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Prenzlau in der Uckermark ist keine gerüstete Burg, und das Wappen der Stadt zeigt einen Adler über dem Schwan, der noch fliehen will vor den ausgebreiteten Krallen. Aber der Adler in silbernem Feld trägt ein Visier, und der Schwan rauscht vergeblich, weil die Unentrinnbarkeit über ihm ist.
Als der Gendarm auf dem Postamt in Prenzlau den Tag ins Notizbuch schrieb, da er den Schuhmachergesellen und Postfälscher Wilhelm Voigt aus Tilsit auf frischer Tat faßte, war es der dreizehnte Februar 1867 und also gerade sein achtzehnter Geburtstag; als im Jahre 1906 der entlassene Zuchthäusler nach Wismar kam, mit siebenundfünfzig Jahren bei dem Hofschuhmacher Holbrecht den Werktag des redlichen Handwerks zum letzten Mal zu versuchen, war es der gleiche Tag, und von den neununddreißig Jahren seitdem hatte Wilhelm Voigt achtundzwanzig im Zuchthaus und eins im Gefängnis gesessen.
Solange er damals in Untersuchungshaft war, machte er sich keine schlimme Sorgen; er dachte, es würde wie bei dem Richter Lewald in Tilsit werden: eine Zeit lang Gefängnis, dann käme er wieder hinaus und könnte sein Leben anders anfangen. Ja, als der Winter in eine grausame Kälte zurück fiel, ging es ihm wie den alten Stromern, die zufrieden sind, ein warmes Gefängnis zu haben, bis die Sonne im Frühjahr die Straßen trocken scheint.
Es dauerte lange, ehe sie bei der Post überall Umfrage gehalten hatten, und als er über den äußeren Hof zur Verhandlung gebracht wurde, sah er schon grüne Knospen; auch schien ihm die Sonne auf der Angeklagtenbank warm in die Hände.
Diesmal war es ein Schwurgericht, und es ging feierlicher zu als bei dem Richter Lewald. Weil er geständig war und alles genau angegeben hatte, dauerte die Verhandlung nicht lange: der kleine Staatsanwalt mit dem braunen Bart, dem sein Ring in der Sonne funkelte, wenn er die Hand hob, sagte ihm jede Schande; und der vom Gericht bestellte Verteidiger sprach von den Verführungen der Großstadt; die Geschworenen hörten sich alles, wie es Wilhelm Voigt schien, mit der gleichen Gelassenheit an.
Als sie für kurze Zeit hinaus gegangen waren und wieder herein kamen, setzte der Richter seinen Kneifer auf und las das Urteil vor, wie der Direktor in der Oberrealschule die Schlußrede gehalten hatte; und die Männer am Tisch hörten den Worten mit gesenkten Köpfen zu: wegen schwerer Urkundenfälschung mit betrügerischer Absicht in wiederholten Fällen wurde der Schuhmachergeselle Wilhelm Voigt aus Tilsit zu zehn Iahren Zuchthaus und fünfzehnhundert Talern Geldstrafe oder zwei weiteren Jahren, im ganzen zwölf Jahren Zuchthaus unter Ablehnung mildernder Umstände verurteilt. Er mußte erklären, ob er die Strafe annähme; und weil ihm der Verteidiger traurig zunickte, tat er das. Dann bekam er noch im Gerichtsgebäude Handschellen an und wurde in seine Zelle zurück gebracht.
So, nun ist das Vierteldutzend voll! lachte der mit dem Karabiner vergnügt, weil ihm die Fahrt eine Abwechslung war: Nächste Woche gehts auf die Reise nach Moabit!
Durch das Wort fiel Wilhelm Voigt der Lehrer Heinrich ein, mit dem er von Stettin nach Berlin gereist war; aber seine Unerfahrenheit merkte immer noch nicht,wer dessen Schüler waren. Seine einzige Rechnung in diesen Tagen hieß: achtzehn und zwölf sind dreißig Jahre; und mit der Addition war sein Leben verspielt.
Moabit
Am neunzehnten April wurden sie bei grausamer Kälte im Wagen nach Angermünd gebracht, zu Dreien mit Handschellen an eine Kette geschlossen; außer Wilhelm Voigt ein kümmerlicher Kärner, der wegen Blutschande an seiner Tochter bestraft war, und ein Metzger, der im Streit Einen abgestochen hatte. Nach einer Herberge brauchten sie abends nicht zu suchen, weil das Gefängnis Zellen für sie bereit hielt; und am andern Morgen fuhren sie zu Fünfen mit der Bahn nach Berlin, indem noch zwei Brüder aus Angermünde angehakt waren, die als Brandstifter ins Zuchthaus kamen.
Vor dem Stettiner Bahnhof stand der Gefangenen- Wagen bereit. Wilhelm Voigt konnte noch einmal einen Blick über den Platz tun, wo sich Wagen und Menschen durcheinander drängten und nur ein paar Neugierige um ihre Verladung sammelten. Dann klappte die Tür für zwölf Jahre zu; denn in Moabit fuhren sie gleich in den Hof und wurden die steinerne Treppe hinauf in die Aufnahmezelle abgeliefert, wo ein Beamter mit einem stichelhaarigen Kopf die Personalien aufnahm.
Nachher kamen sie in ein heißes Bad und kriegten den Schädel kahl geschoren, wurden gewogen und mußten nackt über den Flur einzeln hinein zum Arzt, der sie untersuchte und den Befund in die Akten nahm. Und erst, als sie eingekleidet waren, was mit allerlei Umstand auf einem mörderlich kalten Boden geschah, merkte Wilhelm Voigt, daß sie ihm mehr als die Kleider vom Leib genommen hatten, daß er aus dem verlaufenen Schustergesell der Zuchthäusler Nummer 137 geworden war.
Weil ihm keiner etwas zu Leide tat, nur daß er schweigend gehorchen oder auf Befehl antworten mußte, war er an diesem ersten Tag und auch an den Tagen danach noch nicht verzweifelt. Es kam ihm alles nicht schlimmer vor als in einer Kaserne auch, und er sah seine Zelle zuerst als einen Unterschlupf an. Sie schien ihm so groß wie die Kammer beim Schwintowski auch, in der sie zu Vieren schlafen gemußt hatten; und daß er durch den Schacht hinter dem Fenstergitter nur ein ausgeschnittenes Stück Himmel sah, kannte er schon aus dem Gefängnis. Als ihm die erste Brotsuppe durch die Klappe herein gereicht wurde, ließ er sich die schmecken und fand, daß eigentlich nur der Name Zuchthaus so schrecklich klang. Besser jedenfalls als in dem üblen Gefängnis zu Prenzlau schlief er die erste Nacht in Moabit.
Nach der Morgensuppe andern Tags ließ der Aufseher, der zwinkernden Auges seine Zelle prüfte und zufrieden schien, den Werkmeister herein mit einem Stuhlsitz und Rohr, ihn zu flechten. Der ältliche Mann hatte einen Hinkfuß, und die Hände hingen ihm schwer an den langen Armen; er sah Wilhelm Voigt aus seinem Fuchsgesicht gutmütig an und zeigte ihm, wie er das Rohr durch die Löcher ziehen und fest machen müßte. Erst gibt es wunde Finger, nachher sind sie hart! spöttelte er: wenn du es lange genug machst, kriegst du Hufe! Er redete aber solche Witze den ganzen Tag; und wer ihn lange genug kannte, für den waren es immer die selben.
Trotzdem er ihm sagte, daß er drei Monate lang als Lehrling geführt würde, erst nachher müßten täglich drei Sitze fertig sein, gab sich Wilhelm Voigt eifrig daran; denn die Arbeit war ihm nie lästig gewesen. Erst wurden es lauter gespannte Saiten, die auch solchen Ton gaben, dann Quadrate, und nachher fing das Muster an, achteckig zu werden. So vertieft war er bald in die ungewohnte Beschäftigung seiner Finger, daß er vom ersten Sitz ein gutes Stück fertig hatte, als der Aufseher herein kam, den Spaziergang anzukündigen.
Der Spaziergang
Der Aufseher Leukard, dem er als Insasse der Zelle 137 auf dem mittleren Zellengang ausgeliefert war, hatte aus Nervosität die Gewohnheit, mit den Augen zu zwinkern, obwohl er meist verdrießlich war. So dachte Wilhelm Voigt zuerst, er wolle mit seinen Anweisungen nur einen Scherz machen, tat aber alles, wie er ihm geheißen hatte: als es nach einigen Minuten draußen schellte, hängte er seine Zellennummer um und setzte die blaue Kappe auf, aus der eine Maske vor dem Gesicht herunter hing, damit keiner den andern kenne. Als dann aufgeschlossen wurde, trat er hinaus auf den Gang, wo sie links schon warteten, während sie rechts erst Stück um Stück aus den Zellen kamen, wie der Aufseher sie öffnete. Erst, als alle bereit standen, kam ein Kommando, und sie mußten im Abstand ihrer Zellen zur Treppe gehen. Da es keine Wände gab, konnte Wilhelm Voigt den sonderbaren Umstand betrachten, wie sie in den selben blauen Masken, im gleichen Abstand und schweigend, den hallenden Raum mit dem Geklapper ihrer Schritte füllten.
