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6.
Ein Jahr Gefängnis in Posen

Im Wappen der Stadt Posen ist die gerüstete Burg ein Tor. Zwei Heilige stehen darauf über den friedlich gekreuzten Schlüsseln; denn sie war eine polnische Bischofsstadt, ehe Preußen daraus eine Festung machte. Als Wilhelm Voigt hinein gebracht wurde, führte das Tor sowieso ins Gefängnis.

Weder der Bürgermeister noch der Richter in Wronke hatten seinen richtigen Namen erfahren; als Karl Richard war er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden: nicht für den Einbruch ins Schützenhaus, den der Richter als groben Unfug betrachtete, wohl aber für den angeblichen Diebstahl, weil er das Fäßchen Bier auf die Wiese gerollt und angezapft hätte. Sich selber heraus zu reden, waren die anderen Aussagen eifrig gewesen, ihn zu belasten: sie hätten zwar mitgemacht aber er sei der Anstifter gewesen, von der Reputation seiner Weitgereistheit blieb vor dem Gericht in Wronke nur übrig, daß er als Landfremder verdächtig und dadurch geeignet war, ihm die Schuld aufzuwälzen.

Das Gefängnis in Posen lag abseits hinter einer hohen Allee, und es war sauberer dort als in Prenzlan; auch spürte Wilhelm Voigt nach dem ersten Schrecken den Unterschied gegen das Zuchthaus. Aber darum war ihm mit vierzig Jahren doch wieder alles aus den Händen gerissen, was er aus Riga mitgebracht hatte; und er war noch nicht demütig genug, das zu verschmerzen, wie in seiner schlimmsten »Sonnen«-Zeit galt er in Posen als aufsässig, wo ihn die Aufseher den wilden Böhm hießen, weil sie natürlich an seine Landfremdheit glaubten.

Bis ihm auch hier die Gewohnheit ihre Handschellen anlegte. Zwölf Monate sind bloß ein Jahr! tröstete ihn Einer namens Rallenberg, der sein Zellen-Nachbar war, beim Spaziergang, der hatte fünfzehn Monate gehabt, war ihm aber um vier Monate voraus und zählte an jedem Tag die Wochen und Stunden, die er noch königlich preußischer Kostgänger wäre. Er stammte aus der Stadt Posen und prahlte damit, daß sein eigener Vater Gerichtsschreiber wäre; seine beiden älteren Brüder hätten studiert!

Wilhelm Voigt mochte den dreisten Menschen nicht; und wenn er ihn auch nicht von Anfang an haßte wie später, so warnte ihn doch sein Gefühl gleich vor seiner frechen Vertraulichkeit. Er erinnerte ihn an die übermütige Schwägerin des Sattlermeisters in Wronke – die ihm zwar, wie man so sagt, ein Küßchen in Ehren gegeben, aber gegen ihn ausgesagt hatte – und durch sie an den Samuel Goldbaum; und eben diese Ähnlichkeit warnte ihn ebenso, wie sie es ihm unmöglich machte, nicht nur seinen Brombeeraugen, sondern seiner ganzen verführerischen Art zu widerstehen.

Im Anfang war es ihm außerdem recht, an dem flinken Kerlchen einen Genossen zu haben, der keine Frechheit gegen die Aufseher scheute. Wenn er nachts nicht schlief oder sonst Zeit zu grübeln hatte, konnte er auffahren vor Haß, daß ihm nach der redlichen Bemühung von zehn Jahren doch wieder die Schmach angetan wurde, im Gefängnis zu sitzen um einen blöden Spaß. Es gab nichts in der Welt, keinen Menschen und keine Einrichtung, an die sich sein Haß nicht hängte, wenn er an das Unrecht dieser Strafe dachte. Als der Rallenberg seine fünfzehn Monate um hatte, der ihm um vier voraus war, blieb für ihn noch ein Monat übrig; und es war nur wie für eine Reise, daß der Geschickte von ihm Abschied nahm. Wir machen bald ein richtiges Geschäft zusammen, lachte er mit seinen verführerischen Zähnen.

Wilhelm Voigt hatte noch Zeit genug, das zu überlegen; und jeden Tag, den der andere fort war, wurde es ihm gewisser, daß er nichts in der Welt so meiden müßte wie ihn. Sein Plan war übrigens gemacht, daß er in die biblische Lebensluft des Stefan Goldbaum zurück wollte, wohin er mit seinem Paß als Karl Richard gehörte und wohin er mit seiner Natur besser paßte als in die preußische Feldwebelordnung.

 

Der Rallenberg

Aber als Wilhelm Voigt am siebenten Juli morgens um zehn Uhr seinen Anzug und das Reifezeugnis – wie der Rallenberg sagte – auch den Lohn seiner Gefängnisarbeit empfangen hatte, als er gewitzigt von allen großen Gebärden aus dem eisernen Tor in die Allee trat, die von der Sonne durchleuchtet wie eine grüne Halle vor ihm lag, trat im Strohhut hinter einem Baum der Rallenberg heraus, der auf ihn gelauert hatte: wie ein Sonntagsspaziergänger gekleidet und mit einer rot gesprenkelten Nelke im Knopfloch. Wilhelm Voigt sackte der Schrecken in die Knie, und sein Gesicht war so unverhehlt, daß der Rallenberg hämisch lachte.

Jawohl, die Freunde von drinnen sieht man draußen nicht gern wieder! höhnte er und hatte eine gleiche Nelke bereit, sie ihm ins Knopfloch zu stecken, sodaß sie wirklich wie ein paar Spaziergänger aus der Allee heraus gegen die Stadt kamen. Wilhelm Voigt hatte stracks auf den Bahnhof gewollt, zunächst einmal nach Prag zu fahren, und es war ihm elend zumut, dem Kallenberg in die Hände gefallen zu sein, den er nicht abschütteln konnte.

Zuerst einen Frühschoppen nehmen! schlug der Freche vor; und er gab den Frühschoppen zu in der Hoffnung auf einen Vorwand, ihm zu entweichen. Sie nahmen ihn aber nicht in einer abseitigen Kneipe, sondern in einer Weinwirtschaft am Dom; und der Kallenberg ließ es sich nicht nehmen, ihn zu bezahlen. Wo ich doch meinen Freund wieder habe! zwinkerte er.

Bald fand Wilhelm Voigt freilich selber ein Vergnügen daran, so unvermutet hinter einer unvergitterten Scheibe zu sitzen und die Leute vorüber huschen zu sehen, Bürgerfrauen und Mädchen, die auf dem Markt gewesen waren, und auch schon Bauern, die mit den geleerten Körben heim fuhren. So einer hat manchmal ein schönes Stück Geld im Sack, das man ihm leicht abknöpfen könnte! kalkulierte der Kallenberg; und als zufällig ein Aufseher vom Gefängnis daher kam, der einen Augenblick durch die Scheiben hinein starrte, hob er höhnisch sein Glas, daß der da draußen, ihre Gesichter erkennend, sich mit einem Ruck abwandte.

Der muß nun wieder hinein durch das eiserne Tor; wir können gehen wohin wir wollen! grinste er hinter ihm her und stieß mit Wilhelm Voigt auf die Freiheit an.

Nachher hatte er schon eine passende Stellung für ihn in Aussicht bei einem Bekannten, der zwei Wirtschaften habe, eine mit Damenbedienung: Da könne er Geschäftsführer werden, wenn er eine Kaution stelle! Als Wilhelm Voigt das nicht angenehm war, wußte er wenigstens ein Zimmer für ihn, wo er das Weitere abwarten könne; und als er auch dazu den Kopf schüttelte, läuteten unversehens die Glocken zu Mittag. Wie wenn dies das selbstverständlichste in der Welt wäre, lud er ein und hörte auf keinen Widerspruch, mit ihm nach Hause zum Essen zu gehen: sie würden erwartet!

Der Gerichtsschreiber selber war freilich nicht daheim, als Wilhelm Voigt sich vor der Tür noch einmal vergeblich bemüht hatte, der unwillkommenen Einladung zu entgehen; aber der Tisch war tatsachlich für ihn mit gedeckt, und die Frau wartete schon mit der Suppe. Auch gab sie sich, freilich mit brennenden Augen, ebenso freundlich, wie die Beamtenwohnung behaglich war, sodaß Wilhelm Voigt schmerzlich an seine Rigaer Tage erinnert wurde.

Am Nachmittag mußte er noch den Dom und das alte Rathaus mit den Arkaden, auch das Denkmal der bei Nachod Gefallenen betrachten, als ob er auf einer Vergnügungsreise in Posen wäre; und schließlich nach einer Kahnfahrt auf der Warthe nahm er wenigstens für eine Woche das Zimmer an, weil es der Kallenberg, wie er ihm stirnrunzelnd gestand, schon voreilig gemietet hatte und es sonst bezahlen müßte. Es lag in dem Haus, wo unten die Wirtschaft mit Damenbedienung war, als eine öde Giebelkammer im dritten Stockwerk hinter dem Speicherraum.

Erst später erfuhr Wilhelm Voigt, daß er ihn sowohl bei seiner Mutter wie sonst durchaus nicht als Gefängnis- sondern als Reisebekanntschaft aus Riga ausgegeben hatte, die in einträglichen Geschäften unterwegs sei, sodaß er unbewußt noch einmal als Reputation gebraucht wurde. Auch an den nächsten Tagen ließ der andere nicht locker, ihm dienstbar zu sein, bis er sich zu seiner verdrießlichen Verwunderung damit abgefunden hatte, statt nach Prag zu fahren, vorläufig in Posen zu bleiben. Die angebliche Stellung als Geschäftsführer erhielt er zwar nicht, und andere Gänge waren ebenso nutzlos; auch die Bewerbungen, die er zu Inseraten einsandte, führten zu nichts. So kam er zuletzt doch dazu, sich an den Geschäften des Kallenberg zu beteiligen.

