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1.
Die gerüstete Burg

Das Wappen von Tilsit zeigt eine gerüstete Burg mit den schwarzweißen preußischen Farben. Denn die Stadt liegt am Memel, und der Blick über den trägen Strom hat die unendliche Weite vor sich, die aus der litauischen Landschaft nach Rußland führt. Slavien und Germanien werfen hier ihre Grenzen gegen einander; und wer die Augen zumacht, sieht auf dem grauen Wasser das Floß mit dem prahlenden Zelt liegen, darin Napoleon und Alexander, die Schwertherren von Westen und Osten, im Sommer 1807 den Frieden von Tilsit ausmachten, der das zertrümmerte Reich der Deutschen in der Hand der Franzosen ließ und Preußen in Niedrigkeit brachte.

In dieser Stadt wurde zweiundvierzig Jahre nach jenem Floß und Frieden dem Schuhmacher Voigt ein Knabe namens Wilhelm geboren, der aus dem armseligsten Leben für einige Wochen berühmter als alle Tilsiter wurde, trotzdem in der Stadt das Denkmal des Dichters Max von Schenkendorf steht, berühmt durch eine Tat, die nichts als ein Schelmenstreich war, dem Schelm zu all seinem Zuchthaus noch einmal vier Jahre Gefängnis einbringend; aber der Streich machte die ganze Welt schadenfroh lachen, weil er gegen die Rüstung der Burg gerichtet war, der Wilhelm Voigt als ihr verlorener Sohn entstammte.

Denn Tilsit am Memel ist keine Stadt wie Königsberg, Danzig oder Elbing, wo der preußische Adler wohlhabendes Bürgertum schützt und wo zu den Seeschiffen hinüber Fabrikschornsteine rauchen; Ämter und Beamte, Kasernen und Soldaten machen seine Geltung in der Landschaft Litauen aus, und nicht nur für den Schuhmachersohn galten die blauen Dragoner als die neuen Ordensritter der Stadt.

Wie er zur Welt kam als zweites der drei Schuhmacherkinder, war sein Vater gerade unter dem Prinzen Wilhelm eingezogen, die badische Volksarmee Mores zu lehren; und weil seine Großväter beide als Landwehrmänner die Feldzüge nach Frankreich mitgemacht hatten, galten die Sonntagnachmittags- Gespräche im Hause des Schuhmachers Voigt noch Jahre danach den militärischen Dingen, die dem gedienten Mann aus dem Volk der liebste Gesprächsstoff bleiben. So wurde von Kindesbeinen an den Ohren des Knaben bestätigt, was die Augen täglich in Tilsit sahen, daß Soldat sein ein buntes Vergnügen gegen die Arbeit und Sorge des Alltags, gleichsam seine höhere Wirklichkeit ist.

Wenn die Dragoner zur Übung ausritten, blank und geputzt, gab das Getrappel der Pferde den Straßen ein anderes Leben, als wenn die Räder der bäuerlichen Fuhrwerke über das Pflaster rumpelten; und wenn sie einrückten mit Hörnerschall, verstaubt von der Landschaft und rot von der Sonne, dann stellte die Stadt die gerüstete Burg ihres Wappens vor, die ohne die Dragoner mit ihren Bürgern nur ein schläfriges Landstädtchen gewesen wäre. Buntes Tuch und blitzende Waffen, reiten und singen, oder mit klirrenden Sporen an blanken Stiefeln durch die Einwohner schreiten: darin war das Leben noch Spiel, wie es der Knabe begreifen kann, und wie es der Mann, der gedient hat, nie völlig vergißt.

 

Lerne reiten, mein Söhnchen!

Eine höllische Vorsehung, die sich und der Welt zum Spaß den Schuhmachersohn schinden wollte, hatte gemacht, daß Wilhelm Voigt das Tor der gegenüber liegenden Dragonerkaserne eher auf ging als die entferntere Schultür; und es war der Wachtmeister Schmude, der ihn eines Tages mit zu den Ställen hinein nahm. Lerne reiten, mein Söhnchen, so brauchst du nicht nach Arbeit zu laufen! war sein drittes Wort; und jedesmal lachte er wie ein Donnerschlag hinterher, mit gehäuften Händen seinen strohblonden Schnurrbart streichend. Er setzte den Knirps wirklich auf seine Stute; und der Bursche Kleindomm mußte das braune, glänzende Tier dreimal hin und her führen, an dem langen Stall vorüber, wo unter den offenen Türen die Dragoner in Drillichjacken standen und in das stolze Gesicht des winzigen Reiters hinauf lachten.

Denn weil er zwar ein Schuhmachersohn, für seine Mutter aber so wert wie ein Erbprinz war, hatte sein blausamtner Kittel blitzweiße Säume, sodaß die Stute selber stolz auf ihren Reiter schien und wie ein Zirkuspferd tänzelnd dahin schritt. Lerne reiten, mein Söhnchen! lachte der Wachtmeister Schmude; aber die Seligkeit des Knaben war jenseits seiner schalksklugen Worte. Kein Prinz Eugen hätte stolzer zu Roß sitzen können als er, der noch im Kinderparadies war, sich die Welt der Sinne durch keine Bedenken stören zu lassen.

Ob der Bursche Kleindomm wirklich gestolpert war, wie er nachher sagte, oder ob schon der Schelm die Hände des Schuhmachersohns regierte; sie waren gerade am Tor, als die Stute einen schlanken Satz machte und mit ihrem spaßigen Reiter durchging. Der Wachtmeister Schmude fluchte, und der Bursche Kleindomm sprang hinterher in eine Pfütze, die ihn und alle andern übel bespritzte; aber das Tier nahm die Wendung nach rechts in die Stadt, wo die blasse Frau Schuhmacher gerade die Treppe kehrte und ihren Sprößling daher traben sah. Es gab vor dem Kasernentor eine größere Aufregung um das Pferd und eine geringere um den Reiter, bis sie beide nach dem ersten Spazierritt von links wieder auf der Bildfläche der allseitigen Aufregung erschienen, wie sie nach rechts verschwunden waren; nur seine Mütze aus blauem Samt hatte der Knabe darüber verloren, aber auch die fand sich wieder.

Von diesem Sonntagsritt an gehörte Wilhelm Voigt den Dragonern; sie fanden ihren Spaß an dem Knirps mit den großen Augen, dem alles wichtig war, was sie als Wichtigkeit trieben, und der auf einem Pferd sitzen konnte, als wäre die Kaserne um seine Wünsche gebaut. Richtig reiten zu lernen, waren damals seine Beinchen freilich noch zu kurz; aber wenn ein sanftes Tier unter ihm ging, konnte er lässig mit der Linken die Zügel halten und die Rechte gleich einem Offizier in die Seite stemmen, weil er selber unentwegt an seine Reitkünste glaubte, seitdem die Stute des Wachtmeisters Schmude den Rückweg zum Hafer gefunden hatte.

Und denen zu Hause war sein Verkehr mit den Dragonern recht, weil er dem Geschäft Kundschaft einbrachte; auch paßte sein kindliches Tun zu den Kriegs- und Soldatengesprächen der Alten. Zum fünften Weihnachtsfest nähte ihm die Mutter ein Wams mit blanken Knöpfen, das einem Dragonerrock nicht unähnlich sah; weil er zugleich eine richtige Mütze aus zweierlei Tuch und einen blechernen Säbel bekam, war der kleine Soldat fertig, der damit glücklich treppauf, treppab stolzierte und den Säbel über Holz und Stein klirren ließ.

 

Der Abcschütz

Einzig dem Onkel Patzig gefiel es nicht, daß sein Neffe so früh neben das redliche Handwerk geriet. Er, der Mechaniker war, hatte die Welt in Königsberg, Berlin und Köln am Rhein anders als in Tilsit gesehen; sogar in der Schweiz war der kleine behende Mann mit seiner Stahlbrille gewesen, dem die Kenntnis der Natur über die Kirche, und die rechtschaffene Arbeit über die Faulenzerei der Kaserne ging, wie er sagte. Bildung macht frei! lautete sein Leibspruch; und sein Ehrgeiz war, daß Wilhelm Voigt einmal die Naturwissenschaften studiere, die er das moderne Evangelium hieß. Den Anfang damit zu machen, gab er ihm selber den ersten Unterricht, sodaß der Knabe schon lesen und schreiben konnte, als er mit sechs Jahren in die Volksschule kam, auch etwas zu rechnen verstand.

Zudem war der junge Lehrer mit dem Mechaniker Patzig befreundet, weil sie zusammen an dem Modell einer Dampfmaschine bauten, die mit breiten Rädern auf der Straße laufen sollte, ohne Schienen. Er kannte dadurch die Frau Schuhmachermeister und setzte ihr Söhnchen, das ihm gleich der blassen Mutter nicht von der besten Gesundheit schien, auf den obersten Platz unter den Abcschützen. So blieb Wilhelm Voigt auch in der Schule zunächst der Prinz, als der er in der Kaserne gehätschelt worden war.

Die Schule lag nicht allzuweit von der Kaserne; wenn im Sommer die Fenster geöffnet standen, klang manches herüber, was seinen Ohren wohl bekannt war. Auch hatte das Frage- und Antwortspiel, wo die Finger nach dem Kommando aufflogen, wie das Chorsprechen der Klasse samt dem ganzen Betrieb des Gehorsams etwas an sich, das die Schule mit der Kaserne verband; ja, wenn sie auf dem Turnhof exerzierten, rechts und links um, so war das soldatisch, wie er es verstand, der zwar auf die Dauer nicht der beste Abcschütz, aber der jüngste Dragoner blieb, von Alten und Jungen zu seinem Stolz so genannt.

Als er mit neun Jahren in die Oberrealschule kam, immer noch schmächtig mit großen Augen, kaufte der Onkel Patzig ihm alle notwendigen Bücher. Bildung macht frei! schrieb er in jedes mit seiner spitzen Handschrift hinein. Aber dem Knaben war seine Klassenmütze wichtiger als die Absichten des Onkels. Er trug sie wie seine erste gültige Uniform durch die Straßen; und ob er zum Anfang auch in der Oberrealschule kein schlechter Schüler war, der Kasernenhof verlor seine Lockung nicht vor den ersten Mühsalen der Wissenschaft. Mit der Sextanermütze auf dem Kopf lernte er richtig reiten, und Offizier zu werden, war die verwegene Brücke, die er sich schlug. Denn daß ihm dies als Sohn eines Handwerkers verwehrt war, wußte er damals noch nicht; und ihn ganz zu verwirren, kam eines Tages das russische Glück ins Schuhmacherhaus.