Unten im Hof führte ein Gang zwischen Mauern in einen Turm, der inwendig eine eiserne Wendeltreppe und rundum schmale Türen hatte: außer dem Eingang, durch den sie gekommen waren, genau zwanzig. In jeder verschwand nacheinander eine der Masken, und hinter jeder wurde die Tür verschlossen. Als Wilhelm Voigt durch die seine hinaus kam, liefen rechts und links hohe Mauern keilförmig anseinander bis zur vorderen Wand, die aus übermannshohen Eisenstäben gemacht war.
Wilhelm Voigt stand zuerst erschrocken in dem Käfig; aber nicht lange, so rief eine Stimme von oben: Spazieren! und als er hinauf sah, winkte ein anderer Aufseher da, daß er den Wanden entlang die ausgetretene Spur auf den Steinen ablaufen müßte. Er tat, wie ihm geheißen war, und begriff erst allmählich, daß zwischen den Eisenstäben und der grauen Mauer dahinter ein äußerer Kreisgang war, in welchem ein Soldat mit dem Gewehr um sie alle herum ging. Allein der Aufseher oben auf der Plattform sah das sonderbare Uhrwerk schnurren, das er für eine Stunde aufgedreht hatte, wo die Wache um die zwanzig eingekeilten Rundläufe herum ihren Kreislauf machte; sie da unten hörten nur in dem eigenen Schritt auf dem Pflaster das Geklapper der anderen herüber und den gewichtigen Tritt der Wache, wenn die auf ihrem Kreislauf an ihrem Abschnitt vorüber kam.
Als es schellte, trat Wilhelm Voigt dem Wink des Aufsehers gehorchend zur Tür, die in der Reihenfolge aufgeschlossen wurde; dann ging die schweigsame Prozession von neuem an, bis sie oben vor ihren Zellen standen, Maske für Maske, und auch so wieder eingesperrt wurden.
Danach bis zum Mittagessen mußte er noch arbeiten aber nun war es nicht mehr wie vorher; und die Figuren an seinem Stuhlsitz zeigten ihm das System des Zuchthauses an, in das er seine Freiheit einflechten mußte. Jedes Achteck war ein Spaziergang, und er rechnete sich aus, daß es in zwölf Jahren viertausenddreiundachtzig Achtecke würden. Da sah er freilich, daß es in Wirklichkeit ein Zuchthaus war, darin er als Nummer 137 eingesperrt saß, keine Kaserne mit Späßen, Flüchen und Pferdegetrappel.
Sonntag
Auch zur Kirche wurden sie so am Sonntag-Morgen geführt. Jeder mußte in seinen Kasten hinein, wo er die andern nicht sah, nur den Pfarrer unter den frommen Wandsprüchen, die schlecht zu den schußbereiten Karabinern rechts und links vom Altar paßten.
Die Einzelhaft ist dazu da, daß du dein Verbrechen bedenkst und bereust! stand auf einem bedruckten Zettel, den ihm jemand in die Zelle gelegt hatte, als Wilhelm Voigt aus der Kirche zurück kam. Aber an diesem ersten Sonntag bereute er nichts, als daß er in Prenzlau so unvorsichtig gewesen war, der Behörde in die Hände zu fallen.
Er mußte auf einem Anstaltsbriefbogen einen Bericht nach Tilsit schreiben und brachte den ganzen Nachmittag hin, die richtigen Sätze zu finden, weil er wußte, daß alles in der Direktion gelesen wurde, scheute er sich, mehr als die äußeren Umstände mitzuteilen; und auch von denen sagte er nur, was sie zu Hause sowieso erfahren würden, sich immer mehr gegen den Zwang verstockend. Als seine Finger danach keine Beschäftigung mehr hatten, war er ganz seinen Gedanken preis gegeben; bis in die Nacht lag er wach in Wut und Haß und verzweifelt, zwölf Jahre lang gleich einem Tier eingesperrt bleiben zu müssen.
Alte Bekannte
Aber am Montag Morgen gleich nach der Morgensuppe wurde Wilhelm Voigt aus der Zelle geholt und allein die Treppe hinab durch den vorderen Gang in einen Raum geführt, wo rund an den Wänden bis zur Decke hinab Bücher standen, von seiner Leiter kam ein kleiner Mann herunter, der von einem Stoß Bücher erst den Staub abblies, ehe er sich zu ihm wandte, nicht weniger erstaunt als Wilhelm Voigt, seinen Reisegenossen wieder zu finden; denn es war der Lehrer Heinrich aus Moabit, der ihn sogleich erkannte. Und nun erfuhr er endlich, wer dessen Schüler waren.
Sobald bist du zu uns gekommen? sagte der Lehrer freundlich und gab ihm die Hand, was seit der Verhaftung keiner mehr getan hatte, zog ihn dann vor ans Licht, sein Gesicht genau zu betrachten, während der Aufseher Leukard nach seiner Pflicht an der Tür stand und leise mit den Schlüsseln rasselte, als wollte er an sein Dasein erinnern. Er aber mit seinem Hängebart, der wirklich wie der Onkel Patzig aussah und auch eine Stahlbrille hatte wie der, winkte begütigend ab: Wir sind alte Bekannte, scherzte er lächelnd, und müssen uns erst begrüßen! Dann erklärte er Wilhelm Voigt, daß er von heute an jeden Tag zwei Stunden lang in seinen Unterricht kommen müsse: Der da würde ihm schon den Schulweg zeigen! gab ihm noch einmal die Hand und sah ihn durch die Brille an, wie wenn sie ein Vergnügen abgesprochen hätten.
Als Wilhelm Voigt von dem Leukard, der dem Gespräch verdrießlich zugehört hatte, obwohl seine Zwinkeraugen immerfort zu lächeln schienen, in die Zelle zurück gebracht worden war, konnte er die Finger lange nicht an die Flechtarbeit bringen; und als er es tat, schämte er sich nicht mehr, daß ihm die Tränen darauf tropften. Wie damals in Tilsit war ihm zumut, als ihm das gütige Fräulein von Perkuhn für seine Bosheit das Blut abwusch.
Wieder in der Schule
Auch im Schulsaal saßen sie, wie in der Kirche, in Kästen, so daß der Lehrer vorn auf der Estrade sie alle im Auge hatte, sie aber sahen nur ihn, doch hörte Wilhelm Voigt wenigstens die anderen Stimmen, und es schien ihm lange unwirklich, wie sie aus der Unsichtbarkeit kamen. Rauhe Stimmen waren darunter und gelle; und er konnte sich die Gesichter dazu denken, die alle mit den Augen auf den Lehrer Heinrich, seine Stahlbrille und seinen Hängebart sahen.
Die erste Stunde war Rechnen; und wer die Aufgabe gelöst hatte, durfte die Lösung ungefragt sagen. Wilhelm Voigt war bald mit dabei; und als er zum ersten Mal seine Stimme in dem Raum hörte, nickte ihm die Brille sogleich zu.
Nachher kam eine Stunde Geschichte. Wie Einer auf der Ofenbank etwas erzählt, was er gehört hat, fing der Lehrer Heinrich vom Schneidergesellen Derfflinger an; aber er sagte nicht, dann und dann wurde er Feldmarschall und tat dies und das, sondern er schilderte das Warum der Zeit und fragte die Schüler in den Kästen nach ihrer Meinung. Auch konnte keine Frage oder Antwort so töricht sein, daß er sie nicht annahm.
Manchmal saß er ganz unwissend da; aber Wilhelm Voigt merkte bald seine List, sie bei der Stange zu halten. Als die Stunde vorüber war, wußte er genau, welcher Art die Menschen damals waren, und hatte Bilder im Kopf, wie kläglich sie nach dem großen Krieg erst wieder anfangen mußten, das Land zu bestellen, Häuser zu bauen und Vieh aufzuziehen.
Auf diese Weise kam Wilhelm Voigt mit achtzehn Jahren wieder in die Schule, wo seine Mitschüler freilich nach den Stimmen älter waren. Er hatte nachher in seiner Zelle den Kopf so voll, daß es für den ganzen Tag reichte; und als er erst eine Woche lang in den Unterricht gegangen war, hatte das Zuchthaus seinen ersten Schrecken doch wieder verloren. Ja, er kam mit seiner späten Lernerei unversehens in einen Eifer hinein wie damals in Tilsit mit den bunten Heften; und diesmal sorgte der Lehrer Heinrich, daß er von seinem Eifer Nutzen hatte.
Der Geschichtsforscher
Da der Lehrer auch die Bibliothek verwaltete, bekam Wilhelm Voigt von ihm Bücher in die Zelle; und gleich das erste, was er ihm aussuchte, waren die ›Biographischen Denkmale‹ von Varnhagen von Ense, weil darin eine Abhandlung über den alten Derfflinger stand. Seit seinen Indianerheften hatte Wilhelm Voigt kaum noch in einem Buch gelesen, und er kam zuerst gar nicht mit den Sätzen zurecht, die ihm viel zu gelehrt waren. Aber in der Zelle konnte er nicht das Buch liegen lassen und pfeifend in die Dragonerkaserne hinüber schlendern. Das Buch wartete geduldig, bis er es in einer leeren Stunde doch wieder aufschlug; auch war der Ehrgeiz, vor dem Lehrer Heinrich als guter Schüler zu gelten, ein steter Treiber: so kam der Tag, wo er den alten Derfflinger und schließlich auch noch den Leopold von Anhalt-Dessau im selben Band ausgelesen hatte.
