutlich klang das schöne Stück über den Lärm der anderen hinweg, und mehr und mehr lauschten diese auf ihren kleinen Musikdirektor, und ließen nur, wenn dieser das Zeichen dazu gab, ihre Instrumente einfallen.

So klang das Ganze immer weniger schrecklich, und als schließlich Ernst mit einem hellen Trompetenstoß dem Konzertstück einen schmetternden Abschluß gab, war es nur verdienter Lohn, daß die nicht mitspielenden Kinder tüchtig Bravo riefen und in die Hände klatschten.

»Bravo!« rief da mitten unter die hellen, jungen Stimmen hinein plötzlich auch eine tiefe, laute Männerstimme. Wie ein Geist, der aus der Erde emporwächst, stand plötzlich der alte Mieter unter den erschrockenen Kindern. Wie das durcheinander kreischte und schrie, wie Töpfe und Pfannendeckel auf die Erde klirrten und sämtliche fremde Übeltäter schneller, als ich es sagen kann, zur offenen Tür, durch die der Alte unbemerkt hereingetreten war, hinausstoben! –

Auch Malvchen huschte totenblaß mit auf den Flur und schloß die Vorsaaltür leise hinter den treulosen Freunden.

Im Zimmer aber stand Ernst bleich, an allen Gliedern zitternd, dem alten Mann gegenüber. Er erwartete Schelte, Vorwürfe, Schläge vielleicht, und war innerlich bereit, alles geduldig, ohne ein Wort zu sagen, hinzunehmen. Daß der alte Herr aber kein Wort sprach, sondern ihn nur mit dem bekannten, stummen, prüfenden Blick von oben bis unten musterte, war das Schlimmste von allem. Nach ein paar Minuten konnte Ernst dieses furchtbare Schweigen nicht mehr ertragen. Er sah dem gestrengen Herrn mutig in die Augen und begann ehrlich zu erzählen, wie die ganze Sache gekommen war, wobei er am Schluß gar herzlich und dringend um Verzeihung bat.

Zu seinem großen Trost bemerkte er, daß das Gesicht des Alten während seiner Erzählung immer heiterer und freundlicher wurde. Namentlich, daß Ernst nur mitgespielt, weil der anderen Spiel doch gar zu schrecklich geklungen, und daß er ihnen nur zeigen gewollt, wie wirkliche Musik klingen müsse, schien dem greisen Musikfreund heimlich Spaß zu machen.

»Ohne weiteres verzeihen aber kann man solche Bubenstreiche doch nicht,« sagte er trotzalledem streng und ernst. »Ihr hättet mir richtig mein Instrument verdorben, wenn ich nicht zufällig noch einmal umgekehrt wäre, um ein vergessenes Notenblatt zu holen. Strafe muß sein! Und ich diktiere dir die Strafe, jeden Tag eine volle Stunde lang – sagen wir einmal nachmittags von 5-6, in meinem Zimmer zuzubringen. Nun – erschrickst du nicht ein bißchen darüber?«

Ach nein, Ernst erschrak gar nicht oder höchstens ein wenig vor Freude und Seligkeit. Sein Gesicht strahlte wie lauter Sonnenschein. Eine Stunde lang in dem Zimmer des Nachbars und gerade gegen Abend, wo er seine wundervollen Stücke spielte! Dann war ja doch einmal die Möglichkeit, daß er ihm diese himmlische Kunst ablernte. Wie sehr hatte er sich das gewünscht. Ach, wie von Herzen dankte er dem guten, alten Herrn für die beglückende Strafe!

Daß dieser den wilden Buben nur zu sich bestellte, um ihm wirklichen, sorgsamen Unterricht in der Musik zu erteilen, weil er seine Lust und sein Talent erkannt hatte, werdet ihr wohl schon erraten haben.

Ernst war der gelehrigste Schüler, den man sich denken konnte. Er wußte nun auf einmal genau, was er werden wollte, und man merkte dies seinem gesetzten, vernünftigen Wesen deutlich an. Wie glücklich war die Witwe über die Wandlung, die mit ihrem Jungen vorgegangen, und wie dankbar war sie dem lieben, alten Herrn!

Schade, ach ewig schade, daß dieser, ehe sein Schüler ein so großer, berühmter Mann wurde, für immer sich auf dem stillen Friedhof zur Ruhe legte!

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