 

Das große Geschäft

Eincpaarmal machten sie kleine Händel, bei denen sie etwas verdienten und teilten; einmal besaßen sie sogar einen Wagen, mit dem sie Schuhzeug aus einem Konkurs aufs Land hinaus fuhren; und ein andermal hatte der Kallenberg einen Posten Leinwand an sich gebracht, wie zuletzt heraus kam, nicht gerade auf redliche Weise. Als das »Geschäftskapital«, in dem auch das Geld Wilhelm Voigts verronnen war, knapper wurde, wußte er ihn mit immer neuen Erwartungen und großartigen Plänen hin zu halten, bis die Sommertage sich in den Herbst gekürzt hatten und ihrem vergeudeten Licht immer mehr Dunkelheit zulegten, die Nächte lang zu machen.

Da merkte Wilhelm Voigt freilich, daß dieses Dasein in einen bösen Herbst führen mußte. Aber nun war er schon ohne Mittel und soweit in die Abhängigkeit geraten, daß ihn der Kallenberg herrischer als einmal der Samuel kommandierte. Der in allen Wassern Gewaschene kannte seine Erbitterung gegen die Behörden und wußte mit höhnischen Worten geschickt darin zu rühren, wenn er ihm widerstrebte. Und um ihn ganz willfährig zu machen, setzte er Jassy in sein großes Geschäft ein.

Als er ihm in einer Nacht – sie hatten lange in einer blöden Kneipe gehockt und gingen in einem trübseligen Mondschein hin und her über die Brücke, wo sie keiner belauschen konnte – die Einzelheiten flüsternd auseinander setzte, erschrak Wilhelm Voigt wie vor dem schwarzen Wasser; aber er wagte nicht gleich, ihn mit einem Nein zu reizen, und nachher ließ er seinen Widerstand schleifen.

Das große Geschäft aber war dies, daß sie eines Tages nach Wongrowitz fahren und nachts die Gerichtskasse ausheben wollten. Dort läge manchmal sträflich viel Geld, wie er von seinem Vater wüßte; und es wäre so leichtfertig untergebracht, daß sie es nur zu holen brauchten. Wenn sie das Geld hätten, könnten sie rasch über Gnesen und Powitz zur russischen Grenze. Er kenne die Gegend am Powitzer See genau, er habe da schon geschmuggelt: da krähe ihnen kein preußischer Hahn nach! Als er ihn gleich danach über Odessa und Jassy ausfragte, wußte der Geschickte genau, warum er das tat, und Wilhelm Voigt merkte die Absicht wohl; aber ihn hatten die verwahrlosten Wochen in Posen längst mürbe gemacht.

 

Die Gerichtskasse in Wongrowitz

Wie sie dann freilich eines Morgens nach Gnesen und dann mit einem neuen Billet nach Janowitz gefahren waren, von wo sie durch den regnerischen Oktobertag zu Fuß nach Wongrowitz gingen, statt den nächsten Weg von Posen mit der Bahn dahin zu fahren, als sie sich unauffällig alles gemerkt hatten, wie sie im Dunkeln am besten heran und nachher einzeln nach Janowitz kämen, mit dem Frühzug von dort gegen die Grenze zu fahren, und als sie endlich mit dem Glockenschlag zwölf aus dem verlassenen Gartenhaus, wo sie die Nacht abgewartet hatten, gegen das Gerichtsgebäude schlichen: wußte Wilhelm Voigt genau, in was für ein Verbrechen der Schleichweg führte.

Aber da wäre es schon Verrat gewesen, auszubrechen. Sie hatten jeder eine geladene Pistole in der Tasche; während sie im Dunkeln über einen Bach sprangen und Schritt für Schritt dem Gebäude näher tasteten, dessen Umriß sich kaum vom Himmel abhob, mußte er an die nächtlichen Schleichwege mit der Munition für die Litauer denken, die auch Rebellen waren wie sie gegen eine unrechte Ordnung; denn, wenn es nicht der Gerichtskasse gegolten hätte, er wäre dem Kallenberg kaum bei der Stange geblieben. Es ergab sich übrigens so, wie der gesagt hatte: sie kamen durch eine Luke ohne Schwierigkeiten in den Keller und von da über einen Gang und eine steinerne Treppe hinauf an die Tür der Kasse, neben der nachlässiger Weise ein unvergittertes Fenster war. Dort stiegen sie nacheinander in den dunklen Kassenraum ein, suchten im Schein der Blendlaterne den Schrank, der mit einer eisernen Leiste und einem Hängeschloß kaum besser als eine Gartentür verschlossen war, und fingen an zu feilen. Weil sie alles eingesalbt hatten, war das Geräusch nicht lauter, wie wenn Mäuse nagten; und nur einmal hätte einer aus dem Schlaf geweckt werden können, als Wilhelm Voigt bei einer zu hastigen Handreichung die Blendlaterne fallen ließ, die darüber ausging. Der Kallenberg zischte einen Fluch, dann lauschten sie lange, ob alles still blieb, bis er im Dunkeln weiter feilte.

Aber sie hatten nicht lange genug gelauscht; vielmehr, sie saßen von Anfang an in der Mausefalle und wußten es nicht. Indem die Frau des Hausmeisters nach einem Zorn mit ihrem Mann, der ihr zu spät aus der Wirtschaft heim gekommen war, im Dunkeln noch weinend am Fenster saß, hatte sie die Gestalten draußen anschleichen und gerade unter sich in den Keller verschwinden gesehen. Der trotz ihrem Zwist geweckte Hausmeister war auf den Strümpfen ins Gefängnis geschlichen, die beiden Aufseher zu holen, sowie den Gendarm aus seiner Dienstwohnung nebenan.

Sodaß genau zu der Zeit, wo die beiden drinnen die durchfeilte Stange abheben konnten, draußen Licht gemacht wurde. Der Kallenberg fluchte zum zweitenmal und riß seine Pistole heraus. Schießen, wenn sie die Tür aufmachen! kommandierte er flüsternd; aber Wilhelm Voigt stöhnte Nein und griff in der halben Beleuchtung, die durch das Gangfenster herein kam, nach seinem Arm, zuerst vor Schrecken, daß nun auch noch Blut über ihn käme. Aber dann, als sich der Kallenberg gegen ihn wehrte, brach der Haß gegen seinen Verführer aus ihm los, daß er den Wütenden, der mit der Pistole nach ihm schlug, mit beiden Armen erdrückte; denn er war der viel Stärkere.

So hatten die vier Beamten, als sie die Tür im Blendschein ihrer Laternen und mit vorgehaltenen Waffen öffneten, den unvermuteten Anblick, daß sich vor dem Geldschrank zwei Gestalten balgten. Hände hoch! schrie der Gendarm, obwohl der Kallenberg den Arm mit der Pistole schon notgedrungen in die Luft streckte. Und erst als Wilhelm Voigt einen harten Griff an seiner Gurgel spürte, ließ er ihn los, sinnlos um sich zu schlagen, bis er halb erstickt überwältigt wurde.

 

Gnesen

Zwei Tage lang saßen sie noch im Gefängnis zu Wongrowitz, in das sie durch den gewölbten Gang gleich hinüber gebracht worden waren; und als sie am dritten Tag nach Gnesen transportiert wurden, ging ihre Reise anders von statten, als der Kallenberg sie geplant hatte. Und bis die Sache am Schwurgericht zur Verhandlung kam, fand Wilhelm Voigt mehr Zeit, als er brauchte, die grausame Wendung seines Schicksals zu bedenken, seitdem er mit dem rindsledernen Koffer nach Potsdam reiste, der dort in dem Zimmer mit der Aussicht aufs Wasser als Hinterlassenschaft des spurlos verschwundenen Wilhelm Voigt stehen geblieben war.

Sein Verteidiger, den ihm das Gericht bestellt hatte, ein welker Mann, der sich stets mit der selben dicken Mappe abschleppte, erklärte ihm gleich, daß er sich auf eine hohe Strafe gefaßt machen müsse, weil sein Verbrechen sich mittelbar gegen den Staat gerichtet habe. Und was Wilhelm Voigt sagte, daß ihm mildernde Umstände zugebilligt werden könnten, weil er freiwillig auf den Gebrauch der Schußwaffe verzichtet und sogar den Kallenberg noch davon abgehalten hätte: das schrieb er wohl alles sorgfältig auf, aber die welken Falten auf seiner Stirn gingen darüber nicht fort. Ja, eben die Schußwaffe! sagte er.

Und als der Tag kam, an dem Wilhelm Voigt mit einundvierzig Jahren zum drittenmal auf der Angeklagtenbank saß – denn das eigenmächtige Urteil des Richters Lewald rechnete er nicht – als er den Eid der Zeugen und ihre Aussagen, die scharfen Zwischenfragen des Vorsitzenden und die schwachen Einwände seines Verteidigers angehört hatte, war er gewiß, daß der Staatsanwalt eine harte Strafe gegen den rückfälligen Zuchthäusler beantragen würde, der in dem vermeintlichen Karl Richard ans Licht gekommen war.

 

Der Staatsanwalt

Der Staatsanwalt war ein schwarzbärtiger Mann mit einem bleichen und durchfurchten Gesicht, der offenbar an Engbrüstigkeit litt; denn er holte seine Worte nur mit Mühe aus der keuchenden Brust. Zunächst sprach er von seinen Vorstrafen, wie er als Knabe schon einen Diebstahl begangen habe und in Berlin rasch unter die Räder der Großstadt geraten sei: Mit achtzehn Jahren ins Zuchthaus und mit dreißig entlassen. Niemand wisse, was er danach im Ausland getrieben habe, ehe er nach zehn Jahren in Wronke unter falschem Namen auftauchte, wieder ein Jahr Gefängnis zu ernten. Danach an einem verdächtigen Ort in Posen wohnend, habe er offenbar nicht das Leben eines redlichen Bürgers geführt, ehe er bei der Tat gefaßt worden sei, um deretwillen er hier auf der Angeklagtenbank in Gnesen sitze, sein gerechtes Urteil zu empfangen.

