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Sechsundzwanzig Wegstunden sind es von der gerüsteten Burg bis Königsberg; Wilhelm Voigt ging sie zum zweiten Mal, aber diesmal war Sommer. Mit seinem Paß in der Tasche fühlte er sich gesichert; auch war er nicht unterwegs ohne Mittel, wie ihm damals der blonde Spitzbart ins Protokoll schrieb.
Ein solcher Wanderbursch aber, wie er einmal die Drei gesehen hatte bei Tilsit, mit Efeukränzen um ihre Mützen und singend, ein solcher Wanderbursch war er nicht, so trotzig er seinen Stock schwenkte, weil jeder Baum an der Straße, so kam es ihm vor, den Wilhelm Voigt von damals wiedererkannte, und weil vor jedem Schritt gleichsam die Schildwache in Königsberg auf ihn wartete.
Er gelangte aber am dritten Abend leichter hinein, als er gedacht hatte, und brauchte am Tor nicht einmal seinen Paß zu zeigen; auch lief er am andern Morgen dreist in den Straßen herum, sah das Königsschloß und den großmächtigen Dom und wie die Schiffe zwischen den Häusern verankert lagen; nur als am Mittag ein Dampfboot nach Pillau fuhr und es kostete vier Groschen auf Deck, nahm er die Gelegenheit wahr, aus der Unheimlichkeit wieder hinaus zu kommen.
Das emsig ratternde Boot sah aus wie ein Seeschiff, und der Pregel, auf dem sie aus der Stadt gegen das Meer hinaus fuhren, war kein Strom wie der Memel; auch hatte das Wasser im frischen Haff, in das sie immer weiter vom Land abkamen, keine weißen Wogenkämme: für den Schustergesellen aus Tilsit war die unendliche Glätte dennoch der Eingang zur Freiheit. Als er mit dem sinkenden Licht nach Pillau kam, wo über dem Häufchen Dächer der schwarze Leuchtturm vor der Abendröte stand wie das Schiff des Seefahrers Krak, war das letzte Heimweh fort mit der Furcht vor dem blonden Spitzbart, die er sich in Königsberg nicht eingestanden hatte. Ob das Wasser unter dem verhangenen Himmel rasch dunkel wurde und faul an der Mauer schwappte: er strich mit heißen Backen noch lange am Ufer herum, den Geruch und das Geräusch des Meeres zu spüren.
Am andern Morgen dachte er gleich ein Schiff nach Danzig zu bekommen; jedoch in der Frühe wußte der Herbergswirt von keiner Fahrt in den nächsten Tagen. Er hätte wieder nach Königsberg zurück oder warten gemußt, wenn er nicht den steinernen Kopf der frischen Nehrung drüben gesehen und eine Karte mitgehabt hätte, auf der er den schmalen Landstreifen zwischen dem Haff und dem Meer gegen Danzig gezogen fand. So wartete er verdrießlich eine Gelegenheit ab, über das Pillauer Tief hinüber zu setzen, und rechnete sich die Meilen aus, die er auf der Nehrung mühsam ablaufen müßte.
Aber der Himmel hing unversehens in wehenden Wolken, als er hinüber kam; und der vermeintliche Streifen war ein gebreitetes Land hinter der Dünenkette, das gegen das Haff hin spärliche Felder hatte. Schon vom ersten Hügel sah er das Meer mit weißen Wogenkämmen anlaufen, und der Wind fegte ihm durch die Kleider. Soweit er mit staunenden Augen sah, stand nichts still wie sonst in der Landschaft; selbst der Sand wehte Rillen: mit dem einzigen Schritt über den Kamm war Wilhelm Voigt die Welt in die Weite verwandelt, die seine unberatene Seele gesucht hatte.
Weil der Wind ihm zu hart wehte, wich er zurück und duckte sich hinter die Düne, erst auf den Knieen, dann bäuchlings hinüber zu spähen. Zwar stachen ihm die fliegenden Sandkörner ins Gesicht, und die Augen waren bald voll davon; aber keinmal in seiner Knabenzeit hatte er so seiner froh dagelegen wie nun, da seine Zähne an den harten Grasstengeln kauten, und vor ihm war das Meer: unten die in langen Bogen anschäumende Brandung, von der er den Boden unter sich tanzen fühlte, und dahinter bis zu dem harten Horizont die Unermeßlichkeit der anspringenden Wellen.
Aus der lebendigen Ferne vor ihm warf sich keine Drohung gegen ihn auf. Weder der blonde Spitzbart noch die Schildwache am Tor, noch der Richter Lewald in Tilsit oder sonst eine Obrigkeit hatten Macht über den Wind, der ihn anwehte: das Meer war die weit ausgebreitete Sicherheit selber. Auch wehte der Wind ihm günstig, er kehrte die Wolken über das Haff, daß die Sonne anfing, die Weite sanft zu durchleuchten und ihre Wärme in den Sandboden zu senken, darauf er lag und liegen blieb bis zum Abend und sich zuletzt eine Mulde ausscharrte für die Nacht.
Und ob auf der Frischen Nehrung von Großbuch bis Bodenwinkel fünf Dörfer stehen, in keinem kehrte er danach ein außer in Neukrug, weil es eine Schauer lang regnete; aber auch da war es ein Schuppen mit einer Art trockenem Seegras.
Sonst kam er nur an die Häuser, sich Wasser und Brot zu holen, einmal ein Stück Speck. Damit blieb er zwölf Tage lang draußen, bis er braun und geröstet war und ausgelüftet vom Wind, der immer wärmer wurde. Tagsüber baute er Burgen im Sand mit Wällen und Gräben, oder er ließ das Wasser an seinen nackten Beinen anrauschen; und war so ein Badegast auf der Nehrung ganz ohne Wissen, daß es Menschen gab, die für solches Knabentum weitangereist kamen. Aber wie ihnen, half das Meer auch seiner Unwissenheit, daß er am dreizehnten Tag über Bodenwinkel hinaus ins Weichselland als ein Verwandelter kam. Der Schustergesell war im Paradies seiner bunten Hefte gewesen und wußte nicht, daß er schon wieder aus der Freiheit in den Werktag zurück ging.
Der Schlingel in Danzig
Weil er zur Rechten den sicheren Rand des Meeres hatte, tappte Wilhelm Voigt getrost auf Danzig zu, wie seine Karte es zeigte. So kam er bald in die Schwierigkeit, daß sich der Weg im Mündungsgewässer der Elbinger Weichsel verlor, das zwischen sumpfigen Weiten in faulen Tümpeln stand. Als er schon dachte, er müsse zurück, fand er einen Fischer, der gerade sein Segel aufzog und ihn mitnahm. Auch über den Weichseldurchbruch bei Neufähr kam er hinüber, sodaß er gegen Abend durch das Langgarter Tor in Danzig einging, müde und naß; denn es hatte seit Gänskrug geregnet.
Er blieb in Danzig drei Tage, weil er in einem Lastschiff auf der Mottlau die billigste Herberge fand. Der alte Fischer nämlich, der ihm über die Weichsel half, hatte auf der Marie-Anna einen Sohn, den er grüßen sollte und auch richtig entdeckte: ein weißblonder Schlingel, der in allen Ufergassen der Stadt bekannt war. Der machte ihm in seiner Koje ein Lager aus alten Decken und Segeltüchern zurecht, wo er vor blonden Spitzbärten und andern Nachfragen geborgen war; und am zweiten Abend betranken sie sich in einer Schnapsschenke.
An dem Tag war nämlich mit Österreich Frieden gemacht worden; die Nachricht hatte am Rathaus gestanden, und die Straßen hingen voll schwarzweißer Fahnen. Nun sind wir eine Großmacht! prahlte der Schlingel; und Wilhelm Voigt freute sich, daß es dann bestimmt keine Schlagbäume mehr gäbe, obwohl ihm sein lustiger Gastfreund einen Schiffsplatz nach Stettin ausgemacht hatte. Der brachte ihn am dritten Abend noch bis Neufahrwasser hinab, und durch seine Fürsprache konnte er schon zur Nacht auf dem Dampfer bleiben, der erst andern Morgen abging. Zum Dank ließ ihm Wilhelm Voigt seine Pfeife da, die ihm wiederum der Obermaat auf die Reise geschenkt hatte, ein braunes Ding mit einem durchlöcherten Messingdeckel; und er war noch froh, sie los zu sein, weil er nicht rauchte.
Seefahrt nach Stettin
Der Dampfer war einer von den schwarzen Kästen, die wie große Holzschuhe auf dem Wasser schwimmen, viel überflüssiges Takelwerk und zu lange Schornsteine haben, auch über Deck unter den verwitterten Planen mit allerlei Sperrgut vollgestopft sind. Als in der Frühe die Sirene geschrieen hatte und die Ketten aufgewunden waren, als nicht mehr die anlaufenden Wellen, sondern die Stöße der Maschine den Dampfer bewegten, den sie zuerst nur erschüttert hatten, als das Ufer zurück wich und die Luft stärker zu wehen begann: da war es für Wilhelm Voigt gleich, wohin der Kurs ging. Die Erzählungen des Obermaats hatten ihr Element gefunden, und er selber schwamm endlich darin.
Bis das Ufer zuletzt als ein sehr dünner Strich verschwand, hatte er schon in alle Winkel gestaunt, die offen standen; und als er entdeckte, daß zwei große Geschütze für Swinemünde geladen waren, zweifelte er lange, ob sie nicht dennoch ein heimliches Kaperschiff wären. Er versuchte ein paarmal ein Gespräch mit den Matrosen darüber und machte sich fast verdächtig; denn die beiden Kriege, so rasch hintereinander, hatten die Menschen mißtrauisch gegen solche Frager gemacht.
Der Wind blies so heftig, als sie ganz draußen waren, daß er seine Kappe mit dem Taschentuch um die Ohren festband. Der Wind wehte die Rauchfahne über die tanzende Fläche und riß an den klatschenden Stricken; der scharfe Bug fraß sich wie eine Pflugschar ins Wasser ein und warf die Schaumbänder nach rechts und links darüber hin; die Spritzer fegten über Bord und machten den Boden naß, als regnete es: alles das weckte seine Knabenlust, wie der Wind im Sand sie geweckt hatte. Als er einen Matrosen im Vorbeigehen singen hörte, aber die Luft riß ihm die Worte vom Mund weg, fing er selber mit Schulliedern an, weil er keine andern wußte.
Einmal merkte er, daß ihn die Seekrankheit packen wollte; da ging er in die Mitte des Schiffes, wo die Maschine schütterte, faßte mit beiden Händen die eiserne Leiter und turnte so lange, bis er die Übelkeit überwand; und am Abend bestellte er sich einen steifen Grog, mit dem er auch wirklich in Schlaf kam. In der Frühe endlich, als er die Nase aus dem dunklen Raum, darin sie zu Fünfen gelegen hatten, an die Luft steckte, war der Wind über Nacht ins Wasser gefallen, das noch immer tanzte, aber es spielte ihm keiner dazu.
Erst zum Abend, als sie in Swinemünde anliefen und das Schiff zu manövrieren begann, kam die tückische Seekrankheit doch über ihn; er schlug sich mit einer üblen Nacht herum und sah am andern Tag, als sie die schweren Rohre ausluden, wie durch eine trübe Scheibe dem ächzenden Kranenwerk zu. Die letzten Stunden, die sie durchs Stettiner Haff fuhren und danach die Oder hinauf in den sinkenden Abend, nahm er nur noch verdrießlich hin.