So sah er nun freilich, daß dies andere Helden und Verhältnisse waren, als die in seinen Heften, von denen keiner wissen konnte, ob sie überhaupt jemals gelebt hatten; dies aber war alles durch die Gelehrten erforscht und bewiesen. Wenigstens glaubte er das noch im Anfang, bis er mit der Zeit klüger wurde und merkte, wie es auch unter den Gelehrten verschiedene Ansichten gäbe. Als sein geduldiger Lehrer erst sicher war, daß er das Buch wirklich gelesen hatte, gab er ihm auch noch den andern Band, darin der abenteuerliche König Theodor von Korsika schon eher ein Held aus seinen Heften war.
Weil Wilhelm Voigt mehr von den Verhältnissen zu wissen begehrte, bekam er danach Schlossers Weltgeschichte in die Hand, zuerst den dreizehnten Band und später andere. Er merkte aber bald, daß ihm die übrigen Völker gleichgültig waren, und der Lehrer Heinrich merkte es auch: nur für die preußische Geschichte kam er über die Mühen des Anfangs in einen Feuereifer, so daß er mit der Zeit ziemlich alles las, was darüber in der Bibliothek war, und für das Gespött der andern der königlich preußische Geschichteforscher wurde, wie ihn eines Tages in der Klasse Einer aus seinem Kasten heraus genannt hatte.
Denn im Unterricht galt das Schweigegebot nicht; da waren sie keine Trappisten, wie die selbe Stimme sagte, die das von dem Geschichtsforscher aufgebracht hatte. Der Mann, dem die scharfe Stimme gehörte, war übrigens ein Professor, dem mit den Mädchen seiner Klasse böse Dinge ausgekommen waren. Denn mit der Zeit halfen die Wände und Masken und Kasten nichts gegen Listen und Schliche: nach einem halben Jahr wußte Wilhelm Voigt genau, wer seine Mitschüler waren, und kannte die Gesichter zu den Stimmen.
Ein Geschichtsforscher wurde er über den vielen Büchern zwar nicht, aber er wußte in der preußischen Geschichte zuletzt besser Bescheid, als sonst Einer in der Klasse. Und das Wort des Lehrers Heinrich: Bekümmere dich nur um was Rechtes, so wirst du von selber ein Rechter! bewährte sich an ihm, daß er sich mit dem Zuchthaus immer besser abfand. Als ihn eines Tages wieder Einer aus seinem Kasten verhöhnte: er schiene dem Staat für seine Zwangserziehung noch dankbar zu sein! sagte er garnicht den Ohren des Lehrers zuliebe, daß er allerdings zufrieden wäre, noch etwas Vernünftiges gelernt zu haben!
Darüber wurde er freilich aus allen Kasten zugleich ausgelacht; und der Lehrer Heinrich nach seiner Art, auch den schnödesten Redensarten Stand zu halten, konnte nur noch mit der Hand dem Gelächter wehren, als der Professor höhnte: Jawohl, du sitzt feste drin in der gerüsteten Burg, weil das eins von den Lieblingsworten Wilhelm Voigts war.
Besuch
Das aber war schon im zweiten Jahr; unterdessen waren andere Dinge geschehen, und das erste war gewesen, daß die Tante Knörke in die Besuchsstunde kam. Gerade sie wiederzusehen war keine Freude für Wilhelm Voigt; aber er mußte in den Sprechraum hinunter, wo sie ihn vor den Ohren des Aufsehers als die Schande der Familie begrüßte, wie er nachher von der Schwester erfuhr, war sie von der Mutter geschickt worden, ihn zu trösten; aber das Wasser ihrer Rechtschaffenheit kam ins Kochen, als sie den ungeratenen Neffen sah. Wenn der Beamte nicht dabei gewesen wäre, hätte der Regenschirm, ohne den sie niemals ausging, an den Trost glauben müssen.
An dem Tag war Wilhelm Voigt dankbar für den Riegel an seiner Zellentür; aber die Tante hatte sich zur Pflicht gemacht, es dem Herrn Neffen ordentlich zu geben. So oft Besuchstag war, belehrte sie ihn, was ein redlicher Mensch über einen solchen Galgenstrick denken müsse, und was für eine Schmach es in einer anständigen Familie wäre, jemanden im Zuchthaus zu haben! Bis sie über eine Reise nach Köln das Vergnügen an ihrer Gewohnheit verlor und nicht wiederkam.
Gegen Ende des zweiten Jahres hatte Wilhelm Voigt endlich andern Besuch. Seine Schwester Elisabeth war mit ihrem Brecht nach Berlin gezogen. Dem war auch die Landwirtschaft nicht bekommen, und er hatte durch Fürsprache einen kleinen Posten bei der Verwaltung. Wie sie einander vor Augen traten, war die Schwester eine richtige Frau geworden. Sie weinte über ihren Bruder in der Zuchthauskleidung so, daß Wilhelm Voigt es war, der sie trösten mußte. So oft sie danach von den beiden Kindern fort konnte, kam sie wieder; aber sie lernten nicht miteinander sprechen vor fremden Ohren, weil sie es vordem auch nicht gekonnt hatten.
Die Mutter
Im dritten Frühjahr seiner Strafe war die Mutter bei der Schwester zu Besuch, und sie machte die mühsame Reise nur, um nach ihrem Sohn zu sehen; denn von Anbeginn hatte sie ihm kein böses Wort, nur Liebes geschrieben. Wilhelm Voigt wußte natürlich den Tag und die Stunde vorher und zitterte darauf seit Wochen. Als ihn der zwinkernde Leukard zu ihr hinein ließ, saß sie da auf der Bank neben dem Fenster und er erschrak, wie klein sie geworden war. Sie reichte ihm ohne ein Wort die hart gearbeitete Hand hin, und er sah die Thränen auf das schwarze Kleid tropfen, die ihr wie Quellen über das schmale Gesicht rannen; aber es war kein Herzeleid, nur Rührung, wie sie ihn sah, und Glück, daß sie ihn hatte.
Machen sie dir auch alles recht? fragte sie nachher und meinte seine Strümpfe und die Wäsche. Und wäre nicht lieber zu ihm gewesen, wenn sie ihn noch bei dem Schwintowski oder sonst getroffen hätte. Nur Wilhelm Voigt schnürte es den Hals zu, daß er ihr so wenig zu sagen wußte wie der Schwester; aber diesmal lag es nicht an den fremden Ohren. Denn seine Geschichtsforscherei und alles sonst, darin er sich wichtig geworden war, stand mit leeren Händen vor ihrer Liebe, die er versäumt hatte vor und nach dem Morgen, da der Bauer sie und die Schwester Luise nach Tilsit zurück auf dem Wagen mitnahm.
Zwischen Rahmen und Glas seines Spiegels hatte Wilhelm Voigt seit dem vergangenen Frühjahr das Federchen eines Hähers, wie es eines Tages zufällig im Flechtrohr hing. Wenn er in einem Buch las, diente ihm das blau gefiederte Ding als Lesezeichen, bis es wieder an seinen Ort kam; aber heimlich war es ihm mehr: In allen Büchern stand vorn der Stempel der Anstalt, sie gehörten damit zum Inventar wie der Schemel und das Werkzeug; wo aber das Federchen lag, nahm er von etwas Besitz, das nicht gestempelt werden konnte. Als ihm nach dem Besuch der Mutter das dreiste Ding vor die nassen Augen kam, wußte er nicht, was er tat, daß seine Finger die Feder zerbrachen und das Gefieder zerrieben. Der Lehrer Heinrich selber brachte die Mutter in die Stadt zurück, ihrem Mutterherzen Gutes von ihm zu sagen; und er war ihm dankbar dafür. Aber sie blieb noch eine Woche in Berlin und durfte nicht noch einmal kommen; sie reiste nach Tilsit zurück und konnte ihm keinen Abschied sagen. Daß er dennoch ein Zuchthäusler war, daran änderte sein Geschichtseifer nicht das geringste: seit dem Besuch der Mutter hatte die Schule für ihn das bunte Gefieder verloren, und der Anstaltsstempel war wieder sichtbar geworden.
Die Brüder vom Rauhen Haus
Schon um Weihnachten wußte Wilhelm Voigt, daß die Einzelhaft durch ein Gesetz in Preußen auf drei Jahre beschränkt worden wäre und daß er mit dem Frühjahr in die »Sonne« käme, wie unter den Insassen die Strafanstalt in Sonnenburg hieß. Nach allem, was er davon hörte – und er bekam im dritten Jahr mehr zu hören, als in der Hausordnung stand – hatte er keinen Grund, sich darauf zu freuen. Der Direktor dort, hieß es, war als Straßenjunge 1813 mit der Armee nach Frankreich gelaufen und hatte sich von der Trommel in die Höhe gedient, war aber eine bösartige Kröte geblieben.
