Felix Salten
Martin Overbeck
Felix Salten

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Doktor Brunner kam in die Rettungsstation zurück, warf die Tasche unwirsch hin und wollte in das Ambulanzzimmer gehen.

Tine hielt ihn auf. »Was war denn los?« erkundigte sie sich. Sie befand sich in Unruhe, seit man um den Doktor telephoniert hatte.

»Zum Teufel!« knurrte Doktor Brunner. »Die Kerls geben nicht acht . . . und dann verunglücken sie auf die dämlichste Art!«

»Ist er tot?« fragte Tine zitternd. Sie wagte es nicht, nach dem Namen des Betroffenen zu fragen.

»I wo!« Der Doktor lachte kurz. »Der is ganz lebendig! Wird auch gar nicht daran sterben! Denkt nicht daran! Aber ein paar Wochen arbeitsunfähig . . . 247 das nimmt ihm kein Herrgott weg. Ich hab' ihn ins Spital geschickt . . .«

»Doch?« Tine atmete freier. »Doch so arg verletzt?«

»Mna,« der Doktor blieb an der Türe stehen, »für bescheidene Ansprüche langt's. Er braucht nur Umschläge und Aufsicht. Der Bursche hat sich die Hand gequetscht, ich sag' Ihnen, so platt wie ein Pfannkuchen ist sie . . .«

»Da hätt' er ja ebenso gut daher . . .« warf Tine ein.

Doktor Brunner brach los: »Wenn er aber nicht will! Ich versteh's absolut nicht! Ganz wild ist der Kerl geworden! Will nicht! Sagt mir's ins Gesicht, nicht um die Welt! Es ist der erste Fall . . . unbegreiflich!«

Tine strich eifrig ein Handtuch glatt und faltete es überflüssigerweise voll Eifer zusammen: »Wie heißt er denn?«

Doktor Brunner lachte: »Der Name ist ein Witz für so einen Taglöhner! Wissen Sie, wie der heißt? Martin Overbeck! Was sagen Sie? Verrückt! Nicht wahr?«

Doch Tine sagte gar nichts. Sie hatte plötzlich sehr viel zu tun.

Doktor Brunner ging in die Ambulanz zu den täglichen Patienten, und Tine werkte überall in der Rettungsstation umher.

248 Nur den Verschlag, in dem Mausberger saß, vermied sie.

Aber Mausberger hatte alles gehört.

 

Adeli!« Marie versuchte, das schnatternde Surren der Nähmaschine zu überschreien. »Adeli! Da bring' ich einen Bekannten!«

Ganz kurz sah Adeli auf, erblickte Martin, der hinter Marie die Wohnküche betrat, und merkte nicht, daß eine Hand verbunden war. Sie beugte sich noch tiefer über die Nähmaschine, arbeitete noch fester darauf los und murmelte: »Was geht's mich an?«

Sie merkte auch nicht, daß Martin anders war, als an jenem ersten Morgen. Er kam zu ihr und bot ihr guten Tag, doch Adeli nähte weiter und meinte: »Hab' keine Zeit.«

Erst als Marie den Gast vorsichtig ans Sofa führte, ihn vorsichtig hinsetzen ließ, erkannte sie, daß da etwas nicht in Ordnung sei.

»Jawohl,« lächelte Marie, »blessiert ist er, der arme Teufel.«

Martin saß mitten auf dem Sofa, hielt die verbundene Hand mit der rechten, sah unbeholfen aus und lächelte verlegen.

Adeli erhob sich, wollte näher kommen, besann sich und fragte Marie: »Hat er Schmerzen?«

»Ich glaub', jetzt nicht mehr so arge«, gab Marie 249 Bescheid, wandte sich an Martin und nickte: »Gelt? Jetzt ist's zum Ertragen?« Dann wieder zu Adeli: »Aber im Anfang, da war's schrecklich!«

Adeli stand unschlüssig und unzufrieden. Als Marie an ihr vorbeiging, flüsterte Adeli: »Der kommt immer, wenn ihm was fehlt!«

Plötzlich huschte sie zu der wackligen Kommode, die zwischen den Fenstern und der Wand hockte, kramte in den Laden und zog ein grellgeblumtes Tuch hervor. Sie brachte es Marie und sagte unfreundlich: »Bind' ihm das gleich um. Er muß die Hand doch stützen!«

»Richtig!« Marie nahm das Tuch. »Richtig! Daran hab' ich noch gar nicht gedacht.« Sie lächelte. »Aber du kannst es ihm selbst umbinden. Er beißt nicht.«

»Ich hab' keine Zeit«, murrte Adeli und saß schon wieder an der Maschine.

Marie band Martin das Tuch als Armschlinge um.