Vor Stettin stand er schon lange mit seinem Ranzen gerüstet, weil er froh war, von dem schwankenden Bretterboden auf festes Erdreich zu kommen. Aber die Stadt stach mit hundert Lichtern ins Wasser. In seiner Bedrückung verwirrte sich ihm der unheimliche Anblick, als ob das schon Berlin wäre. Und zum ersten Mal auf seiner täppischen Wanderfahrt kam ihm der Schrecken, daß sie kein anderes Ziel hatte als damals in Königsberg; denn eben die verwitwete Tante Patzig hatte den Fotografen Knörke geheiratet und war nach Berlin gezogen.
Es war zu lächerlich für einen Schustergesellen, daß er wie der Herkules aus der Oberrealschule am Scheideweg stand. Aber aus dem Glück der Frischen Nehrung und von dieser Seefahrt doch wieder nur in eine Schusterwerkstatt zu kommen, wo er wie der Martin Nagler seinen Lohn aus den Sohlen klopfen sollte, tagaus, tagein: dies schien ihm angesichts der näher kommenden Lichter so unmöglich, daß er wirklich mit Hasenaugen hinein starrte. Als ihm Einer mit dem Tau in die Rippen fuhr, und es war der gleiche Matrose, der bei der Abfahrt gesungen hatte, hängte er sich mit einem trotzigen Entschluß an ihn und ließ sich den »Goldenen Anker« sagen, wo er ihn nachher noch träfe.
Der Lehrer Heinrich
Der »Goldene Anker« war eine Matrosenkneipe, und das Haus hinter der roten Laterne sah so gruselig aus, daß Wilhelm Voigt vor der Tür zögerte. Während zwei Betrunkene, die zufällig daher kamen, ihren Spaß mit seiner Schüchternheit hatten und ihn an der Jacke hinterrücks hinein zerren wollten, trat jemand dazwischen, der mit auf dem Schiff gewesen war und ihm unbemerkt gefolgt sein mußte: ein kleiner Mann, der mit seiner Stahlbrille dem Onkel Patzig ähnlich sah, nur einen längeren Hängebart hatte. Wie der Onkel es auch gemacht hätte, nahm er ihn am Ärmel und führte ihn die Gasse hinauf in die Herberge zur Heimat, wo er selber wohnte und auch ihm eine Kammer besorgte.
Da schwankte zwar noch das Bett von dem Meer in seinem Blut, aber den Schustergesellen Wilhelm Voigt lockte und drohte kein Scheideweg mehr, weil ihn einer am Ärmel genommen hatte.
Am andern Morgen gingen sie miteinander zum Bahnhof, und nachher reisten sie sechs Stunden lang auf der selben Bank in der vierten Klasse, weil der Mann auch nach Berlin wollte; und Wilhelm Voigt war zufrieden, den Anschluß gefunden zu haben. Der freundliche Mann mit dem Hängebart war nämlich kein Pfarrer oder Missionar, wie er nach seiner schwarzen Kleidung befürchtet hatte, sondern ein Lehrer; nur, als er ihn vorwitzig fragte, an welcher Schule? sah er ihn lange durch die Stahlbrille an, ehe er abwehrend sagte: In Moabit!
Er wußte damals noch nicht, daß da die Strafanstalt von Berlin war, und fragte nicht weiter, schrieb sich nur, fröhlich an seiner ersten Eisenbahnfahrt, die Namen ins Notizbuch, die ihm der Lehrer auf jeder Station diktierte, zwischendurch mit unauffälligen Fragen seine Herkunft wie seine Pläne erforschend. Schuster haben wir auch in der Schule! bemerkte er nebenbei und hatte genau die listige Art wie der Onkel Patzig, mit Zwickelfältchen um die Augen zu lächeln, indessen der Mund sich unter dem Bart versteckt hielt: Es sind aber Zornickel und möchten alles versohlen!
Auch daran merkte Wilhelm Voigt nicht, welcher Art die Schule seines Begleiters war, der von jedem Ort, daran sie vorüber kamen, Bescheid wußte, ob er daher Schüler gehabt habe oder nicht. So konnte er zuletzt ahnungslos sagen, daß er vielleicht auch noch einmal in seinen Unterricht käme! worauf ihn der Lehrer länger als vorher durch die Stahlbrille ansah, wie wenn er seine Eignung prüfe. Er hatte aber längst erfahren, daß der törichte Fragesteller zu seinen Verwandten in der Potsdamer Straße wollte, und riet ihm nach einer Weile, während er seinen Hängebart fest hielt, der ihm zu arg im Wind vom offenen Fenster wehte: doch lieber zuerst die Tante zu fragen.
Vom Stettiner Bahnhof, als sie gegen vier Uhr angekommen waren, zeigte er ihm noch den Weg zur Friedrichstraße: Immer gerade aus bis Unter die Linden! dann rechts durchs Brandenburger Tor, links am Tiergarten vorbei bis Potsdamer-Platz und Straße! beschied er ihn, ehe er selber die Invalidenstraße hinab stapfte, Wilhelm Voigt, der lieber mit ihm gegangen wäre und verzagt hinter ihm her blickte, den öden Häuserfluchten und dem Wagengerassel auf dem holprigen Pflaster überlassend.
Die Kanonen von Königgrätz
Nach dem, was ihm der Obermaat von Berlin vorgeprahlte hatte, dachte Wilhelm Voigt Paläste zu finden: er sah aber graue Steinwände wie in Tilsit auch, nur höher; und die Menschen, die sich mit ihren Körben an ihm vorbei drängten, weil es Samstag-Nachmittag war, gingen ärmlich wie überall; nur an der Straßenlänge schien es ihm, daß die Stadt groß wäre.
Erst Unter den Linden sah es stattlicher aus; aber als er über die Masse der Leute staunte, die dort spazierten, merkte er bald, daß sie nach einem bestimmten Ziel drängten. Es standen da nämlich Kanonen, die als Kriegsbeute aus Böhmen mitgebracht worden waren. Obschon in dem Gedränge nichts Rechtes zu sehen war, blieb er lange in der Nähe der stummen Rohre und verrosteten Räder, bis ihn ein plötzlicher Schwall mit zur Seite riß. Er sah, wie alles die Hälse reckte, und reckte den seinen mit. Es kam nur ein rascher Wagen vorüber, auf dessen Bock neben dem Kutscher ein Mann im Federhut saß; und es hieß, hinter den Scheiben sei der weiße Bart des Königs sichtbar gewesen, was zwar so recht keiner glaubte, aber Wilhelm Voigt nahm sich vor, es nach Hause zu schreiben.
Als sich alles enttäuscht in Marsch setzte, marschierte er mit, bis sich die Menge auflöste. Er sah danach das Denkmal des Alten Fritz, das Zeughaus und die Standbilder auf der Brücke, sah das Schloß mit der grünen Kuppel und die glatte Granitschale vor dem Museum, und geriet in die mürrischen Straßen der alten Stadt, wo er nicht aus noch ein wußte vor Menschen und Häusern, aber so voll von den gesehenen Dingen war, daß er die Tante in der Potsdamer Straße Tante sein ließ; denn dies war doch ein Stück Berlin gewesen, wie er es sich in Tilsit ausgemalt hatte. Als einige Knaben mit Papierhüten und Holzsäbeln kamen, aus vollen Hälsen krähend: Ich bin ein Preuße! hätte er am liebsten mit gesungen.
In einem rauchigen Keller aß er eine Wurst und trank eine Berliner Weiße, wie sie das nannten. Darum fing schon die Dämmerung an, als er über den Spittelmarkt und die lange Leipziger Straße endlich an den Platz und die Potsdamer Straße kam; und es schien ihm zu spät, jetzt noch zur Tante zu gehen, von der er aus den Erzählungen der Mutter ein strenges Bild hatte. Er strich an den beleuchteten Fenstern vorbei wieder zurück und kam noch einmal Unter die Linden; aber nun standen Wachen bei den Kanonen. Auch war es zu dunkel und die Schienbeine taten ihm weh von dem Pflaster: als er durch das Brandenburger Tor hinaus in den Tiergarten kam, setzte er sich auf die erste Bank und schlief sogleich ein.
Er wurde bald wieder wach gerüttelt, sah einen Helm, vor dem er in böser Erinnerung entwich, und endigte nach andern Mißgeschicken spät in der Nacht doch auf einer Pritsche, die ihm lahme Glieder und am Morgen ein Verhör einbrachte, das nicht unfreundlich geführt wurde und ihn mit guten Ratschlägen wieder auf die Straße hinaus ließ, die nun leer und über Nacht sonntäglich gefegt war.
Ein Frühstück dachte er bei der Tante zu bekommen; so suchte er sich nach den Linden zurück, wo er diesmal die vielen Kanonen in aller Gemächlichkeit bestaunen konnte, die aus dem raschen Feldzug so unvermutet zur Ruhe gekommen waren. Als es ihm Zeit schien, schlenderte er durch das Brandenburger Tor hinunter, nun schon fast ortsbekannt, in der Potsdamer Straße die Nummer seiner Verwandten zu suchen, wie sie im Notizbuch stand.
Der Fotograf Eberhard Knörke
Wilhelm Voigt wußte, daß seine Tante zum zweiten Mal einen ehemaligen Schneider geheiratet hatte, der nun Fotograf war; aber als er unter der betreffenden Nummer in der Potsdamer Straße einen richtigen Laden fand – Kunsthandlung von Eberhard Knörke stand mit goldenen Buchstaben auf die Fensterscheibe gemalt, hinter der in großen und kleinen Rahmen allerlei Bilder mit Hirschen, Schneelandschaften und Schlachten prangten – zögerte er doch und konnte, weil die Ladentür am Sonntag verschlossen war, keinen Eingang finden. Indem er sich suchend nach rechts und wieder nach links wandte, hatte er nicht Acht, daß aus einer andern Tür ein Mann mit einem irdenen Topf trat, der augenscheinlich Milch holen wollte. So ungeschickt mit der Wendung stieß er den an, daß ihm der Topf aus der Hand fiel und auf den Steinen zerplatzte.
Der Mann mit dem ungekämmten Strubelkopf war durchaus nicht so freundlich wie die Schutzleute im Helm. Er wollte den Topf bezahlt haben; und weil er ein unmäßig langes Gestell in Filzschlappen war, gab Wilhelm Voigt ihm den geforderten Groschen und war froh, als das Ungetüm die Tür hinter sich zugemacht hatte. Nach zwei oder drei Minuten war er wieder da, diesmal mit einem Blechgeschirr, und fragte unwirsch: was er da immer noch suche?
Meine Tante Elisabeth! sagte Wilhelm Voigt trotzig; und als er den Namen Knörke dazu sagte, war es natürlich der ehemalige Schneider und jetzige Fotograf, bei dem er sich so ungeschickt eingeführt hatte.
Der hieß ihn noch einmal warten, bis er die Milch geholt hätte; dann nahm er ihn mit hinein ins Haus, drei Treppen hoch nach hinten, wo er sein Glas- Atelier hatte und wo nebenan die Küche war, in der die Tante schon murrte: Wen er ihr da in der Frühe anbrächte?
Unsern Herrn Neffen aus Tilsit! beschwichtigte der Kunsthändler Eberhard Knörke und stellte das Blechgeschlrr mit der Milch auf den Ofen.
Nicht, daß ich wüßte! ballerte die Tante dagegen, die selber ein Ofen von Gestalt war, und fing an, den Kaffee zu mahlen: Meine Leute schicken mir keinen unangemeldet ins Haus.