 

Das russische Glück

Es kam in der Gestalt eines mittelgroßen Mannes mit kurz geschnittenem schwarzen Bart, der im gelben Jagdwagen mit zwei blanken Pferden und blankeren Beschlägen vorfuhr. Wilhelm Voigt spielte gerade auf der Haustreppe, sah das Wappen mit einer Krone darüber und wunderte sich, daß ein Graf – denn dafür hielt er ihn – selber und ohne Kutscher zu einer Bestellung käme. Indessen stieg der Mann gemächlich ab und fragte ihn, ob die Mutter zu Hause sei oder der Vater? Als er hörte: Die Mutter! hängte er nach der Vorschrift je einen der Zugriemen aus und band die Zügel an den Bock, ehe er mit steifen Stiefeln ins Haus ging, wo bald eine erstaunte Begrüßung hörbar wurde.

Denn der Mann mit dem schwarzen Hart war weder ein Graf, noch wollte er etwas bestellen; es war der Onkel Brecht aus Rußland, der dort auf den Gütern des Grafen Pahlen Verwalter war und eine jüngere Schwester der Schuhmacherin zur Frau hatte. Er kam in Geschäften nach Tilsit und freute sich, seine Verwandten besuchen zu können.

Elisabeth, die ältere Schwester, lief, den Vater aus einer Versammlung der Handwerker zu holen; Wilhelm Voigt durfte mit in den »Grünen Baum«, wo der Onkel Brecht für einige Tage Aufenthalt nahm und die Pferde einstellte. Nachher saßen sie alle ordentlich zusammen, als würde die kleine Luise noch einmal getauft, so sauber hatte die Mutter den Abendtisch gedeckt. Auch stand eine Kanne Bier da, von dem der Knabe ein Glas mittrinken durfte, und der Vater selber schob es ihm hin.

Der Onkel Brecht stammte aus Tilsit, war aber in Rußland geboren, wo schon sein Vater bei dem Grafen von der Pahlen angestellt war. Weil der Sohn und jetzige Graf als Offizier bei der Kavallerie in Petersburg diente, schaltete sein Verwalter die meiste Zeit allein auf dem Gut, wie wenn er selber der Herr wäre. Als er an diesem ersten Abend und auch am folgenden Mittag, weil Sonntag war, im Schuhmacherhaus gesessen hatte – nicht eben gesprächig, aber mit aufmerksamen Augen zuhörend – rückte er mit dem Vorschlag heraus, den er sozusagen im Reisegepäck mitbrachte: eines der Kinder, aus besonderen Gründen am liebsten den Knaben, über die Sommerferien mit nach Rußland zu nehmen. Für die Rückreise würde sich schon eine Gelegenheit finden.

So fuhr Wilhelm Voigt am vierten Morgen mit seinem Vnkel, von der weinenden Mutter vielmals umhalst und auch vom Vater mit einem Kuß auf die Stirn bedacht, über den Memel gegen die Grenze und nach den unvermeidlichen Zollumständen in Rußland ein, wo sie in Tauroggen zum Nachmittag blieben. Die russischen Uniformen kannte er schon, und die Landschaft blieb hinter Poscherun, wie sie vor Laugszargen war; aber so mehrere Tage lang in einem gelben Jagdwagen mit flinken Pferden immerfort in die selbe Weite zu fahren, ohne daß je ein anderes Ende kam, als die Erholungszeit für die Pferde, machte ihn staunen.

Wenn wir so neun Tage lang immerzu führen, gab ihm der Onkel Bescheid und wies mit der Peitsche gegen den flachen Himmelsrand, wären wir erst in Petersburg! und dann könnten wir mehr als ein Vierteljahr – wenn es Pferde gäbe, die sowas aushielten, und wenn der Winter nicht käme – immer gerade aus fahren, und wären noch nicht am Ende der Zarengewalt, weil das Ende hinten in Asien liegt, rund um die Erde herum!

 

Der gräfliche Knirps

Ihre eigene Fahrt war schon am vierten Tag zu Ende, indem das Gut des Grafen von der Pahlen noch in Litauen lag; und als sie genau zum Mittag einfuhren, stand das Schloß am Ende einer Allee, die im Bogen um einen Teich herum führte; auf dem breiten Dach hing die Fahne schlaff an der Stange. Die Frau Gräfin sei für die Ferien da mit ihrem Sohn! erklärte der Onkel Brecht. Der wäre noch ein Knirps wie er und würde sich freuen, mit ihm zu spielen: vergiß nicht, daß er ein Graf ist, und du bist nur der Neffe seines Verwalters! denn ob sie deutsch sprechen wie du und ich, weil die Frau Gräfin aus Riga stammt, wir sind hier in Rußland!

Der Knirps war nicht kleiner als Wilhelm Voigt und genau so alt; aber er besaß zwei Pferde, eines für sich und eins für den Knecht, der jeden Tag mit ihm ausreiten mußte. Kannst du allein in den Sattel? war seine erste Frage, als er am Nachmittag den Sextaner aus Tilsit sah, den ihm der Verwalter zum Spielzeug für die Ferien mitgebracht hatte. Da Wilhelm Voigt das ebenso flink wie er selber vermochte, war sein Vertrauen gesichert.

Wir werden miteinander reiten! befahl er, und die blauen Fischaugen zeigten schon die Lust davon. Nur für den ersten Morgen mußte der Reitknecht auf den Befehl der Gräfin noch ein drittes Pferd rüsten; als die Prüfung günstig ausfiel, durften die Knaben danach allein ihren Morgenritt machen. Und da staunte der Schuhmachersohn, was für ein anderes Ding es war, in Rußland zu reiten, wo es für sie keine verbotenen Wege und Vorschriften gab. Hier gehört alles uns! erklärte der Knirps; und wenn Einer stand, wo sie aus den Feldern heraus angefegt kamen, lachte der mit dem ganzen Gesicht, dem jungen Herrn zu begegnen.

Sie konnten freilich nicht über den ganzen Tag im Sattel sitzen; aber weil dies für beide das Hauptgeschäft war, so reichte ihre Kameradschaft auch für die andern Stunden aus. Der Onkel Brecht, der mit einem Stecken zwei Schatten machen wollte, wie er sagte, war zufrieden: Der gräfliche Knabe hatte noch keine so fröhlichen Ferien gehabt; und Wilhelm Voigt war für einen Monat im Knabenhimmel, wo zwar die Befehle der Großen regieren, aber die eigenen Wünsche machen das Wetter. Als ihn eines Nachts träumte, er wäre wieder in Tilsit, heulte er sich wach trotz seiner Mutter, damit es nicht wahr sei; und als der letzte Morgen wirklich über den hohen Alleebäumen aufging, die er aus seiner Kammer im Verwalterhaus sah, machte er die Augen zu in der Hoffnung, es möchte dadurch ein Traum werden, daß er um sieben Uhr fort müßte.

Weil sich nichts anderes gemacht hatte, und weil die Gräfin ihre Zufriedenheit ausdrücken wollte, mußte ihn der Onkel Brecht selber nach Tilsit zurück bringen; der Knirps ritt noch eine Weile neben dem gelben Jagdwagen her und hatte sich ein merkwürdiges Sinnbild der Treue ausgedacht, die sie beide – der Grafen- und der Schuhmachersohn – am Abend vorher zu geloben töricht genug gewesen waren. Als der Wagen an der vorbestimmten Stelle hielt, reichte er zum Abschied lachend die Hand hinüber; aber wie Wilhelm Voigt sie greifen wollte aus seiner dumpfen Verhangenheit, riß er ihm mit raschem Griff die Sextanermütze vom Kopf, warf seine dafür in den Wagen und galoppierte davon, den Reiterpreis schwenkend.

 

Das Pfand

So kam Wilhelm Voigt mit einer russischen Mütze nach Tilsit zurück, die wie der Schopf eines Eichelhähers war, nicht mit den geraden preußischen Streifen; aber er trug sie stolz über die Grenze, wie der Knabe im Märchen den Glückshut durch den Wald Eekenboom trägt. Auf Wiedersehen! hatte die freundliche Gräfin gesagt, als er sich nach der Vorschrift des Onkels bedankte, und auch die behagliche dicke Tante war mit ihm zufrieden gewesen. Ein Jahr schien ihm nicht lang, wenn er den Preis bedachte; und die Mütze sollte eine Art Pfand sein, daß er in Rußland sein eigenes Reitpferd wiederfand.

Aber der Schuhmacher Voigt, als er die Mütze sah und wie der Sohn siegesgewiß die Hand daran legte, ihn zu erstaunen, riß ihm das Ding vom Kopf und trat mit den Füßen darauf herum, von der großspurigen Zornrede verstand Wilhelm Voigt zwar nur Worte, wohl aber sah er das Gesicht stark gerötet und wie er hinter den fuchtelnden Armen her schwankte, als ob sie zu schwer für ihn waren. Die Mutter hatte schon vorher rot geweinte Augen gehabt; sie raffte ihn zur Küche hinaus, wo die Schwester Elisabeth mit der kleinen Luise auf dem Schoß weinend am Fenster saß und in den Hof starrte.

Der Vater ist betrunken! sagte sie grausam, als die Mutter gleich wieder hinaus gegangen war, indessen nebenan die mahnende Brummstimme des Onkel Brecht begann.

Es war nicht zum ersten Mal, daß Wilhelm Voigt den Vater so sah; aber in dieser Stunde der Heimkehr aus seinem russischen Glück stieg ihm ein so dicker Haß gegen ihn auf, daß ihm der Hals davon schmerzte. Ich reise wieder nach Rußland zurück! trotzte er dumpf; aber die Schwester Elisabeth tat eine hämische Lache: übermorgen geht die Schule wieder an, spottete sie, und du hast nichts auf dem Kopf!

Der Onkel Brecht kaufte ihm zwar am nächsten Tag eine neue Sextanermütze, ehe er mit der andern und seinen Erfahrungen dazu wieder abfuhr; aber für Wilhelm Voigt war es nun keine Uniform mehr; wie alles in Tilsit, auch die Kaserne, nach dem russischen Glück keinen Glanz mehr hatte. Nicht einmal zu reiten lockte ihn noch; es war schon lange nach den Manövern, und die Rekruten waren im Drill, als er wieder anfing, in die Kaserne zu streichen: aber nun verfiel sein Vater darauf, es ihm zu verbieten.

 

Der Schuhmacher Voigt

Der Schuhmacher Adalbert Voigt – wie neben dem blechernen Stiefel an der Haustür stand – war von Ansehen kein übler Mann, wenn er seinen braunen Schnurrbart zwirbelte, einen Gang in die Stadt zu tun, und dazu sang, sah er stattlich aus, und nüchtern war er auch gutmütig gegen die Kinder; aber ihn hatte, wie der Rnabe den Onkel Patzig einmal unbedacht sagen hörte, der faule Feldzug in Baden auf die Wirtsbank gebracht. Mit andern Handwerkern abends dasitzen zu Späßen und Maulfechtereien oder zum Kartenspiel, war ihm eine böse Gewohnheit geworden, aus der er ans Trinken kam und den ererbten Wohlstand vertat.