»Danke, danke,« Martin sah die stramme, große Frau gutmütig an, »das tut wohl!«

»So!« entschied Marie. »Jetzt muß ich in die Apotheke. Wenn die Adeli Zeit hätt', möcht' sie Ihnen unterdessen kalte Umschläge geben. Aber sie hat keine Zeit . . .«

»Das macht nichts,« flüsterte Martin, »ich will nicht stören.«

»Ach, Martin!« wehrte Marie ab. »Sie stören gar nicht. Sie warten eben, bis ich wiederkomme. Dann kriegen Sie die richtigen Umschläge, und dann koche ich auch Kaffee.«

250 Als sie fort war, blieb es ganz still. Nur die Nähmaschine surrte.

Adeli blickte manchmal verstohlen zu Martin hinüber. Er saß da, schloß die Augen, öffnete sie wieder und hatte offenbar Schmerzen.

»Ob ich ihm einen Umschlag gebe?« überlegte Adeli, verwarf jedoch diesen Gedanken. »Was geht er mich an?«

Martin traute sich nicht, Adeli anzusehen. Er war ganz verschüchtert durch sie.

Allein ihn plagte Durst.

»Ich könnte,« plante er, »ich könnte ein Glas nehmen, hinaus in den Hof zum Brunnen gehen . . .«

Seine Kehle war wirklich ganz trocken. Er stellte sich vor, wie herrlich es sein würde, jetzt ein Glas Wasser zu trinken, wie bald sich das bewerkstelligen ließe, und er lenkte den Blick durch die Glasscheibe der Tür in den Hof hinaus.

»Ob ich's tue?« dachte er zaghaft.

Da gewahrte er, daß Tine Schaffner ins Haus trat, daß sie über den Hof hereinkam, immer näher.

»Nein!« schrie er laut. »Nein!«

Adeli schreckte bei ihrer Maschine mit einem Hupfer zusammen.

Martin sprang auf, stieß den Tisch zur Seite und bat mit heiserer Stimme, verstört und blutrot im Gesicht: »Bitte, bitte . . . sagen Sie, ich kann nicht!« Er stampfte. »Ich will nicht! Jetzt nicht!«

251 Adeli starrte ihn entsetzt an und glaubte, er sei wahnsinnig geworden. Als Martin wie gehetzt in das Kabinett der Eheleute stürzte und die Tür hinter sich zuschloß, war sie überzeugt, daß er toll sei.

Dann aber klopfte Tine Schaffner, kam in die Wohnküche und Adeli begriff. Sie begriff wenigstens, daß Martin nicht irrsinnig war, wenn sie gleich von all den anderen Zusammenhängen nichts ahnte.

»Wo ist er denn?« fragte Tine.

Adeli drehte ihren kleinen, blassen, klugen Kopf: »Er hat sich in die inneren Gemächer zurückgezogen.«

Tine traf Anstalten, auf die Kabinettüre loszusteuern, doch Adeli verstellte ihr den Weg.

»Es geht nicht, Fräulein Schaffner.«

Tine stand enttäuscht und erstaunt. Sie war ins Spital gerannt, hatte dort Martin nicht getroffen, war auf dem Speditionshof gewesen, hatte erfahren, Martin sei hier, bei Peter Spieß. Nun kam sie her, und Adeli ließ sie nicht zu dem Kranken.

Adeli lächelte: »Kennen Sie mich so, daß ich Geschichten mache, ich?«

»Nun also!« Tine war nervös. »Ich muß!«

»Es geht nicht«, wiederholte Adeli bestimmt.

»Warum nicht?« Tine wurde scharf.

Und scharf erwiderte Adeli: »Weil er nicht will! . . .« Erklärend fuhr sie fort: »Dahier ist er gesessen. Hat Sie kommen gesehen! Ist aufgesprungen wie ein Narr und hat getobt: Ich will nicht . . . Jetzt nicht!«

252 Tine mußte sich sehr beherrschen, sonst hätte sie laut herausgeweint.

Sie schluckte: »Hat er gesagt ›jetzt nicht‹?«

»Das hat er gesagt,« bestätigte Adeli, »jetzt nicht.«

»Gewiß?«

»Ganz gewiß!«

»Dann . . . dann will ich gehen«, resignierte Tine.

Adeli zuckte die Achsel.

An der Türe leistete sie sich die Bemerkung: »Ja, ja, Fräulein Schaffner . . . auch arme Leute haben manchmal ihre Kaprizen. Entschuldigen Sie . . .«

Tine überhörte das.

»Sagen Sie, daß ich ihn grüßen lasse«, bat sie im Fortgehen.

»Ich werd's bestellen«, versicherte Adeli und schloß die Türe.

Sie kehrte zu ihrer Nähmaschine zurück, seltsam vergnügt.

Es fiel ihr ein, daß sie nun Martin herausholen könne. Aber das wollte sie nicht. Mochte er bleiben, wo er war.