Es war aber so, und Wilhelm Voigt mußte allerlei lügen, um der strengen Tante, die den Knopf der Kaffeemühle ungeduldig still hielt, die hindernden Umstände aufzuklären. Er wunderte sich selber, was ihm im Augenblick alles einfiel, die Mutter heraus zu reden; aber so unerbittlich hatte ihn noch kein Blick angesehen wie dieser graue der Tante. Sie sagte nicht Ja noch Nein zu seinen Lügen, fing nur wieder an, den Knopf der Mühle zu drehen und gab sich dem weiteren Geschäft des Kaffeekochens hin, wobei ihr selber wie aus dem Ventil einer überheizten Dampfmaschine dann und wann ein Wort entzischte, das weder Wilhelm Voigt verstand noch der Kunsthändler wichtig nahm, der sich unterdessen vor dem Spiegel über dem Spind mit vielem Umstand den Strubelkopf kämmte, wobei er seiner Länge wegen mit breit gespreizten Beinen stehen mußte.
Schließlich saßen sie doch miteinander beim Frühstück, und Wilhelm Voigt, dem dies merkwürdig genug vorkam, so auf einmal aus der großen fremden Stadt an diesen Kaffeetisch zu kommen, der um nichts anders als der in Tilsit war, fragte nach seiner Art, immer das einfältigste zu sagen, als er die dritte Schrippe bekam: Was für ein sonderbarer Wagen das gewesen wäre, der mitten über die Straße auf eisernen Schienen liefe, und die Leute säßen darin auf Bänken wie in der Eisenbahn?
Das ist die Pferdebahn! belehrte ihn der Fotograf und stellte die Tasse hin, den Umstand zu erklären: Weiß das der Herr Neffe nicht? Freilich in Tilsit! Dann fing er mit umständlichen Sätzen an, von dem Fortschritt zu sprechen, den Berlin jetzt vor allen Städten der Welt voraus hätte, daß da eine Straßenbahn führe. Straßenbahn! sagte er dreimal und legte beim letztenmal jede Silbe einzeln auf den Tisch, mit dem Zeigefinger das Faktum gleichsam besiegelnd: Das macht uns sobald keiner nach! Und aus einer Gedankenverbindung, die Wilhelm Voigt nicht gleich begriff, setzte er tiefsinnig hinzu: Wir Berliner mußten den Krieg gegen die Österreicher gewinnen! Denn der Fotograf las wissenschaftliche Bücher und war, wie er noch am selben Morgen der gänzlichen Unwissenheit des Herrn Neffen erklärte, Darwinist, der nicht mehr an den Schwindel der Pfaffen glaubte, was die Tante quittierte, indem sie ihre Bibel vorholte und strengen Blickes darin zu lesen begann.
Am Sonntag Mittag pflegte das Ehepaar Knörke im Wirtshaus zu essen, und sie wußten den Speisezettel schon seit Sonnabend. Der Herr Neffe sei freundlich eingeladen für seinen voraus bezahlten Groschen! wollte der Onkel scherzen; jedoch die Tante duldete dergleichen Scherze nicht. Meine Leute, sagte sie strafend, gehören zu mir! Und während sie bei der Suppe saßen, hatte sie auch schon den Kriegsplan gemacht: Morgen am Tage, befahl sie, gehst du ran bei Schwintowski, der uns das Geld für sein Jubiläumsbild schuldig ist. Der braucht noch einen Gesellen fürs Militär, weil die jetzt obenauf sind!
Bei Schwintowski
Der Befehl galt dem Onkel; indessen am Montag früh ging die Tante selber mit. So wagte der Schuhmachermeister Schwintowski keine Umstände zu machen. Der Neffe solle sein Zeug holen und eintreten! Doch hatte Wilhelm Voigt auf Geheiß der Tante seinen Ranzen bereits mitgebracht und konnte gleich dableiben. Sonntags darfst du einmal kommen; und Schlechtes will ich nicht von dir hören! verfügte sie noch, ehe sie ihren Schirm nahm und zurück nach der Potsdamer Straße ging.
Auf diese Weise fand sich Wilhelm Voigt, der am Sonntag Nachmittag noch einen mühsamen Marsch durch den Grunewald hatte mitmachen müssen und die Nacht darauf auf dem Diwan zugebracht hatte – so nannte die Tante eine Matratze, die auf vier Klötzen im Atelier stand und mit einem Teppich überdeckt war – schneller im Handwerk, als es zu seiner jüngsten Vergangenheit und überhaupt zu seinen Absichten paßte. Die Sonne auf der Nehrung und der Wind von der Seefahrt waren ihm noch im Blut, als es schon wieder nach Pech und Leder roch.
Der Schuhmachermeister Schwintowski stellte eine Art Herr vor, der im schwarzen Rock ging, auf seiner verknitterten Hemdbrust aber die Spuren von Schnupftabak und im Gesicht eine nicht nur davon gerötete Nase trug. Er war für die Herrschaften da und überließ die Werkstatt seinem Altgesellen, der aus Züllichau stammte und Eduard hieß. Besser fleißig als fromm! war dessen Sprichwort; und es brauchte einer bloß einen Schlag auszulassen, so spähte er schon hinüber. Im übrigen waren sie vier Gesellen mit zwei Laufjungen in der Johannisstraße, dicht hinter der Grenadierkaserne, und die Werkstatt lag im Hof zur ebenen Erde, weshalb der Züllichauer die unteren Scheiben mit Ölpapier zugeklebt hatte; aber es waren heimlich Löcher hinein gekratzt.
Zwei von den Gesellen waren Brüder aus Köln, die mit Zunamen Heinrich hießen und feine Hunde waren, wie der Tiroler Felgher sagte, neben dem Wilhelm Voigt seinen Stand bekam. Sie schliefen auch neben einander in der Dachkammer, wo an der Wand rechts und links je zwei schmächtige Betten standen und mitten ein enger Gang zu dem einzigen Dachfenster führte. Die Betten neben der Tür, wo die Wände noch gerade waren, hielten die Brüder Heinrich, während sie beide unter das schiefe Dach kriechen mußten. Damit unsereins sich an den Sargdeckel gewöhnt! fluchte der Felgher jeden Abend, die Kölner mit weiteren Redensarten vom Vorder- und Hinterhaus, von den Rheinpreußen und sanften Heinrichen zu reizen.
die Laufjungen gingen abends nach Haus; und der Altgesell Eduard schlief in der Werkstatt, wo in der Ecke über dem Ledergefach ein Hängeboden eingebaut war, durch eine grüne Gardine verhängt. Er hatte sich von da einen Drahtzug zur Tür angelegt, sodaß er den Riegel vom Bett aus aufziehen konnte. Denn während die andern schon klopften, blieb er regelmäßig noch eine halbe Stunde lang liegen; aber die Gardine war dann geöffnet. Das Herrgöttle im Hängeboden! spottete der Tiroler und machte sich lustig, daß er morgens schon eine Stunde geschuftet hätte, aber dann wieder über die Leiter hinauf kletterte, seine Macht zu zeigen.
Der Tiroler
Diese Umstände seiner Arbeitsstätte nahm Wilhelm Voigt in den ersten Tagen wahr; und solange er neugierig blieb, fand er es lustig in der Werkstatt wie draußen; denn abends lockte die Straße. Die Heinriche machten sich sauber für ihre Vereine; sie waren rheinische Sangesbrüder, beide Tenöre und als solche offenbar beliebt; denn einige Mal brachten die Laufjungen sogar Blumensträuße für sie in die Werkstatt.
Auch der Tiroler machte sich abends fein, aber auf seine besondere Art; die kurze Wichs hieß er das – der garnicht aus Tirol, sondern aus Mittenwald war – wenn er die Tracht anzog. Als Wilhelm Voigt ihn zum ersten Mal so sah mit den nackten Knieen, der silberknöpfigen Weste und dem Uhrgehänge, dachte er nicht, daß Einer den Mut haben könnte, damit auf die Straße zu gehen; aber der Felgher schnalzte nur; und als sie durch den Torweg hinaus kamen, tat er noch einen Juchzer in die Gaffer hinein, die da um ein gefallenes Pferd standen. Die Frauen kreischten, und der Fuhrmann schimpfte, als wäre der Juchzer an dem störrischen Tier schuld, das nicht wieder aufstehen wollte; der Felgher meckerte die Antwort wie eine Geiß und trabte auch so davon, daß Wilhelm Voigt die Beine in die Hand nehmen mußte, ihm nach zu kommen.
Sie schlenderten danach das Stück Friedrichstraße hinunter bis Unter die Linden, wo noch das gleiche Gedränge um die Kanonen war. Wenn sich die Köpfe nicht von selber nach seiner Tracht wandten, hatte der Felgher stets eine neue Erfindung, die Augen auf sich zu lenken; als er genug davon hatte, wußte er noch einen Keller, wo es eine bayrische Maß gäbe. Es war aber gar kein Keller, sondern eine gräumige Schenke, darin die Luft blau vom Tabaksrauch war und ein ausgelassener Lärm um die Kellnerinnen, die in der bayrischen Tracht zwischen den Tischen hin und her liefen mit ihren Krügen. Sie kannten den Felgher, hießen ihn Fritz und lachten zu seiner handfesten Begrüßung.
Wilhelm Voigt wunderte sich, daß es Weibsbilder gab, die sich vor aller Augen so angreifen ließen; und als sich nachher eine an ihren Tisch setzte, einen Augenblick auszuschwitzen, wie sie sagte, wußte er kein Wort zu ihren Späßen.
Was hast du da für einen Stillen? fragte die Kellnerin zuletzt und strich ihm aufspringend – weil Einer nach Bier rief – über das Haar, als ob es ihr Knabe wäre, war aber schon wieder zwischen den Tischen unterwegs, ehe der Felgher ihr Antwort geben konnte.
Auf diese Weise hätte er wenigstens gleich eine Bekanntschaft! prahlte der Tiroler, als sie bald gingen, und Wilhelm Voigt hatte die Maß für ihn bezahlen müssen!
Er gab ihm zwar keine Antwort, und am nächsten Abend brachte der Züllichauer noch eilige Arbeit, am nächsten auch, und schließlich blieb es so bis zum Sonntag. Da hatte der Tiroler eine Fahrt nach Pankow vor; dort wäre Tanz! Wilhelm Voigt log, einen Brief nach Hause schreiben zu müssen, und blieb nach dem Essen in den Kleidern auf dem Bett liegen, bis sie alle fort waren; denn auch die Heinriche hatten sich abgesprochen für eine »Tour« und machten sich dafür mit vielem Umstand zurecht. Nachher schrieb er aber wirklich einen Brief an die Brüder Knirr, daß sie ihm die geliehenen drei Taler schicken sollten; denn er schämte sich in Berlin seines Tilsiter Anzugs. Und als es ihm an der Zeit schien gegen vier Uhr, gab er den Schlüssel in der Küche ab, wo die taube Meisterin hinter der Glastür saß und mit mißtrauischen Augen die Treppe bewachte.
Die Bekanntschaft
Es kam auch alles, wie es Wilhelm Voigt sich gedacht hatte: die Wirtschaft war öde um diese Sonntag-Nachmittagszeit, und die Kellnerin, die Elisabeth hieß wie seine Tante und garnicht aus Bayern sondern aus Kösen war, hatte Stalldienst, wie sie das nannte. Sie saß mit ausgestreckten Beinen an einem Pfeiler und blinzelte nur aus schläfrigen Augen, erkannte ihn aber gleich, als er eine Maß bestellte, und setzte sich gähnend zu ihm.
So kam er in den Besitz seiner Bekanntschaft, aber anders, als der Tiroler gemeint hatte; denn die Elisabeth Zwirrne war eine Person, an der viel Regen abgeronnen war, auch in der Liebe. Es ginge ihr nicht mehr um das! sächselte sie trotz ihrer Tracht; sie sollten eine Kameradschaft machen! Und weil sie ihm dabei wieder über den Kopf streichelte und zuletzt ihre Finger auf seinem Haar liegen ließ, war er auch damit zufrieden. Sie fragte, wie er hieße? gab ihm die Hand auf Du und saß mit ihm in der leeren Wirtschaft da, als wären sie beide zusammen herein gekommen und ein anderer hätte die halb verwelkte Rose für das Paar in dem Maßkrug auf den Tisch gestellt.