Das alles sagte der Staatsanwalt hart und grausam in den Saal hinein, Wilhelm Voigt zu vernichten; und dem Kallenberg nach ihm ging es schlimmer. Danach aber hob er die dünnen Hände mit einer Gebärde über die Angeklagten, als wollte er sie dennoch schützen. Das Urteil müsse unbarmherzig sein, setzte er von neuem an; wer aber zu seinem Bruder sage: Racha! der sei des Rats schuldig! Und mit einem Schlag verlor seine Stimme ihre Härte. Fast stehend sprach er davon, daß jeder Verbrecher von dem Dämon seiner Naturanlage besessen sei, und daß es keinem zustände, in Gottes Hände zu greifen, der dem Einzelnen Gnade oder Verdammnis von Anbeginn zugemessen habe!

Erst viel später erfuhr Wilhelm Voigt, daß der Staatsanwalt ein Sektierer war und bald danach als völlig geistesgestört in eine Anstalt kam; in diesem Augenblick hörte er jedes Wort zitternd an: wie alles mit Notwendigkeit über ihn gekommen wäre als das vorbestimmte Schicksal seiner Natur, von ihrem ersten Fehltritt an bis zum letzten in Wrongowitz, sodaß nach dem Recht eines Menschengerichts gefragt werden müsse, hier wie sonst zu strafen!

Als ob sie nicht im Gerichtssaal, sondern in einer Kirche säßen, waren die flehenden Worte des todbleichen Staatsanwaltes. Aber als Wilhelm Voigt schon glaubte, nie einen Fürsprecher wie diesen gefunden zu haben, geschah das Schreckliche, daß er die beiden Handflächen, die er schützend über sie gehalten hatte, mit einem Ruck hob und gegen sie streckte:

Geben wir Gott, was Gottes ist, und verdammen wir nicht mit hochmütigem Herzen! sagte er keuchend: aber dem Kaiser auch, was des Kaisers ist; und alles Menschengericht ist vom Kaiser gesetzt, die menschliche Ordnung zu schützen. Weil diese aus ihrer Natur Verbrecher sind und nicht anders können, als Unordnung stiften, schützen wir die Ordnung der Gesellschaft gegen sie, indem wir sie aus der Gemeinschaft entfernen; wie wir auch jenen Ärmeren tun, deren Geist völlig verirrt ist!

Und seine Worte waren wie Hammerschläge, als er fünfzehn Jahre Zuchthaus für jeden, und für den Kallenberg um anderer Dinge willen noch eine Zusatzstrafe beantragte.

Während die Geschworenen draußen berieten und kaum ein Flüstern im Saal war nach den schrecklichen Worten, saß Wilhelm Voigt auf der Angeklagtenbank da, als hätte er seine Grabrede anhören müssen; und als die Männer wieder herein kamen, durch ihre Gegenwart das Urteil als gerecht zu bestätigen, das der Vorsitzende im Namen des Königs verkündigte, nagelten die Worte seinen Sargdeckel zu.

 

Rawitsch

Am andern Tag schon, ehe das Urteil rechtskräftig war, wurden sie beide nach Rawitsch gebracht; und als sie dort zwischen den eisernen Torflügeln einfuhren, war es Wilhelm Voigt gewiß, daß er nicht mehr lebend hinaus käme. Denn diesmal stand die Rechnung zweiundvierzig und fünfzehn, und die Summe war siebenundfünfzig. Er kannte die Sterblichkeitsziffern genau, wie das Zuchthaus die Alten in jedem Frühjahr dahin raffte; diesmal war er dabei und konnte niemand anklagen als sich selber, der dem Kallenberg willenlos gefolgt war.

Die Rechnung der Jahre war so unerbittlich, daß Wilhelm Voigt auch sonst nicht mehr zu rechnen begann. Monate gingen hin, und der Frühling hatte mit seinen Stürmen an den Dächern gerissen, hatte schwarze Löcher in den Schnee geschmolzen und Blüten aus der nassen Erde gelockt, und es war Sommer gewesen, ehe er sich besann, daß dies, was er mit Nacht und Tag, Morgen und Abend, mit Arbeit, Essen und Schlaf, mit Kirche und Schule zu spüren bekam, immer noch sein Leben hieß, das er zu Ende bringen mußte.

Und ob ihm noch alles gleich war, wie einem Baum die Dinge um ihn herum gleich sind, daß er die Sonnenwärme in seinen Blättern und Blüten fühlt oder daß er im Nebel kahlästig friert: die Handschellen der Gewohnheit machten auch diesmal den Sträfling zurecht. Nach einem Jahr galt die Nummer 208 in Rawitsch das, was die Nummer 137 in Moabit gegolten hatte, weil sich seine Hände und Füße ohne Widerstand der Anstaltsordnung einfügten.

Jahr um Jahr ging es ihm so wie den Stachelgewächsen aus Mexiko, Kakteen geheißen, die man wegwerfen kann viele Jahre und mit der kärglichsten Pflege doch wieder zum Leben erwecken. Denn allen und ihm selber zum Staunen hielt seine Gesundheit es aus. So hohl in der Brust und gebeugt im Rücken, wie er aus der »Sonne« gekommen war, blieb er in Rawitsch auch: bis endlich nach vielen tausend Tagen im alten Jahrhundert und tausenden schon im neuen das Jahr 1906 den Februar brachte, an dem er doch wieder in das Leben der andern kam, die ihn mit zweiundvierzig Jahren hinaus gekehrt hatten und mit siebenundfünfzig wieder annehmen mußten.

 

Der Pfarrer Renner

Mit siebenundfünfzig Jahren ist Einer sowieso kein Springinsfeld mehr, und Wilhelm Voigt hatte achtundzwanzig Jahre davon hinter den Mauern gesessen, die an der Gesundheit doppelt zählen; aber darum war er doch noch kein alter Gaul, der unter der Polizei-Aufsicht sein Gnadenbrot suchte. Der biblische Tag in Jassy lockte ihn mehr als die preußische Feldwebelordnung; und seine Absicht war, nach der Entlassung noch einmal die Fahrt in das Land des Stefan Goldbaum zu wagen. Aber weder in Tilsit, seiner Heimatgemeinde, noch sonst, wo er durch die Direktion anfragen ließ, konnten die Behörden ihm als einem alten Zuchthäusler einen Paß geben. Ob es ihm recht war oder nicht, er mußte doch in der Heimat eine Stellung suchen; und dazu half ihm der Pfarrer in Rawitsch, den er am meisten mißachtet hatte.

Denn Wilhelm Voigt wollte auch mit dem Umweg über den Kirchenhimmel nicht Frieden mit der Zwangsanstalt machen, für die er die Hälfte von seinem Leben nur eine Nummer gewesen war. Und weil ihm der Pfarrer Renner mit der strengen Wortgläubigkeit kam, darin der Mann zu leben und zu sterben gewiß war, hatte er vor seinen Bekehrungversuchen zwar die Ohren an seinem geschorenen Zuchthauskopf nicht zumachen können, wohl aber die seines Trotzes: Behalte ich oben auch meine Nummer? Und was geschieht mit dem Juden Stefan Goldbaum im Christenhimmel? das waren so Fragen gewesen, mit denen sich Wilhelm Voigt an der falschen Tür rächte.

Eben der Pfarrer Renner aber war es, der ihm auf dem umständlichen Weg einer weiten Verwandtschaft doch zuletzt eine Stellung bei dem Hofschuhmacher Holbrecht in Wismar verschaffte. Dahin bekam er bei seiner Entlassung Papiere und auch die Arbeitserlaubnis.

 

Das Tor der Welt

Als diesmal das eiserne Tor hinter ihm mit der Lautlosigkeit zugemacht wurde, die das Geheimnis der Zuchthauspförtner ist, war es ein Wintertag, und keine Allee stand von der Sonne durchleuchtet als grüne Halle vor ihm, ihn in die Freiheit zu führen. Die hungrigen Krähen krächzten verdrossen, und der Weg in den Ort war durch Schneewehen geschaufelt, die von Tau und Frost glänzende Krusten hatten. Dafür saß, der in Posen auf ihn mit der gesprenkelten Nelke im Knopfloch gelauert hatte, immer noch hinter dem eisernen Tor.

Er nahm die Eisenbahn über Lissa und Bentschen und kam an dem Tag noch bis Frankfurt, wo er von Sonnenburg aus auch zuerst eingekehrt war; aber diesmal war ihm die Futterkiste in Wismar bestellt, und er brauchte keine Arbeit zu suchen. Er suchte das Wirtshaus, wo er vor vierzig Jahren auf seiner ersten Flucht übernachtet hatte, und wußte im Rauch und Lärm der Wirtsstube nicht, ob er lachte oder weinte, daß noch genau wie damals die Soldaten vor ihren Tellern und Gläsern saßen, bis der Zapfenstreich sie in die Kaserne rief.

Auch in Berlin, wo er sich aufhielt, zwischen Rawitsch und Wismar wenigstens drei Tage lang der Herr seiner Wege zu sein, ging er die alten Schritte; aber so selbstbewußt wie vor siebzehn Jahren, als er von Tilsit kam, setzte er seine frierenden Füße nicht; und er fragte auch keinen Schutzmann wie damals im Spaß, wo der Weg nach Moabit ginge? Die Späße sind mir vergangen! sagte er laut vor sich hin und blies in die Hände, weil er keine Handschuhe hatte.

Nur, als er den Fahrplan im Lehrter Bahnhof studierte, sah er, daß er am falschen Ort war; denn über Hamburg, wie er zu fahren gedachte, war es ein tüchtiger Umweg. Aber wie er den Namen las, der ihm seit dem Obermaat Heincke das Tor der Welt hieß, kam es ihm vor, als wäre sein Leben seit vierzig Jahren nur ein Umweg dahin gewesen; und es war keine Geistesstörung, daß er kurzerhand seine Fahrkarte nach Hamburg statt nach Wismar nahm. Sein Arbeitsgeld reichte noch für einige Zeit, und Platz im Kohlenraum eines Dampfers zu finden, schien ihm nicht schwer. Schlimmer als im Zuchthaus konnte es dort auch nicht sein; und wenn er erst drüben war, würde sich schon eine Klappe auftun, aus dem schwarzen Loch in die Freiheit zu kommen.

Indessen, als er am nächsten Tag in einem Heuerbüro den Versuch machte, wollte sein Unglück, daß er von der Hitze darin gegen die Kälte draußen einen Hustenanfall bekam, der aus seiner hohlen Brust verdächtiger klang, als er war. Er wurde kaum noch nach seinen Papieren gefragt und, als er keinen Paß zeigen konnte, mit einer Handbewegung entlassen.