Denn die Voigt wie die Patzig waren Tilsiter Bürger; sie hatten noch Felder und einen gehegten Garten vor der Stadt, in dem die Kinder spielten und fröhlich an der Bestellung im Frühjahr mithalfen. In der Buchenlaube darin saßen an schönen Sonntagen nachmittags Gäste bei Kaffee und Kuchen, so gut der Lehrling den Korb auf einem Handwagen her gebracht hatte. Ob sie nur Handwerksleute waren: in ihrem eigenen Haus und Besitz, in den polierten Möbeln und im Kupfergeschirr der Küche war noch ein stattlicher Rest von dem goldenen Boden übrig geblieben, den das Handwerk einmal gehabt haben muß; er wurde von der blassen Mutter gegen den Leichtsinn des Vaters schon lange in einem heimlichen Rampf verteidigt, ehe die Kinder den bösen Zerfall merken konnten.

Es war gegen Weihnachten nach seinem russischen Sommer, als Wilhelm Voigt in der Nacht durch lautes Geweine seiner Schwester Elisabeth geweckt wurde. Er sah sie im Hemd an der halboffenen Tür zum Schlafzimmer der Eltern stehen, darin noch Licht war. Weil es ihm schrecklich vorkam, daß sie mit bloßen Füßen dastand und weinte, hob er sich in den Kissen auf und schrie mit. Sein schlaftrunkener Knabenkopf dachte an Räuber; aber als er mit seiner schrillen Stimme in das blasse Geweine hinein kam, wurde die Tür aufgestoßen nud der Vater, noch in den Kleidern, stürzte herein, schmiß die Schwester ins Bett zurück und fiel mit Fäusten über ihr Geschrei her, brüllend, sie beide tot zu schlagen, wenn sie noch einen Laut gäben!

So rot und von Sinnen war der Schuhmacher, daß die Mutter in der Nachtjacke kam, ihn abzuhalten. Dadurch warf sich sein Zorn gegen die Frau: vor die Brust gestoßen, sank die Ärmste mit einem Seufzer gegen die Wand und blieb ohnmächtig liegen. Das endlich brachte den Tobenden wieder zu Sinnen; so wortlos, wie die Mutter hingesunken war, warf er sich in die Knie, ihre Hand zu raffen, und als er den Pulsschlag fühlte, die Kraftlose auf den Armen ins Schlafzimmer zurück zu tragen, wo unterdessen auch die kleine Luise zu quärren begonnen hatte.

Eine Weile noch hörte Wilhelm Voigt den Vater nebenan stehen und tuscheln; dann wurde die Tür zugemacht, daß nur noch der schmale Lichtstreif unten in der Dunkelheit war. Er faßte die Hand der schluchzenden Schwester und starrte zurück in das Bild seiner Augen, daß die Mutter wie tot dalag, und der Vater hatte sie nieder gestoßen; und wieder stieg ihm der Haß in den Hals, daß ihn der Schmerz würgte.

Am andern Morgen stand die blasse Mutter wie sonst mit dem Licht am Bett, die Kinder zur Schule zu wecken; und als sie den Vater am Mittag sahen, aß er, was die Mutter ihm hinstellte; nur sprach er nicht und trug seine Beschämung noch tagelang finster schweigend herum.

 

Der Onkel Patzig

Irgendwie mußte der Onkel Patzig von dem Vorfall gehört haben; er kam am andern Abend und saß noch lange allein mit der Mutter in der vorderen Stube, die sie dafür geheizt hatte. Auch in den Wochen danach war er geheimnisvoll da; und wenn Wilhelm Voigt auch erst später von den Spielschulden des Vaters erfuhr, die in Ordnung gebracht werden mußten: soviel merkte er doch, daß die Stahlbrille des Onkels nicht aus Neugier so oft herein sah, auch daß die Schwäger sich seit diesen Vorgängen mieden.

Weil es im Winter nichts war mit der Reiterei und die Abende nicht kürzer werden wollten, kam er durch die Besuche des Onkels wieder mehr in dessen Werkstatt, wo der eifrige Mann bis in die Nächte an seinen Erfindungen zu basteln hatte. Mehr aus Langeweile, als weil es ihm besondere Freude machte, lernte Wilhelm Voigt damals feilen und löten, Eisen sägen, Zahnräder und sogar Gewinde schneiden. Lieber freilich war es ihm, was der Onkel von der großen Stadt Berlin, vom Kölner Dom und von den Schneebergen in der Schweiz erzählte; er konnte dann mit offenem Mund und großen Augen dasitzen, sich an die Bilder fest zu saugen, die seine Einbildung überirdisch ausmalte. Nur die spitzen Ermahnungen des Onkels mochte er nicht, und daß er ihn mit der Schule plagte. In solchen Sachen stand er doch wieder besser mit seinem Vater, der, wenn er gut gelaunt war, seine Soldatenlieder absingen konnte und die Lehrer, so oft die Rede auf sie kam, Brillenputzer und Tintennachtwächter schimpfte.

Wilhelm Voigt hatte sein drittes Jahr in der Oberrealschule schon angefangen und trug die Quartanermütze, als der Onkel Patzig im Mai den Blutsturz bekam, an dem er starb. Es war am Sonntag, und sie wollten draußen am Wasser das Modell einer neuen Turbine probieren, das der Onkel aus Blech geschnitten und gelötet hatte. Wie es im Mai kommen kann, daß eine Hitze den Himmel mit Dunst überzieht und das Wasser faul dahin fließt, so war es an diesem Sonntag: die jungen Kräuter lagen schlaff auf der Erde, und die Vögel flogen kaum hoch aus dem Sand vor ihren Schritten. Das Wasser in ihr merkwürdiges Blechgerät einströmen zu lassen, mußten sie erst einen langen Kanal graben und hatten emsig geschafft, als Wilhelm Voigt den Onkel aus der Hocke, darin er über seiner Turbine saß, nach vorn sinken und gleich danach bäuchlings über dem zerdrückten Blech liegen sah.

Erst wollte er lachen, weil er das nur für ein Mißgeschick hielt. Bist du ins Wasser gefallen? fragte er noch; da sah er Blut im Sand und gleich darauf legte sich die gekrümmte Gestalt aus ihrer eigenen Schwere ganz auf die Seite, daß er sein entfärbtes Gesicht, dem das Blut aus dem Mund in den grauen Bart quoll, kaum noch erkannte.

Erschrocken irrte er gegen den Damm, auf dem er Leute spazieren sah, ein Ehepaar mit Kindern und einem gelben Hund. Die rief er an: Sein Onkel wäre ins Wasser gefallen und blute! Indessen sie zögernd kamen, liefen schon andere von selber herzu; und zuletzt hatten zwei Manner eine Schreinerbahre geholt, den Onkel gegen die Stadt hinauf und in seine Wohnung zu bringen, die der Knabe ihnen zeigte, stolz, der Retter gewesen zu sein.

Der Onkel Patzig verwand den Blutsturz nicht; er mußte am andern Mittag ins Krankenhaus gebracht werden, weil er als Junggeselle daheim keine Pflege hatte; und nicht lange danach war er gestorben. Wilhelm Voigt bekam ein schwarzes Band um den Ärmel und mußte neben dem Vater hinter dem Sarg hergehen, als sie den Onkel auf den Kirchhof trugen. Es war zum drittenmal, daß er so durch das Gittertor in die ernste Allee kam; denn er hatte schon beide Großväter mitbegraben; aber erst diesmal weinte er auch.

Nun sind wir allein! klagte die Mutter, als er ohne den Vater zurück kam und sie mit den Schwestern nassen Auges am Fenster sitzen fand. Ich will dein Onkel werden! prahlte er, sie zu trösten, und hätte im Augenblick gern eine Stahlbrille gehabt; aber die Schwester Elisabeth gönnte ihm den Hochmut nicht. Du? fragte sie und hob geringschätzig die Schultern: Du wirst Soldat!

 

Der Vater will in den Stadtrat

Schon von dem Begräbnis kam der Schuhmacher Voigt erst in der Nacht nach Hause. Er war mit Freunden im schwarzen Rock zum Leichenschmaus gegangen, den sie sich selber rüsten mußten; und der Schmaus ging aus in einen Trunk, von dem ihn die letzten Genossen mit Mühe heim brachten. Wilhelm Voigt hörte es von einem Mitschüler andern Tags, der als Sohn des Wirtes noch mehr von dem Abend erzählte, was für Tollheiten die Leichenschmauser angestellt hatten. Er verstand nun, warum es am Morgen hieß, der Vater sei krank; und der Lärm in der Nacht auf der Treppe war kein furchtsamer Traum gewesen.

wie es mit dem Begräbnis begann, so ging es in nächsten Wochen weiter; als wäre mit der Stahlbrille des Onkels die letzte Rücksicht fort, ließ sich der Schuhmacher gehen. Die Mutter hatte ein kleines geerbt, und es waren Gänge zum Gericht und Reisen zu Verwandten nötig: ziemlich von keinem Gang kam er rechtzeitig zurück, und die Reisen dehnten sich zu Trinkfahrten aus.

Die Mutter mußte indessen mit dem Gesellen, der ein ältlicher Schwabe und mürrischer Arbeiter war, das Geschäft mühsam in Gang halten, und der Lehrling fing an zu stehlen. Noch kein halbes Iahr war seit dem Tod des Onkels vergangen, und die ersten Schneegestöber wehten über den Memel herüber, da waren die Zustände kaum noch vor den Nachbarn zu verbergen.

Der Schuhmacher Voigt war nun ganz in die Hände eines Mannes geraten, der aus Lodz nach Tilsit gekommen war und über den keiner wußte, wovon er lebte. Seines Zeichens Pferdehändler, hatte er nur einen geliehenen Stallplatz, der wenig gebraucht wurde; hingegen hieß es, er triebe Schmuggel. An diesen Mann, der einen polnischen Namen trug und dem angeblich in der Jugend ein Auge blind geschossen war – einige sagten, der Schuß sei viel später an der Grenze gefallen – verlor der Schuhmacher mehr Geld im Spiel, als vorher; aber er kam nicht von dem Rumpan los.

Jemehr er verlor und je angegriffener die Geschäftskasse von seinen Verlusten wurde; je öfter es vorkam, daß die Lederrechnungen eingemahnt werden mußten: umso heftiger hörte Wilhelm Voigt seinen Vater über den Niedergang des Handwerks räsonieren; umso weher sah er die Augen der Mutter, die weder nach ihrer zarten Natur für so wüste Dinge bestimmt, noch nach ihrer Herkunft gewohnt war, zu borgen.