Jetzt mußt du Platz machen! befahl sie kurzerhand, als gegen Abend die Gäste zu kommen begannen, schob ihm das Geld, damit er sein Bier bezahlen wollte, zurück und begann das Geschäft ihrer bayrischen Tracht. Nun habe ich eine Bekanntschaft! wiederholte sich Wilhelm Voigt draußen das Wort des Tirolers und mußte den Kopf über sich selber schütteln, wie er an ihr altes Puppengesicht, an die Tracht und die sächsische Aussprache dachte, als sie ihm drohte: Daß du mir nicht mit dem Fritz oder sonst einem am Abend daher läufst! Ich will dich für den Sonntag Nachmittag haben; und der Tiroler soll seine Maß selber bezahlen!
Heimweh
Es war ihm nicht recht, daß ihn die Kellnerin wie einen Knaben nach Hause schickte; aber weil er keine Lust darin fand, allein in eine Schenke zu gehen, trabte er die Friedrichstraße hinunter, wo der Posten am Tor der Grenadierkaserne stand, aber er durfte hier nicht hinein wie in Tilsit.
Er fand noch niemanden daheim, aß, was ihm die taube Meisterin mürrisch hinstellte, weil sie auf keinen gerechnet hatte, und ging in die Kammer hinauf, wo er lange in den Abend starrte. Der Blick aus dem Dachfenster reichte auch am Tag nicht weit; und alles, was er sah, waren graue Brandmauern und Dächer mit Fensterlöchern wie das, in dem er mit eingeklemmten Schultern stand, über die Rinne hinab in den nebligen Schein eines erleuchteten Fensters zu blicken, das er selber nicht sah. Er dachte an den Posten vor der Kaserne und kam sich überall ausgesperrt vor; und mit einem Mal fing er laut an zu heulen, weil ihm das Bild vor Augen kam, wie die Mutter mit der Schwester Luise nach Tilsit zurück fuhr, ihn aber hatten sie in diese Fremde entlassen.
Es war Heimweh, daß ihm die Gedanken kamen wie die Dächer draußen, einer über den andern her. Aus seiner geträumten Freiheit war nichts geworden, als daß er hier in dem Fensterloch stak und morgen klopfte er Leder wie in Tilsit. Am meisten aber beelendete ihn die Kellnerin mit ihrer sächsischen Kameradschaft; als ihm dagegen das Glück aus der Nehrung in seine Gedanken einbrach, wollte er auf der Stelle fort, gleich wohin. Er raffte sein Zeug in den Ranzen zusammen und war eben dabei, über die Treppe hinab zu schleichen, als er jemand herauf stolpern hörte.
Zuerst dachte er noch, es wäre einer von den Mietsparteien im Haus, bald aber merkte er, daß es der betrunkene Felgher war, der von der Meisterin ins Bett gescholten wurde, vor dem mußte er in die Kammer zurück und kam so nicht fort; denn bald danach waren auch die Heinriche da, jeder mit einer Blume im Mund und einem Blätterkranz um den Hut. Den hat ihnen keine Kellnerin geflochten! dachte er grimmig, und aus diesem Grimm kam es wohl, daß ihm statt der Elisabeth Zwirrne die Tochter des tollen Grafen einfiel, wie sie gleich einem Pferd stampfte.
Der Ausflug nach Pankow
Am nächsten Abend hätte Wilhelm Voigt zwar fort gekonnt; aber da war er wieder vernünftig, und hämmerte sich danach die Woche durch bis zum Samstag. Dann legte ihm die Meisterin einen Brief auf den Tisch, der mit der Post gekommen war; und als er ihn draußen las, schrieb ihm die Zwirrne, er sollte sie Sonntags um drei Uhr in ihrer Wohnung abholen – Chausseestraße, Nummer so und so, vier Treppen im Hinterhaus rechts – einen Ausflug nach Pankow und Nieder-Schönhausen zu machen.
Weil er seinen ersten Lohn hatte, dachte Wilhelm Voigt von da aus fort zu kommen, brachte am selben Abend noch heimlich seinen Ranzen an den Stettiner Bahnhof und trat am andern Tag bei der Kellnerin an. Es war ein unfreundliches Gewese, durch das er vier Treppen hoch im Hinterhaus der Chausseestraße endlich an ihre Tür fand, wo sie ein Zimmer bei Fabrikschlossersleuten hatte. Als er hinein ging, weil sie Herein rief, stand sie da im Korsett, hatte Spitzen an ihren Hosen und noch keine Strümpfe an, sodaß sie mit ihren nackten Armen und Beinen richtig wie eine Puppe aussah.
Setz dich und sieh nicht her! befahl sie, als ob dies immer so gewesen wäre, und zog ihre Strümpfe an, indessen Wilhelm Voigt doch nach den Zufälligkeiten schielte, die er zu sehen bekam. Aber als sie nach einer Viertelstunde fertig war, sah sie aus wie eine Dame, und er mußte ihr die Knopfstiefel zumachen.
Nun, dachte er, würden sie mit der Bahn fahren, aber sie wollte gehen, und weil er stolz war vor den Leuten mit ihr, ließ er den Ranzen vorläufig im Stich und führte sie richtig am Arm, wie sie es verlangte, Straße um Straße aus Berlin, bis sie über Pankow nach Nieder-Schönhausen kamen. Da war ein gelbes Schloß mit einem Park, wo sie jeden der alten Baume anstaunte, bis ihr die Schuhe zu eng wurden. Nachher fanden sie einen Garten in Pankow, darin aus Pfählen und Brettern Bänke und Tische gemacht waren und Familien Kaffee kochen konnten, wie auf einem schwarzen Brett mit Kreide geschrieben stand.
Du mußt mich bedienen! befahl sie und gab ihm Geld, Topfkuchen und Kaffee zu holen, obwohl er großartig seinen Geldbeutel zog.
Abends hätte er seinen Ranzen wieder abholen können; denn sie fuhren mit der Stettiner Bahn nach Berlin zurück. Aber er mußte seine Dame erst wieder nach der Chausseestraße bringen, wo sie ihn mit in ihr Zimmer hinauf nahm. Oben zog sie zunächst ihre engen Knopfstiefel aus, sie zornmütig in eine Ecke zu werfen; dann mußte ein Kind der Fabrikschlossersleute eine Kanne Bier holen. Wurst hatte sie selber und stellte alles auf ein Handtuch, das zwar die Tischplatte nicht ganz bedeckte, aber sauber gemangelt war: es sah wie ein richtiges Abendessen aus und als ob sie zusammen gehörten. Nur gegen zehn Uhr, als Wilhelm Voigt schon seine Gedanken mit ihr und der Nacht hatte, wurde sie leidmütig und fing an zu heulen. Warum bist du so jung, sonst könnten wir heiraten! klagte sie und wollte sich auch nicht trösten lassen, bis sie immer noch heulend anfing, sich ausziehen. Als sie ungefähr so weit war, wie er sie am Mittag gefunden hatte, mußte er gehen. Am Samstag schreibe ich dir wieder einen Brief! sagte sie und schob ihn zur Tür hinaus, die sie hinter ihm abschloß.
Ihre Mietsleute hielten einen Spalt in der Tür offen, sodaß Wilhelm Voigt Licht genug hatte, die Treppe hinab zu finden, verwundert und grollend über den Tag. Unten nahm er gleich die Richtung nach dem Stettiner Bahnhof, entschlossen, noch in der Nacht abzuwandern; indessen, als er den Ranzen hatte, tappte er nach der Johannisstraße zurück, wo die Heinriche schon in den Betten lagen und über ihn schimpften, daß er so spät käme; der Tiroler aber war auch noch draußen.
Tegelort
So saß Wilhelm Voigt mit seiner mißglückten Freiheit wieder eine Woche lang bei dem Schwintowsti, ließ sich von dem Züllichauer schinden und aß von dem mageren Futter, das ihnen die Meisterin vorsetzte. Abends strich er in den Straßen herum, wagte aber nicht, das Gebot zu übertreten und die Kellnerin bei ihrem Geschäft zu stören. Am Samstag kam dann wieder ein Brief von ihr: sie hätte sich für den ganzen Tag frei gemacht, und sie wollten zusammen nach Tegel.
Diesmal brachte Wilhelm Voigt seinen Ranzen nicht auf den Stettiner Bahnhof; der Tiroler hatte ihn bis auf den letzten Pfennig ausgeplündert, und Lohn bekam er auch keinen. Aber als er um acht Uhr früh in der Chausseestraße antreten wollte, stand die Elisabeth Zwirrne mit ihrem rotgestreiften Sonnenschirm unten im Torweg, obwohl schon Herbst in den Morgenwind wehte, und hatte auf ihn gewartet. Heute gehts hoch her! sagte sie und zeigte ihm ein Goldstück, sodaß er zum wenigsten aus den Nöten mit seinem leeren Geldbeutel war.
Sie fuhren mit der Bahn bis Spandau und machten einen langen Weg durch Felder und Heide, dann im Wald am Wasser vorbei, erst unter andern Leuten, zuletzt allein, bis sie müde und verschwitzt – denn der Herbsttag war windstill und warm geworden – zum Mittag nach Tegel kamen, wo sie in einer Gartenwirtschaft aßen und eine Flasche Wein tranken, was Wilhelm Voigt mit dem Goldstück bezahlte, aber den Rest mußte er ihr genau wiedergeben. Jetzt nehmen wir einen Wagen nach Tegelort! entschied sie; denn der Wein hatte sie beide noch müder gemacht. Sie fanden aber weder einen Kutscher, noch führte ein Fahrweg dahin. Darüber wurde die Kellnerin eigensinnig, und zuletzt gingen sie zu Fuß, wieder einen langen Weg durch Wald, bis sie ans Wasser und verdrießlich daran vorbei endlich an das Wirtshaus Tegelort kamen, wo der See in drei Teilen auseinander geht.
Da wollte die Zwirrne, die den ganzen Weg verbissen und wortlos vor ihm her gegangen war, noch einmal Wein trinken, ließ aber das Glas stehen und ging in den Wald zurück, sich unter ihrem Sonnenschirm schlafen zu legen. Wilhelm Voigt saß und strich eine Weile gähnend herum, bis er sie schnarchen hörte; dann kroch er unter einen Busch, sodaß sie beide da in dem Wald bis in den späten Nachmittag schliefen und auch durch Niemand gestört wurden.
Er erwachte erst wieder, als sie nach ihm rief. Da saß sie schon mit dem Rücken gegen einen Kiefernstamm und sah über den See hinaus, darin sich die Wolken von der Farbe des Wassers bräunlich spiegelten. Der ganze See ist Kaffee! sagte sie, lachte aber nicht über den Witz; und nachher wollte sie, daß er ihr den Hof mache, zu welchem Zweck er vor ihr nieder knieen und allerlei Worte sagen mußte, die sie ihm vorsprach. Er tat ihr auch richtig den Willen, aber sie bemerkte darüber, daß sein Anzug nicht zu den vornehmen Worten paßte – was er selber wußte – und daß seine Hosentasche am Rand ausgerissen war. Weil sie Nähzeug bei sich hatte, mußte er, ob er wollte oder nicht, in dem Wald seine Hose ausziehen; und sie flickte den Schaden mit schwarzem Zwirn.
Danach schien es ihm, sie müßten sich auf den Heimweg machen, aber sie blieb eigensinnig: Heim hat unsereins nicht! trotzte sie und gestand, daß sie ihren Budiker ohne Urlaub versetzt habe. Sie ginge nicht zurück, eher ins Wasser, als noch einmal in die Bayrische Maskerade; sie sei die Schufterei satt!