Auch die Seeleute tranken wohl einen Grog mit ihm, aber sie lachten seinen Totenkopf aus mit ihren braunroten Backen. So strich er einen Tag lang an dem schwarzen kalten Wasser herum, sah die großmächtigen Leiber der Überseeschiffe im Nebel liegen und hörte die Zornrufe im Geschrei der Sirenen: aber das Tor der Welt ging ihm nicht mehr auf; und ob er sich noch einen Tag in Lübeck versäumte, er mußte zuletzt doch auf seinen angewiesenen Arbeitsplatz fahren. Und nur die Furcht davor hatte ihn umgetrieben, als er endlich an seinem siebenundfünfzigsten Geburtstag bei dem Hofschuhmacher Holbrecht in Wismar landete.

 

Der Hofschuhmacher

Es war schon gegen die Dunkelheit, als Wilhelm Voigt mit einem mahlenden Tauwetterwind im Rücken die Haustür aufmachte, so daß hinten die Hoftür krachend zuschlug. Durch den Lärm gerufen kam der alte Holbrecht aus dem Büro, das rechts von der Treppe lag, während es links in den Laden ging, und die Werkstatt befand sich hinter dem Büro im Hof. Weil unterdessen der 13. Februar war, hatte der Alte kaum noch auf ihn gewartet und schien ihn auf einen Kunden zu schätzen; denn er fragte nach seinen Wünschen.

Wilhelm Voigt stellte die Pappschachtel, mit der er diesmal gereist war, neben sich auf den Fliesenboden, holte seine Anstaltspapiere aus der Juchtentasche, die er immer noch hatte, und reichte sie schweigend hin.

So, so! sagte der Hofschuhmacher und machte die Tür zum Büro auf, wo sein Sohn mit der Schreibhilfe gerade dabei war, die Lampen anzustecken. So, so! wiederholte er drinnen und betrachtete die gebeugte Gestalt mit Sorgfalt: Ihr könnt es mit den Maschinen? Hier mein Sohn Albrecht wird Euch sein Teufelszeug zeigen. Sonst bin ich noch der Hausherr! Kommt also herauf, es wird unterdessen Kaffeezeit sein! Und während die beiden anderen auch die Flurlampen ansteckten, tappte er vor Wilhelm Voigt die Treppe hinauf. Luise! rief er oben in den noch dunklen Gang hinein: Mach Licht! Er ist da.

So, so! begann der Hofschuhmacher zum dritten Mal, als er den Ankömmling in der von einer Hängelampe behaglich erleuchteten Stube hatte, und gab ihm entschlossen die Hand: Hier ist mein Haus! Da hinauf kommt mir außer im Krieg keiner, er sei denn herzlich willkommen! Die kleine rundliche Frau tat ebenso, auch der Sohn, der darüber herein kam.

Als sie danach um den runden Tisch saßen und die Frau hatte den Kaffee eingeschenkt, gab es eine grausame Stille, weil Wilhelm Voigt zu wissen glaubte, was die drei nun dachten. Aber es war nur, weil der alte Holbrecht seine Worte überlegte, und die beiden andern warteten nach der Sitte.

So, so! Damit schienen alle Sätze bei ihm zu beginnen, und auch dieser, als er nun freimütig sagte: Hier an meinem Tisch muß reine Luft sein! Ich bin der Hofschuhmacher Holbrecht, das ist meine Frau Luise, geborene Haberschwend, und dies ist mein Sohn Albrecht! Ihr, Wilhelm Voigt, kommt aus dem Zuchthaus: das wissen wir vier um diesen Tisch; sonst geht es keinen was an! Pastor Renner hat mir aus Rawitsch geschrieben, Ihr wäret ein guter Maschinist und ordentlicher Mann. Was der Pastor mir, seinem halben Vetter schreibt, ist richtig; sonst schriebe ers nicht. Also Herr Voigt, hiermit ist Rawitsch zu Ende, und Wismar fängt an!

So freimütig wie seine Worte war auch sein Gesicht mit dem Seemannsbart, als er dem neuen Hausgenossen in die Augen sah, weder lächelnd noch finster, nur blank. Und als der Sohn, der nicht von seiner graublonden Art, sondern dunkel und flink wie die Mutter war, sogleich mit fachmännischen Fragen nach dieser und jener Maschine begann, nickte er mit gehobenem Zeigefinger dazu, wie wenn er sagen wollte: So ist es recht! Er sagte aber nur: So, so!

 

Der Lebensabend

Es war seit Riga zum ersten Mal, daß Wilhelm Voigt in einer Familie am Kaffeetisch saß; und wenn er dem nach gegeben hätte, was ihm da unten in der Herzgegend drängte, hätte er geheult; aber das Wort des alten Holbrecht verlangte Haltung.

Nachher zeigte ihm die flinke Frau sein Zimmer, das in einem absonderlichen Anbau über der Werkstatt lag und zwei Fensterchen nebst einer Tür auf das flache Dach hinaus hatte, wo man über den Hof in den Garten sah; durch den Kamin, der von der Werkstatt herauf kam, war es wohlig angewärmt. Wie bei den Gärtnersleuten in Erfurt! dachte Wilhelm Voigt, als ihm die Frau eine kleine Messinglampe angesteckt hatte: Das andere würde sie später richten!

Wie dieser Empfang war alles nachher freundlich und freimütig in dem Haus, wo der alte Holbrecht Hausherr war und Hofschuhmacher dazu; aber Albrecht der Sohn wollte Maschinen und eine Fabrik. Und das war der einzige Zwiespalt; denn der Alte traute dem neumodischen Teufelszeug nicht: Das Handwerk ist tausend Jahre und mehr ohne das freche Geklapper gegangen! sagte er dann: Indessen, wir fahren ja auch mit der Eisenbahn! Also man zu! Aber nicht umfallen!

Mit den Maschinen sah es freilich noch nicht viel besser aus als in Prag; manchmal mußte Wilhelm Voigt sogar an den Stefan Goldbaum denken, nur daß hier alles planmäßig geschah, daß die Werkstätte gut schließende Fenster hatte und einen sauberen Plattenboden. Richtig oder garnicht! war der Spruch der Alten, und der des Sohnes: Nur nichts schlecht und recht! Und weil sie bald merkten, daß ihr neuer Mitarbeiter eher pedantisch als fahrig war, obschon er den Kram gründlich kannte, kamen sie gut überein, was zu bedenken und was zu lassen wäre.

Als dann wieder ein Frühling seines eigenen Ungestüms Herr geworden war mit blauem Himmel und Blüten, mußte er oftmals denken, ob nicht der Umweg über Hamburg der letzte von seinen Irrwegen gewesen wäre? Es waren alles Dämonen! konnte er dann das Wort des Staatsanwalts wiederholen und alle Unheimlichkeit in seinem Leben darunter begreifen, das ihn aus der geträumten Seefahrerei hier in Wismar auf eine Art Insel geworfen hatte, seinen »Lebensabend« zu halten.

Dieses friedliche Wort hatte er aus einer Predigt in der Marienkirche heim gebracht, in die Wilhelm Voigt dem alten Holbrecht zu Liebe jeden Sonntag getreulich hinein ging, wie er auch zum Tischgebet die Hände mitfaltete. Nur selber zu beten, war freilich nicht seine Sache: Ich habe die Bekanntschaft eures göttlichen Vaters in meinem Dasein verfehlt! wehrte er einmal den Albrecht ab, als der ihn aufrichtig fragte.

 

Das Sparkassenbuch

Sonst lag Wismar zwar an der Ostsee, und es kamen auch Schiffe von Schweden und Rußland herein; aber es war weder ein Hafen wie Hamburg noch eine Stadt wie Riga. Und wenn sie zu Dreien Sonntag-Nachmittags am Ufer hingingen – denn die Frau blieb lieber zu Haus – mußte Wilhelm Voigt manchmal denken: es wäre Jassy an der Ostsee; nur daß hier sauber gepflasterte Straßen zwischen den Häusern und solide Dächer darauf waren. Auch stellte weder der Alte in seiner Haltung einen Stefan Goldbaum vor, noch sein Sohn Albrecht einen Samuel; der rechnete scharf wie der Vater und sah jeder Arbeit genau auf die Hände.

So hatte Wilhelm Voigt zwar keinen goldenen Boden des Handwerks gefunden, ja er half als Maschinist treulich, ihn zu durchlöchern; aber er fühlte sich doch im Schatten der alten Schuhmacherzunft wieder ehrlich gesprochen. Und als ihm der Albrecht eines Tages einen Messingring mit dem alten Zunftwappen zeigte, darauf ein Stiefel in rot und schwarz in gelbes Email eingelegt war, steckte er den zur Probe an seinen steif gewordenen Finger und war stolz, es zu dürfen.

Und nur darin war er doch wieder der Einsiedler von Erfurt geworden, daß er die übrigen Menschen in Wismar mied. Er tat seine Arbeit und ging am Abend allein spazieren – denn Überstunden gab es beim alten Holbrecht nicht – irgendwo über das Wasser hinaus in die wehende Weite zu blicken, wo die Bucht anfing. Wenn er einmal in ein Wirtshaus ging, saß er auch dort für sich allein, und die Kellner grüßten ihn freundlich, weil sie den Werkmeister vom alten Holbrecht kannten, der nun wirklich ein reputierlicher Mann in Wismar geworden war und als solcher sein Sparkassenbuch hatte. Denn als er seinen Lohn im Geschäft stehen lassen wollte, duldete der Hofschuhmacher das nicht: Ich ziehe Niemandens Rock an, sagte er, und ich brauche Niemandens Geld!

 

Der Schmetterling

Je mehr übrigens aus seiner Werkstatt die Fabrik seines Sohnes wurde, umsomehr setzte der alte Holbrecht die Schritte hinaus. Damit hing es zusammen, daß ihn die Bürger in den Rat der Stadt wählten. Vorher gab es in den Zeitungen und Flugblättern ein Für und wider seiner Person, nach dem er das Muster eines Bürgers oder das Schreckbild eines solchen vorstellte; und als er gewählt worden war, schloß sich eine Art Siegesfest im Bürgerverein an, zu dem er seine drei Tischgenossen mitbrachte.