Marie kehrte zurück. Erstaunt fragte sie nach Martin, und Adeli berichtete das Vorgefallene. Marie schüttelte den Kopf: »Nein! So was! So eine gute Person wie die Schaffner . . . und will sie nicht einmal sehen . . .« Sie ereiferte sich.

»Das hat nichts mit der Güte der Schaffner zu tun«, explizierte Adeli.

253 Marie konnte das nicht fassen.

»Oh.« Adelis Augen bekamen einen tiefen Glanz. »Oh, ich versteh' das so gut! Es ist doch immer eine Kluft da zwischen unsereinem und so jemandem, wie die Schaffner ist.«

»Eine Kluft?« Marie wußte nichts von einer Kluft. Die Schaffner war eine gute Seele und damit fertig. Mehr wußte Marie nicht.

Adeli jedoch blieb bei ihrer Meinung. »Gewiß, sie ist sehr brav, die Schaffner, sehr brav, das leugne ich nicht. Ich hab' sie auch soweit ganz gern. Aber fremd ist man doch, da ist nichts zu machen. Und ich versteh' schon, daß sich ein armer Teufel vor ihr verkriecht, grad' wenn er im Unglück ist. Das versteh' ich . . .«

Marie ließ sich auf solche spitzfindige Gedanken und Diskussionen nicht ein. Sie öffnete die Tür und rief ins Kabinett: »Kommen Sie nur heraus. Die Luft ist rein.«

Adeli setzte sich wieder an ihren Platz und seufzte: »Gott soll mich davor schützen, daß ich die Schaffner einmal nötig hab.« Dann surrte die Nähmaschine wieder.

Es wurde kein Wort mehr von dem unwillkommenen Besuch gesprochen. Auch nicht, als Peter heimgekehrt war. Martin verließ seinen Sofaplatz nicht. Marie besorgte die Umschläge, und sie betrachteten alle miteinander Martins hochgeschwollene Hand. Die war nun fast schwarz geworden, doch sie schmerzte kaum noch. Nur wenn man sie berührte, glaubte Martin, er müsse aus der Haut fahren.

254 An diesem Abend gingen sie zeitig schlafen, denn Martin war müde.

Marie bereitete ihm auf dem Sofa das Bett, und Adeli begann ohne weiteres, Martin zu entkleiden. Er ließ es nicht ohne tiefes Erstaunen und sehr verlegen geschehen. Er ließ ja nun alles geschehen, ohne sich zu sträuben. Adeli verfuhr außerordentlich behutsam und sie wechselten kein Wort während dieser merkwürdigen Prozedur. Dann löschte Adeli das Licht aus und begab sich selbst in ihr Bett.

Abend für Abend half sie Martin so aus den Kleidern, wenn Marie und Peter in ihr Kabinett gegangen waren. Abend für Abend löschte Adeli das Licht und legte sich zu Bett. Jeden Morgen zog sie Martin an, wusch ihn und richtete ihm die Binde. Vorher hatte sie sich selbst gewaschen und angezogen, während Martin noch mit geschlossenen Augen auf dem Sofa lag.

Das alles geschah ganz unbefangen, und Martin gewöhnte sich an Adeli, wie er sich an Peter und Marie gewöhnte.

 

Herr Overbeck weilte schon seit einer Woche in Rossenhofen.

Ihn freute das Arbeiten nicht mehr wie sonst. Er gestand sich das nicht ein, er leugnete vor sich selbst auch seine Sehnsucht nach Martin, verspottete seine Bangigkeit, die er um den Sohn empfand.

255 Den paar Bekannten, die es wagen durften, nach Martin zu fragen, antwortete er einsilbig und abweisend: »Fort.« Das war nicht gelogen. Dachten die Leute, der junge Overbeck habe irgend eine Auslandsreise unternommen, um so besser! Aber das Fragen war dem alten Herrn zuwider. Die Möglichkeit, daß der oder jener sich bei ihm nach Martin erkundigen könne, irritierte ihn. Er wurde nervös.

»Was sitze ich hier und warte auf ihn?« dachte er.

So war er nach Rossenhofen gefahren, auf dieses Schloß, das er besonders liebte, weil Martin es immer besonders geliebt hatte. Er paßte jetzt nicht mehr unter die Leute. In diesem Zustand nicht. Und so waren diesmal auch keine Gäste geladen. Herr Overbeck wollte allein bleiben, wollte abrechnen mit sich selbst, mit seinem Verhältnis zu Martin, wollte wieder zu innerer Ruhe gelangen. Er ging in dem großen Schloß spazieren, hielt sich viel in Martins Stuben auf, ging durch den Park, fuhr im Pferdewagen umher, und als der Förster ein paarmal vorstellig geworden war, weil doch Rehböcke abgeschossen werden müßten, fuhr Herr Overbeck des Abends hin und wieder zur Pirsch.