Einmal schien dem Besessenen die Vernunft wieder zu kommen. Er hatte Gründe, seinem Rumpan aus Lodz zu mißtrauen, der eines Tages auf seinem angeblichen Pferdehandel ausblieb, und mehrere Tilsiter Handwerker hatten nicht nur im Spiel Geld an ihm verloren. Das geschah in der Woche vor Ostern, als die Schwester Elisabeth konfirmiert worden war, und Wilhelm Voigt konnte den Tag lange nicht vergessen, an dem der Vater vor ihnen allen zu heulen anfing. Sie wollten gerade zu essen beginnen, und die Suppe stand schon ausgeschöpft in den Tellern, als er seinen Höffel aus der Hand fallen ließ: Er wäre ein schlechter Vater und Haushalter! Und dann versprach er seiner Frau, die selber vor Schrecken zu weinen begann, daß er sich wandeln würde wie ein Morgenstern! Er sagte das Wort dreimal, als ob ein Sinn darin stäke, und ließ den Ropf hängen, wie wenn er dennoch betrunken wäre; er war es aber diesmal nicht.

Am andern Morgen, weil es Karfreitag war, ging er im schwarzen Rock mit der Mutter zur Kirche und danach zum Abendmahl. Der Vater will in den Stadtrat! spottete die Schwester Elisabeth, als die Kinder durch die Gardine den Eltern nachsahen. Stadtrat! plapperte die kleine Luise, die am Boden spielte; aber nun weinte Wilhelm Voigt dicke Tranen, weil ihn der ungewohnte Anblick der Eltern in den Kirchenkleidern rührte; denn ihm hing seit dem Onkel Patzig alles Schwarze mit dem Kirchhof zusammen.

 

Vierzehn Tage Strengen

Indessen hielt die Vernunft des Schuhmachers nicht vor: im Herbst hatte er Verluste mit einer leichtsinnigen Bürgschaft und geriet, den Groll zu vertrinken, schlimmer in seine Gewohnheit. Diesmal konnte Wilhelm Voigt den Zustand nicht länger ertragen und vollführte den Schelmenstreich, der anfangs nichts als ein kindlicher Einfall war, aber böse ausging für ihn.

Weihnachten war gewesen und hatte nur graue Stille ins Haus gebracht, weil am Tag vor dem Heiligen Abend der Schuhmacher Voigt um einer Kleinigkeit willen in solchen Jähzorn geriet, daß er den Tisch mit dem Essen umschmiß und in den Scherben herum stampfte. Als die kleine Luise zu weinen begann, trat er nach ihr mit dem Stiefel, und der Mutter, die ihr Kind raffte, warf er einen zerbrochenen Teller hinterher. Nachher bereute er seine Roheit, las selber die Scherben auf und säuberte die Stube. Jedoch der Christ wollte danach nicht kommen, den die Kinder in den andern Häusern fröhlich sangen.

Als Wilhelm Voigt am dritten Weihnachtstag nach seiner Gewohnheit in die Kaserne hinein strich. trostlos und schwarz von dem häuslichen Streit, sah er, wie Einer durch zwei Dragoner mit der blanken Waffe abgeführt wurde; und als er fragte, hatte der in der Trunkenheit alles Gerät in seiner Stube zerschlagen. Das kostet ihn vierzehn Tage Strengen! hörte er sagen, und weil er den Anblick nicht vergessen konnte, wie sein eigener Vater das Geschirr mit dem Essen zertrat, folgte er einem Einfall, der im Augenblick mit allem Anschein der Vernunft über ihn kam, obwohl er selbst für seine dreizehn Iahre zu töricht war.

Er ging zum Wachtmeister der ersten Schwadron, der längst nicht mehr der Schmude mit dem blonden Schnurrbart, sondern ein kurzer Kerl mit glasweißen Augen in einem Seehundskopf war, und verlangte in allem Ernst, daß der ihm zwei Soldaten mitgäbe, den Schuhmacher Voigt, seinen Vater, in Arrest abzuführen, weil er das Geschirr mit dem Essen zertrampelt habe! Und als der Glatzkopf ihm hinterlistig sagte: da müsse er zur Polizei gehen, weil sein Vater Zivilist wäre; sie dürften nur Soldaten einsperren! tat er das gutgläubig.

So trat an dem Morgen bei dem Polizeiwachtmeister von Tilsit ein blasser Knabe ins Zimmer, der seinen Vater verhaften lassen wollte. Der graubärtige Beamte, dem der Schuhmacher Voigt vom Wirtstisch bekannt war, ließ ihn seinen Unsinn hersagen, um noch am selben Tag dem Vater alles nicht ohne den Rat zu berichten: er möge seinen naseweisen Bengel besser in Zucht halten!

Das tat der Schuhmacher Voigt am Abend auf seine Art, als Wilhelm Voigt bis in die Dunkelheit vergeblich draußen gewartet hatte, daß sein Vater abgeführt würde zu vierzehn Tagen Strengen. Er fiel über ihn her und verprügelte seine knochigen Glieder so, daß er nur noch auf Händen und Füßen ins Bett kriechen konnte.

Die Mutter war mit den Schwestern ahnungslos in der Stadt zu einer Besorgung und kam erst heim als der Vater, selber halb tot vor Grimm, ins Wirts» Haus abgeschoben war. Sie fand ihren Knaben wimmernd und naß von kaltem Schweiß in den Kleidern auf dem Bett liegen, zog ihn aus und deckte ihn zu, wehen Herzens an seinem Hager zu sitzen, der offenen Auges lag und schlief, und dem die schwarzen Wünsche durch seine Träume gingen die ganze Nacht, daß ihm die Hände zuckten.

 

Die Reitstiefel

Am Mittag des andern Tages sollte Wilhelm Voigt ein Paar Reitstiefel auf ein Gut halbwegs Splitter hinaus tragen. Er ging nicht den Landweg, sondern am Memel vorbei, wo der Fluß schwarz durch die weißen Schneegründe floß, wie er bitteren Herzens und mit schmerzenden Gliedern die trägen Wellen Schritt für Schritt überholte, weil es kalt war, kam es zuletzt, daß er nieder saß und dem kreiselnden Wasser zusah, wie es von Tilsit hinab in die graue Weite floß, aus der es nicht mehr zurück zu kehren brauchte. So unstillbar war sein Groll, daß ihm die Flut eine Verlockung wurde, hinein zu sinken und mit in die graue weite zu treiben. Er malte sich Bilder aus, wie sie seine Leiche heraus fischen würden und um ihn weinen, daß der Vater sogar seine Grausamkeit büßte.

Als aber Wilhelm Voigt solchen Traumen wollüstig nachhing, und es war wohl schon die Kälte, die in seinen Säften zu wirken begann, fiel eine Helligkeit von Westen her in seine Gedanken; und es waren verwandte seiner Mutter in Königsberg, die wie der gestorbene Onkel Patzig hießen. Er wußte zwar, daß es weit dahin war; aber die Königsberger Straße, bedachte er, müßte ihn von selber ans Ziel bringen. So rasch nahm die Lockung Besitz von seinen trüben Gedanken, daß er statt seiner die Reitstiefel des Gutsherrn ins schwarze Wasser warf, wo sie noch eine Weile mit ihren Röhren glänzten, bis die Luft daraus entwichen war, und gemächlich ertranken. Der Knabe am Ufer sah ihrem Untergang mit der Gewißheit zu, daß er nun nicht mehr nach Hause dürfte; und als ob ein anderer ihn mit dem iLllbogen zur Seite schöbe, war er der staunende Zuschauer seiner selber, der sich quer ins weiße Land wandte, wo die kahlen Bäume der Rönigsberger Straße standen.

 

Der Herrschaftskutscher

Wilhelm Voigt war noch nicht ganz dreizehnjährig, schmächtig und blaß, als er sich so töricht auf eine Reise machte, die ihn sechsundzwanzig Wegstunden weit durch die scharfe Winterkälte führte. Weder seine Kleidung reichte für einen solchen Marsch aus, noch hatte er Geld und Papiere; er war, als er über die Bannmeile von Tilsit hinaus kam, ein verlaufener Hund, der einer Straße nachlief, die schnurgerade und leer in die graue Weite hinein führte.

Denn zwischen Tilsit und Rönigsberg ist auch im Sommer keine lachende Flur; wenn aber im Winter die Felder eingeschneit sind und über der weißen Wüste die undurchsichtige Winterluft steht, können die schwarzen Krähen, die aus dem kahlen Geäst auffliegen, meilenweit das einzig Lebendige sein, das der Wanderer erblickt. Und wenn der Wanderer ein Knabe ist, der seine Tertianermütze auf dem Kopf, in der Tasche keinen Pfennig und ebenso wenig im Magen hat, auch hängt schon das Abendrot im grauen Gewölk, und der Osten hinter ihm schüttet seine dunkle Lasten über das stumme Land: dann ist es ein unheimlicher Weg.

Wilhelm Voigt hatte noch nie ein Licht aus der Ferne so inbrünstig begrüßt wie nun, da er mutterseelenallein aus der Dämmerung in die stumme Nacht hinein gestapft war. Als er näher kam, gesellten sich dem einen Licht noch andere; aber das vermeintliche Dorf, das sich mit hohen Bäumen dunkel gegen den Himmelsrand hob, lag abseits der Straße und war nur ein Gut mit dem Kätnervolk rings um das Herrengebäude. Der Enttäuschte zögerte, in den Seitenweg abzubiegen; aber soweit er voraus spähte, war an der Straße kein weiteres Hicht zu entdecken, und ringsum lauerte die Nacht. So schlich er sich über den holprigen weg heran, bis er erleuchtete Scheiben und dahinter kärgliche Räume sah; denn die Gutsherrschaft war fort, und das Schloß gegenüber lag dunkel.

Lange wagte er sich nicht an eine Tür, bis er über ein verschneites Brett fiel und gleich darauf aus dem Dunkel hinter ihm eine Männerstimme fragte: ob Jemand da wäre? Die Gestalt, der die Stimme gehörte, nahm ihn mit hinein und war drinnen ein weißhaariger Mann, der verwundert seine Tertianermütze sah und mißtrauisch fragte: wie er zur Nachtzeit daher käme? Denn er kannte die Mütze. Wilhelm Voigt hatte die Torheit seiner Flucht noch nicht im Geringsten bedacht; er sagte ihm also, wer er wäre und daß er zu seinen verwandten nach Rönigsberg wollte; nur, warum er in der Winternacht unterwegs war, verschwieg er aus Scham. Aber der alte Mann, der ein rasiertes Gesicht und listig verkniffene Augen hatte, verstand zu fragen, daß er bald über alles Bescheid wußte.