Darüber liefen ihr ein paar dicke Tränen langsam über das Puppengesicht bis in die Mundwinkel hinunter; und so saßen sie da in dem Wald von Tegelort, bis die Dämmerung das braune Wasser blau machte. Zuletzt mußte ihr Wilhelm Voigt von Tilsit erzählen, ob das schon in Rußland läge oder doch nahe daran? Als er ihr dabei von dem Schloß sprach und wie er mit dem jungen Grafen geritten hätte, fand sie das herrlich und wollte jede Einzelheit wissen, wie solch ein Schloß inwendig aussähe, und ob die Gräfin viele Perlenketten hätte? Er log ihr natürlich ein halbes Dutzend an und Diamanten dazu, weil sie es wollte.
Und wie er ihr so eine Weile nach dem Mund geredet hatte, fing sie an zu sprechen und war selber die Gräfin: wenn der Winter kommt, fahren wir nach Petersburg. Da haben die Damen kostbare Pelze an; aber meiner ist der schönste; schwarz mit Hermelin; und seidene Schuhe dazu, mit Gold bestickt, eine Krone auf jedem!
Derart ging das lange fort, als wäre die Kellnerin unter dem Kiefernbaum verrückt geworden. Dann war sie lange still, und auf einmal lachte sie höhnisch, warf sich mit beiden Armen vornüber ins Gras, jämmerlicher zu weinen als an dem Abend in ihrem Zimmer: Die Andern haben alles, wovon wir uns die Redensarten vormachen! klagte sie: Unsereins ist ein armer Hund!
Wilhelm Voigt saß dabei und kaute an einem Grashalm, bis sie, immer noch bäuchlings im Gras liegend, sächsisch zu sprechen begann, sodaß er nur einzelne Worte verstand: von der Heimat und der Mutter im Sarg.
Es schien ihm ein Gedicht, was sie hersagte; denn es erinnerte ihn an das Grafenfräulein in Tilsit, an ihre Stimme und ihr Gesicht dazu in der Mädchenschule. Nicht zu heulen an dieser Erinnerung, lachte er laut und trotzig, und das brachte die arme Elisabeth Zwirrne aus ihrer Verwirrung zurück. Sie schwieg und sah ihn sonderbar an, schluchzte noch einmal aus der Tiefe, ehe sie aufstand und gegen das Wirtshaus hinunter ging. Wilhelm Voigt raffte den Sonnenschirm, den sie liegen ließ, und wollte ihr folgen; aber sie wies ihn ab und fing an zu rennen, als wäre sie auf der Flucht vor ihm.
Der Sonnenschirm
Es war unterdessen grau geworden; und als er an das Wirtshans hinab kam, brannte Licht in der Stube, sodaß er hinein sehen konnte: sie war aber nicht darin. So strich er noch eine Weile herum, rief auch ein paarmal nach ihr, als er weit genug von dem Haus weg war; und weil er nicht über die Nacht ausbleiben konnte, ging er zuletzt fort, den Sonnenschirm immer noch in der Hand.
Glücklicherweise hatte die untergegangene Sonne den Mond am Himmel zurück gelassen, er hätte sonst den Weg durch den Wald nach Tegel zurück garnicht gefunden. Anfangs blieb er noch stehen und horchte auf jedes Geräusch; aber schließlich wurde er verstockt und fing an zu laufen, damit ihm der Mond nicht unterginge und ihn allein in dem fremden Wald ließe. Einmal an einer Ecke, wo ein Stück Jungholz war, sah er den See scheinen, und rundum stand der tote Wald. Über der Nehrung hatte auch in der Nacht das Wasser im Wind gerauscht; hier hing der sinkende Mond rot im Dunst und alles sah aus, als wäre es mit dem Tag gestorben. Und er mußte zurück nach Berlin in die Werkstatt des Schwintowski. Wenn ihm jetzt Einer aus der Nacht begegnet wäre, er hätte sich an ihn gehängt wie ein verlaufener Hund.
Es kam aber keiner bis Tegel, und da erst recht nicht, wo die Wirtsstuben sonntäglich voll waren und auf den Straßen die Paarungen schwärmten, von da bis Berlin mochten es noch anderthalb Meilen sein; und seine Füße waren schon taub, als er die Straße darunter nahm. Lange nach Mitternacht kam er in der Johannisstraße an und war auch als Knabe damals vor Königsberg nicht müder gewesen als nun, da er die Tür verschlossen fand und sich bis zum Morgen hätte herum treiben müssen. Weil er den Verschlag neben der Kellertür wußte, wo sie das alte Packpapier und zerrissene Säcke hinwarfen, kroch er da hinein, den Tag abzuwarten, schlief aber gleich ein.
Die andern schielten höhnisch nach ihm, als er, zu spät ausgewacht, erst um acht Uhr in die Werkstatt kam, staubig und verdrossen von dem Loch; und der Züllichauer brummte ihn an. Ihm war alles gleich, was sie schielten und sagten, er klopfte sein Zeug mit heißen Augen herunter, hatte Hunger zum Mittag und konnte nichts essen, weil ihm herzübel wurde, bis endlich Feierabend war und er hinauf in die Kammer kam, seine Erschöpfung auszuschlafen. Wenn es in dieser Nacht da oben gebrannt hätte, er wäre nicht aufgewacht.
Am andern Tag erst begann er zu denken, was mit der Kellnerin geworden sein möchte; und sein Haß auf sie, die ihn mit ihrer Verrücktheit in die verunglückte Partie gebracht hatte, wurde milder. Er bürstete sich abends zurecht, nach ihr zu sehen, verlor aber den Mut vor dem Wirtshaus wieder, weil er immer noch kein Geld hatte. Als er sich da eine Weile herum gedrückt hatte und wieder fort schleichen wollte, sprang ihn Einer an und hielt ihn am Ärmel fest, aber anders als der Lehrer Heinrich in Stettin. Das ist er! schrie er in einem fort, und es war der Wirt, der ihn wieder erkannt hatte. Der ruhte nicht, bis ein Polizist kam, Wilhelm Voigt auf die Polizeiwache zu bringen.
Die Kellnerin war tot aus dem Wasser gezogen worden, und er war zuletzt mit ihr zusammen gewesen. So ging es ihm wieder wie damals in Königsberg, nur daß er diesmal nicht verprügelt wurde; aber eingesperrt blieb er für die Nacht und den andern Tag bis gegen Abend. Da wurde er verhört und wieder frei gelassen, weil die Elisabeth Zwirrne noch am Montag gesehen worden war, sodaß er, wie der kahlköpfige Untersuchungsrichter sagte: sein Alibi unzweifelhaft nachweisen konnte. In der Werkstatt hatten sie schon von einem Lustmord gesprochen, weil der rotgestreifte Sonnenschirm in dem Loch gefunden worden war. Die Meisterin sah ihn verbast an, und die Heinriche schielten hinter ihm her. Den Tiroler aber mit seinem geliehenen Geld hatte der Züllichaner unterdessen an die Luft gesetzt, sodaß er von dem Tag an keinen mehr in der Werkstatt hatte, mit dem er ein Wort sprach. Er tat seine Arbeit wie der raunzige Schwabe daheim, und abends strich er in der Mausefalle Berlin herum, kaum noch hoffend, ein Loch ins Freie zu finden, so war ihm alles verleidet.
Das Loch ins Freie
An die Brüder Knirr hatte er noch einmal trotzig um seine drei Taler geschrieben und ihnen gedroht, sich an den Bürgermeister und Landrat zu wenden; und an einem Sonntag ging er zur Tante in der halben Hoffnung, es möchte sich da etwas begeben, was ihm aus seiner Verwahrlosung half. Aber sie hatte von seiner Verhaftung gehört und war mit ihren Fragen spitzer als der Untersuchungsrichter. Schauts da heraus! meckerte der Fotograf, der trotz seinem Darwinismus aus der Kirche kam, und hängte den schwarzen Rock in den Schrank. Wilhelm Voigt hatte bald genug von der Verwandtschaft und machte, daß er fort kam.
Aus diese Weise gingen noch vierzehn Tage herum; und wenn ihn abends eines von den Weibsbildern ansprach, hätte er ihm an den Hals fahren können vor Wut über die Kellnerin, der er die Schuld an seinem Mißgeschick gab. Manchmal tat sie ihm leid; und wenn er das dunkle Spreewasser unter den Brücken sah, lockte es ihn, selber hinein zu springen; denn schon fingen die kalten Winde an, durch die Straßen zu fegen, und die Wolken hingen ihre schwarzen Säcke auf die Dächer herab, als gäbe es Schnee und der Winter wollte die Tore zusperren.
So saß er am fünften Oktober auf seinem Schemel, als ihn der Züllichauer zur Meisterin rief: der Postbote wäre da und hätte Geld für ihn! Der Mann mit dem roten Schnurrbart gab ihm aber nur eine Anweisung, die er bei der Post vorzeigen müßte; und es waren die Brüder Knirr, die ihm aus Furcht die drei Taler schickten, während ihm der Briefträger die Stelle erklärte, wo er seinen Namen hinschreiben müßte und wo das Amt läge, war es Wilhelm Voigt, als hätte der Blitz eingeschlagen und es brennte vor seinen Augen. Drei Taler war viel Geld, und sein Lohn dazu: damit wollte er schon auf ein Schiff kommen!
Weil es sowieso kurz vor Mittag und nicht weit zum Amt war, ließ ihn der Züllichauer gehen, das Geld zu holen. Er kam auch gerade noch an die Reihe; aber er hatte in der Gier vergessen, seinen Namen unter die Anweisung zu schreiben. Indem er das nachzuholen an das Pult ging, wurde der Schalter zur Mittagspause geschlossen. Er mußte noch einmal zurück mit dem Zettel, und so hatte der Teufel Zeit, ihm das Genick umzudrehen; denn als er das Papier nach dem Essen aus der Tasche nahm, sich daran zu weiden, sah er, daß vor der Drei noch ein leerer Platz war. Wenn du dahin eine Zwei schreibst, sagte ihm ein böser Einfall, sind es dreiundzwanzig Taler statt dreien!
Und als er um zwei Uhr wieder zur Post ging, hatte er es getan. Er zitterte zwar, als er mit seiner Fälschung an den Schalter trat; aber es war ihm alles gleich, wenn er nur aus der Werkstatt kam. Rolf Krak, der Seefahrer und all die Flinken und Festen, von deren kühnen Taten ein Bilderbuch in seinem Kopf war, hatten schließlich ihr Leben daran gewagt.
Der Beamte, in den Zähnen stochernd, besah den Zettel obenhin, nur seine Unterschrift mußte er auf einem Schein wiederholen, den er ihm hinschob. Dann zählte er aus der Schublade die dreiundzwanzig Taler gemächlich hin und machte noch einen Witz dazu: Ob er geerbt hätte?
In der Lotterie gewonnen! sagte Wilhelm Voigt frech und scharrte die Taler zusammen, daß er beide Hände voll hatte, stopfte sie in die Tasche und machte, daß er hinaus kam.
Der Spazierstock
Draußen sah Wilhelm Voigt auf einmal, daß es ein heller Tag über Berlin war; und die Luft hatte Raum, zwischen den Menschen hindurch zu wehen. Jetzt kannst du fort! war das einzige, was er im Augenblick dachte; und der Wind schien ihn zu rufen, so frei wehte er um sein Gesicht. Er wußte, wo in der Nähe ein Kleiderladen war, ließ also dreist den Züllichauer warten, ging hin und kaufte sich einen neuen Anzug, der zwar sechzehn von seinen Talern kostete, aber dafür blau und von neuestem Schnitt war, wie ihm der dicke Besitzer sagte, der selber dazu kam, ihn zu bedienen. Er zog den Anzug gleich an, kaufte sich nebenan noch einen braunen Hut und kehrte nach anderthalb Stunden in die Werkstatt zurück, wo ihn die andern durch die verkratzten Scheiben ankommen sahen.