Trotzdem wartete Wilhelm Voigt mit Ungeduld auf den Tag, für den ihm die Versetzung sicher war, weil er mit seinen drei Jahren genug von der Einzelhaft hatte. Zwar die Kappe mit der blauen Maske, das Uhrwerk um den Spazierturm, die Kästen in der Kirche und Schule waren ihm längst zur Gewohnheit geworden, aber das Einerlei der Zelle hörte im Arbeitssaal auf, und daß es überhaupt eine Änderung gab, genügte ihm schon.
Ehe es soweit war, hatte er zwei Gespräche darüber, die er lange bedachte: eins mit dem Aufseher Leukard und das andere mit dem Lehrer Heinrich. Der verdrießliche Leukard war gut auf ihn zu sprechen weil er ihm keine Streiche spielte, wie es die andern taten; und einmal am Abend zeigte er blinzelnd auf das Plakat an der Wand: Wir sind durch die Hausordnung da mit dem Rücken aneinander gebunden! sagte er bitter. So können wir beide die Beine nicht gebrauchen, ohne überzwerch hin zu fallen. Aber du kommst wieder hinaus, ehe du alt und verschlissen bist; ich kriege für dich nur einen andern!
Und der Lehrer Heinrich kam eines Tages zu ihm in die Zelle, angeblich, um ihm ein Buch über die Reformation im Kurfürstentum Brandenburg zu bringen, das nicht vorhanden gewesen war; er machte aber einen langen Besuch daraus.
Jetzt wirst du bald in eine andere Schule versetzt! scherzte er durch die Brille und setzte sich auf den Tisch, mit den kurzen Beinen zu baumeln, damit Wilhelm Voigt seinen Schemel zur Arbeit behielte, vorher wirst du noch einen Preis für Fleiß und gutes Betragen kriegen. Aber wir vom »Rauhen Haus« sind nicht in der »Sonne«!
Weil Wilhelm Voigt merkte, daß er ein Gespräch haben wollte, fragte er vorlaut, ob sie jeden ins »Rauhe Haus« nähmen, und ob der Aufseher Leukard auch aus ihrer Brüderschaft wäre?
Dann hätte er nicht solch einen schweren Schritt! belehrte ihn der Lehrer Heinrich kopfschüttelnd und sah durch seine Stahlbrille den flinken Fingern zu, die noch immer keine Hufe geworden waren, wie der Werkmeister prophezeit hatte. Und als er ihm das verdrießliche Wort des Aufsehers wiederholte, zog er seinen Hängebart durch die Linke, was er immer tat, wenn er nachdenklich wurde: Dienst ist das schönste, wenn man ihn will, und das böseste, wenn man ihn muß. Alle Müsser sind traurige Menschen!
Wir im Zuchthaus müssen alles und jedes! trotzte Wilhelm Voigt da und stellte den fertigen Stuhlsitz härter auf den Boden als nötig war.
Der Lehrer sah ihn eine schweigende Weile herausfordernd durch die Gläser an und nickte nachträglich zu dem Wort: Darum seid ihr Taugenichtse gefangen, weil ihr vordem auch nur gemußt habt. Aber jetzt gehorcht ihr nicht mehr euren Einfällen und Lüsten. Da ihr nicht selber wollen könnt, muß die Gesellschaft ihren Willen über euch setzen. Du hast fleißig gelernt in der Schule und kriegst einen Preis; aber dies weißt du noch nicht, daß wir alle die gleichen Stuhlflechter sind, sofern wir müssen!
Der Lehrer Heinrich hob den Zeigefinger hoch nach seiner Gewohnheit, etwas Beherzenswertes zu sagen: Das sind noch keine Verbrecher, die Böses tun, weil sie im Zwang ihrer Lüste stehen; erst der böse Wille macht sie dazu, sonst sind es arme Teufel! Und das sind noch keine Frommen, die Gutes tun, weil sie in der Furcht stehen; auch sie sind nur arme Teufel; denn der Wille zum Guten erst macht sie frei! Böses müssen und wollen, das ist so schwer wie Gutes wollen und müssen. Böses wollen und Gutes damit tun müssen: da fängt die Vorsehung an! aber Gutes wollen und dennoch das Böse tun: da sind wir alle zuständig!
Wenn du jetzt in die Sonne kommst, hast du die Einzelhaft hinter dir; aber was vor dir ist, weißt du noch nicht. Was vor dir ist, kannst du müssen oder wollen. Wo du mußt, bist du gefangen, wo du willst bist du frei! Müßte ich jahrein, jahraus euch Taugenichtse lehren: ich kaufte mir besser einen Strick, als für mein Leben gefangen zu sein. Aber ich will es! Darum sind wir vom »Rauhen Haus«, daß wir wollen.
Der Lehrer Heinrich war vom Tisch gerutscht, seine Brille zu putzen; als Wilhelm Voigt meinte, es wären Tränen, lachte er schon wieder seine Zwickelfalten und gab ihm die Hand: Nun habe ich dir meine Predigt gehalten! kopfschüttelte er: Aber ich bin für einen Pastor nur unter vier Augen zu gebrauchen!
Als er draußen war, lag das Buch von der Reformation im Kurfürstentum Brandenburg auf dem Tisch; in seinem grünen mit Gold geprägten Leinenband hübscher als die Bücher der Bibliothek, weil es dem Lehrer Heinrich gehört hatte, und er schenkte es ihm. Wilhelm Voigt schlug es auf, erfreut über das Geschenk; aber er merkte bald, daß seine Augen nur Buchstaben lasen, und machte es wieder zu. Und bis zum vorletzten Tag, da er alles, auch das seinige, abliefern mußte, lag es unangerührt im obersten Gefach seines Schrankes; denn mit der Geschichtsforscherei stand es schon seit dem Besuch der Mutter nicht mehr gut, und nach diesem Gespräch war es ganz damit aus.
Obwohl er nur Worte davon verstanden und behalten hatte, lag ein Schein von Sinn dahinter, den er begrübelte. Es gab, so schien es ihm, ein Geheimnis des Lebens, das Wenige hatten; die andern waren, wie der Lehrer gesagt hatte, nur arme Teufel: jene aber gingen in einer verborgenen Kraft herum, weil der Lehrer Heinrich vom »Rauhen Haus« war, mußte er meinen, er habe es dorther mitgebracht. Er wußte, daß sie bei Hamburg eine Art Schule hatten, und so verfiel er auf den Gedanken, selber Schüler zu werden.
Ich will ins Rauhe Haus, wenn ich frei bin! schrieb er auf einen Zettel, den der Aufseher dem Lehrer auf das Pult legen mußte, und wartete darauf, daß der ihm fröhlich zunicken würde. Aber wie er aus seinem Kasten gierig in sein Faltengesicht spähte, geschah nichts dergleichen, nur, daß er den Kopf senkte und seinen Hängebart strich: bis er die blinkenden Gläser auf ihn richtete wie damals, als sie zusammen von Stettin nach Berlin fuhren, und er hatte nach seinen Schülern in Moabit gefragt. Nun hatte Wilhelm Voigt, wie es ihm schien, wieder solche Torheit begangen; aber er konnte diesmal den Schlüssel dazu nicht finden.
Auch in den folgenden Tagen schwieg sich der Lehrer Heinrich aus, und erst am letzten Morgen, als er ihm die Hand zum Abschied gab, sagte er freundlich: Nun mußt du erst in die Sonne; aber die Tür zum Rauhen Haus steht überall und jederzeit offen!
In der Sonne
In Sonnenburg schrieb der neue Direktor Gollert, der selber die Aufnahme machte, alles auf wie der Spitzbart in Königsberg; aber es lauerte keine Falle in seinen einsilbigen Worten. Er sagte ihm, daß er gute Zeugnisse habe, und wenn er sich weiter so hielte, könne ihm manches erleichtert werden! Dabei sah er nicht ihn, sondern den Aufseher an, der wie sein Schatten hinter Wilhelm Voigt an der Tür stand; und es schien, als habe er dem mit seiner freundlichen Strenge einen Wink geben wollen.
Der Aufseher hieß Ringel und war schon zwanzig Jahre lang in der Sonne; er hatte ein tückisches Gesicht mit eng stehenden Augen und kam bald danach weg, weil er sich an den veränderten Ton nicht gewöhnen konnte. Er mochte einen besonderen Schützling des neuen Direktors wittern: So, vielleicht gefällt dem Herrn Gefangenen sein Zimmer? höhnte er, als er die Zelle aufschloß; und es kam nicht von selber, daß er mit seinem Stiefel den Schemel umwarf, den Wilhelm Voigt aufheben mußte.
Das angebliche Zimmer aber war eine engere Zelle als die in Moabit – kaum, daß er noch zwischen Wand und Bett hindurch gehen konnte, wenn es herunter geklappt war – und die Wände sahen, ehe auch da die große Reinigung kam, unsauber aus. Er tröstete sich, daß es ja nur das Loch zum Schlafen wäre, weil er in den Arbeitssaal kam.