Also ein Ausreißer! mißbilligte er, indem er ein neues Scheit auf das Feuer warf; denn der Raum war sowohl Küche als auch Wohn- und Schlafzimmer, wie das Bett in der Ecke anzeigte. Und ob er ihm Brot und Speck reichlich zu essen gab und einen alten Soldatenmantel als Lagerstatt auf die Bank legte: sein Plan war dennoch, wie er ihm freundlich eröffnete, daß er ihn andern Morgens, da er als Kutscher der Herrschaft nach Tilsit müsse, mitnehmen würde, ihn seinen Eltern zurück zu bringen. Das wäre mir eine schöne Zucht, entschied er, wenn die Kinder den Eltern weg laufen dürften! schloß die Tür ab und nahm den Schlüssel zu sich.

Und wie es dem Ausreißer am Abend angedroht war, geschah es am andern Morgen, als der alte Kutscher einen Pack Felle aufgeladen hatte, die nach Tilsit zum Kürschner sollten, und ihm einen Platz hinten im Schlitten anwies; denn vorn neben ihm saß der Diener. Er sollte, eingepackt in eine alte Pferdedecke, kurzerhand durch die kältere Frühe den weg zurück gefahren werden, den er im kalten Abend marschiert war. Als aber auf der großen Straße die Rappen zu traben begannen und der Diener dem Kutscher im Schlittengeläute ein Schreiben erklärte, das in der Luft flatterte, wickelte sich Wilhelm Voigt hinter ihnen sacht aus der Decke und ließ, am Schlitten hängend, die Beine mitlaufen, bis er in den Schnee fiel und seitab an ein schwarzes Gebüsch rollte, wo er solange liegen blieb, bis das lustige abgleitende Fahrzeug in einer Bodenwelle der Straße verschwunden war.

 

Tausch der Mützen

Es war um acht Uhr in der Frühe, als Wilhelm Voigt zu seiner zweiten Flucht ansetzte; und lange noch fürchtete er, der Schlitten möchte umgekehrt sein, ihn zu suchen. Erst, als ihm gegen Mittag ein Schneegestöber den wind durch die Hosen wehte, konnte er Schlittengeräusch ohne Furcht hören. Aber nur drei Gefährte sah er den ganzen lautlosen Tag bis auf das vierte, das ihn gegen die Nacht einholte. Darin saß ein Wirt und Metzger aus Labiau, der nach Vieh geschaut hatte, ein lustiger Mann, der pfeifend und peitschenknallend auf leichtem Schlitten daher kam und seine Müdigkeit aufsitzen hieß. Der fragte nicht nach dem Woher und Wohin, nahm ihn zur Nacht mit in sein Haus, wo er reichlich zu essen bekam und in der Knechtkammer schlief; denn der Meyger und Wirt hatte auch Landwirtschaft.

Der eine Knecht war kaum größer als Wilhelm Voigt, nur älter und nicht recht klug; der fand Gefallen an seiner Tertianermütze und tauschte ihm eine warme Ohrenkappe dafür ein. Diesmal war es kein Sinnzeichen, sondern ein rechtes Geschäft, und zur Abgleichung gehörte, daß ihn der Knecht andern Morgens mit in ein Dorf nehmen wollte, das an der Straße nach Königsberg lag. Er weckte ihn früh um fünf Uhr, und die junge Magd, der seine verfrorene Schlaftrunkenheit leid tat, stopfte ihm Brot und Wurst in die Taschen. So begann er den dritten Tag seiner Flucht wohlgemut, am Abend bei den Verwandten zu sein; auch hatte er nun schon Gefallen an solchen Abenteuern gefunden.

Indessen das Dorf, dahin der Knecht fuhr, war nicht weit und schon erreicht, ehe der Tag hellte. Wilhelm Voigt mußte absteigen und den letzten Marsch mit schmerzenden Füßen beginnen; und diesmal kam kein Schlitten, so viel er spähte. Bis zum Mittag behielt er noch Mut und versuchte, in seine Schritte zu pfeifen. Dann fand er zwar eine mitleidige Bauersfrau, die ihm einen Napf warmer Suppe reichte; aber nachher zog sich die Straße noch Meilen hin, deren jede ihm mühsamer wurde. Er fragte ein paarmal, wie weit es nach Königsberg wäre? als aber der erste zweieinhalb Stunden gesagt hatte, sagte der zweite vier. Und die Winternacht hatte längst Besitz von dem letzten rotgelben Lichtstreifen im Westen genommen, als Wilhelm Voigt sich im trüben Schein der Mondsichel noch immer dahin schleppte.

Das war kein Abenteuer mehr wie an den beiden Abenden vorher; die Gedanken an seine Mutter fielen über ihn her, daß er zuletzt jämmerlich heulte. Zwar sah er schon lange im Westen einen fahlen Schein am Himmel und endlich darunter auch Lichter; aber als er hinzu gegangen war, hieß es noch immer nicht Königsberg, und der Schein wich von neuem zurück, bis er endlich still stand über der Stadt. Die aber war kein Labiau und auch kein Tilsit; hinter den Wällen baute sich ihr Getürm über dem schwarzen Dächerwerk auf, und hundert Lichter stachen in die Landschaft hinaus. Auch stand ein Posten am Tor und schreckte ihn ab, als er sich einschleichen wollte.

 

In der Ausspannung

Todmüde und gänzlich verzagt saß Wilhelm Voigt eine Weile auf einer Bank zur Seite, als ein Wagen, mit einer runden Plane bespannt, schwer rasselnd an ihm vorbei fuhr. Er wußte schon nicht mehr, das wievielte Fuhrwerk es war, so ging der Zug in das grell beleuchtete Tor hinein, und der Schnee war von den Rädern gänzlich zu Schanden gefahren. Was er schon dreimal gedacht aber nicht vermocht hatte, das tat er nun, als er das dunkle Halbrund unter dem Plantuch offen sah: er lief einige Schritte hinterher, bis er Holz in die Hände bekam, riß sich hoch daran und warf seinen müden Körper in den Wagen hinein, darin Mehlsäcke nicht ganz bis an den hinteren Rand aufgeschichtet waren, sodaß er zwischen den Säcken und dem Holz ein enges Gelaß fand, sich zu verkriechen.

So kam er am Posten vorbei, war aber zu müde, sich, wie er gewollt hätte, danach vom Wagen zu stehlen; lag mit klappernden Zähnen und ließ sich über das Pflaster rattern, bis er einschlief.

Wie er aufwachte, standen im Licht einer Laterne einige Männer mit wüsten Bärten und rüttelten ihn. Sie waren mit dem Wagen in den Hof einer Wirtschaft gefahren, die von den Fuhrleuten eine Ausspannung geheißen wird; und nur, weil sie die Decke gesucht hatten, auf der Wilhelm Voigt lag, war er von ihnen gefunden worden. Da sollte er seinen Namen sagen, wie und wo er in den Wagen gekommen wäre! Weil er keine Antwort gab, nur furchtsam in ihre bärtigen Gesichter starrte, holten sie ihn gutmütig fluchend heraus, daß er sich trollen sollte. Er aber, weiß von den Mehlsäcken, konnte vor Schlaftrunkenheit und Kälte nicht mehr auf den lahmen Füßen stehen; das weinende Elend kam stärker über ihn als vorher auf der Straße, sodaß er gegen den Wagen hinsank und heulte.

Immer noch fluchend nahmen die Fuhrleute ihn mit hinein in die qualmige Stube, wo eine Theke mit Gläsern und Schnapskrügen war. Da konnte er endlich den Namen seiner Verwandten sagen, den freilich keiner in der großen Stadt kannte. Zuletzt hatte der dicke Wirt Mitleid: Hr solle hier auf der Ofenbank schlafen und morgen sein Glück mit dem Adreßbuch versuchen; jetzt sei es zu spät und dunkel für solche Umstände! So saß Wilhelm Voigt noch eine Stunde herum in dem Qualm, aß, was ihm die Leute aus Mitleid gaben, und schlief ein, sowie die letzten nach ihren Schlafstätten gegangen waren. Stunden lang glaubte er geschlafen zu haben, als er zum zweiten Mal an diesem Abend wach gerüttelt wurde. Während er von seiner Ofenbank aufstand und die geblendeten Augen rieb, war die Wirtsstube wieder hell, und ein großer Mann im Helm stand vor ihm, während der Wirt, dessen Gewissen aus andern Gründen nicht unbelastet sein mochte, verlegen hinter der Theke hantierte. Der Polizist hatte sein Notizbuch schon aus den Brustknöpfen genommen, wollte Namen und Herkunft wissen, und in welcher Absicht er nach Königsberg gekommen wäre?

Durch die Erfahrung mit dem alten Herrschaftskutscher gewitzigt, sagte Wilhelm Voigt wohl seinen Namen richtig, gab aber Labiau als Heimat an und daß er seine Verwandten namens Patzig besuchen wollte. Doch weil er weder Straße noch Hausnummer wußte und offenbar durch den Wirt verdächtigt worden war, nahm ihn der Beamte kurzerhand mit auf das Polizeiamt, wo er für die Nacht in eine Art Gewölbe gebracht wurde, darin auf Pritschen schon Schicksalsgenossen lagen. Ihm wurde die seine angewiesen; und weil der Raum zwar kaum geheizt, aber gegen die grausame Kälte draußen genügend warm war, gab er sich nicht allzu schlimmen Gedanken hin. Die Hauptsache schien ihm, daß er in Königsberg war und den mühsamen Marsch hinter sich hatte; seine Verwandten zu finden, hoffte er, würde die Polizei ihm schon helfen. Bevor er einschlief, fand er noch ein Stück von dem Brot, das ihm die Magd des Metzgers in die Tasche gesteckt hatte; er kaute daran, ehe er zum dritten Mal an diesem Tag die Augen zumachte.

 

Der Spitzbart

Am andern Morgen träumte Wilhelm Voigt, in der Kaserne von Tilsit zu sein, wo er den Wachtmeister mit den Dragonern schnauzen hörte; als er die Augen aufriß, stand ein anderer Polizist als der vom Abend mit einer Laterne da und rief zum Aufstehen. Nachher wurden sie in der Reihenfolge der Pritschen vorgeführt oder wie Einer mit einem rostigen Handstreichergesicht sagte, ins Allerheiligste genommen. Ihn traf es zuletzt, sodaß er Zeit fand, seine Antworten zu überlegen: er war nicht umsonst in der Kaserne der jüngste Dragoner gewesen, und sein Morgentraum hatte ihn erinnert, daß auch die Polizisten eine Art Wachtmeister wären, mit denen er umzugehen verstand.