Allein er schoß niemals. Der Förster war verzweifelt, leistete heilige Eide, es wären kapitale Böcke da, Herr Overbeck müsse den einen oder anderen doch zu Gesicht kriegen.

»Ich hab' sie gesehen«, sagte Herr Overbeck.

»Wohl nicht schußgerecht?« drängte der Förster.

256 Aber Herr Overbeck gab keine Antwort und ging ins Haus.

Die Jagd hier, das war sonst Martins Sache gewesen. Der hatte seine Freude dran, der brachte einen Schwarm von Gästen mit. Der füllte Schloß, Park und Wald mit lebendiger Fröhlichkeit.

Einmal unterfing sich der Förster und fragte Herrn Overbeck: »Wann kommt denn der junge Herr?«

»Das müssen Sie ihn selber fragen«, war die Antwort. Leise und gleichgültig hingeworfen klangen diese Worte. Doch Herr Overbeck wandte sich ab, ließ den Förster stehen und ging erglühenden Gesichts davon.

Ein paar Schritte weiter lächelte er. Auf den alten Christoph war Verlaß! Der hatte nichts erzählt. Das war klar. Sonst hätte der Förster wohl kaum gefragt.

Eines Abends saß Herr Overbeck vor einem jungen Eichenschlag auf dem Hochstand. Seine Gedanken glitten still dahin. »Was hab' ich denn von Martin verlangt?« sann er. »Daß er die kleine Pollheim nimmt. Nun, er war ja bereit. Aber das Mädel hat ihn abgewiesen. Warum hab' ich ihn nicht früher schon zu mir in die Firma gelassen?« Das rührte an einem Punkt, mit dem Overbeck sich nicht gerne beschäftigte. Seine Schuld. Sein egozentrisches Wesen. Seine Eifersucht auf jegliche Herrschaft. »Falsch! Falsch! Das war falsch!« schloß er.

Dann wandte er sich wieder intensiv Martin zu: 257 Der Junge ist nicht schlecht. Im Gegenteil: brav ist er! Ohne jede Neigung zu Exzessen!

Das Elfenbeinmesser fiel ihm ein, das lange, schmale!

Ganz recht, daß es zerknickt wurde. Martin war ein Mann!

Overbeck wird das nicht wieder vergessen.

Auf dem Eichenschlag lagen leichte, durchsichtige Schatten der beginnenden Dämmerung. Es duftete nach Laub, Erde und kühlendem Tau.

Es raschelte im Unterholz, es fiepte rasch nacheinander. Und da kam es angebraust, das Spiel leidenschaftlicher Triebe. In hohen, anmutigen Sätzen sprang die Geiß voraus. Flucht und doch Verlockung, Angst und doch Verlangen. Hinter ihr drein fuhr der Bock. Prachtvoll in der Ganzheit seiner Kraft und seiner Begierden.

Overbeck folgte ihnen mit den Blicken.

Sie entschwanden in einem Busch, und Overbeck konnte hören, was dort vorging.

Nach kurzer Weile kam die Geiß wieder und äste sich an den niederen Stauden.

Sogleich war der Bock bei ihr. Ein schöner alter Bock, dem die dunkle Krone mit den weißen Zacken hoch und stolz das Haupt zierte. Prunkvoll in ihrem Rot stachen die beiden Tiere aus dem milden Grün des Buschwerks hervor. Langsam und seelenruhig zogen sie näher.

Overbeck legte an und zielte. Auf achtzig Schritte 258 hatte er den Bock vor sich. Dann auf fünfzig. Todsicher!

Behutsam setzte er den Stutzen wieder beiseite.

Todsicher! Jawohl, der Tod war sicher. War sogar die einzige Gewißheit, die es gab. Eines Tages liegt man da und alles ist vorbei. Dann kommen andere. Nach seinem Großvater ist sein Vater hier gewesen, im Wald und im Schloß Rossenhofen. Nach seinem Vater saß er jetzt hier, Overbeck, wie die vorigen und doch ein anderer. Nach ihm wird Martin kommen, auch ein Overbeck und doch ein ganz anderer. Wird er kommen?

Wo waren die Krisen, die Schwierigkeiten, die Konflikte, mit denen sich der Großvater und der Vater geplagt hatten? Wo war ihr Liebesspiel, ihr Glück, ihr Leid? Weggewischt! Spurlos dahin. Vergessen! Man schlug Bäume nieder. Eine Blöße entstand. Man pflanzte junge Bäume und die Blöße wurde wieder Dickicht, wurde Wald. Das nahm alles seinen Gang, majestätisch in seiner Gleichgültigkeit. Pflanzen, Tiere, Menschen, es blieb dasselbe. Was war der einzelne? Was? Hatte es einen Sinn, diesen Bock da zu töten, mitten in seiner Lebensfreude? Hatte es einen Sinn, sich auch nur einen einzigen Tag zu verbittern? Sich die Freude am Dasein selbst zu stören oder zu kürzen?