Er hätte lieber ein anderes Handwerk gehabt; aber in seinem Brief stand, daß er Schuhmacher wäre. Als er am andern Morgen zu dem Werkmeister Rutschmann hineingebracht wurde, war da ein länglicher Raum quer in drei Streifen geteilt, sodaß sie je zu Dreien neben einander saßen, von der Seite her durch den Werkmeister bewacht, der sein Pult wie ein Lehrer besaß; und sie waren neun Mann, die unter seiner Aufsicht klopften.
Wenn es nach der Vorschrift gegangen wäre, hätten sie kein Wort miteinander sprechen dürfen; aber es gab immer etwas über die Arbeit zu fragen; und der gutmütige Rutschmann, der nur ein Auge über dem weißen Hans Sachs-Bart hatte, drückte auch das zu. Nur, wenn einer flüstern wollte, hatte er listige Ohren: Lauter! rief er dann: Ich höre nicht gut!
Wilhelm Voigt wurde von ihm zunächst in eine Art Prüfung genommen, wobei ihm die beiden andern, die in seiner Reihe saßen, scharf auf die Hände sahen, ob er das Handwerk verstünde. Es fiel zwar gut aus; aber er bekam zunächst doch nur Stiefel zu sohlen, die längst nicht mehr das Leder und die Arbeit wert waren.
So saß er nach drei Jahren doch wieder an seinem Leisten; und wenn es bei dem Schwintowski trübselig gewesen war, hier ging es nicht lustiger zu. Aber nach der Stuhlsitz-Flechterei war es doch wieder sein redliches Handwerk, und er war aus dem Kasten heraus in einer Menschen-Gemeinsamkeit; wenn seine Arbeitsgenossen auch, wie er bald merkte, üble Brüder und nach dem Wort des Lehrers Heinrich Zornickel waren. So tat er die tägliche Flickarbeit anfangs mit Eifer; auch dachte er noch in den ersten Wochen, sie möchten im »Rauhen Haus«, wenn seine Zeit um wäre, einen tüchtigen Schuster gebrauchen können.
Der Teufelsaustreiber
Daß er von diesem Zukunftsgedanken so bald wieder abkam, daran war zunächst der Pfarrer schuld, also der, dem seine guten Vorsätze von Amtswegen in Pflege gegeben waren. Am ersten Sonntag, eine Stunde vor dem Kirchgang, kam der schwarz rasierte Mann noch rasch zu ihm herein in die Zelle. Er erkannte ihn schon vor der Tür mit Schrecken an seiner Fistelstimme; denn es war der Pfarrer aus Tilsit, der ihn vor sieben Jahren mit seinem Spruch vom Teufel konfirmiert hatte und der bald danach fort gekommen war.
Der wußte natürlich aus den Papieren vorher, wer neu in der Zelle saß, und hatte sich offenbar vorgestellt, einen verstockten Sünder zu finden, dem er die Ohren heiß machen müßte. Zuerst redete er von dem Kummer, den er seiner armen Mutter bereitet hätte. Damit hatte er das Messer seiner Worte an der richtigen Stelle angesetzt; als er dann aber mit dem Vater auf die gleiche Weise los legte und bei sich selber endigte, den sein Konfirmand herzlich betrübt habe, verstockte sich Wilhelm Voigt, daß der Pfarrer von dem Elend seiner Jugend nicht das geringste wußte. Aus seiner Bitterkeit schien es ihm eine Art Geschäft, mit überlegten Worten in seiner Hilflosigkeit zu rühren.
Er hatte drei Jahre Einzelhaft hinter sich; da wollte er andere Dinge hören, als daß ihn Einer auf den Sündenschemel setzte, über ihn her zu säuseln oder zu donnern, wie er es wirkungsvoll fand. Zur Konfirmation hatte ihm der selbe Mann den Spruch vom Teufel gegeben, der nun freilich mit anderen Sprüchen in seine Zelle kam, den Teufel auszutreiben. Aber wenn er ihm sagte, daß alle Menschen die gleichen Sünder vor Gott wären, so hatte Wilhelm Voigt Lust ihn zu fragen: warum dann die einen im Zuchthaus säßen und die andern nicht?
Diesmal hielt er zwar noch den Mund, aber er hatte in Moabit fragen und antworten gelernt; und während der Pfarrer ein Vierteljahr seines Eifers daran setzte, ihn zur Buße zu bringen, wetzte er seinen Trotz gegen den hitzigen Teufelsaustreiber und konnte ihn zuletzt in jeden Zorn jagen, indem er seinem Beruf alle Schande nachsagte, daß er mit solcher vermeintlichen Seelsorge nur ein vom Staat bezahltes Amt ausübe, die Sträflinge auch noch mit der geistlichen Hölle zu quälen, als ob sie an der irdischen im Zuchthaus noch nicht genug hätten.
Als Wilhelm Voigt zu seinem eigenen Grimm mit dieser Verstocktheit anfing, wollte er zuerst nur Recht vor sich selber behalten; weil es aber uneingestandener Maßen der Lehrer Heinrich war, dessen einfältiger Frommheit er die Treue hielt, fiel er in den alten Zwiespalt seiner Natur zurück, trotzig den Hut auf dem Kopf zu behalten, wo er ihn lieber demütig abgenommen hätte.
Zu seinem eigenen Verdruß arbeitete er sich in eine Wüstheit hinein, die sich bald nicht mehr mit dem Pfarrer begnügte. Selbst gegen den wortkargen Direktor konnte er seine einmal angenommene Verstocktheit nicht überwinden, so daß er trotz seiner guten Zeugnisse aus Moabit in den Geruch kam, widerspenstig zu sein; zwar nur mit Mienen und Worten, aber die genügten im Zuchthaus.
Böser Besuch
In diesen Zustand kam der Besuch seines Vaters, der im Anfang des Sommers eine Reise gemacht hatte, die Schwester Luise in Köln zu besuchen, wo sie im Geschäft einer Base half, und zwar in einer Filiale der Kunsthandlung Knörke. Wilhelm Voigt hatte das aus den Briefen der Mutter erfahren, die ihm treu schrieb; auch wußte er vorher, daß der Schuhmacher Voigt die Rückreise nach Tilsit in Küstrin unterbrechen wollte, nach Sonnenburg zu kommen.
Als er eine halbe Stunde vorher aus dem Arbeitssaal in die Zelle gebracht worden war, sich zu säubern, und danach hinter das Eisengitter trat, mit seiner Schande vor dem Vater zu stehen, der selber die Lehne des Stuhles, von dem er aufgestanden war, nicht aus der Hand lassen konnte, so zitterte er: brach ihm sein Haß gegen alles auf, was ihm die Widerspenstigkeit der letzten Wochen eingetragen hatte, und der da hatte den Anfang gemacht. Er konnte zuerst kein Wort zu dem Mann sagen, der im schwarzen Rock unterwegs war und mit niedergeschlagenen Augen vor dem harten Blick stand, als ob er seine Gedanken spürte.
Ich sage Grüße von deiner Mutter! begann er dann und hob seine wässerigen Augen gegen das Gitter, dahinter sein Sohn wie ein wildes Tier eingesperrt war.
Daß Wilhelm Voigt so vor seinem Vater stehen mußte, war auch schon eine Strafe für seine Widerspenstigkeit; in Moabit hatte er mit seiner Mutter, mit der Schwester und Tante im selben Raum sprechen dürfen. Aber die eisernen Stangen waren nicht dicker als das, was sonst zwischen ihnen stand. Über den Gruß war er einen Augenblick gerührt, weil ihn das Bild überkam, wie die Mutter ihn mit traurigen Augen bestellt hatte; dann sah er das Zimmer dazu und das Haus und was ihm Schlimmes darin widerfahren war von dem, der ungewiß vor ihm stand; und eine wilde Freude fing in ihm an zu brennen, daß der Schuhmacher Voigt seinen Sohn zur Vergeltung so wieder finden mußte.
Erst als der von so bösen Gedanken mißhandelte Mann im schwarzen Rock noch einen Gruß von der Schwester Luise in Köln bestellte und gewaltsam anfing, von ihr zu erzählen, wo sie wohnte und wie es ihr ginge, kamen sie doch in eine Art von Gespräch. Indessen, die Worte mußten durch das Gitter von seinem Käfig, das zwischen ihnen blieb bis zum letzten.
1870
Das aber war schon im Juli l870; und unter anderen Neuigkeiten hatte der Schuhmacher Voigt auch die von Köln mitgebracht, daß man dort von einem Krieg der Preußen gegen die Franzosen spräche. Wilhelm Voigt achtete nicht darauf, wie auf das meiste nicht, was sein Vater sagte, weil ihm die Ohren vom Haß überschwemmt waren. Erst als in den nächsten Tagen davon gesprochen wurde, fiel es ihm wieder ein; da aber war schon Benedetti in Ems gewesen und der Krieg an Frankreich erklärt.
Nach seinem Alter wäre er im vergangenen Herbst Rekrut gewesen, und nun war er ausgestoßen. Er sah in düsteren Gedanken die Dragoner aus Tilsit und die Kürassiere aus Pasewalk reiten und gönnte ihnen nicht die Lust des Krieges: alles, was draußen und frei war, fühlte er feindlich; und als die ersten Siegesnachrichten von Weißenburg, Wörth und den Spicherner Höhen kamen, verwünschte er sie. Aber Wilhelm Voigt war nicht umsonst der jüngste Dragoner und der königlich preußische Geschichtsforscher gewesen; nicht lange, so hatte das Ereignis ihn doch überwältigt.