Jedoch, als er über steinerne Treppen und durch einen langen Gang in das Zimmer gebracht wurde, saß an dem breiten Schreibtisch statt einem raunzigen Wachtmeister ein freundlicher Herr in Zivil mit einem blonden Spitzbart unter dem Kneifer. Der sagte Söhnchen zu ihm und lächelte sanft, sodaß er Zutrauen faßte und ihm auf seine Fragen ehrliche Antworten gab: daß er Wilhelm Voigt heiße und der Sohn des Schuhmachers Adalbert Voigt in Tilsit wäre, am l3. Februar l849 geboren, evangelischer Konfession, und nach Königsberg gekommen, um seine Verwandten namens Patzig zu besuchen, deren Wohnung ihm freilich noch unbekannt wäre.

So, unbekannt? nickte der freundliche Herr, der alles mit einer sehr spitzen Feder auf einen vorgedruckten Bogen geschrieben hatte, und wollte scheinbar nur noch nebenbei wissen, wieviel Geld ihm sein Vater mit auf die Reise gegeben habe? Als Wilhelm Voigt törichterweise antwortete: Keins! schrieb die spitze Feder auf: Unterwegs ohne Mittel! und der sanfte Mund über dem Spitzbart wiederholte es schmunzelnd. Wer ihn trotzdem zu essen gegeben habe und Nachtquartier? fragte er noch und schrieb alles auf, was er Stück für Stück durch freundliche Fragen aus seiner Vertrauensseligkeit heraus lockte: von dem alten Kutscher am ersten Abend, von dem Metzger in Labiau und der mitleidigen Magd, von der Bauersfrau mit der Suppe und dem dicken Wirt in der Ausspannung.

Und überall hast du gebettelt? setzte der blonde Spitzbart beiläufig hinzu, auch das nieder zu schreiben und legte die Feder erstaunt hin, sich fassungslos in seinen Sessel zurück lehnend, als sein Opfer vor Schrecken anfbegehrte. So, nicht gebettelt hast du? auch hier in Königsberg nicht? Und als Wilhelm Voigt nur den Kopf schüttelte, teilte er ihm immer noch sanft aber schon höhnisch mit, daß der Wirt in der Ausspannung ihn dessen beschuldigt habe. Er solle nicht weiter lügen, sondern gestehen!

Über diese Gemeinheit des dicken Wirtes war Wilhelm Voigt so empört, daß er vor seiner eigenen Stimme erschrak, als er Nein schrie. So, so! höhnte der sanfte Herr mit dem Spitzbart und holte unter der Tischplatte ein geflochtenes Ding aus Leder heraus, es ihm unter die Augen zu halten: Betteln und lügen gehören zusammen; aber dies ist der Weg zur Wahrheit! Stand auf, als der Knabe vor Schrecken und Trotz kein Wort mehr sagen konnte, faßte mit geübtem Griff seinen Nacken und legte ihn übers Knie, zuerst gemächlich, dann schneller sein Hinterteil mit dem Leder zu bearbeiten, und schien für das Geschrei keine Ohren zu haben.

Zweimal ließ er ab und setzte zum dritten Mal an; und als er zum dritten Mal abließ, war der Trotz gebrochen. Kalt und zitternd von den empfangenen Schmerzen und furchtsam vor neuen gab Wilhelm Voigt zu, gebettelt zu haben, was sein Peiniger, dem die Exekution in keiner Weise zugesetzt hatte, mit der spitzen Feder hinschrieb. Also aufgenommen, vorgelesen und unterzeichnet! sagte er befriedigt, wie ein Pferd in den Hafer schnaubt, und reichte die Feder über den Tisch: Hier deinen Namen! Du kannst doch schreiben? Erst bei dieser Frage fiel Wilhelm Voigt seine Ohrenkappe ein, und daß er ihn mit der Tertianermütze nicht so gefragt hätte.

Als der Name mit dem Tintenkreis einer darauf getropften Träne auf dem Papier stand, unterfertigte auch der Spitzbart das Protokoll: Also wird der Voigt, Wilhelm, aus Tilsit, wegen Bettelei von Rechts wegen zu achtundvierzig Stunden Haft verurteilt, die er sogleich anzutreten hat! tat in aller Gemächlichkeit Streusand auf das Papier und zog an dem Klingelzug, worauf der Polizist wieder erschien, der ihn her gebracht hatte. Auf Nummer acht! sagte er dem, winkte noch einmal, als ob er ihn einladen wollte, viel Vergnügen zu haben, und wandte sich andern Dingen aus seinem Schreibtisch zu, indessen Wilhelm Voigt von dem Polizisten mit der flachen Hand über den langen Gang geschoben wurde, in Nummer acht einzutreten.

 

Zweieinhalb Silbergroschen Verpflegung

Achtundvierzig Stunden sind zwei Tage und zwei Nächte; so lange hatte Wilhelm Voigt Zeit, über sein vorläufiges Mißgeschick nachzudenken. Er saß dazu in einer Zelle, die als Fenster oben unter der Decke eine vergitterte Luke hatte, schräg in den Himmel hinauf; und erst an diesem Fenster, dessen Besonderheit er von außen kannte, wurde ihm klar, daß er im Gefängnis saß.

Wenn er bedachte, wie in Tilsit die Handwerksburschen um Arbeit, Brot oder sonst eine Gabe einsprachen jahraus, jahrein, und jedem wurde selbstverständlich gegeben; er aber hatte nicht einmal dergleichen getan und saß im Gefängnis wegen Bettelei: so schien ihm Königsberg mit seinen Wällen und Toren, dem Posten davor und den Polizisten, die nachts die Wirtshäuser absuchten, ein böses Gewese.

Er war unterdessen noch immer der Meinung, es könnte mit seiner Strafe nicht anders sein als in der Schule; wenn sie abgesessen wäre, durfte er nach seinen Verwandten zu suchen beginnen; denn er gedachte trotz diesem grausamen Empfang in Königsberg zu bleiben. Als aber die je zwei Tage und Nächte vorüber waren, kam am dritten Morgen der Polizist und führte ihn über die steinerne Treppe und den langen Gang in das Zimmer, wo an dem breiten Schreibtisch sein Peiniger saß, diesmal mit einem ausgefüllten Papier, darauf die Zwangsreiseroute nach Tilsit Ort für Ort vorgeschrieben stand. Damit er nicht mehr zu betteln brauchte, bekam er zweieinhalb Groschen Reisegeld, über das er eine Quittung unterschreiben mußte. Sofern er rückfällig würde, gelte die doppelte Strafe! Dann wurde er mit zwei Burschen durch einen andern Polizisten vor das Königstor gebracht und dort in die Landschaft entlassen.

Zweieinhalb Silbergroschen Verpflegung bis Tilsit empfangen! las draußen einer der Burschen, denen er seinen Schein zeigen mußte. Wegen Bettelei wirst du bestraft; wie du aber mit den Lumpenpfennigen drei Tage lang essen und schlafen sollst: das kümmert die Polizei nicht, die dich selber auf Bettelei schickt!

Er hatte ein steifes Bein, der das sagte, und ihm wie dem andern stand die Straße im Gesicht geschrieben. Darum ging Wilhelm Voigt mit ihnen nur eine Stunde lang bis an den Kreuzweg, wo sich die Straßen nach Labiau und Tapiau teilen. Die Beiden hielten sich rechts auf den Kirchturm von Waldau zu, Klinken zu putzen, wie sie ihn rotwelsch belehrten: Wenn du tippeln magst, steige nur mit in das Kaff! kannst Kirschen pflücken im Winter! lockte der andere, und der mit dem steifen Bein grinste dazu. Wilhelm Voigt aber lief von ihnen fort, die hinter ihm her höhnten, bis ihn eine Biegung der Straße vor ihren Blicken verbarg.

Und erst, als er allein war, konnte er sich der Erbitterung überlassen, daß die Flucht ihn weder zu den Verwandten in Königsberg noch sonst an ein Ziel geführt hatte, daß er nun wieder nach Hause mußte. Auch ohne den Schein der Polizei gab es keinen andern Ausweg: er mußte die Folge seiner Flucht tragen, so grausam sie mit den ertränkten Reitstiefeln des Gutsherrn und der fehlenden Tertianermütze zu werden drohten.

 

Der Vorreiter

Es war auf der selben Stelle der Straße, wo er vor drei Tagen im ersten Heimweh geheult hatte, als Wilhelm Voigt die ganze Bitterkeit noch einmal überkam, ihm unerwartet neuen Mut zu machen: denn die Mütze, als er an sie dachte, hatte der Knecht des Metzgers in Labiau, und es schien ihm leicht, sie wieder zu gewinnen. Ich habe Geld! prahlte er sich vor und dachte an seine zweieinhalb Silbergroschen, von denen er natürlich dann keinen Pfennig ausgeben durfte. So bekam sein Rückweg bis Labiau wenigstens ein Ziel, dem er erleichtert und im Vertrauen zulief, wie auf dem Herweg mitleidige Hände zu finden, ohne daß er rückfällig zu werden brauchte, wie der blonde Spitzbart gesagt hatte.

Als er dann freilich in diesem Vertrauen zu der Bauersfrau kam, die ihm den Napf mit Suppe gereicht hatte, fing die an zu schelten: So bist du dennoch ein Galgenstrick! und wollte die Hunde los machen. Zum Glück kam gerade der Bauer heim; dem schien die Sache nicht so bedenklich. Er fand ein Stück Brot und ein paar scherzhafte Worte dazu vom Galgen, dem das Hängen heutzutage vergangen sei! Sodaß Wilhelm Voigt zwar im Hundegebell von der Hofstätte ging, aber sie kamen nicht los von der Kette.

Er stiefelte weiter, bis die Dunkelheit kam, und auch noch tapfer in den sinkenden Abend hinein, auf irgend eine Unterkunft hoffend, weil die Lichter vom nächsten Dorf lockten. Bei den ersten Häusern aber klapperte einer durch den halben Schnee hinter ihm her, der ein Pferd ritt und ein anderes am Leitseil führte. Der war noch auf dem Weg nach Labiau und fragte mehr zum Spaß als im Ernst – vielleicht auch, weil es ihm unheimlich war, allein in die Winternacht zu reiten – ob er nicht aufsitzen wolle? Wilhelm Voigt sagte Ja und war so rasch auf dem Pferd, daß der Mann erstaunt und nachher erfreut war, unversehens einen Begleiter gefunden zu haben.

Zwar blieb er mißtrauisch genug, ihm nicht die Zügel allein in die Hände zu geben, und die Gäule trappten verkoppelt, sodaß sie zu keinem rechten Trab ansetzen konnten. Aber: langsam geritten, kommt weiter, als rasch gegangen! sagte der Mann.