In seinen Kindern existiert man weiter! Vielleicht. Symbolisch. Irgendwie dumpf. Das blieb die einzige 259 Form der Unsterblichkeit, an die Overbeck jetzt glaubte. Großvater und Vater lebten in ihm. Er fühlte das. Ob sie selbst es noch fühlten? Wär' das nicht egal? Sie mußten es doch vorausgefühlt haben zu ihren Lebzeiten. Darauf kam es an.

Martin! Er preßte die Lippen zusammen, um nicht zu stöhnen.

Es war schon ganz dunkel, als er vom Hochstand stieg. Langsam ging er, auf Pirschsteigen zum Wagen. Spät abends kam er heim, ins Schloß.

Ein wenig abseits der Auffahrtsrampe stand ein Auto im Schatten. Overbeck bemerkte es, sah mißmutig hin und fragte sogleich beim Betreten der Halle den alten Christoph, der ihn empfing: »Jemand da?«

»Fräulein von Pollheim sind angekommen«, meldete Christoph.

Overbeck fand Marta im kleinen Salon. Sie war noch im Reisekleid. »Grüß Gott, Onkel Overbeck«, rief sie, und Overbeck schien es, als sei ihre burschikose Heiterkeit nur gespielt.

Er sprach kein Wort, gab ihr aber die Hand.

»Hast du Weidmannsheil gehabt?« fragte sie.

»Nein.« Er setzte sich.

Marta klopfte auf das Tischchen, rückte Nippes und Vasen: »Ich bin schon zwei Stunden da.«

»Wie lange bleibst du?« erkundigte sich Overbeck.

»Ich weiß nicht«, Marta sprach hastig, ihr Wesen flackerte. »Vor allem hab' ich Hunger . . .«

260 »Wir essen gleich . . .«

»Ach, ich hab' gar keinen Hunger,« unterbrach sie ihn, »das soll nur schon erledigt sein . . .«

Der alte Christoph öffnete beide Türen zum Speisesaal, darin der große Lüster über dem weißgedeckten Tisch brannte.

Christoph verbeugte sich tief.

Marta sprang auf: »Endlich! Gott sei Dank!«

Overbeck erhob sich und bot ihr den Arm.

Schweigsam aßen sie. Nur einmal, als kein Diener zugegen war, rief Marta: »Daheim weiß niemand, wo ich bin!«

»So?« bemerkte Overbeck, leise und gleichgültig.

Erst drüben im Herrenzimmer, begann Marta zu reden. Sie knüpfte unmittelbar an ihre Mitteilung von vorhin an: »Jawohl . . . ich hab' mich heute früh einfach ins Auto gesetzt und bin hergefahren . . .«

Overbeck sah sie ruhig an, drückte auf den Klingelknopf, und als Christoph erschien, befahl er ihm: »Rufen Sie bei Pollheim an und melden Sie, das gnädige Fräulein sei ohne Unfall eingetroffen.«

Christoph verschwand und Marta blitzte Overbeck an: »Warum hast du das getan?«

»Man läßt seinen Vater nicht im ungewissen«, erklärte Overbeck hart.

»Weißt du, wo dein Martin ist?« fragte Marta dreist.

»Vielleicht.« Das kam kühl und abweisend.

261 Marta schlug die Augen nieder: »Ach, es ist ja gleich,« seufzte sie, »meinetwegen sollen sie wissen, wo ich bin.« Sie wurde lebhafter. »Ich hab' keine Seele, mit der ich sprechen kann . . . keine Seele . . . Wenn Martin da wäre! Der könnte mir helfen, der würde mich anhören. Aber der gute Martin ist fort, weiß Gott, wo . . .«

Sie hielt inne, als erwarte sie eine Antwort. Doch Overbeck schwieg.

»Zu Hause,« begann Marta wieder, »zu Hause hab' ich die Hölle! Mein dicker Vater spricht kein Wort mit mir! Er war sonst immer so nett, so vergnügt und so klug . . . aber jetzt ist er dumm und bös. Ach, Onkel Overbeck, alle Leute, die bös sind oder beleidigt, sind dumm! Hast du das auch bemerkt?«

Overbeck saß still.

»Nun,« fuhr Marta fort, »er ignoriert mich. Seit Wochen. Na, und meine Mutter, du kennst sie ja, sie ist andauernd gekränkt und sie verzeiht mir den ganzen Tag. Es ist unerträglich. Sie müßten doch einsehen alle beide, daß so was nicht angeht! Ich kann doch nicht kommen und anfangen! Sollen sie mich fortschicken, nach England, nach Amerika . . . ist ja egal . . . nun, Onkel Overbeck, sprich' was . . . sag' ein Wort . . . oder warte, sag' nichts . . . ich kenn' dich, seit ich auf der Welt bin, aber wie merkwürdig, jetzt merke ich erst, daß wir uns im Grund 262 gar nicht kennen, du und ich . . . keine zwanzig Worte haben wir miteinander gewechselt. Komisch! Und wie ich herausfuhr zu dir, während ich auf dich gewartet habe, war ich überzeugt davon, daß du, nächst Martin, mein bester Freund bist . . . nun, so rede doch . . . nein . . . ich muß dir noch sagen, daß ich fest davon überzeugt war . . . sonst . . . es ist doch wunderbar, daß ich gerade zu dir komme . . .«

»Warum?« Ganz leise fragte Overbeck.