Der Direktor Gollert war gleich im Anfang eingezogen worden, und während draußen der erste Kriegsjubel scholl, hatten sie in der Sonne sich eine Woche lang gefürchtet, der Trommeljunge von 1813 würde noch einmal den Direktor spielen. Es kam aber ein pensionierter Regierungsrat, der sich freiwillig zum Dienst gemeldet hatte und hier als Vertreter eingesetzt wurde, weil er im Feld nicht mehr brauchbar war: ein weißbärtiger Herr, der seinen Stock wie der alte Fritz hob, wenn er etwas anweisen wollte. Der ließ die Sträflinge jeden Sonntag-Nachmittag in die Kirche bringen, weil das der einzige Raum im Zuchthaus war, wo sie alle Platz hatten, und zählte umständlich auf, was wieder Neues in Frankreich geschehen wäre, von den heißen Tagen um Metz bis Sedan, wo der Kaiser der Franzosen gefangen wurde.
Sie wußten freilich das meiste schon vorher, und er las ihnen alles aus seinem blauen Heft vor; aber er verfügte über eine laute Stimme, wie sie dem alten Herrn keiner zugetraut hätte; und ehe Wilhelm Voigt es recht bedachte, war er aus seinem Groll doch in Eifer geraten, wie die andern Sträflinge auch. Die mit geschorenen Köpfen den verachteten Abfall des deutschen Volkes vorstellten und in steinernen Zellen strenger eingesperrt saßen als die Franzosen in den Gefangenen-Lagern, hätten am liebsten auch wie die Knaben draußen schwarzweiße Fähnchen geschwenkt und »Ich bin ein Preuße« gesungen. Als an einem Tag im November der Direktor Gollert zurück kam, der bei Vionville dabei gewesen war und seinen zerschossenen Arm in der Binde trug, sahen die Sträflinge stolz das Eiserne Kreuz an seiner blauen Uniform, die er bis zum Ende des Krieges nicht auszog.
Im übrigen setzte der Direktor die Einrichtung des alten Regierungsrates fort, und wenn er auch keine Donnerstimme hatte, brauchte er andererseits kein blaues Heft. Der Krieg hatte die Wortsilbigkeit des Mannes gelockert, und die Zuchthäusler hingen an seinem Mund, wenn er von den großen Siegen erzählte. Er ordnete an, daß der Lehrer die Schlachtfelder mit farbiger Kreide an die Tafel zeichnete: wo die einzelnen Truppenteile anfangs gestanden hatten und wie sie vorwärts gekommen waren. Auf diese Weise machten sie in der »Sonne« den Krieg als Schüler mit; und Wilhelm Voigt war der gelehrigste unter ihnen.
Aber diesmal war die Geschichte selber der Lehrer, und ihr ging der Kriegsatem bald aus. Als Wilhelm Voigt den dreizehnten Februar im Kalender sah, an dem er zweiundzwanzig Jahre alt wurde, war der König von Preußen schon Kaiser von Deutschland geworden, und der Waffenstillstand geschlossen. Der Direktor legte mit dem Frühjahr seine Uniform wieder ab, und zwei von den Aufsehern kamen zurück, die den Krieg in der Garnison mitgemacht hatten; der dritte war noch gegen Bourbaki gefallen. Von der großen Zeit blieb nur noch das Sedanfest übrig, das auch im Zuchthaus danach jedes Jahr unter der neuen schwarzweißroten Fahne und mit einer Rede des Direktors gefeiert wurde, der für diesen Tag die Uniform und das Eiserne Kreuz anlegte.
Nummer 75
Wilhelm Voigt, als die Fahnen eingeholt wurden, fand sich mit geschorenem Kopf wieder in der Zelle, wo er weder am Krieg noch am Frieden der anderen rechtschaffen beteiligt war, wo er für acht Jahre noch den Zuchthäusler Nummer 74 vorstellte. Er fiel nicht wieder in seinen Groll zurück; den hatte das Feuer des Krieges gefressen, aber auch alles andere, was als Aussaat des Lehrers Heinrich die grünen Spitzen gezeigt hatte: er dachte nicht mehr ans »Rauhe Haus«, wie er an sonst nichts mehr dachte, was außer den Zuchthausmauern war.
So mag ein Tier im Käfig zuletzt den Wald und den Wind und alle Gewohnheit seiner Natur vergessen, wie Wilhelm Voigt nun endlich anfing, sich in die leere Aussichtslosigkeit seines Daseins zu fügen, das – mit kleinen Listen und hämischen Neidhaftigkeiten zwischen den strengen Vorschriften eingesperrt – wie das Gras und das Unkraut in den Ritzen der Steine auf dem Gefängnishof zu wachsen versuchte. Denn auch die Arbeit seiner Hände war tagaus, tagein die klägliche Flickschusterei, die keinen Übermut aufkommen ließ, einmal redliche Schuhe oder gar Reitstiefel zu machen.
Und nur einmal noch in den acht Jahren danach warf das Leben die Angel nach ihm, als er im März des vorletzten Jahres bei einem eiskalten Frühlingswind die schweren Lederballen abladen half und sich dabei erkältete. Damals dachte der Arzt schon, er müsse zu seinem Namen das schwarze Kreuz schreiben; er aber träumte sich aus dem Fieber seiner Lungenentzündung auf die Nehrung zurück, wo er im Wind vom Meer gekühlt lag wie unter dem Eis, das ihm der Pfleger auf die glühende Stirn legte; und die Nehrung in seinen Träumen wehte ihn wieder gesund.
Am selben Tag, da ihn das Fieber umlegte, starb im Schuhmacherhaus zu Tilsit, angeblich an einem Herzschlag, seine verhärmte Mutter; und als ein Brief der Schwester Luise kam – die vom Rhein quer durch das neue Reich an den Memel gereist war – lag Wilhelm Voigt so zwischen Tod und Leben, daß ihm die Nachricht nicht überreicht werden konnte. Erst nach Wochen, als die Sonne schon wieder warm auf seine Hände schien, wie sie im Gerichtssaal zu Prenzlau getan hatte, als er die Wärme dankbar spürte, gaben sie ihm den Brief und hatten nicht mit dem dünnen Faden gerechnet, an dem sein Zuchthäuslerleben damals hing; auf ein Haar wäre der dennoch zerrissen, obwohl der Arzt die Krisis für überwunden erklärt hatte.
Was dann im Mai und Juni langsam wieder zu Kräften kam, nach dreizehn Wochen in die Zelle zurück zu kehren, in die Zuchthausarbeit und in den Zuchthausgehorsam: das war nicht mehr die Nummer 74, die nach der ersten Verstocktheit doch wieder zu guter Führung, sogar zu Ämtern gekommen war und im Chor sang, das war in seinem dreißigsten Lebensjahr der Wilhelm Voigt aus Tilsit, der als Schuhmachergesell ein Postfälscher wurde. Denn nun tröpfelte das Jahrdutzend bald voll; und die kommende Freiheit warf eine Unruhe in sein Blut, das noch zu schwach dafür war und wie Wasser im Kessel auf einem Feuer mit schmerzlichen Tönen zu singen begann.
Entlassung
Der Morgen deshalb, als sie Wilhelm Voigt durch die geöffnete Eisenpforte hinaus ließen, war anders, als daß ihn die Freiheit begrüßte. Er ging in dem Tröpfelregen kaum hundert Schritt, da stand er schon und sah neugierig nach dem Gemäuer zurück, darin er neun Jahre zugebracht hatte, von außen war es so fremd für ihn, wie die Landschaft rundum; und er war dem Aufseher dankbar, der zufällig in den Ort ging und ihn mitnahm. Aber der hatte drinnen zu tun und ließ ihn unter dem alten Schloß stehen. Wilhelm Voigt wußte, daß da die Johanniter dreihundert Jahre lang gehaust hatten; aber auch sein Geschichtseifer war längst verronnen. So stand er mit seiner hoch übergebeugten Gestalt vor dem Gemäuer da wie ein kranker Wolf, der aus dem Käfig gelassen keine Witterung hatte, die Freiheit zu finden, in die er hinaus gestoßen war.
Weil er zuletzt merkte, daß die Leute aus den Torwegen und Fenstern nach seiner Seltsamkeit sahen, ging er fort, wie die Füße ihn trugen und des Tröpfelregens nicht achtend, bis er am Nachmittag, naß und hungrig, nach Küstrin kam, wo er die erste Herberge fand.
Auch in den Tagen danach bestand seine Freiheit darin, daß er, aus der Gewohnheit des Zuchthauses entlassen, verloren herum ging, die Gewohnheiten der andern zu suchen, von denen er zwölf Jahre lang ausgeschlossen war.
Hätte er noch seine Mutter gehabt, wäre er gleich heim gefahren; so versuchte er erst in Küstrin und danach in Frankfurt, Arbeit zu finden. Aber da wie dort, das sah er bald, hing dem Handwerk ein üblerer Boden heraus als der von Gold, wie das Sprichwort sagt. Überall war es eine klägliche Flickschusterei geworden wie in der Hintergasse zu Pasewalk; denn die Leute kauften sich ihre Stiefel und Schuhe in den Läden, wo sie neumodischer und billiger waren, und diese Ladenschuhe kamen aus den Fabriken.