Wie sich im Reiten heraus stellte, war es der Knecht eines Pferdehändlers in Kalthoff, und er wollte andern Tages nach Tilsit. Es war ihm doppelt recht, jemand bei sich zu haben, der da Bescheid wußte. So kam Wilhelm Voigt aus einem ersten Mut in den zweiten: seine vermeintliche Unentbehrlichkeit half ihm über die Drohungen der nahenden Wirklichkeit fort, weil es einem richtigen Knaben gleich ist, wie es ihm geht, wenn er nur etwas gilt und seine Wichtigkeit hat.

Schon am Abend in Labiau ritt er stolz mit dem Knecht zur Ausspannung ein, wußte die Tür vom Stall und war dem Metzgerwirt bekannt, der sich nicht einen Augenblick wunderte, ihn sobald wieder zu haben. Er durfte noch einmal in der Knechtskammer schlafen und hatte sich unnütze Sorgen gemacht um seine Mütze. Der törichte Träger war damit so ausgelacht worden, daß es der Silbergroschen garnicht bedurfte, den Handel rückgängig zu machen; er hätte, seine Ohrenkappe wieder zu kriegen, fast selber noch drauf bezahlt.

Als Wilhelm Voigt andern Morgens mit seiner Tertianermütze fort ritt, brauchte ihm die Magd nicht Brot und Wurst in die Tasche zu stopfen, weil sein Begleiter, der schon ein ältlicher Mann und gutmütig war, die Verköstigung seines Vorreiters, wie er ihn nannte, mit übernahm. Auch ließ er ihm nun die Zügel, sodaß es ein fröhlicher Ritt durch den Wintertag wurde, der nach Westen abgedreht hatte und lockere Schneewolken über die Landschaft hintreiben ließ. Auf diese Weise war Wilhelm Voigt wieder der jüngste Dragoner, der sich der Knabenlust, so viele Wegstunden dahin zu reiten, kaum noch bekümmert um das überließ, was ihm am Abend sicher bevor stand.

 

Der Bodensatz

Es war stockdunkel, da sie in Tilsit einritten; und kaum vor Königsberg war Wilhelm Voigt müder gewesen als nun von dem langen Ritt. Trotzdem er die steifen Beine kaum noch bewegen konnte, war er mit Umständlichkeit für die Unterkunft seines Begleiters behilflich, trank auch noch ein Gläschen Branntwein mit ihm, sich zu erwärmen, und konnte schließlich den Abend nicht länger hinziehen, endlich nach Hause zu schleichen.

Als er im Licht der Straßenlaterne den blechernen Stiefel sah, und den Namen Adalbert Voigt über der Tür, da war freilich sein Reitermut fort bis auf den bittern Bodensatz, den er nun trinken mußte. Er biß die Zähne zusammen und schlich durch den dunklen Flur an den Lichtspalt der Küchentür. Ein verzweifelter Galgenhumor trieb ihn, wie ein Fremder anzuklopfen; und erst, als er die Stimme der Mutter hörte, trat er ein. Sie stand zum Ofen gebückt und hatte nur fragend über die Schulter aufblicken wollen, wer da käme; nun warf sie die Kohlenschaufel hin und umklammerte ihren Knaben angstvoll mit beiden Armen, weinte hell auf und sank in die Bank, bis er zu ihr ging und sie flehend streichelte.

Die Schwestern kamen aus der Stube herein und fingen an zu schreien, die kleine wie die große, als wäre ihr Bruder von den Toten auferstanden. In der Werkstatt nebenan wurde ruhig weiter gehämmert; daran merkte Wilhelm Voigt, daß der Vater fort war. Sein Glück indessen stand günstiger; denn nicht nur, daß der Schuhmacher mit einem plötzlich aufgetauchten Schulfreund, dem Obermaat Heincke nach Ragnit gefahren war und erst am andern Tag zurück kommen wollte; offenbar auch durch den Obermaat, wie die Mutter tröstete, hatte er über den Streich seines Stammhalters mildere Gedanken bekommen.

Unbekümmerter, als Wilhelm Voigt hoffen durfte, konnte er seine Heimkehr von Königsberg halten und den Bänkelsänger seiner Erlebnisse machen, wie ihm die Flucht zu den Verwandten in Königsberg mißriet. Die Mutter hörte es mit schweigenden Blicken an; als er von dem Tausch und dem Wiedergewinn seiner Mütze erzählte – von den ertränkten Reiterstiefeln sagte er klüglich nichts – lächelte sie unter Tränen, aber die Tränen behielten die Oberhand.

 

Der Obermaat Heincke

Der Schuhmacher Voigt kam andern Mittag zurück und hatte schon in der Stadt gehört, daß sein verschwundener Sohn wieder da wäre. Er sagte kein Wort, als er ins Zimmer trat, nur musterte er seine Kleidung. Gegen die Dämmerung sandte er ihn mit einem Paket auf die Post und nachher mit einer Bestellung zu dem Obermaat Heincke, der in der Memeler Straße so und so bei der Witwe Ring, seiner Schwester, wohnte.

Während Wilhelm Voigt auf seiner mißglückten Flucht abwesend war, hatte der Obermaat eines Mittags im Laden gestanden, auf Urlaub in Tilsit, der einmal kaum älter als der Schuhmachersohn den gleichen Abschied genommen hatte, nämlich keinen, und lange Jahre verschollen gewesen war. Darum, als der Schuhmacher ihm seine Not mit dem entlaufenen Sohn klagte, hatte er gleich eine Vorliebe für ihn gefaßt und damit guten Wind für den Ausreißer gemacht; nun er wieder daheim war, wollte er seinen Nachfolger, wie er ihn nannte, in Augenschein nehmen.

Als Wilhelm Voigt, von der sanften Witwe Ring in die Stube gebracht worden war, saß der Obermaat hinter einem runden Tisch auf dem grünen Sofa und rauchte aus einer tönernen Pfeife, daß die gelbe Petroleumlampe in blauen Qualmringen hing. Er hatte eine blaue Wolljacke an, und in seinem breiten roten Gesicht lachten die Schlitzaugen immerzu; auch stand eine Kanne Bier auf dem Tisch.

Hier gehst du her, mein Jungken! befahl er und zeigte auf eine Stelle im gelben Lichtkreis der Hängelampe. Bist verdammt blaß und hast Hasenaugen! Kannst du einen Frosch mit dem Strohhalm aufblasen, daß er platzt? Ißt du Regenwürmer gebraten? Hast du schon einen Stint mit der Gabel gefangen? Bei jeder Frage schnitt er eine neue Grimasse, und auf Antwort schien er garnicht zu warten. Aber auf den preußischen Seehund mußte Wilhelm Voigt ein Glas Bier mit ihm trinken und aus einer weißen Tonpfeife schwarzen Kanaster rauchen.

Nach einer Stunde endlich kam er wieder hinaus auf die Memeler Straße; ihm war übel von dem Tabak und Bier, und seine Ohren hingen voll dröhnender Worte. Er hatte gedacht, etwas wie einen Dragoner- Offizier zu finden; aber der Obermaat lärmte wie ein Kutscher: so brachte er seinem Vater die verschüchterte Bestellung, daß der Schulfreund um acht Uhr in der Stadtwirtschaft wäre, und war froh, daß er nicht dabei zu sein brauchte. Am andern Tag freilich sah er den Obermaat, wie er in der Uniform kam, blank und frisch und in weichen Schuhen gelenker als ein Wachtmeister in schweren Dragonerstiefeln. Darum war ihm der Plan willkommen, den die beiden Schulfreunde in der Stadtwirtschaft ausgeheckt hatten, daß er auch einmal Obermaat würde, weil es neuerdings eine Schule für die königlich preußische Marine gab, und weil der Obermaat Heincke selber das Manöver einleiten wollte, wurde Wilhelm Voigt andern Tags von ihm mit auf das Bezirkskommando genommen.

Sie fanden da einen Gefreiten als Schreiber, der selber aus Tilsit war, einen dünnen Menschen, der sich in dieser Dienststelle einen hochnäsigen Ton angewöhnt hatte. Er könnte nicht glauben, spöttelte er mit einem Seitenblick auf die schwächliche Knabengestalt, daß sie bei der Marine eine Kinderbewahrschule hätten! Das ärgerte den Obermaat, der etwas von dem Spott auf sich selber bezog. Es gab in der Schreibstube des Bezirkskommandos eine Auseinandersetzung, in der das Wort Schreiberknecht und das bösere Bezirkswanze fiel, weil es der Heincke dem Brillaffen seemännisch geben wollte. So wurde zwar ein Gesuch des Schuhmachers Voigt für seinen Sohn Wilhelm aufgesetzt, wie der Obermaat es verlangte, aber die unterste Hand, die in jeder Behörde die wichtigste ist, war verletzt.

Indessen, der erste Schritt war geschehen, durch den sich Wilhelm Voigt unverhofft auf einem Lebensweg sah, der ihn weiter und sicherer in die Welt als nach Königsberg bringen sollte. Auf Wiedersehen in der Marine! prahlte der Obermaat, als er nach einer Woche mit seinen goldenen Litzen aus Tilsit verschwand. Und dem Vater gab er seine Adresse: Wenn ihr jemand braucht, denkt an den Obermaat Heincke!

 

Die unterste Hand

So hatte die Flucht nach Königsberg Folgen gehabt, die zwar zufällig waren, für Wilhelm Voigt aber eine Glückswendung bedeuteten, in der sogar die ertränkten Reiterstiefel, von denen der Vater zu seiner Erstaunung nie ein Wort sagte, ihre Drohung allmählich verloren, bis eines Tages die Tür zur Marine ins Schloß fiel, mehr als die Aussicht auf goldene Litzen versperrend.

Es ging gegen Ostern, und der Tauwind aus Westen hatte sich schon ein paarmal mit dem kalten Osten versucht, als der Schuhmacher Voigt mit seinem Sohn Wilhelm auf das Bezirks-Kommando bestellt wurde, wo die unterste Hand endlich die Gelegenheit fand, ihre Verstauchung zu heilen. Er habe die Auskünfte nun alle beisammen, um die der Herr Obermaat nachgesucht hätte! sagte der dürre Gefreite, nicht ohne den Herrn höhnisch zu betonen. Es wäre dies und das zu beschaffen, wenn das nötige Alter erreicht sei – er zählte alles umständlich auf, obschon er die Hand bereit hielt, das Kartenhaus umzustoßen – nur unbescholtene Führung, wie sie verlangt werde, sei es wohl nicht, wenn der Sohn, wie er erkundet habe, in Königsberg wegen Bettelei vorbestraft wäre!