»Na, du weißt doch!« Marta schien einen Augenblick verlegen.

Overbeck zog die Lippen dünn: »Das . . . das ist vergessen.«

»Dank' dir«, rief Marta arglos. »Aber sag' endlich einen Ton! Was hältst du von der Idee . . . England . . . oder Amerika . . . oder sonst wohin, gleichviel wo. Nur fort und nur recht weit . . .«

»Ich dachte . . .« Overbeck zögerte, » . . . dich hält etwas hier zurück . . .«

»Das ist es eben,« Marta überstürzte sich, »das ist es eben! Es hält mich . . . und es hält mich nicht! Ich bin in einer Sache drin, aus der ich nicht herausfinde, man muß mir helfen.«

»Möchtest du heraus?«

»Ich weiß es nicht«, beteuerte Marta. »Wenn ich es wüßte, wär' ich schnell draußen! Aber, bei Gott, ich weiß es nicht, deswegen muß man mir helfen!«

263 »Du scheinst nicht sehr beständig!« Overbeck setzte die leisen Worte knapp und fest hin.

»Es sieht nur so aus!« rief sie. »Aber ohne meine Schuld. Das heißt, vielleicht habe ich auch Schuld, dann aber nicht ich allein, gewiß nicht, dann ist Bernholmen ebenso . . .«

Sie verstummte.

Overbeck schloß die Augen und wartete.

»Siehst du,« fing sie wieder an, »siehst du, Onkel Overbeck, er hat Geld von mir genommen. Das ist es!« Und als antworte sie einer Frage, rief sie: »Nein, er hat nichts von mir verlangt. Gar nichts! Aber er hat so lang' gejammert, bis ich selbst auf den Einfall kam. Und so hab' ich's ihm gegeben. Seitdem ist der Mann . . . für mich . . . entzaubert . . .«

Sie bekam ein paar Tränen in die Augen, wischte sie sorgsam fort, nahm ihr Handnecessaire, besah sich im Spiegelchen und begann aus einem kleinen Döschen frischen Puder auf ihre Wangen zu legen. Dann, als habe sie währenddessen alle möglichen Einwände und Fragen angehört, fuhr sie fort: »Gott, nein, nicht, weil er arm ist! Seine Armut hat mich nie geniert. Trotz seiner Armut hab' ich mich in ihn verliebt und hab' ihn heiraten wollen. Nein, weißt du, so bin ich nicht.«

»Wenn du seine Frau geworden wärst,« meinte Overbeck, »hätte er doch auch von deinem Geld gelebt!«

264 »Natürlich!« schrie sie auf. »Das weiß ich. Das sag' ich doch selbst! Und doch, es ist was anderes! Von seiner Frau. Alles . . . das ist selbstverständlich. Aber jetzt . . . wo er doch weiß, daß meine Eltern nicht wollen, jetzt, wo es so unsicher ist, ob wir jemals heiraten . . . Jetzt, wo das Geld doch meinem Vater gehört . . .« Sie sah Overbeck mit erschrockenen Augen an. »Verstehst du . . . meinem Vater, der seinetwegen nicht mit mir spricht . . . verstehst du?«

Overbeck blickte angelegentlich auf seine Fingernägel.

»Daß er es angenommen hat,« rief Marta erregt, »darüber komme ich nicht weg! Erst war ich froh, ihm zu helfen. Dann fiel mir ein: wann werde ich ihm wieder helfen müssen. Müssen! Ich bekam Angst, er könne das nächste Mal schon selbst verlangen. Ja . . . es war, wie wenn eine Naht aufgeht. Alles fing an, sich zu lösen. Ich zweifle an seiner Liebe, an seiner Ehre . . . an seiner Tüchtigkeit, oh, besonders an seiner Tüchtigkeit!«

»Vielleicht . . .« Overbeck sprach kühl und zögernd, »vielleicht hast du recht, vielleicht gehst du zu weit . . .«

»Wer kann's wissen?« ergänzte Marta. »Aber soll ich darauf mein Leben riskieren? So par hazard? Ich schwöre dir, manchmal bin ich so fest entschlossen, daß ich schier imstande wäre, Schluß zu machen. Dann sag ich mir wieder, wir haben's leicht, wir! In die Armut können wir uns nie hineindenken. Das können wir uns absolut nicht vorstellen! Und da 265 entsteht ein leerer Raum. Da gibt es keine Brücken! Da ist nur Unsicherheit und Mißtrauen! Da wird jeder Blick, jedes Wort, alles, alles, alles verfälscht, angeschwärzt, mißdeutet! Es ist furchtbar . . .«