Im Flur schon trat ihm der Schwintowski entgegen, sanft gerötet und überhöflich aus seinem Zustand. Herr Voigt, sagte er und schlug seine Hände bedauernd auseinander, als ob er seinen Gesellen mit einer Kundschaft verwechselte: es sind zwei Herrn dagewesen; einer war von der Post!
Von der Post? sprach Wilhelm Voigt nach, und die Steinplatten unter seinen Füßen fingen an, sich zu drehen, er hatte sich aber gleich gefaßt: Da werde ich noch einmal hin müssen! bemerkte er leichthin, schwenkte seinen neuen Hut vor dem Schwintowski und ging hinaus, durch den Torweg nach links, weil ihm rechts vom Postamt aus die Gefahr am größten schien; in der Chausseestraße wieder rechts bis zur Linienstraße und der immer nach, bis er zur Landsberger Allee kam, die er schon mutiger hinab schritt. Ja, er kaufte sich unterwegs noch einen Rohrstock mit einem Nickelknopf, recht wie ein Spaziergänger auszusehen; und es war Zufriedenheit mit seiner kaltblütigen Ruhe, daß er ihn schwenkte.
Als er nach gut zwei Stunden aus der Stadt Berlin hinaus nach Bürknersfelde gekommen war, sah er unter Kiefern den Sandberg liegen, wie wenn er wieder auf der Nehrung wäre; aber droben war weder die Ostsee noch das Haff zu sehen, nur herbstliche Felder rundum, Kiefern und Heide. Er setzte sich gleichwohl hin und bedachte, was seit dem Mittag gewesen war, und zählte schließlich sein Geld, von den dreiundzwanzig Talern hatte er nur noch fünf, dafür einen blauen Anzug, einen braunen Hut und einen Spazierstock mit Nickelknopf, indessen sonst nichts. Den Ranzen und den Lohn hatte er bei dem eiligen Abschied dem Schwintowski dalassen müssen, auch die alten Kleider sollten dahin gebracht werden; es schien ihm im Augenblick mehr, was er verloren, als was er gewonnen hatte.
Aber er war draußen, der Wind blies, die Sonne schien und rundum lag das Land mit hundert Wegen, deren jeden er nach Belieben nehmen konnte. Daß er nach Osten gegangen war statt nach Nordwesten, stellte er an der bleichen Sonne fest. Doch war ihm das Wort des Tirolers mahnend im Sinn: Wenn sie Einen von Berlin suchten, fingen sie ihn in Hamburg, weil da die Tür nach Amerika wäre! Und ihn sollten sie nicht fangen, nachdem er endlich sein Loch ins Freie gefunden hatte.
Köpenick
Weil er umschauend im Land südlich Berge sah, blau und höher als der seine, kam Wilhelm Voigt zur Nacht nach Köpenick. Er lief der Wuhle entlang, einem traurigen Bach, und ging aus Furcht vor Tilsit über keine Brücke, weil die nach Osten führten, wo Tilsit lag, kam durch die Wuhlheide an die DammVorstadt, von wo ihn die Straßenlaternen in den Ort hinein leiteten. Hätte es da nicht zu regnen begonnen, wäre er weiter gegangen, am Müggelberg oder sonst im Ginster zu schlafen; so sah er einen bescheidenen Gasthof, an dem vor der Tür zwei Lorbeerbaume standen, ging hinein und fragte nach einem Zimmer.
Der sommersprossige Kellnerjüngling sagte gleich, sie wollten ihm am Preis die Hälfte nachlassen, weil sie einsähen, daß er mit der Bahn ebenso gut nach Berlin fahren könnte, wo es lustiger wäre. Überhaupt die Bahnen wären das Unglück der Landschaft, meinte er noch, indem er inständig mit dem Zeigefinger im Ohr bohrte, aber der Herr müsse dann auch etwas bei ihnen verzehren!
Das tat Wilhelm Voigt in einer niedrigen Wirtsstube, wo an dem runden Tisch in der Ofenecke ein paar Bürger von Köpenick Karten spielten; er saß abseits von ihnen, aß Königsberger Klops nach Vorschrift des Kellnerjünglings und trank Bier dazu, war aber die Sache leid, weil er lieber im Sand unter den Sternen geschlafen hätte. Nachher war dicht unter seinem Fenster die Straßenlaterne am Haus befestigt, die erst gegen Morgen ausgelöscht wurde und ihn durch die ganze Nacht mit dem Schrecken störte, der Polizist in Königsberg stände wieder mit dem grellen Licht da, ihn zu wecken; sodaß er sich endlich verschlief.
Der Kellnerjüngling, als er hinab kam, fragte nebenbei: wohin die Reise ginge? Er gähnte aber dazu und schien keine Antwort zu erwarten. Während er in die Küche schlappte, das Frühstück zu holen, sah Wilhelm Voigt an der Wand eine Karte der Provinz Brandenburg. Er suchte darauf seinen Weg und fand, daß er sich aus Furcht vor Hamburg genau nach der andern Seite gewandt hatte. Da gab es aber fürs erste kein Wasser; und so beschloß er, die Richtung der Spree entlang bis Fürstenwalde zu nehmen, um von da nach Frankfurt an der Oder zu kommen, dort wollte er ein Schiff suchen, nach Stettin zu fahren.
Ein berittener Gendarm war schuld, daß er schneller nach Frankfurt gelangte. Während er nachher vor einer Papierhandlung stand, wo Landkarten aushingen, hörte er die klappernden Hufe früh genug, unauffällig um die Ecke in eine Gasse zu entwischen, dadurch kam er vom erfragten Weg ab und nach einer halben Stunde vor den Bahnhof von Köpenick. Daß es überhaupt eine Eisenbahn nach Frankfurt gäbe, hatte er garnicht bedacht; und nicht mehr lange in der Nähe von Berlin zu sein, schien ihm geraten. Als es hieß, in einer Viertelstunde käme ein Zug, kaufte er sich ein Billett und stieg mit den andern Passagieren ein.
Cholera in Frankfurt
Unterwegs hörte Wilhelm Voigt von einer Frau, die auf ihren Marktkörben saß, daß in Frankfurt die Cholera wäre; alles, was von Berlin käme, würde untersucht. Es machte ihm keine Angst, weil er dachte, auf diese Weise erst recht gesichert zu sein. Indessen, als er am Nachmittag bei einem windigen Regenwetter gegen die Oder wollte, trat ihm ein Soldat in den Weg: die Cholera war auf einem Schiff eingeschleppt, und niemand durfte ans Wasser.
So war es nichts mit der Schiffahrt, und er hatte nur einen Umweg gemacht; aber weil er von Frankfurt nach Stettin nicht über Berlin brauchte, galt es ihm gleich. Er kaufte sich nun doch eine Landkarte und am andern Morgen um Sieben marschierte er durch das Küstriner Tor hinaus. Er hatte in einer Wirtschaft geschlafen, wo der Wirt Metzger wie der in Labiau war und darum viele Soldaten aßen. Es waren schon Rekruten darunter und bis zum Zapfenstreich ging es hoch her; er machte sich aber bald in seine Kammer hinauf, weil ihn Einer über Tilsit ausfragte und dort allerlei Leute kannte.
Dadurch war er doch wieder in Heimweh geraten und hatte im Schlaf nach seiner Mutter geweint, die er nun sicher nicht wieder sehen durfte; so sah Wilhelm Voigt erst in dieser zweiten Nacht seiner Flucht, was er sich angerichtet hatte. Aber wie er an dem Morgen unter knallweißen Wolken gegen die flachen Berge anging, die da ganz nahe an den Oderfluß kamen, hing sich sein Trotz recht daran, daß er nun keinen andern Weg mehr hatte als den übers Wasser. Und keinmal, seitdem er fort war von Tilsit, auch auf der Nehrung nicht, stand ihm der Kopf so voller Pläne, was für Abenteuer er bestehen wollte, nachdem ihm der erste Streich so leicht gelungen war.
Der rote Elias
Er blieb zur Nacht und noch drei andere Nächte in einem Dorf namens Zechin; denn auf Küstrin ging er nicht, als er den strengen Namen am Wegweiser las, weil ihn die Festung schreckte. Von sich aus wäre er an dem Tag noch weiter gegangen, statt in dem armseligen Nest zu bleiben. Aber wie er zur Dämmerung dahin kam, brannte eine gefüllte Scheune neben der Schule, und es sah aus, als sollte das ganze Dorf Zechin in Flammen aufgehen. Die Bauern hatten zwar eine alte Spritze, und Wasser war auch genug im Brandteich, aber das Ding war verrottet. Soviel hatte er bei dem Onkel Patzig gelernt, daß er sich als angeblicher Mechaniker einmischen und die Ventile, an denen es lag, in Ordnung bringen konnte. Dafür nahmen sie ihn zur Nacht mit in den Krug, wo sich der rothaarige Sohn des Lehrers an ihn hängte.
Der war ein Jahr jünger als Wilhelm Voigt, aber noch fast einen Kopf länger. Während die Männer ihre Gespräche über den Brand machten, fanden sie beide rasch das ihrige. Als der andere hörte, daß er auf See ginge, lauerte er schon lange darauf, heimlich hier fort zu kommen, und wollte mit. Aber am andern Morgen war er nicht fertig, und am nächsten auch nicht. So hielt er Wilhelm Voigt drei Nächte lang hin, bis sie am vierten Morgen vor Tag endlich fort schleichen konnten; doch hatte er keinen richtigen Wandergenossen an ihm gefunden.
Denn der Elias, so hieß er mit Vornamen, war am Mittag schon bedenklich, ob sie Geld genug hätten, ein Schiff zu kaufen? Eigentlich wollte er Seeräuber werden, und Wilhelm Voigt merkte bald, daß er auch sonst einfältig war; so kam er selber dazu, großspurig vor ihm zu tun, er könne das Geld für ein Schiff schon beschaffen! Als sie zu Wriezen nicht im Wirtshaus geblieben waten, weil da der Wirt den Lehrersohn aus Zechin kannte, sondern bei einem Bäcker, der ein Strohlager in der Dachkammer hatte, und am Morgen weiter marschieren wollten, ging er zur Post und zahlte auf seinen Namen einen Taler ein, postlagernd in Freienwalde.
Dort wollte er andern Tags aus einer Eins eine Elf machen und vor dem einfältigen Elias mit seiner Spitzbüberei prahlen; nur hatte er nicht bedacht, daß auf diese Weise der gleiche Beamte das Geld auszahlte, der ihm die Anweisung aushändigte. Der reichte ihm die eingetauchte Feder zur Unterschrift hin und legte den Taler dazu, den der Verdutzte einstecken mußte, und das Porto hatte er auch verloren. Dem roten Elias sein Kunststück dennoch zu zeigen, zahlte er in Angermünde den Taler noch einmal ein nach Stettin in die Herberge zur Heimat, wo er sich auskannte.