An diesem Tag erlebte Wilhelm Voigt an seinem Vater, daß eine Kränkung zu tief sitzen kann, um vergolten zu werden. Denn so sehr der Schuhmacher Voigt seinen ererbten Besitz damals schon herunter gewirtschaftet hatte, er war Stadtbürger von Tilsit und durfte keinen Sohn haben, der wegen Bettelei vorbestraft war. Er kam in sein Haus, als wäre er fremd darin, während sein Sohn gleich einem gescholtenen Hund hinter ihm her strich. Als sie aßen – er selber nahm keinen Bissen, saß nur düster dabei – lachte er einmal gell vor Wut und legte beide Hände dazu platt auf den Tisch, sich zu stützen; doch sprach er kein Wort zu der erschrockenen Mutter, und den Sohn sah er mit keinem Blick an.

So war die Glückswendung mit einem Mal zugedeckt und Wilhelm Voigt – der sich nach Obertertia versetzt wußte und in der Schule nicht mehr der jüngste Dragoner sondern das Obermätchen hieß – bekam zu spüren, daß die Vergangenheit die unbarmherzige Herrin der Zukunft ist und daß jedes Geschehnis seine eigene Vollstreckerin wird. So werde ich dennoch Dragoner! trotzte er zu Elisabeth, die ihm mit spitzen Worten seine Schuld vorhalten wollte: Ein Pferd ist mir lieber, darauf zu sitzen, als eine Rahe!

 

Charfreitag

Als darüber die Charwoche kam und Schulferien waren, ritt Wilhelm Voigt jeden Tag mit einem Unteroffizier aus, weil es in der Urlaubszeit an Reitern und Pflegern der Pferde fehlte, und ahnte nicht, daß ihm auch dies sobald verworfen sein sollte; denn nun kam es heraus, warum der Vater nie nach den ertränkten Reitstiefeln gefragt hatte.

Der Gutsherr war damals auf Reisen gewesen und hatte darüber seine Bestellung vergessen bis auf den Tag, wo ihn der Schuhmacher Voigt um die Bezahlung mahnte. Er schickte die Rechnung mit ärgerlichen Worten zurück und verbat sich die unpassende Mahnung. Der Brief kam am Charfreitag früh mit dem Milchfuhrwerk in die Stadt, und Wilhelm Voigt lag noch im Bett, weil er sich in den Ferien ausschlafen durfte, als der Vater damit in die Kammer herauf polterte. Trotzig, zu leugnen wie zu gestehen, schwieg er verstockt, bis der Jähzorn auf ihn einbrach. An den Haaren aus dem Bett gerissen und im Hemd die Treppe hinab gejagt, fand er sich in der Werkstatt wieder, wo der Schuhmacher sinnlos vor Wut herum fuhr, seinen Spannriemen zu suchen. Über den Lärm erschrocken, lief die Mutter aus der Küche herzu; im Augenblick, da der Tobende sich gegen ihre Abwehr wandte, tat Wilhelm Voigt einen Sprung hinter seinen Rücken her in die offene Tür, durch den Flur hinaus auf die Straße zu stürzen, wo er im Hemd und mit bloßen Füßen um die nächste Ecke flatterte und in den Torweg der Milchleute fiel, deren Sohn sein Mitschüler war, und er kannte die Leute.

Zwar die vordere Wohnung war verschlossen; aber er wußte den Eingang vom Hof in die hintere Kammer des Sohnes, die ebener Erde lag und wie meist auch jetzt offen war. Da hinein flüchtete er und warf den Riegel vor die Tür. So war er zunächst seinem Vater entronnen und konnte, als er die erste zitternde Angst ausgeschnauft hatte, das weitere bedenken.

Im Hemd und mit bloßen Füßen die Flucht fortzusetzen, war so unmöglich wie die Rückkehr. So bekam der schwarze Konfirmationsanzug seines Mitschülers, der zum Kirchgang auf dem Bett ausgelegt war, und die Stiefel standen darunter, eine böse Lockung. Zuerst überlegte er, den Milchhändlersohn, wenn er käme, um seinen alten Anzug zu bitten. Als er aber eine Viertelstunde und länger vergeblich auf die Rückkehr gewartet hatte, als es immer noch still in dem Hof blieb, wie wenn die Milchleute den ganzen Morgen nicht wieder kommen wollten, fuhr er in die Kleider und Stiefel, so gut es ging, horchte noch eine Weile und schlich über den leeren Hof und durch den Torweg hinaus auf die Straße, zum zweiten Mal aus Tilsit zu fliehen.

Mein Vater wird den Anzug bezahlen müssen! trotzte Wilhelm Voigt, als er sich den raschesten Weg aus der Stadt hinaus suchte, quer durch die Felder, die schon schneefrei aber in der Nacht angefroren waren, den Weg nach Linkuhnen zu erreichen. Er wußte aus der Geographie: wenn er vor dem Licht der Morgensonne her ging, mußte er endlich ans Meer gelangen; und dort auf ein Schiff zu kommen, wie es der Obermaat auch gemacht hatte, war das Ziel seiner Torheit.

 

Anemonen

Schneller als seine erste Flucht mißriet Wilhelm Voigt diese zweite; nur lag das Hindernis diesmal in ihm selber. Er hatte keine Mütze auf und keine Strümpfe in den zu großen Stiefeln; die Hose war so lang und weit, daß er sie mit den Händen in der Tasche an seinen Bauch drücken und festhalten mußte, um darin gehen zu können. Als er so zwei Stunden lang wie eine wandernde Vogelscheuche über die Schollen gestolpert war, oftmals rückwärts spähend, ob ihn jemand verfolge, kam er in ein Gehölz, das ihn fürs erste verbarg. Er fand einen geschlagenen Birkenstamm dick genug, darauf zu hocken und seine Flucht zu überlegen, die ihm in den zwei Stunden bedenklich geworden war.

Diesmal lockte ihn kein Ziel wie die Verwandten in Königsberg; und sein Trotz ins Ungewisse war durch den unpassenden Anzug gehindert, der ihm außerdem nicht gehörte. Er wurde das böse Gefühl, ihn weg genommen zu haben, nicht los; und auch, was den Vater betraf, stand er diesmal im Unrecht. Er war einer verdienten Strafe entlaufen; und ob sich sein Knabentrotz zwölfmal dagegen aufwarf, das schlechte Gewissen machte ihn zwölfmal vor sich selber verächtlich. Und so geschah es, daß Wilhelm Voigt, statt zu fliehen, zwischen Trotz und Mutlosigkeit über den ganzen Charfreitag in dem Gehölz blieb, wo schwarzes Sumpfwasser im Graben war und braungelbes Wintergras an den Rändern; aber schon blühten Anemonen unter den kahlen Bäumen. Er hörte die Glocken läuten und sah auf der fernen Straße Wagen und Menschen, die gleich ihm am Charfreitag die Kirche versäumten, er spürte den Mittag mit der bleichen Sonne ansteigen, die hinter den wattigen Wolken nur eine dunstige Silberscheibe war; er sah wie sie, kaum in die flache Höhe gekommen, schon wieder zu sinken begann: als die Dämmerung Nebelstreifen über die Felder zog, als er vor Hunger zu frösteln anfing und keinesfalls zur Nacht in dem Gehölz bleiben konnte, schlich er zuletzt über die Äcker der Straße zu, noch ungewiß, wohin sie ihn führen sollte. Aber er fühlte nach den weichen Schollen kaum den festen Grund unter den Füßen, als er entschlossen den Anemonen folgte und die Wendung nach Tilsit nahm, freilich noch ohne Ahnung der Dinge, die seiner dort warteten.

 

Der Richter Lewald

Denn Wilhelm Voigt war noch keine tausend Schritte gegangen, als er hinter sich Hufschlag hörte; zuerst dachte er an einen Dragoner, aber es war ein berittener Gendarm, der im vorbeireiten anhielt, erstaunt und vergnügt. Da hätten wir also den Burschen! sagte er über die Schulter zurück und winkte ihn zu sich heran. Wilhelm Voigt dachte sich immer noch nichts Schlimmes, fand aber Zeit dazu, als er ziemlich zwei Stunden lang neben dem Pferd her gehen mußte bis Tilsit, dort statt nach Hause ins Gefängnis zu kommen.

Die Milchleute nämlich hatten sogleich Anzeige gemacht, als sie den Anzug vermißten, weil sie an einen dreisten Landstreicher dachten; aber ein ältliches Fräulein, das eine Dachkammer nach dem Hof hin bewohnte, entsann sich, daß sie den Sohn des Schuhmachers Voigt gesehen hatte, der danach zu Hause vergeblich gesucht, als Flüchtling verfolgt und nun als Dieb eingebracht wurde.

Nach seiner frühen Flucht und dem langen Tag im Gehölz, nach dem zweistündigen Marsch neben dem Pferd, nach Kälte, Hunger und Scham, so durch das Laternenlicht der Tilsiter Straßen zu müssen, war Wilhelm Voigt kaum noch bei Sinnen und fast ohnmächtig, als er sich endlich auf den Strohsack der Zelle hinwerfen konnte. Daß er des Diebstahls beschuldigt war, wußte er selber noch nicht, weil er des Feiertags wegen nicht mehr verhört wurde; wohl aber wußte es seine arme Mutter. Sie war gleich zu den Milchleuten hinüber gelaufen, als sie den Zusammenhang erfuhr; und am Samstag kamen die beiden Frauen schon in der Frühe, die Umstände zu bezeugen, unter denen der versehentlich angezeigte Diebstahl geschehen war.

Der Richter Lewald indessen, den sie in Tilsit den Marschall Rückwärts nannten, weil er den weißen Schnurrbart in seinem Rotspohngesicht wie der alte Blücher trug, sonst aber nicht für den Fortschritt war, der Richter Lewald hatte die Anzeige einmal in Händen, und wollte die Gendarmerie nicht umsonst hinter dem Dieb her gejagt haben. Wer eine fremde Sache einem andern in der Absicht wegnimmt, sich dieselbe anzueignen, begeht einen Diebstahl! las er der weinenden Mutter aus seinem Strafbuch vor und brummte dem dreizehnjährigen Knaben vier Wochen Gefängnis auf; in seinen eigenen Kleidern, nicht in den gestohlenen abzusitzen, die beschlagnahmt und dem Eigentümer wieder zugestellt werden sollten.

So voller Furcht war Wilhelm Voigt, nach dieser Wendung seinem Vater unter die Augen zu kommen, daß er die Strafe in einem grausamen Gleichmut hinnahm, nicht nach Hause zu müssen. Und wenn sein Knabentrotz im Gehölz noch ein schlechtes Gewissen gehabt hatte, nun fühlte er sich an seinem Vater gerächt; wie wenn das Gefängnis das schwarze Gewässer an jenem Wintertag wäre und er hätte sich selber ertränkt, statt nur der Stiefel. Denn daß es wirklich sein bürgerlicher Tod war, dies wußte der unberatene Knabe damals noch nicht.


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