So kam Wilhelm Voigt in eine Gesellschaft der Bürger, wie er sie nicht einmal in Riga erfahren hatte. Er hockte zwar abseits mit der Frau, die ihre schwarzen Augen ein wenig spöttisch umher springen ließ, und ihrem Sohn Albrecht, der schon den kommenden Fabrikanten zeigte, an einem der Nebentische unter der kleinen Estrade, indessen der alte Holbrecht am Ehrenplatz unter den Meistern saß; aber es kamen im Lauf des Abends fast alle an den Tisch herüber, der Frau ihren Glückwunsch zu bringen, sodaß für den fremden Werkmeister mancher Händedruck abfiel, der dem Alten nach diesem Abend freilich sehr verübelt wurde, Wilhelm Voigt aber eine echtere Reputation gab als damals in Obornik.

Der Hofschuhmacher hatte die strenge Gewohnheit, keinen Tag im Wirtshaus anzufangen. Diesmal schlugen die Glocken zwölf, als sie auf den Marktplatz kamen; und weil er mit seiner Frau Luise voraus gegangen war, fanden die beiden andern ihn, aus der dunklen Gasse in den hellen Mondschein tretend, mit dem Hut in der Hand, feierlich den Stundenschlag abzuwarten. Ihn nicht zu stören, zögerten sie, und um nachher wieder ins Gespräch zu kommen, fragte der Sohn in der Mitternacht auf dem Marktplatz: Ob dies nicht auch für den Hausgenossen ein schöner Abend gewesen wäre?

Es ist überall schön, wo man geachtet wird! sagte Wilhelm Voigt da; und weil er merkte, daß der andere die Antwort bedachte, gab er dem sonderbaren Gedanken Worte, der ihm noch einfiel: Er käme sich vor wie eine Raupe, die ihr eigenes Geäst kahl gefressen hätte; und er wäre in Wismar dabei, sich zu verspinnen!

Dann müßte eines Tages der Schmetterling ausfliegen! scherzte der junge Herr Albrecht; und über den Schmetterling mußten sie beide lachen.

 

Ausgewiesen aus Wismar

Aber auch diesmal saß der Teufel darin, der es Wilhelm Voigt immer gut gehen ließ, wenn er ihn holen wollte; am andern Morgen um neun Uhr war schon der Polizeidiener da: er müsse sofort aufs Polizei-Amt kommen! Er hatte gerade den Treibriemen zur Probe auf eine neue Maschine gelegt, und es hätte fast ein Unglück gegeben, weil er im Schrecken den Hebel los ließ. Als er hinein kam zu dem Beamten, lag ein Regierungs-Befehl da, der den preußischen Zuchthäusler ohne Angabe von Gründen aus Wismar wie Mecklenburg auswies.

So, so! polterte nachher der alte Holbrecht, diesmal auf stadträtliche Weise, und zog seinen Rock an, die neue Würde für seinen Hausgenossen einzusetzen. Aber nicht lange, so kam er mit rotem Kopf wieder: Die Zulassung wäre damals für einen preußischen Staatsangehörigen nur versehentlich erfolgt; nun müsse in Schwerin jemand unglücklicher Weise über die Akten gekommen sein. Die Stadt Wismar, auch ihr Bürgermeister, könnten in dieser Sache nichts machen, weil sie regierungsseitig verfügt worden sei.

Ihr werdet Euch drein schicken müssen! sagte er zuletzt ingrimmig und gestand Wilhelm Voigt, daß bei ihm schon dreimal nach seiner Führung angefragt worden wäre: Als ob gutes Wetter ein Loch in der Sohle kurieren könnte! kollerte er noch gänzlich konfus und hängte seinen Rock an den Nagel, die Schürze seiner Gewohnheit anzuziehen, ob schon er damit, einem Einfall folgend, wieder hinaus lief.

Wilhelm Voigt hatte zu alledem noch kein Wort gesagt außer der ersten Mitteilung, weil ihm die Wut auf das Herz drückte. Den Trostversuch des Sohnes mit einem dankbaren Blick abwehrend, ging er in sein Zimmer hinauf, seine geringen Sachen in die Pappschachtel zu tun, mit der er im Winter gekommen war und nun in den Sommer hinein abreisen mußte; denn er konnte nicht eine Nacht mehr unter dem Dach bleiben, darunter er sich noch am vergangenen Abend wohlgeachtet gefühlt hatte, um auch in Weimar durch einen Federstrich wieder der alte Zuchthäusler zu sein.

Der Stadtrat Holbrecht wollte mit ihm persönlich nach Schwerin fahren; das war es, weswegen er in der Schürze noch einmal hinaus lief, die zuständige Stelle in der Regierung genau zu erfahren. Aber Wilhelm Voigt schüttelte den grauen Kopf, als er am Mittagstisch zum letzten Mal die Hände gefaltet hatte, dem Alten zu Liebe. Ehe es rum ist in Wismar, möchte ich fort sein! sagte er: Ich habe an Erfurt genug! Und ob die guten Leute Holbrecht nicht wußten, was für eine Bewandtnis es mit Erfurt hatte, dies verstanden sie, daß er nicht länger bleiben mochte, und hielten ihn nicht. Daß sie ihn nicht gern ließen, sah Wilhelm Voigt dankbar genug.

Am Nachmittag gingen sie alle Drei mit zum Bahnhof: der Alte hatte dem Lohn ein Reisegeld zugelegt, die Frau Luise steckte ihm ein reichliches Päckchen Mundvorrat zu, und Albrecht der Sohn, schenkte ihm auf dem Bahnhof den Messingring mit dem Zunftwappen. So sah der Abschied nicht aus, als ob ein alter Zuchthäusler Wismar mit Schande verließe; aber darum war es doch so. Als ihm vor den nassen Augen der Frau Hofschuhmacher die Tränen in seinen Bart rannen, den er sich hochmutig hatte wachsen lassen, ließ er sie rinnen aus Rührung, und wußte doch, sie rannen vor Wut.

 

Der böhmische Himmel

Es war schon Sommer, als Wilhelm Voigt aus Wismar fuhr, und das Nachmittagslicht lag warm auf der zufriedenen Stadt. Er sah weder zurück noch hinaus, wo die Landschaft sich sonnte; er saß auf der Holzbank und hörte dem Gehack der Räder zu, wenn sie von einer Schiene zur andern sprangen; und so erbarmungslos, wie der eiserne Takt die Minuten zerhackte, hackte die Wut in seine Gedanken. Als er Schwerin rufen hörte, fuhr er auf, als müßte er sich an dieser Stadt rächen; und er haßte die Menschen, die fröhlich zu ihm herein kamen; den guten Tag, den sie ihm boten, gab er nicht wieder.

Bis Berlin fuhr er so; und als er da spät in der Nacht ankam, stapfte er mit seiner Pappschachtel quer durch bis zum Anhalter Bahnhof, den Frühzug nach Dresden und Prag abzuwarten; denn er wollte in Deutschland nicht mehr übernachten, und an der österreichischen Grenze, dies hatte er schon in Wismar erfahren, brauchte er keinen Paß mehr.

Er fuhr noch den ganzen Tag; und als er gegen Prag kam, war ein Gewitter gewesen. Die Sonne stach aus dem schwarzen aber ausgeleerten Gewölk mit Lanzen rot und gelb in den nassen Glanz des Abends, aus dem sich das Getürm der Stadt finster abhob. Das sieht komisch aus, akkurat wie die Hölle! sagte eine sächsische Frau, die von Dresden mitgefahren war, zu ihrer Nachbarin; und beide, die mit großen Augen in den verronnenen Aufruhr hinaus starrten, schrieen vor Schrecken, als Wilhelm Voigt aus seiner düsteren Stummheit lachte und seine Pappschachtel ans Fenster klatschte, ihnen die komische Hölle zu verdecken. Sie mochten ihn für verrückt halten, und er kam sich selber so vor nach dieser durchbrüteten Fahrt; aber die höhnische Lache hatte ihm Luft gemacht.

Es ist nur der böhmische Himmel! tröstete er die beiden mit einer Grimasse und stand auf, sich zu rüsten; denn schon fuhren sie über die Hetzinsel-Brücke, und zur Rechten hob sich der Hradschin.

 

Gebrüder Goldbaum A. G.

Wilhelm Voigt hatte in Prag die Brüder Goldbaum ansprechen wollen, aber vergessen, daß seit seiner Abreise mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen war. Statt der kleinen Fabrik fand er andern Tags unter ihrem Namen eine große in Alt-Lieben draußen; aber die gehörte längst einer Aktiengesellschaft. Die Brüder selber wären vor Jahren nach Breslau verzogen! sagte ihm ein Arbeiter, den er damals angelernt hatte, und der den Herrn Richard wieder erkannte, als er mit dem Werkmeister durch die klappernden Säle ging. Der Rechtskonsulent wäre längst gestorben, und seine Nichte, die Näherin, hätte trotz ihrem Buckel noch einen Schlesier geheiratet, mit dem sie in Teplitz ein Wäschegeschäft habe.

Dies alles erzählte ihm der ehemalige Lehrling, der in den Jahren ein schnauzbärtiger Mann geworden war, als er ihn für die Mittagsstunde in eine Wirtschaft eingeladen hatte. Der wußte auch sonst gut Bescheid, und daß sie in der Fabrik noch einige rechte Maschinisten suchten. Er versprach ihm, dem Werkmeister, mit dem er gut stände, einen Wink zu geben; als Wilhelm Voigt am Nachmittag sein Zeugnis aus Wismar zeigte, machte es sich tatsächlich, daß er zum andern Morgen bestellt wurde, obwohl es eine verwunderte Frage nach dem Namen gab.

So war es wie vor einem Vierteljahrhundert auch: Während Wilhelm Voigt am Abend durch das unveränderte Gewühl der inneren Gassen ging, hatte er schon wieder einen leisen Mut, seine Schritte unter die der anderen Menschen zu setzen; und irgendwo lockte Jassy.