Wilhelm Voigt sah bald ein, daß es im Schuhfach nur noch für einen Maschinisten lohnende Arbeit gäbe, als er einige Wochen lang für einen Laden in Frankfurt Flickarbeit gemacht hatte, schrieb er um eine Lehrstelle ohne Gehalt bei der Schuhfabrik Linger in Erfurt und bekam sie auch zugesagt. Vorher wollte er noch eine Woche lang in Tilsit sein, und es war etwas anderes als der Unterschlupf, was er dort suchte.
Wie lange willst du nun hier bleiben?
Es ging gegen vier Uhr, als Wilhelm Voigt mit seinem Wachstuchköfferchen durch die Glastür am Bahnhof Tilsit hinaus trat; und eine Wolke, mit hellem Rand die Sonne verdeckend, schien ihm bekannter als die Stadt, die gegen den Bahnhof ein neues Gesicht aufgezogen hatte. Als er vor den blechernen Stiefel kam, der mit neuem Gold blinkte, mußte er seine Füße bestaunen, die Schritt für Schritt gegen die Tür gingen, indessen sein Herz erschrocken zurück wich. Auch die Hand folgte den Füßen mehr als dem Willen; und der Zeigefinger hatte schon angeklopft, als er den Entschluß nicht fand.
Herein! rief drinnen die Stimme des Schuhmachers Voigt, und er hörte ihr deutlich an, daß sie gut gelaunt war. Wie er in die Wohnstube kam, schien ihm auch die verändert; und daß der Vater gemachlich im Sofa saß, war früher nicht seine Gewohnheit gewesen. Er selber konnte nichts sagen und sah ihn ungewiß an, zu welcher Begrüßung sich der Schuhmacher bereit finden würde; aber der rundlich gewordene Mann, der ihm selber im Augenblick fremd war, erkannte ihn nicht.
Was wünschen Sie? fragte er gähnend und sah mehr mißtrauisch auf seinen Wachstuchkoffer als prüfend in sein Gesicht.
Vater! stockte Wilhelm Voigt und kam sich selber kläglich vor mit den Worten, die wie aus der Zeitung gelesen von seinem Mund kamen: Erkennst du dein eigenes Kind nicht mehr?
Ach so! sagte der Schuhmacher Voigt, der sich verdattert aus seiner Zerfahrenheit aufraffte: Bist du jetzt heraus gekommen? Und war so ehrlich in der Bestürzung, daß er gleich hinterher fragte: Wie lange willst du nun hier bleiben?
Derartig begrüßt konnte Wilhelm Voigt nichts tun, als schweigend sein Köfferchen in die Ecke stellen, wo neben der Uhr das Kleiderbrett hing; wie wenn er sagen wollte: Dies darf ich wohl noch? Aber er sagte es nicht; und ein Gespräch kam auch dann nicht in Gang, als der Schuhmacher den Lehrling gerufen hatte, seine Frau zu holen, die auf dem Feld wäre. Denn er war seit dem Herbst wieder verheiratet, und das Feld, von dem er sie rufen ließ, hatte sie neben anderem mit in die Ehe gebracht, wie er nicht ohne Bedacht dazu bemerkte.
Die Heimat
Die Stiefmutter selber, die Wilhelm Voigt auf diese Weise vorfand, war eine stämmige blonde Person. Als sie ihm nach einer Stunde die rasch gewaschene Hand reichte, ließ sie ihn weder ein Mißtrauen noch eine Mißachtung spüren; sie sorgte, daß er Kaffee bekam und ging hinauf, die Kammer unter dem Dach zu richten, darin er nachher noch die Schachtel mit den schwarzweißen Fähnchen fand und die Kriegskarte von 1866 dazu. Sonst aber war alles verräumt.
Seit seiner Krankheit war es ihm eng auf der Brust, wenn er sich aufregte oder angestrengt hatte; so mußte er auch in der Kammer, als er endlich allein war, einen Augenblick sitzen, um wieder zu Atem zu kommen. Darüber sah er sich in dem Spiegel, der immer noch an der selben Stelle hing, und nur der Sprung mitten durch war mehr abgeblättert. Auch in der Zelle hatte er einen Spiegel gehabt und er kannte sein Zuchthausgesicht mit den knochigen Backen und den tiefen Augenhöhlen; aber wie es nach dreizehn Jahren aus dem gleichen Glas wieder auftauchte über den Schultern, die wie bei einem alten Mann hochgezogen waren, erschrak Wilhelm Voigt vor sich selber.
Das bist du! sagte er in sein Spiegelbild hinein; und es sollte heißen: Das hast du aus dir gemacht! Er merkte daran, wie ihm die Heimat das Blut aufgerührt hatte; und eben das weckte seinen Trotz, sich nicht unter kriegen zu lassen. Hier bin ich Erbe! pochte es in seinen Gedanken, als er hinab in die Werkstatt ging, sich da umzusehen.
Da saß wahrhaftig noch der Martin Nagler und klopfte Stifte in eine Sohle; er war alt geworden und sah mit seinem grauweißen Büschelkopf aus wie ein Wiedehopf. Auch wieder hiesig? brummte er und hörte nicht auf mit seinem Geklopf. Als Wilhelm Voigt ihn über die unnötige Antwort hinweg fragte, wie es ihm ginge? war er in den Jahren stocktaub geworden; man mußte ihm Zeichen machen oder auf einen Zettel schreiben, was man von ihm wollte.
Die Taubheit hatte den Schwaben nicht umgänglicher gemacht, und Wilhelm Voigt sah mit einem Blick, daß auch hier die Flickschusterei übrig geblieben war. Er hielt es nicht lange bei ihm aus und tat vor dem Abend noch einen Gang in die Stadt. Sie schien ihm innen so fremd und verändert wie draußen am Bahnhof, in den Häusern und in den Menschen. Ob er selber hier und da Einen erkannte, ihn kannte keiner mehr in Tilsit, wenn er sich nicht selber bekannt gab; und das vermochte er an diesem ersten Nachmittag noch nicht. Nur der Strom, als er zuletzt an das Ufer hinaus trat, schob sein Gewässer so unablässig dahin, wie er es je getan hatte, und der blaue Ring der Weite hing rundum am Himmel wie immer: in ihrer Stetigkeit gab es keine moralische Abschätzung.
Die Frau des Milchhändlers
Nach einem unerquicklichen Abend mit der Stiefmutter – denn der Schuhmacher Voigt war ins Wirtshaus entwichen, und die Frau grollte darüber – und nach einer schlechten Nacht ging Wilhelm Voigt aufs Rathaus, weil er sich überall anmelden mußte, wo er länger als vierundzwanzig Stunden bliebe. Da aber fand er den jüngeren Knirr wieder, der unterdessen verheiratet war und fünf Kinder hatte; und der erkannte ihn auf den ersten Blick, weil unterdessen das Gerücht seiner Heimkehr umgegangen war. Er fragte ihn frech durch den Zwicker, mit dem er die Brille verbessert hatte, ob er die drei Taler damals richtig erhalten habe; denn er wußte Bescheid.
Auch sonst, wo Wilhelm Voigt trotzig genug war, seinen Namen zu nennen, bekam er die Abneigung zu spüren, sich mit einem entlassenen Zuchthäusler einzulassen; und der Obermaat Heincke, bei dem er die Generalprobe hätte machen können, war nach dem Tod seiner Schwester, der Witwe Ring, zu seinem Bruder in Allenstein gezogen. So kam er noch ziemlich früh am Vormittag in seinem Erbhaltertrotz gedämpft zurück und war eben achtlos an dem Haus der Milchleute vorüber gegangen, als jemand hinter ihm her seinen Namen rief, wie er sich umsah, war ihm die Frau auf die Straße nachgelaufen und winkte; und weil er wußte, daß sie bis zuletzt Freundin mit seiner Mutter gewesen war, kehrte Wilhelm Voigt um, auch das noch zu überstehen.
Sie nahm ihn mit in ihre Stube, wo sie allein hauste; denn der Mann war tot, und der Sohn diente als Feldwebel in Königsberg. Er kannte die Sucht der Frau, die hager wie dürres Holz geworden war, sich zu erregen; doch merkte er gleich, daß ihre hohlen Augen diesmal besondere Gründe hatten, wie sie die Tür verschloß und die Gardinen zuzog. Ob er Genaueres über den Tod seiner Mutter wisse? fragte sie, als das Gespräch über die erste Verwunderung hinweg gekommen war; und weil er den Kopf schüttelte, zweifelnd, wohin sie mit dieser Vorbereitung wollte, faßte sie ihn bei den Handgelenken und sah ihn mit einem durchbohrenden Blick an: Sie habe das Geheimnis mit ins Grab nehmen wollen, aber dem Sohn müsse sie alles sagen! Und dann erzählte sie ihm, was sie wiederum von einem zufälligen Augenzeugen erfahren hatte, einem Trompeter bei den Dragonern, der unterdessen als Kutscher nach Polen gegangen war.