»Mag sein!«

»Hör auf mit deinem ›mag sein‹. So ist es! Genau so! Und du nimmst es auch so gleichgültig, weil dein Glück noch nie davon abhängig war, ob es ein armer Teufel ehrlich mit dir meint oder nicht! Man bekommt scharfe Augen in meiner Lage, das darfst du mir glauben. Wie entsetzlich ist mir bei ihm diese Unfähigkeit, sich zu helfen, sich aufrecht zu halten, etwas zu verdienen! Man hat diesen Leuten die Güter weggenommen und sie liegen auf der Nase. Platsch! Keinen Ausweg, keinen Auftrieb! Nichts. Eine reiche Partie!« Sie schleuderte ihre Zigarette fort und sprang auf. »Am meisten aber ärgert's mich,« rief sie in tiefer Entrüstung, »daß mein Vater recht behält und du und ihr alle, ihr Geldsäcke mit eurer banalen Geldsackweisheit.«

»Wieviel kostet dich deine großartige Erfahrung?« erkundigte sich Overbeck mit leiser, gleichgültiger Stimme.

»Fünftausend«, gab Marta sachlich Bescheid.

»Spottbillig«, nickte Overbeck. »Ich werde mit deinem Vater reden.«

Den nächsten Morgen fuhr er zur Stadt. Marta blieb in Rossenhofen. 266

 

Also am Montag gehst du wieder in die Arbeit?« Peter fragte mit vorgeducktem Kopf und lachenden Augen.

»Jawohl! Am Montag«, jubelte Adeli.

»Übermorgen«, bestätigte Marie heiter.

Martin nickte bloß und lachte.

»Ganz gesund?« wollte Peter noch wissen.

»Gesund entlassen«, scherzte Martin.

»Ja, guck dir seine Hand an.« Marie faßte Martin am Gelenk und zeigte Peter die heilgewordene Hand.

»Ah, so was! Ja natürlich,« Peter stellte sich erstaunt, »eine ganz frische Haut!«

»Wie von einer Gräfin, so zart«, sekundierte Adeli.

»Ja,« erklärte Martin, »Kistenschupfen kann ich mit dieser Hand freilich nimmer!« Er drehte sie hin und her. »Kistenschupfen mag ich nimmer!«

»Und brauchst es nimmer!« schrie Adeli mit ihrer Papageistimme.

»Was willst' denn anfangen?« Peter zog eine bedenkliche Miene.

»Chauffeur ist der Martin,« triumphierte Adeli. »Chauffeur!«

Sie hatte es als einzige gewußt. Das war das Geheimnis zwischen ihr und Martin.

Marie und Peter standen sprachlos.

»Hast' schon . . .« sammelte sich Peter, »hast' schon einen Posten?«

»Aber freilich!« Adelis stolze Freude war ohne Grenzen. Martin kam nicht zu Wort.

267 Adeli erzählte, daß Martin schon gestern bei der Speditionsfirma gewesen sei, daß er die Stellung als Chauffeur übermorgen antreten solle, und daß sein Lohn erheblich höher sein werde als früher.

»Und . . . und . . .« Peter schien zu schmollen, »und bei uns bleibst' natürlich nicht . . .«

Martin lächelte: »Ich weiß nicht . . .«

Jetzt schmollte Peter wirklich: »Begreif' ich sehr gut . . . wenn du so ein großer Herr bist . . .«

Martin lachte: »Ich wollt' nur sagen . . . wenn ich der Adeli und euch nicht lästig fall' . . . dann bleib ich.«

Peter musterte Adeli, musterte Marie und scherzte: »Furchtbar lästig bist du uns. Besonders mir!«

»Ich möcht' euch einen Vorschlag machen,« begann Martin, »heut' ist Samstag, morgen können wir alle ausschlafen. Nicht bloß ich! Da hab' ich das Geld von der Krankenkasse . . . gehn wir heut' abend wohin.«

»Das ist eine Idee!« schrie Peter begeistert. »Großartig!«

»In den Lunapark«, bat Adeli.

»Aber zum Nachtmahl sind wir wieder daheim«, verlangte Marie.

Zufrieden marschierten sie los, alle vier. Zuerst fuhren sie mit der Straßenbahn, dann wanderten sie in den Samstagnachmittag des Lunaparks.

»Du hast recht,« meinte Adeli wichtig zu Martin, »du hast recht, daß wir lieber heute da hergehen. Morgen am Sonntag ist's gar zu ordinär.«

268 Sie ging mit ihm voran und sie duzten sich längst, ebenso wie Martin und Marie einander du sagten.

Peter benahm sich wie ein ausgelassener Junge.