Es wäre auch alles nach den Versicherungen des Werkmeisters gegangen, wenn er nicht am andern Morgen, wie in das Heuerbüro zu Hamburg, zuerst in die Direktion gemußt hätte. Auf der Tür stand zwar noch mit Metallettern: Gebrüder Goldbaum A. G.; aber statt ihrer saß da ein peinlich gekleideter Herr, der über den Kneifer hinweg nach seinen Ausweispapieren fragte, und ihm, der nichts als die Anstaltsbescheinigung aus Rawitsch mit dem Ausweis-Vermerk von Wismar vorzeigen konnte, das Zeugnis des Hofschuhmachers dazu mit einer abschätzigen Handbewegung wiedergab.

So ging der Prager Versuch rascher zu Ende als das Glück in Wismar. Aus der trotzigen Grübelei, darin Wilhelm Voigt noch einen Tag in Prag herum lief, wurde ihm Jassy immer unerreichbarer, zumal ihm der Nikolaus Zapp – er wußte nun den Namen des ehemaligen Lehrlings wieder – mitgeteilt hatte: seines Wissens hätten die Brüder Goldbaum damals eine große Sache in Breslau gemeinsam mit einem rumänischen Vetter geplant.

Um der blassen Hoffnung willen, mit der er sich an den Namen hing, tat er dann etwas Törichtes, indem er sich kurzerhand eine Fahrkarte nach Breslau kaufte. Denn als er in dieser wimmelnden Stadt ankam, gab es den Namen Goldbaum im Adreßbuch viele Mal, nur fand er die Brüder nicht und noch weniger ihren Vetter. Einer des Namens, der ein Kleidergeschäft hatte, meinte etwas von ihnen gehört zu haben; sie seien aber seines Wissens bald nach Berlin weiter verzogen.

 

Der Buchbinder Manz

In seiner Ratlosigkeit– denn Arbeit fand er in der wildfremden Stadt keine, und die Grenzkontrolle nach Lodz war scharf, wie ihm versichert wurde – fuhr Wilhelm Voigt aus einer nutzlos durchirrten Woche kleinlaut nach Berlin zurück, wo er die Brüder Goldbaum kaum noch suchte und sich schließlich auf den Rat und die Weisung eines Beamten im Polizeipräsidium, bei dem er trotzig um einen Paß eingetreten war, in seine Heimatgemeinde Tilsit zu fahren entschloß, wo man ihn aufnehmen müßte.

Wilhelm Voigt hatte den Zug schon nachgesehen, als ihm darüber die Schwester Elisabeth einfiel. In seinem verbissenen Trotz, daß ihm das Einwohner-Meldeamt seine Dienste nicht verweigern dürfte, ging er dorthin und hatte das Glück, einmal einen diensteifrigen Beamten zu finden, der nicht locker ließ, bis sie die Adresse in Rixdorf heraus gefunden hatten, wo die Schwester als wieder verheiratet mit dem Buchbinder Manz eine kleine Seifenhandlung betrieb.

Als wäre damit seine planlose Irrfahrt doch zu einem Ziel gekommen, fuhr er sofort hinaus, und es war auch so; denn als er die grau gewordene Schwester in der Tür auf den ersten Blick wiedererkannte, wie sie ihn im halben Zwielicht zweifelnd ansah, weil er sie mit dem Vornamen begrüßte: da war für eine Stunde alles Elend vergessen. Auch ihr Mann, der Buchbinder Manz, nahm den unvermuteten Schwager nicht unfreundlich auf. Er bezog um zweier abgeschnittenen Finger willen eine Unfallrente, und der Seifenhandel brachte ein Geringes ein; die Kinder waren längst groß, so hatten die beiden es, wie es Hunderttausende in der Stadt als ihr Glück priesen: sie halfen sich mit den Groschen durch, die von den Talern abfielen.

Sie besaßen ein Liegesofa, und für ein paar Tage war Wilhelm Voigt gut ausgehoben, der Schwager Manz, der den ganzen Tag mit der langen Pfeife herum ging – aber sie war meist kalt, und er zog es aus Sparsamkeit stundenlang hin, sie neu zu stopfen, riet auch zur Heimatgemeinde. Er war von der Partei und kannte die Schlagworte: Paß oder Arbeit! Er müsse den Tilsitern einfach ein Ultimatum stellen; denn da hatte er sein Armenrecht. Aber es wäre nicht, daß sie ihn los werden möchten! sagte er und reichte dem Schwager die unverstümmelte linke Hand hin, es zu bekräftigen.

Weil also Tilsit der einzige Ausweg schien, setzte sich Wilhelm Voigt am vierten Tag auf den Zug und hatte seit Rixdorf wieder Mut, zu scherzen: Ich könnte auch bald in Seife reisen, soviel bin ich jetzt auf der Bahn! sagte er der Schwester, die treu auf dem Bahnsteig stand und weinte. Und wieder bis in den andern Tag fuhr er in der vierten Klasse, wo sie wie in einer überfüllten Stube saßen, an den Umsteige-Stationen mit langen Aufenthalten die Schnellzüge abzuwarten, die auf den selben Schienen dahin sausten, auf denen sie von Bahnhof zu Bahnhof gerattert wurden.

 

Mit der Pappschachtel in Tilsit

Diesmal mit seiner Pappschachtel in Tilsit aussteigend, brauchte Wilhelm Voigt keinen Dienstmann zu rufen. Er gab sie bescheiden als Handgepäck ab, in der Stadt einen demütigeren Weg als damals suchend, denn sein Vater – dies hatte er schon in Wismar aus einem Brief der Schwester Luise erfahren, die in Köln verheiratet war und ihm nach dreißig Jahren zum ersten Mal schrieb – der Schuhmacher Adalbert Voigt war tot, und er wußte nicht, ob und wie er den Stiefbruder als seinen Nachfolger finden würde.

Der Stiefel war wieder neu vergoldet und ein großes Schaufenster in die Wand gerissen; daran aber stand in weißen Buchstaben, schräg über die Scheibe geschrieben, ein fremder Name. Denn auch der Stiefbruder war vor Jahren an der Schwindsucht gestorben, und von der Stiefmutter hieß es, sie ginge hausieren.

Erst am Abend fand er sie in einem ärmlichen Zimmer, das sie neben dem Stall zum »Litauer Krug« ebener Erde bewohnte, also da, wo er mit den Brüdern Knirr der Grafentochter die Streiche gespielt hatte, die nun in Riga der hilfreiche Rollstuhl hieß. Aus der stämmigen Person war ein verdrießliches altes Weib geworden, das mißtrauisch nach seinen Absichten schielte. Und als er am andern Morgen im Paßamt sein Ultimatum auspacken wollte, saß da ein Mensch mit einem Gesicht, als hätte er die Röteln, der ihn gähnend anhörte: Einen Paß bekäme er keinesfalls, und das Armenrecht würde ihm vorderhand bestritten. Er solle sich Arbeit suchen! sonst gäbe es Arbeitshäuser.

Es war das letzte Tor der gerüsteten Burg, das Wilhelm Voigt zugemacht wurde; und die drei Tage, die er in Tilsit herum irrte, machten ihm einen Strich unter sein verfehltes Leben, darunter er sich selber die Schlußsumme setzen konnte. Wo er seinen Namen zu nennen wagte, bekam er hinter der Mißachtung des alten Zuchthäuslers die besondere Verachtung seiner Landslente zu fühlen, daß er der Heimat die Schmach angetan hatte, hier wieder zu erscheinen. So verkehrte sich die hausbackene Weisheit des Buchbinders von seinem Anspruch an die Heimatgemeinde ins Gegenteil, daß er nirgendwo in der Welt weniger auftrumpfen konnte, als daheim, wo er den meisten, wie sie ihn merken ließen, nichts als ein alter Lump war.

Nach der dritten Nacht in der Herberge zur Heimat war er soweit gedemütigt, sich keine Weisheit mehr vor zu machen: Hier so verachtet bleiben, konnte er unmöglich, und irgendwo sonst zu sein ohne Paß war ihm verboten; noch einmal auf eigene Faust los zu gehen wie damals nach Jassy, war er zu alt: was ihm bleiben würde zuletzt, das sah er genau, war die Landstraße der Stromer; aber auch die war ihm versperrt, weil ihn jeder Gendarm aufgreifen konnte.

So kalt und klar war ihm dies alles, daß er die Schlußsumme unter den Strich zu setzen bereit wurde; und es kam wohl durch die Heimat, die noch jedesmal sein Blut aufgerührt hatte, daß ihm sein Lebensmut nach den freundlichen Tagen in Rixdorf bis auf einen kümmerlichen Rest absank, und in diesem Rest fand Wilhelm Voigt den Soldatenwurm wieder, der durch sein ganzes verschlissenes Dasein heimlich am Leben geblieben war.

Wasser und Strick waren verächtlich: aber ein Schuß gab ihm Satisfaktion! Um das halbverstandene Wort sammelte sich sein letzter Trotz, der Heimat den Rest zu geben.

Wider Erwarten konnte er sich ohne Waffenschein einen Revolver kaufen; und er war schon auf dem Kirchhof, am Grab der Mutter den Soldatentod auszuführen. Aber soviel er suchte, er fand es nicht mehr unter den andern verwahrlosten Gräbern. In der Wildheit darüber fiel ihm das freche Gesicht mit den Röteln ein und gab seiner fiebernden Rachsucht noch eine letzte Wendung. So feindlich wie dieses waren ihm die Gesichter der Behörden immer gewesen von dem blonden Spitzbart in Königsberg an: wenn er den Schlußpunkt machte, konnte es nur vor ihren Augen sein.

 

Die Verwandlung

So kam Wilhelm Voigt zum zweiten Male auf das Landratsamt, seine gehorsame Bitte um einen Paß – so hatte er sich selber die Worte vorgesagt – zu wiederholen; und er fühlte die Waffe in der linken Brusttasche. Aber der Schreiber mit dem Rötelgesicht hörte seine Erklärung, daß er sich vergeblich um Arbeit bemüht habe, gelangweilt an. Er stände unter Polizei-Aufsicht und hätte keinen Anspruch auf einen Paß! verfügte er und drehte ihm wieder die Schulter zu; denn er hatte sich nur im Sitzen halb nach dem lästigen Fragesteller umgewandt.