Der Arzt habe Herzschlag als Todesursache bekundet; die Wunde an der Stirn müsse von der scharfen Kante des Möbels herrühren, auf das die Schuhmachersfrau hingestürzt sei! Sie aber wisse, daß Tätlichkeiten voran gegangen wären. Der haltlose Mann habe nach seiner Gewohnheit gespielt und verloren; als er spät abends noch Geld holen wollte, habe die Mutter sich schützend vor die Kommode gestellt, weil andern Tags ein Wechsel fällig war. In diesem Augenblick sei der Trompeter an dem Haus vorüber gekommen, weil er mit dem Nachtzug in Urlaub fahren wollte, und sei durch das erleuchtete Fenster Zeuge geworden, wie der betrunkene Mann die Frau mit Fäusten geschlagen und von der Kommode fort gerissen habe, bis sie hinstürzte. Weil es die höchste Zeit für seinen Zug war, sei er danach zum Bahnhof gegangen; und erst, als er nach zwölf Tagen aus dem Urlaub gekommen wäre, habe er gehört, die Frau Schuhmacher sei in der selben Nacht am Herzschlag gestorben und schon längst begraben.
Ihr habe der Trompeter das erst zufällig nach Monaten erzählt; doch sei ihr dadurch bestätigt worden, was sie von Ansang an geahnt habe: daß seine Mutter zwar nicht vorsätzlich, aber durch Roheit umgebracht worden wäre. Der Schuhmacher mit seiner neuen Frau – welcher auch noch die Augen aufgehen würden – möge sich vor der Welt groß tun, zum zweitenmal eine wohlhabende Person gefunden zu haben; vor ihr und seinem eigenen Gewissen, wenn er eins hatte, sei er ein Mörder!
Während dieser ganzen Rede hielt die aufgeregte Frau seine Handgelenke umklammert, und ihre Stimme war heiser. Damals war sie so um den Anzug zur Polizei gelaufen; und jetzt wollte sie, daß Wilhelm Voigt die Leiche seiner Mutter ausgraben lasse. Er hatte Mühe, wieder hinaus zu kommen; doch vermochte er nun nicht mehr in das Haus des Schuhmachers zu gehen.
Auf dem Kirchhof
Wilhelm Voigt suchte den Weg zum Kirchhof, den er nach seinem Gewissen gleich hätte finden sollen, ging durch das Tor in die Allee hinein, wo er hinter dem Sarg des Onkels Patzig her geweint hatte, und fand unter den neueren Gräbern auch das Kreuz mit dem schon verwaschenen Namen. Erst, als er den Todestag las, gestorben am 6. März 1898, wurde er aus seiner Lahmheit wach, mit der er in Tilsit herum gegangen war.
Ob die Erzählung des Trompeters stimmte oder nicht, sie paßte zu der Schufterei seiner Jugend und jagte die Wut in ihm hoch, daß er mit beiden Händen am Kreuz rüttelte, als könnte er die Vergangenheit aus den Wurzeln reißen. Da war das ärmliche Holz in der Erde faul und brach ab, daß er es erschrocken fallen ließ, laut in den Mittag hinein zu stöhnen. Als er sich bückte, es aufzuheben, geriet er mit dem Rnie auf den Grabhügel und folgte einem Zwang, kniend zu bleiben für seinen Frevel, bis er merkte, daß ihm die Tränen auf die Hände tropften, mit denen er das abgebrochene Holzkreuz seiner Mutter hielt. Wie seit seiner Knabenzeit nicht mehr, fühlte Wilhelm Voigt die Erlösung, so von Herzen zu weinen, und achtete es wenig, daß längst schon ein paar Frauen neugierig nach dem vermeintlichen Beter sahen.
Sich endlich besinnend, stellte er den Stumpf des Kreuzes in die Erde zurück, pflückte ein Blatt von dem kümmerlichen Rosenstrauch, den die Schwestern gepflanzt haben mochten, und ging durch die Allee gegen das Tor. In das Haus, wo der Schuhmacher Voigt mit der blonden Person wohnte, konnte er so nicht eintreten; und weil es keinen Ort und keinen Menschen in Tilsit gab, wo er eine Zuflucht gefunden hätte, kam er, einem Einfall folgend, auf den Landweg, über den er damals in dem entwendeten Konfirmationsanzug floh, und tappte so Schritt um Schritt weiter, bis er endlich in dem Gehölz anlangte, wo er am Karfreitag vor siebzehn Jahren gesessen hatte.
Das schwarze Sumpfwasser in dem Graben war von der Wasserpest grün überwachsen; es roch nach Brennesseln, und Brombeerranken warfen ihre stachligen Bogen übereinander her. Auch diesmal fand er einen Stamm, darauf zu sitzen; aber mit andern Augen als damals hockte er in dem Gehölz, das Seine zu bedenken. Die Sommerhitze war in dem Loch hängen geblieben, mit ihrer Schwüle den gesprenkelten Schatten bebrütend. Denn so schwarz eine Nacht ist und so gräßlich ein Abendrot brennt, der Mittag ist die Brutzeit böser Gedanken.
Ihm war das beste vertan worden, was die Menschennatur hat, der Raum zwischen zwanzig und dreißig, wo der Jüngling zum Mann wird; und der ihn damals mit rohen Schlägen hierher trieb, war die Ursache alles Unheils bis heute. Das Fieber der Mittagsstunde kochte den Haß auf seinen Erzeuger zu einem dicken Saft, die Mutter und sich an ihrem Verderber zu rächen.
Der Riegel rasselt
Als der entlassene Zuchthäusler Wilhelm Voigt danach zwischen zwei Kornfeldern her zur Straße und quer über die Baumschatten hin, die wie Leitersprossen auf dem Weg lagen, gegen Tilsit zurück ging, durfte ihn kein Gendarm wie damals aufgreifen; das Gericht mußte warten, bis im Hause des Schuhmachers Voigt das geschehen war, was dem rachsüchtig dahin Schreitenden so unabänderlich schien wie der Untergang der gleißenden Sonne.
Fünf Uhr, zwanzig Minuten! nickte er höhnisch dem blechernen Stiefel zu, der so dreist in seiner neuen Vergoldung blinkte; und er wußte nicht, woher ihm das Wort des Lehrers Heinrich in diesem Augenblick einfiel und was es da wollte: Böses müssen und wollen, das ist so schwer wie Gutes wollen und müssen!
Diesmal rief die Stimme mürrischer als gestern: Herein!, aber der Schuhmacher Voigt saß wieder im Sofa, als wäre das nun seine Weise, das Handwerk zu betreiben; und die Frau arbeitete im Feld.
Ich kann sie nicht rufen lassen! entschuldigte er feindlich: Der Lehrling mußte mit hinaus, und es ist sonst keiner zu Hand!
Umso besser! dachte Wilhelm Voigt, der den tauben Martin Nagler draußen klopfen hörte, drehte den Schlüssel um und stellte sich mit dem Rücken gegen die Küchentür, als der Schuhmacher sich halb begreifend im Sofa vorbeugte. Eine sehr lange Weile sagten sie beide kein Wort in den klopfenden Takt aus der Werkstatt; nur ihre Blicke hingen ineinander, wie sich fremde Tiere betrachten. Wenn er gegen mich aufsteht, erwürge ich ihn! dachte Wilhelm Voigt immerzu. Dabei wollte sein Mund fragen: Hast du die Mutter viel geschlagen? Er fragte es nicht, aber die Ohren des Vaters waren dennoch gefragt; er machte eine matte Bewegung mit der Hand, als wollte er eine Fliege abschütteln, und senkte den unsicher gewordenen Blick, um ihn gleich wieder erschrocken zu heben, weil der Riegel hinter dem Rücken von Wilhelm Voigt anfing zu rasseln.
Der Riegel rasselte ihm unter den zitternden Händen; aber er, dem die Hände gehörten und der sie anders gebrauchen wollte, tat eine Torheit, die er selber bestaunte. Als ob er es nicht wahr haben wollte, daß etwas in diesen Sekunden gegen seinen Willen geschehen könnte, fing er absichtlich an mit dem Eisen zu rasseln, daß die Glastür dazu klirrte.
Was soll das heißen? begehrte der Schuhmacher auf. Aber: Sitzen bleiben! kommandierte Wilhelm Voigt wie in der Kaserne, und es war die höchste Angst, die aus ihm schrie. Als der Schuhmacher feige gehorchte, war er zu Ende. Er ließ die Hände von dem lächerlichen Riegel und steckte sie in die Taschen, jede für sich, wie wenn sie da besser aufbewahrt waren, und fing an, auf seine lässige Art in der Stube hin und wider zu schreiten.
Was soll das heißen? begehrte der Schuhmacher noch einmal; es war aber nur ein erbärmliches Echo, das die Ohren von Wilhelm Voigt nicht mehr erreichte. Als er wieder zu Sinnen kam aus dem Gewehrfeuer seiner Gedanken, stand die Küchentür auf, und der Schuhmacher war aus der Stube entwichen. Wilhelm Voigt aber, der ihn mit seinen Händen hatte erwürgen wollen, setzte sich auf den leeren Platz im Sofa und weinte so, daß er lachte.