Sie hätten den Weg von da in zwei Lagen machen können; aber in Schwedt vermochte der lange Elias nicht weiter zu gehen vor wunden Füßen. So saßen sie einen halben Tag mißmutig herum und kauften Hirschtalg; denn der Schnaps in die Stiefel gegossen, wollte nicht helfen. In Angermünde wären sie an der Bahnstrecke gewesen, hier staken sie mitten im Land, das sich von Schwedt nach Stettin noch meilenweit hinzieht. Auch wurde das Wetter schlecht, und es sah wieder nach Schnee aus. Der Elias fing an zu heulen und wollte nach Hause. Er tröstete ihn, daß sie auf See nicht mehr zu laufen brauchten, aber das war ein kindlicher Trost; und als sie am sechsten Abend in Stettin einkrochen, naß und verdrießlich, waren sie froh, daß sie die weichen Wege und kalten Winde hinter sich hatten.
Elf Taler
In der Herberge zur Heimat sagte der Haushalter gleich, es wäre Geld für Wilhelm Voigt auf der Post; und am andern Vormittag brachte der Briefträger die Anweisung, auf welcher vor der Eins schon Platz für die andere Ziffer gelassen war. Er hätte lieber eine Zwei oder Drei hin geschrieben; denn er brauchte einen Mantel für den Winter, ein anderes Hemd und auch einen Ranzen; mit seinem Spazierstock allein sah er auffällig aus. Doch schien es ihm zu gefährlich; so malte er nur eine Eins, genau wie die erste und kriegte die elf Taler so rasch wie die dreiundzwanzig in Berlin.
Der Elias hatte draußen zitternd gewartet; als Wilhelm Voigt lachend über die Treppe kam, obwohl ihm selber diesmal übel zumut war, fing der andere an zu heulen. Und hörte nicht auf, bis sie unten am Wasser auf einer klebrigen Bank saßen, in den schmutzigen Nebel zu starren, darin nichts vom andern Ufer zu erblicken war, als ob der Oderfluß schon das Meer wäre, vor dem Verzagten nun erst recht zu prahlen, wollte er gerade ein freches Wort sagen, da gab sein Begleiter einen seltsamen Laut von sich und warf den Kopf hinten über. Gleich darauf lag er schon auf der nassen Erde und war von der Sucht befallen.
Weil aus dem Nebel hin und her Leute kamen, stand bald ein Kreis um sie herum; und ein freundlicher Weißbart ließ sie in seiner Droschke zur Herberge fahren. Wilhelm Voigt merkte gleich, daß diesmal noch keiner von der Post dagewesen war; so wurde er dreist und brachte den Elias in ihre gemeinschaftliche Kammer hinauf, wo der sich gleich aufs Bett legte. Aber er kehrte das Gesicht zur Wand und gab ihm keine Antwort, was er auch fragte, sodaß er einsehen mußte, der Elias wollte ihn nicht. Darum ging er allein zurück in die Stadt, wo in den Geschäften Lampen brannten und an die nassen Scheiben Kränze aus Regenbogenfarben malten, trotzdem es noch Tageszeit war.
Er kaufte den Mantel, das Hemd und den Ranzen und war dreist genug, damit noch einmal in die Herberge zu gehen, wo er den Elias schlafend dachte. Doch fand er nur sein verwühltes Bett; und auf den Schemel davor hatte der Entwichene ein Blatt aus seinem Notizbuch so hingelegt, daß Wilhelm Voigt merken mußte, es sollte eine Nachricht und Warnung für ihn sein, weil im selben Augenblick Schritte über die Treppe herauf kamen, konnte er nur noch den Riegel vorwerfen; daß er den Zettel zerknüllt in die Manteltasche steckte, merkte er garnicht im Schrecken. Als es dann wirklich an die Tür klopfte, gab er keinen Laut, bis der draußen den Drücker probierte und maulend abging.
Wilhelm Voigt hatte schon vorher gesehen, daß nicht allzu tief unter dem Fenster ein unsteiles Dach in den Hof hinab hing; darüber kroch er auf allen Vieren vor bis an den Rand und ließ sich hinunter, durch ein offenes Tor in die hintere Gasse zu gelangen, die im Bogen zurück auf eine größere Straße führte. Die Himmelsgegend verlor er auf diese Weise; aber er suchte sich gerade aus zu halten, bis nach einer halben Stunde die Häuser spärlicher aus dem Nebel kamen.
Ich bin ein Dieb
Der schmaler werdende Weg führte ihn durch Felder gegen ein Dorf namens Warsow, wie er andern Morgens erfuhr. An dem Abend kam er nicht so weit, weil er von der Seite ein düsterrotes Licht im Nebel sah und, als er furchtsam hinzu ging, eine Feldziegelei fand, die um diese Stunde verlassen war. Das Ziegelstroh unter dem Schilfdach schien ihm einladend genug, den Tag abzuwarten. Er schlief aus seiner elenden Müdigkeit auch sogleich ein, wurde aber lange vor der Frühe aus wüsten Träumen wach und fror jämmerlich trotz seinem Mantel.
Wie er sich daliegend fand in dem feuchten Stroh, wie er die düsterroten Löcher am Ziegelofen durch die schwarze Nebelwand glühen sah, und es war noch weit bis an den Morgen, hatte er Zeit, das Seine zu bedenken, und darüber fiel ihm der Zettel des roten Elias ein. Er fand ihn noch in der Manteltasche und tappte sich vor an eins der roten Löcher; aber die Glut war nicht hell genug, dabei zu lesen. Den Morgen abwarten konnte er nicht; so holte er eine Handvoll Stroh aus der Hütte und schob sie in das glühende Loch. Im Flackerlicht sah er, daß die vermeintliche Warnung eine Rechnung war, die sich der Elias über seine Ausgaben gemacht hatte, mit achtzehn Groschen und vier Pfennigen addiert; und nur dies war darunter geschrieben: Zwei Taler und sieben Groschen meinem Vater aus dem Schrank genommen. Ich bin ein Dieb!
Es kam wohl, weil in diesem Augenblick die Strohflammen erloschen, daß für Wilhelm Voigt der böse Satz wie ein dunkles Loch war, in das alles hinein fiel, was er auch denken wollte, von dem Leichtsinn und der Prahlhanserei der vergangenen Tage blieb nur die Wirklichkeit übrig, darin er nun schlimmer daran war als ein verlaufener Hund, weil der seinen Herrn wieder finden konnte, aber ihn suchte die Polizei!
Pasewalk
Bis in das fahle Morgenrot saß Wilhelm Voigt da in dem Stroh und lauerte, daß die Ziegler ihn fänden und alles über ihn käme, was er sich angerichtet hatte; aber als er das erste Geräusch von einem Fuhrwerk hörte, machte er sich fort.
Der finstere Nebel hielt noch den ganzen Tag an, sodaß er von der Landschaft immer nur den eingedüsterten Umkreis sah, aus dem die Dörfer vor ihm so plötzlich auftauchten, wie sie hinter ihm verschwanden. Anfangs war es ihm gleich, danach unheimlich, daß er so kurze Sicht hatte, und er beargwöhnte jede Gestalt, die in seinen Nebelkreis kam. Zuletzt fand er sich durch den finsteren Zustand geschützt, und als er am Abend nach Löcknitz kam, hatte er seinen Plan trotzig gemacht: nach Stettin zurück konnte er nicht, so mußte er trotz dem Tiroler nach Hamburg, wenn er auf ein Schiff wollte. Aber bis seine Spur verwischt war, wollte er drüben in Mecklenburg einen Unterschlupf suchen, jenseits der preußischen Grenze, die nach seiner Karte nicht mehr weit sein konnte.
Daß er trotzdem in Pasewalk hängen blieb am andern Tag, kam nicht durch die Kürassiere, so staunend er die weißen Uniformen abends im Wirtshaus sah, sondern durch den Schuhmacher Neveling, der sich aus einer besonderen Absicht an seinen Tisch setzte. Das war ein ältlicher Mann mit einer Glatze über den ganzen Kopf – nur über den Ohren beiderseits standen noch schwarze Büschel – der ein Gewerbe mit Kreuzigungsgruppen betrieb, aus Holundermark geschnitten und stückweise in eine alte Medizinflasche versenkt; sodaß ein Einfältiger nicht begriff, wie er das bunte Zeug in die mit Pech verschlossene Flasche gezaubert hatte. Er nannte sich darum einen Künstler und stocherte abends in den Wirtschaften herum, Liebhaber für seine Kunstwerke zu finden.
Auf Wilhelm Voigt, den er für einen zahlungsfähigen Reisenden hielt, wie er nachher gestand, hatte er Hoffnungen gebaut, und er war gerade dabei, die gewohnte Bewunderung zu ernten, als er an den Händen, mit denen der vermeintliche Liebhaber seine Flasche hielt, die sicheren Zeichen des Handwerks erkannte und grüßte. Auf diese Weise gab es für beide Teile eine unerwartete Bekanntschaft, die in einer späteren Stunde dazu führte, daß Wilhelm Voigt sich bei dem Schuhmacher Neveling in Pasewalk als Gesell verdingte.
Der Flickschuster Neveling
Am andern Morgen ging Wilhelm Voigt freilich nur aus Neugierde hin, und erst, als er das schiefe Haus in der abseitigen Straße sah, schien ihm der Unterschlupf recht, trotzdem er noch in der pommerschen Uckermark war. Die Werkstatt lag mit der Küche in einem Raum, und der Neveling klopfte grimmig darauf los, während in der Ecke am geschwärzten Herd seine Tochter Amalia hantierte. Als er seine längst vergessene Abendbekanntschaft herein treten sah, tat er den Schlag auf die Sohle nicht aus, beugte sich hintenüber, den Hammer hoch in der Luft, mit seinem ganzen Gebiß zu lachen.
Der Neveling einen Gesellen? Und er lachte von neuem: Immer herein! Immer herein, wohlangezogener junger Mann! kannst Flickschusters Nachfolger in Pasewalk werden! tat endlich und endgültig den Schlag auf die Sohle, indem er aufstand und den Hammer hinwarf: Nur Platz genommen! Er ist noch warm. Alles wartet auf deinen kunstvollen Fleiß. Die da geht in den Lohn!
Die Tochter Amalia, über die derart verfügt wurde, hatte zuerst getan, als hörte sie weder die Rede noch sähe sie den, dem sie galt; jetzt trat sie heran und wies ein weißblondes Gesicht, mit dem sie den neuen Hausgenossen ohne Scheu prüfte, ehe sie sich achselzuckend wieder zu ihrem Herd wandte. Sie zeigte ihm aber nachher seine Kammer unterm Dach und während Wilhelm Voigt ging, sich eine Schürze zu kaufen, hatte der Alte schon eine alte Hose von seinem bei Düppel gefallenen Sohn hingelegt, die ihm paßte; sodaß er nach einer Stunde bereits auf dem Schemel saß, ebenso unverhofft wie vordem bei dem Schwintowski.
Der Flickschuster Neveling war aus der Rhön nach Pasewalk gekommen und hatte von da seine katholische Kunstfertigkeit mitgebracht. Er besaß oben in seiner Kammer, wo er tagsüber bosselte, einen Schrank voll von den Flaschen und machte unentwegt neue, aus Liebhaberei, wie er sagte. Seine Tochter Amalia indessen, die eine groß gewachsene aber nur halb kluge Weibsperson war, hatte ihre Liebhaberei mit den Kürassieren, die den Weg durch die schmale Gasse wußten, wo ihre Kammer hinter der Küche zu ebener Erde lag.
So war Wilhelm Voigt, wie er bald merkte, in kein ehrbares Haus geraten; aber weil die Amalia eine verträgliche Person war, ließ er den Mond für ihre Nacht sorgen und tat, als wüßte er nichts, denn dem Haus des Flickschusters Neveling sprachen kaum Bürgersleute zu, so war es ein Unterschlupf, wie er ihn brauchte. Da keiner danach fragte, eilte es ihm auch nicht mit der Anmeldung bei der Polizei; und wenn er sich abends auf die Straße wagte, war es dunkel.