Als Wilhelm Voigt den Vorsteher verlangte und es dreimal lauter sagen mußte, ehe der Schreiber sein Gesicht vom Papier hob, wurde die hintere Tür aufgestoßen und der Gerufene erschien, die Feder noch rasch hinters Ohr steckend. Es war, wie Wilhelm Voigt erwartet hatte, der altere Knirr, der seine Stimme erkannt haben mochte.

So, man ist wieder einmal heraus und macht die Heimat unsicher! höhnte er, und vor seinem Gesicht wußte Wilhelm Voigt, daß er nun am Ende war. Eine rote Wut, wie er sie keinmal in seinem Leben gefühlt hatte, jachterte in ihm hoch; und als seine zitternde Hand an das Metall in der Brusttasche faßte, wollte er bei dem höhnischen Knirr anfangen, Schluß zu machen.

In diesem Augenblick ging die Tür hinter ihm mit einem krächzenden Laut auf, und Wilhelm Voigt in seiner Sinnlosigkeit meinte, der Gendarm von Prenzlau käme herein, ihn zu verhaften. Aber der Gendarm hinkte, und er war es garnicht, sondern ein Hauptmann der Infanterie – also wohl vom Bezirkskommando – der auch ein Anliegen auf dem Paßamt hatte. Er hätte ebenso gut ein Zauberer sein können; denn wo Wilhelm Voigt gerade noch die frechen Gesichter der Behörde angegrinst hatten, waren mit einem Schlag zwei mechanische Kleiderstöcke. Herr Hauptmann wünschen? fragte der ältere Knirr wie ein Ladenjüngling, und der mit den Röteln war aufgesprungen, die Hacken zusammen klappend.

Wilhelm Voigt brauchte viele Sekunden, ehe er sich in die Verwandlung fand, die aus dem Augenschein in ihn selber übergegangen war; aber schon, als auch er die Hacken zusammen klappte, war der Teufel in ihn gefahren, aus dem danach der Hauptmann von Köpenick kam.

Zu Befehl! sagte er laut und vollführte die großartigste Handbewegung, die er je dem Tanzmeister in Riga nachgemacht hatte, legte die knochigen Finger salutierend an seinen alten Hut und verließ das Lokal.

Er wußte draußen lange nicht, wie er aus seiner Wut und Wildheit zu dieser verrückten Besinnung gekommen war; aber schon auf dem Weg zur Herberge, wo er seine Pappschachtel holen wollte, ging die Heiterkeit über den Plan mit, der vor den Strammgestalten auf dem Paßamt buchstäblich in ihn hinein geplatzt war. Ich werde der Bande den Hauptmann spielen! sagte er immerzu; und wenn auch der Uniformladen in Potsdam vorläufig das einzige Sichere war, der alte Zuchthäusler Wilhelm Voigt war des Weiteren so gewiß wie ein Dichter in der ersten Eingebung eines Planes der Vollendung am sichersten ist.

Als er dann aus der verrückten Heiterkeit seiner Schritte an den Unsinn seines Soldatentodes zurück dachte, fühlte er den harten Revolver in der Brusttasche wie einen unerträglichen Rest seiner letzten Knabentorheit; und es war schon der erste Schritt seiner Verwandlung, daß er sich kurzerhand Linksschwenktmarsch! kommandierte, in den Waffenladen zurück zu gelangen.

Ich bringe den gekauften Revolver ungebraucht wieder und erbitte mein Geld zurück! sagte er drinnen mit einer militärischen Handbewegung an den Hutrand und legte das schwarze Ding auf die Theke.

Wieso? stotterte der schwarzbebrillte Mann und straffte seinen Nacken gegen die Zumutung.

Aber Wilhelm Voigt hatte sich schon auf seine bürgerliche Lebensstellung zurück besonnen; er ließ die Hand vom Hut, beide Hände gemächlich in die Hosentaschen zu vergraben.

Sie wissen, daß ich der entlassene Zuchthäusler Wilhelm Voigt bin und unter Polizei-Aufsicht stehe: Sie durften mir das Ding ohne Waffenschein nicht verkaufen! sagte er breitbeinig und lächelte so dreist in die zornige Verlegenheit des Waffenhändlers, daß der sich an den Hinterkopf faßte, dann aber verächtlich den Bleistift aus der Brusttasche nahm, die Rückzahlung zu notieren.

Danke verbindlichst! Nichts für ungut! quittierte Wilhelm Voigt mit vollendeter Höflichkeit, indem er das mit schweigendem Grimm aufgezählte Geld von dem grünen Tuch einstrich, legte die Hand an den Hutrand und verließ den Laden als Sieger.

 

Potsdam

Am zweiten Abend danach war Wilhelm Voigt schon wieder in Rixdorf, wo er noch einmal eine Nacht unterkroch und von seinen Erlebnissen erzählte, was ihm gut schien. Er mochte dem Schwager so wenig betrübt über den Mißerfolg seines Ultimatums scheinen, daß er zuletzt die Pfeife aus dem zahnlückigen Mund ließ und ihn fragte, ob er denn sonst Aussichten habe, daß er so aufgeräumt sei? Vorläufig nicht! sagte Wilhelm Voigt. Er habe nur bei sich selber aufgeräumt, und sie sollten ihn lassen! Er würde die Sache schon schmeißen!

Am andern Morgen nahm er die Bahn nach Potsdam. Er wolle da einmal nach seinem Lederkoffer forschen! schützte er vor, aber als er nachher in einem leichten Sprühregen an dem Geschäft vorüber ging, wo immer noch alte und neue Uniformen durcheinander im Schaufenster standen, war die Grundlage seines Planes, sich mit Hilfe dieses Kleiderhändlers den verweigerten Paß zu holen und zugleich an den Behörden zu rächen, gesichert.

Immerhin schien es ihm richtig, nach seinem Lederkoffer zu forschen, den er freilich nach so langer Zeit unmöglich wieder finden konnte. Er erkannte auch bald das Haus, in dem er gewohnt hatte; denn Potsdam war wenig verändert. Nur die Leute von damals waren längst fort, und die neuen wurden mißtrauisch über seine sonderbare Frage, daß er vor siebzehn Jahren einen Lederkoffer zurück gelassen habe, den er jetzt holen wollte.

Futsch ist futsch! sagte Wilhelm Voigt übermütig und ging zu einem Barbier, sich Bart und Haar scheeren und einen sauberen Scheitel ziehen zu lassen; durch einen langen Blick in den Spiegel seiner Erscheinung vergewissert, trat er nachher bei dem Kleiderhändler ein, der des Königs Röcke feil hielt. Er bedürfe, sagte er zu dem Mann, der sich über einen erheblichen Bauch verbeugte, für eine Liebhaber-Aufführung einer Hauptmanns-Uniform des ersten Garderegiments zu Fuß mit Helm, Mütze, Mantel und Degen: ob er die bei ihm leihen könnte?

Leihen nicht, nur kaufen! sagte der dicke Mann mit einem bedauernden Blick seiner sanften Augen: Er habe zu schlechte Erfahrung mit der Verleihung gemacht.

Aber er kaufe sie später wieder zurück? fragte Wilhelm Voigt, und als der Kleiderhändler: Gewiß, zu einem angemessenen Preis je nach dem Gebrauch! bestätigte, sagte er kurz, gewissermaßen seine Vertraulichkeit abwehrend: Nun gut! und machte den Preis aus, ein gutes Stück abhandelnd. Dann ließ er zur Vorsicht Brustumfang, Ärmel und Hosenlänge, auch die Kopfweite messen, bezahlte das gewünschte Pfand von fünf Mark und wünschte hochmütig, daß die Sachen in spätestens zwei Tagen bereit lägen.

Weil es darüber Mittag geworden war, ging er in eine Soldaten-Wirtschaft, sich wieder nach einem Lieblingswort des Kallenberg an das Milieu zu gewöhnen. Während er aß und schon ganz als Hauptmann im Zivil seinen beherrschten Blick über die lauten Esser schweifen ließ, überschlug er in Hinsicht auf den Kleiderhandler sein in Wismar gespartes Geld, das durch die Reisen zusammen geschmolzen war. Bleibt verdammt wenig Kriegskasse übrig! registrierte er: aber ich werde die Sache schon schmeißen! weil das nun sein Lieblingswort war.

 

Der Landsmann

Als er am Abend nach Rixdorf kam, waren die beiden fiebrig vor Ungeduld: Es wäre ja doch eine Stelle ausgeschrieben als Maschinist in einer Schuhfabrik, nicht weit vom Schlesischen Bahnhof! sagte der Buchbinder und zeigte es ihm in der Zeitung.

Wilhelm Voigt hatte nicht viel Vertrauen, als er sich am Sonntag Morgen aufmachte, und ging nur hin, nichts zu versäumen. Aber seitdem er das Glück nicht mehr brauchte, hängte es sich an ihn, indem er zufällig mit dem Direktor zugleich die Treppe hinauf wollte. Dem war es augenscheinlich sonntäglich zu Mut, und er rauchte seine Frühstückszigarre.

Wohin, Landsmann? fragte er und war wirklich aus Königsberg. Als ihm Wilhelm Voigt sagte, warum und wieso er die Treppe hinauf wollte, juckte es den gut gelaunten Herrn, der eine blaue Wolke nach der andern in die Luft blies, mit technischen Fragen eine Art Prüfung anzustellen; denn er war selber mit allen Maschinen bekannt. Die Prüfung konnte nicht schlecht ausfallen, weil er aus den Katalogen in Wismar auch über die letzten Neuheiten Bescheid wußte. Als der Direktor das Zeugnis des Hofschuhmachers gelesen hatte, bekam Wilhelm Voigt die Stellung stehenden Fußes und konnte sich nur mit einer erstaunten Verbeugung bedanken, indessen der andere, das Zeugnis in der Hand und die Arie aus dem Don Juan pfeifend, die Stufen vollends hinaufging.