Die Arbeit freilich behagte ihm wenig, weil nur armes Volk sein schlechtes Schuhwerk zum Flicken brachte. Aber als er der Amalia einmal vorgeprahlt hatte, daß er Reitstiefel zu machen verstände, kam sie eines Tages mit einem Kürassier an, der ihr zu Gefallen ein Paar bestellte, und Geld für die Schäfte hatte sie auch. Wilhelm Voigt ließ die Flickerei bis auf das Nötigste liegen und machte sich an die Stiefel, die so gut gerieten, daß es ein Zweiter versuchte und nach ihm noch mehrere.
Amalia
Durch diese Glücksfälle sah es in der Hintergasse auf einmal wie eine richtige Schuhmacherei aus; der alte Neveling war so begeistert, daß er selber Handreichung leistete, als wäre Wilhelm Voigt der Meister und er der Geselle. Ehe der so unerwartet zur Geltung Gekommene merkte, was für eine Dummheit dies für ihn selber und seinen Unterschlupf war, machte er die Pläne mit, wie sie aus der Flickschusterei ins Geschäft kommen könnten; denn die Amalia saß dabei, die ihm immer mehr schön tat und ihm immer besser gefiel.
Als sie ihm zu Weihnachten ein kniehohes Tannenbäumchen auf den Tisch gestellt und ein Paar wollene Strümpfe darunter gelegt hatte, die er notwendig brauchte, saß er in seinem blauen Anzug allein mit ihr, den Christ zu feiern, weil der Neveling die Feststimmung noch für seine Kunstwerke nutzen wollte. Sie hatte für eine Flasche Rum gesorgt, aus der sie Grog machten; als sie warm davon wurden und der Alte ausblieb, nahm ihn die Amalia zuletzt mit hinter die Küche, ihm ihre Kammer zu zeigen, die aber eine geräumige Stube mit einem Sofa und japanischen Fächern über dem Bett war, wo sie den Christ zu Ende feierten.
Draußen hatte sich längst der Winter auf die Landschaft gelegt, und die Dächer hingen voll Schnee; nun fing in den Nächten die Windsbraut an um die Ecken zu heulen, als wäre schon Tauwind im Frühjahr. Es waren aber nur die Zwölf Nächte, wie der Flickschuster Neveling in der Sylvesternacht sagte, als sie zu Dreien saßen und den Rest aus der Rumflasche zu Grog machten. Er hatte seinen schwarzen Rock angezogen und war schon den ganzen Abend feierlich; zuletzt hieß er Wilhelm Voigt seinen aus dem Grab bei Düppel wieder gekommenen Sohn und ermahnte die Tochter, liebreich zu ihm zu sein, worüber die Amalia erst laut zu lachen, dann jämmerlich zu weinen begann.
Auch dem alten Neveling liefen die Thränen in seine Worte, und er sprach wie ein Pastor, als ob er weder von den Kürrassieren noch sonst etwas wüßte. Schließlich wurde er schläfrig; und als er wirklich einschlief, trugen sie ihn, weil Amalia dies wollte, auf das Sofa in ihrem Zimmer. Sie beide blieben noch sitzen bis in die Frühe, tranken aber nicht mehr, weil Amalia noch lange weinte; nachher sprachen sie wie Bruder und Schwester miteinander und sagten sich alles aus ihrem verschlissenen Leben. Als Wilhelm Voigt gegen Morgen hinauf in sein kaltes Bett kam, hatte er noch nie mit einem Menschen so vertraut dagesessen wie mit der Tochter des Flickschusters Neveling, die mit den Kürassieren gegangen war; nun aber wollte sie keinem mehr ihre Tür aufmachen, und er hatte ihr mit heißen Worten versichert, fortab ihr Beschützer zu sein.
Zweimal nach Strasburg
Indessen am Neujahrstag gegen zwölf, als sie alle drei kaum aufgestanden waren, kam der Zunftverwalter, weil sich die andern Meister über den fremden Gesellen beschwert hatten, der Reitstiefel machte, und am nächsten Morgen schickten sie Wilhelm Voigt auch schon Polizei auf den Hals, nach der Anmeldung zu fragen. Er hatte den Helm kommen gesehen und war von der Amalia in ihr Zimmer gesteckt worden: er sei nicht zu Haus! Nachher schalt sie ihn, als sie hörte, daß er seinen richtigen Paß hatte; und er versprach ihr, selber zur Polizei zu gehen. Aber er zog es bis zur Dunkelheit hin, weil eilige Arbeit da wäre; und als er dann in seine Kammer hinauf ging, mußte er zwar den Ranzen dalassen, damit sie nichts merkte, aber den Mantel zog er über den blauen Anzug an, auch den Stock mit dem Nickelknopf nahm er zur Hand, ehe er vor ihren bedenklichen Augen auf die Gasse hinaus ging, nicht wieder zu kommen.
Anders als aus Berlin und Stettin war diese dritte Flucht; und als er vor Pasewalk in die Schneefelser sah, heulte er vor nichtsnutziger Wut. Er kam sich hündisch vor, daß er seine Schwüre sobald vergaß und davon lief; und wenn er an den letzten fragenden Blick der Amalie dachte, den er lächelnd belog, wurden ihm die Kniee lahm in dem Schnee, durch den er Schritt für Schritt stapfen mußte; denn es hatte am Nachmittag frisch geschneit.
Er gelangte in der Winternacht, die fast warm über dem weichen Schnee stand, bis Strasburg, wo er durch einen Umstand die Herberge noch offen fand. Am andern Morgen indessen kam er nicht fort, strich bis zum Nachmittag unschlüssig herum, und als es mit der Dämmerung in den Schnee zu tropfen begann, nahm er den Weg auf Pasewalk zurück. Und wie die Tropfen doch wieder zu Schnee froren, je weiter er kam, so wurde sein Kindskopf mit jeder Wegkreuzung gewisser, daß er diesmal auf der richtigen Fährte wäre.
Es schlug gerade neun Uhr, als er in Pasewalk einging und neben dem mageren Licht der verschneiten Laternen einen Schattenweg durch die hinteren Gassen suchte. Unversehens kam er zwischen den Häusern herauf, wo Amalia linker Hand ihre Kammer mit den japanischen Fächern über dem Bett hatte. Die Tür war wie immer zugesperrt, als er leise den Drücker probierte; aber sie hatte Licht, und als er horchte, schon seiner Ahnung gewiß, hörte er genau, daß eine Mannesstimme bei ihr war. Aus seiner wilden Wut tat er einen Faustschlag gegen die Tür, daß alles daran klirrte; als aber nach einer stummen Weile harte Schritte kamen, hielt er nicht stand und lief schmählich davon, diesmal mitten durch das Licht der Laternen. Spät in der Nacht fand er sich vor der verschlossenen Herberge in Strasburg wieder und wußte nicht, wie er den Weg zurück gefunden hatte. So kroch er von hinten über den Stall ins Heu, weil er die Leiter vom Morgen her kannte, und schlief da bis in den hellichten Tag. Nachher, als er in der Stube sein Morgenbrot aß, kam ein Polizist herein, seinen Paß zu sehen; und es war sicher wie damals in Königsberg, daß ihm der mißtrauische Wirt selber den dürren Kerl auf den Hals gehetzt hatte. Nun haben sie dich! dachte er im Trotz, daß die Hetz zu Ende wäre, der Landpolizist fand aber alles in Ordnung und fragte nur noch beiläufig: Wohin er wolle?
Nach Strelitz zu seinen Verwandten! log er ihn an und hätte sein Brot nachher ungestört essen können; aber der neuen Erfahrung, daß seine Flucht aus Pasewalk unnötig gewesen wäre, war sein Zustand nicht mehr gewachsen, von all seinen lausigen Abenteuern blieb nichts als die jämmerliche Hilflosigkeit übrig, daß ein böser Geist in den Dingen lauerte, sein Spiel mit ihm zu treiben.
Prenzlau
Der nächste Weg von Strasburg nach Strelitz wäre auf Woldegk gewesen; ein Gefühl der Gefahr ließ Wilhelm Voigt die Richtung auf Fürstenwerder nehmen. So geriet er andern Tages gegen Prenzlau, indem er hinter Wolfshagen die richtige Straße verfehlte. Der Schnee klumpte sich an die Stiefel, weil es doch wieder hinein regnete; es war so mühsam zu gehen, und die Mühsal hatte so jedes Ziel verloren, daß es ihm zuletzt gleich war, welches Ende sein Elend nahm. Auch ging sein Geld zur Neige; denn Lohn war bei der Flickschusterei trotz der Reitstiefel nicht heraus gekommen.
Unterwegs hatte er noch einmal einen Taler auf die Herberge zur Heimat in Prenzlau eingezahlt, ohne zu wissen, ob es die gäbe. Aber es gab sie und danach nahm alles seinen Gang. Als er mittags allein in der Herbergsstube saß und wieder eine Eins vor die Eins schreiben wollte, hing ein Plakat an der Wand, daß in Stettin ein Auswanderungsbüro wäre und die Überfahrt kostete fünfzig Taler. Entweder fangen sie dich, höhnte er selber, oder du kommst in die Freiheit! und schrieb eine fünf vor die Eins.
Das Postamt in Prenzlau war eine enge Klause; und als er hinein kam, saß hinter dem Schalter ein Mann mit einer Brille, der dem blonden Spitzbart in Königsberg ähnlich sah. Wilhelm Voigt wußte gleich, daß es nun aus war mit seiner Lumperei, trat aber dreist heran und zeigte die Anweisung vor. Wie er sie hingab, sah er selber, daß die Tinte der beiden Ziffern verschieden war.
Die Fünf ist gefälscht! sagte der Beamte gleich und zeigte mit dem Finger darauf, als ob das ein Unterhaltungsspiel wäre. Er hätte noch fliehen können; denn es war sonst niemand in dem Raum; er stand aber vor der Brille des Mannes wie gelähmt und starrte ihn an, so abwesend, daß er noch töricht lachte.
In dem Augenblick kam der Gendarm von der Straße herein und hatte so wenig an eine Verhaftung gedacht wie sein Kind, das ihm fröhlich schwatzend an der Hand hing. Erst sein Anblick riß Wilhelm Voigt aus der Erstarrung, und er wollte noch an ihm vorbei. Aber da kam auch der Postbeamte zur Vernunft: Festhalten! schrie er und fuhr im Eifer mit der Hand durch die Scheibe, als wäre ein Schuß gefallen. Wilhelm Voigt hatte die Tür schon am Griff, da packte die geübte Faust seine Schulter und riß ihn nach hinten, daß er auf den Fußboden fiel. Das Kind weinte laut, und der von der Post kam keuchend aus seinem Verschlag, mit der blutigen Hand aufgeregt die Tür zu verschließen: Es war eine Szene, wie sie in seinen Indianerheften hätte stehen können, aber nun geschah sie mitten im Alltag drin.
Wilhelm Voigt lag noch immer rücklings auf den Brettern; und obwohl ihm die Augen weit aufgesperrt blieben, standen für einen Augenblick Gestalten um ihn herum. Der Züllichauer und der Tiroler, die Tante mit ihrem langen Eberhard Knörke, die Elisabeth Zwirrne und der rote Elias: alle waren sie da wie der Gendarm, das weinende Kind und der Postbeamte mit seiner blutigen Hand; und alle sahen mit Augen nach ihm. Er setzte sich stöhnend auf und wollte weinen, so löste sich die Abscheulichkeit dieser Wochen von ihm.
Aufstehen! kommandierte der Gendarm wie in der Kaserne und stand breitbeinig da mit seinem Buch: Jetzt, wie heißt du? begann er und leckte an seinem Bleistift, den Tag und die Stunde der Verhaftung einzutragen.