Aber der Paß? fragte nachher die Schwester in Rixdorf, und der Buchbinder, der gerade einen mächtigen Fidibus angeflammt hatte, die Pfeife in Brand zu bringen, wobei er den ganzen Arm ausstrecken mußte, nickte über seine Brille dazu. Wenn ich einen Paß brauche: den kriege ich auch noch! prahlte Wilhelm Voigt und trat das brennende Papier aus, das der Schwager fallen ließ, sich die Finger nicht zu verbrennen.

Die Stelle, als er sie am Montag früh antrat, seine Kriegskasse aufzurunden, war keine große, aber gut eingerichtete Fabrik, und er bekam eine verbesserte Absatzaufbau-Maschine zu bedienen. Weil der Direktor das Zeugnis schon hatte, fragte keiner mehr nach den Papieren; auch in der Herberge zur Heimat genügte es, daß er sich einschrieb.

Er hätte also, als er von Wismar kam, blos in Berlin zu bleiben brauchen, dann wären die ärgerlichen Reisen nach Prag, Breslau und Tilsit unnötig gewesen. Wenigstens sagte ihm das die Schwester, als sie nach vierzehn Tagen auf einem Sonntagnachmittags-Ausflug zu Dreien in einer Gartenwirtschaft zu Treptow saßen. Er aber, der sich schon lange über das Schicksal wunderte, wie es ihm seinen Plan doch wieder verstellte, er nahm einen langen Schluck aus dem Bierglas, wischte den Schaum mit der Hand ab und strich über seinen Wismarer Vollbart, auf den er stolz war: Du kannst nicht anders mit der Bahn fahren, als die Schienen gelegt sind, philosophierte er und fügte nach einer Weile drohend hinzu: Aber wenn sie mir wieder die Weichen verstellen, passiert etwas mit der Lokomotive!

Die Schwester sah ihn darauf hin erschrocken an mit ihren ermatteten Augen, und der Buchbinder zog eine Stirnfalte. Wilhelm Voigt winkte ihnen angenzwinkernd ab, und es hörte sich prahlerisch an, als er sagte: Ein Räuberhauptmann werde ich darum noch nicht.

 

Der Polizei-Kommissar in Rixdorf

Unterdessen hatte die Schwester gefunden, daß ihrem Bruder der oberste Knopf nur noch mit einem Faden am Rock hinge, und daß überhaupt die Herberge zur Heimat kein Quartier für ihn wäre. Und wie sie darüber ins Gespräch kamen, mußte Wilhelm Voigt ihr gestehen, daß ihn der Herbergsvater wiederholt gemahnt hatte: es ginge nicht auf die Dauer, daß er im Verdienst stünde und noch in der Herberge hause, die für die Zureisenden da sei! Wenn er sich aber irgendwo anmelden müsse, so käme gleich die alte Geschichte mit seinen Papieren!

Am Ende meinte der Buchbinder: in Rixdorf wäre das nicht so schlimm, weil sie den Polizei-Kommissar kennten. Sie beispielsweise hätten Platz genug und könnten sich die Miete so gut wie andere an ihm verdienen: billiger für ihn wäre es auch!

Das fanden sie alle Drei einen guten Vorschlag, und Wilhelm Voigt bat um die Erlaubnis, dafür dem Herrn Schwager noch ein Glas Bier bestellen zu dürfen, mit dem der dann wiederum auf den Herrn Mieter anstieß, und daß er seine Miete pünktlich bezahle!

Weil der Abend noch lang genug war, fuhr Wilhelm Voigt von Treptow gleich in die Stadt, seine Habseligkeiten in der Pappschachtel zu holen. So wohnte er von dem Sonntag an als Schlafbursche bei dem Buchbinder Manz; und fuhr jeden Morgen hinein in die Fabrik, mit all den vielen, die es lebenslang nicht anders hatten. Die Anmeldung bei der Polizei besorgte die Schwester gleich am andern Vormittag. Wilhelm Voigt sollte auch da zwar Papiere beibringen; aber weil sie danach nichts mehr hörten, schien ihnen der Fall in die Akten geraten.

Nach einiger Zeit indessen wurde er selber vorgeladen und mußte sich dafür zwei Stunden Urlaub in der Fabrik nehmen. Der Kommissar, der nie schimpfte – wie die Schwester rühmte – bot ihm sogar einen Stuhl an: Es wäre Bericht gekommen, daß er aus Mecklenburg ausgewiesen sei, und Rixdorf hieße nicht seine Heimatgemeinde! bemerkte er beiläufig, wahrend er gemächlich alles auf einen vorgedruckten Bogen schrieb, was Wilhelm Voigt ihm auf seine Fragen zur Antwort gab.

Als er sich auf seine feste Arbeitsstellung berief und daß sein Schwager wie die Schwester unbescholtene Leute waren, zuckte der weißköpfige Kommissar zwar mit den Achseln, aber weil er nichts Gegenteiliges dazu bemerkte, konnte Wilhelm Voigt sich mit einer von seinen Verbeugungen verabschieden und meinen, die Lokomotive sei nun im Schuppen. Daß sich alles so dauerhaft einlief, und daß er sogar in Heiratsgedanken hinein genötigt wurde, war ihm garnicht so recht, wie er ein Gesicht dazu machte; denn schließlich hatte er seine Fünf Mark auf ein anderes Schicksal anbezahlt und den Kleiderhändler sowieso durch eine Postkarte mit unleserlicher Unterschrift um Aufschub ersuchen müssen.

 

Heiratsgedanken

Schon ehe Wilhelm Voigt zu seiner Schwester gegangen war, hatte er dort eine Nachbarin getroffen, die auf dem selben Gang wohnte und mit ihrem glatten Scheitel ordentlich aussah. Seitdem war sie abends manchmal da und hörte dem Gespräch der Männer zu. Weil der Buchbinder außer dem Unglück mit seinen Fingern nicht viel erlebt hatte, machte es sich meist, daß Wilhelm Voigt von seinen Reisen erzählte, deren Anlässe er freilich überging. Wie das nicht anders sein konnte, kam es auch hier, daß er seine Rolle als Weltreisender spielte und darin der Frau Römer – so hieß die Nachbarin, die zwar einen sechsjährigen Knaben, aber keinen Vater dazu hatte – mit seiner langen Figur interessant wurde; denn sie selber war mehr in die Breite geraten.

Auch war sie ihm dankbar, daß er ihrem Knaben dann und wann etwas mitbrachte, ihn auf den Knien reiten ließ und vom Soldatenleben erzählte. Weil die Schwester fand, daß dies die beste Umsteigstation für Wilhelm Voigt wäre, mochte zwischen den Nachbarinnen etwas verhandelt worden sein, was ihn zwar anging, wo er aber der Beglückte sein sollte, indem die Frau Römer ihn heiratete, ihrem Knaben einen Vater und ihm einen Hausstand zu verschaffen. Denn auf sein Junggesellentum schob die Schwester zum mindesten alles Unglück, was seit Obornik über ihn gekommen war.

Wilhelm Voigt fühlte sich zwar als das Opfer einer von ihm nicht erbetenen Fürsorge; aber als die Schwester an einem Sonntag Vormittag meinte: er müsse der Nachbarin endlich seinen Besuch machen! zog er seinen Rock an und ging hinüber, wo sie schon im Sonntagsstaat auf ihn wartete, und auch der Knabe war sauber hergerichtet, was gegen seinen sonstigen Zustand auffiel. Denn weil die Frau Römer eine Stellung als Packerin in einem Schuhgeschäft hatte, von der sie erst abends zurück kam, sollte die Schwester Elisabeth zwar ein Auge auf ihn haben; aber der Knabe Edmund war mehr auf dem Hof und der Straße aufgewachsen als unter ihrer Obhut, und es war merkwürdig genug, daß er sich überhaupt immer wieder einfand.

Wie die Drei an diesem Sonntag vormittag dasaßen, konnte Wilhelm Voigt auch nicht anders, als sein Talent zur Feierlichkeit spielen lassen. Es gab zwar weder eine Aussprache noch eine Anfrage; das schöne Wetter, die Welt heutzutage und die lästige Umsteigerei auf der Stadtbahn mußten für das Gespräch herhalten, soweit es nicht der Knabe Edmund für sich beanspruchte. Aber seit dem Tag sprach die Schwester von der Frau Römer als seiner Braut, und er, der schließlich den Besuch gemacht und sonst keinen Grund hatte, der ordentlichen Person mißfällig zu sein, ließ es geschehen.

Zwar, wenn er sich ausdachte, daß er mit seinen siebenundfünfzig Jahren nun eines Tages auf das Standesamt gehen sollte, das Aufgebot zu bestellen, konnte er sich wohl die Worte setzen, die er dabei sprechen würde; aber es war nicht nur dies, daß dann die Schwierigkeiten mit seinen Papieren bestimmt wieder anfangen würden, auch nicht, daß er seine Vergangenheit preis geben müßte, von der die Frau Römer nur soviel erfahren hatte, ihren unehelichen Knaben aufzuwiegen: sondern hinter all diesen vernünftigen Dingen stand auch noch die unvernünftige Furcht, die ihn in Riga vor der Schwester Elsbeth befallen hatte.

Wenn er trotzdem die Dinge gleichmütig laufen ließ, war es andererseits nicht nur die Hoffnung, daß ihn die Behörde um dieser Heirat willen endlich in Ruhe lassen würde – er brachte den Weg zur Fabrik hin und zurück damit zu, sich die dahin zielenden Unterredungen mit dem Polizei-Kommissar Wort für Wort auszubauen – sondern auch die Gelassenheit, mit der er seit Tilsit dem Schicksal gewachsen war.

So fühlte sich der alte Zuchthäusler Wilhelm Voigt in diesem Herbst wirklich am Scheideweg, soweit er die Sage noch aus der Realschule kannte; und darin kam er sich dem Herkules sogar überlegen vor, daß ihm der eine Weg nicht gut und der andere nicht böse schien. So oder so: er war bereit, sein Recht aus der Hand der Behörde feierlich zu empfangen oder es sich zu verschaffen. Daß er Furcht vor dem einen, Lust zu dem andern hatte, war die alte Schalkheit seiner Natur.


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