Er ritt im Ringelspiel auf dem Schimmel und vollführte unglaublich heroische Gebärden. Er kämpfte am Freudenrad wie ein Löwe. Er ließ sich vom Wackeltopf durchschütteln. Seine gellenden Schreie übertönten den Donner der Rutschbahn. Er brachte alle zum Lachen und lachte selbst am meisten.

»Kinder,« rief er, »so gut aufgelegt war ich schon lang nicht.«

Als sie gegen Abend schon zum Ausgang strebten, begegneten sie plötzlich Tine Schaffner.

Martin hielt Adeli an der Hand gefaßt, wie man ein Kind führt, und Adeli fühlte, wie Martin zu zittern begann. Sie sah Tine Schaffner an und merkte, daß sie bald ganz blaß wurde, bald wieder bis zu den Haaren errötete.

»Oh, welch eine hohe Ehre«, rief Peter, stellte sich in Positur und blies auf hohlen Händen den Generalmarsch.

»Ja, grüß Gott, grüß Gott«, stammelte Marie schüchtern und knixte, was sich bei ihrer mächtigen Gestalt drollig ausnahm.

Adeli hatte einfach »guten Abend« gesagt.

Martin stand ruhig, verhalten und beherrscht. Tine war sichtlich befangen.

»Wieder gesund?« erkundigte sie sich.

269 Aber Martin sagte, statt auf die Frage zu antworten: »Ich staune, daß Sie auch dorthin gehen, wo man sich freut.«

Tine blickte ihm voll in die Augen: »Glauben Sie wirklich, daß ich die Freude hasse?« Sie wechselte den Ton: »Übrigens habe ich hier eine kleine Expositur, da muß ich manchmal nachschauen. Meiner Rettungsstation geht's ja jetzt sehr gut. Dank einem großmütigen Spender.« Und wieder strahlten ihm ihre Blicke zu.

Jetzt war es Martin, der verlegen wurde.

Adeli beobachtete die beiden.

Tine verabschiedete sich. »Es ist Ihnen wohl nicht entgangen, daß ich keinen Menschen von Ihrer Erkrankung verständigt habe.«

»Danke«, stotterte Martin und wurde rot.

Das verstand Adeli nicht.

Aber als Tine, ganz nahe bei Martin, leise fragte: »Wann kommen Sie wieder zu mir?«, als eine neue Blutwelle Martins Antlitz überstürzte, während er ebenso leise »morgen« flüsterte, glaubte Adeli, wenn schon nicht alles, so doch manches zu verstehen.

Sie wurde nachdenklich und schweigsam und gebrauchte auf dem Heimweg die Ausrede, sie sei müde.

Unermüdlich war nur Peter. Er sprach fortwährend. Er trieb tausend Possen in der Straßenbahn. Und vor dem Haustor angelangt, forderte er, Marie solle noch zum Abendessen ein paar Flaschen Bier holen.

Sein Wille geschah. Vergnügt setzte man sich zu 270 Tisch. Nur Peter stand, um eine Bierflasche zu entkorken. Jeden Einspruch wies er zurück. »Du zerdrückst so ein Flascherl zwischen deinen Knien«, herrschte er Maria an. Zu Martin meinte er: »Du Schwächling, sei still, du verbiegst dir nur wieder die Hand!« Und zu Adeli deklamierte er: »Oh, du Entwurf zu einer Schwester . . . dich könnte man höchstens selber als Korkenzieher gebrauchen.« Dabei hatte er den Korkenzieher eingeschraubt, die Flasche zwischen die Knie geklemmt, zog an. Und fiel mit einem glucksenden Laut vornüber auf den Tisch.

Alle hielten das für einen Scherz und lachten.

Aber Peter rutschte zur Erde, und auf dem Tisch zeigte sich eine rote Spur.

Jetzt sprangen sie alle in die Höhe, gräßlich erschrocken, hielten Peter, hoben ihn aufs Sofa. Er war schneeweiß, hatte das Bewußtsein verloren und blasig kam ein roter Streifen aus seinem Mund, rann ihm das Kinn hinunter, steckte dunkel an den Kleidern.

»Jesus . . . ein Blutsturz . . .« Adeli hatte es mit blassen Lippen leise vor sich hingesprochen.

Marie weinte laut heraus, während sie Peter Mund und Kinn abwischte.

Martin geriet in Verzweiflung. Er saß da und jammerte fassungslos: »Peter . . . mein Peter . . .« Er hatte vollständig den Kopf verloren.

Adeli rührte ihn an: »Telephonier doch um den Doktor.« Sie sprach wie mechanisch, aber ihre Augen brannten.

271 Martin rannte hinaus zum nächsten Automaten, doch er hörte nicht auf, immer wieder: »Mein Peter . . . mein armer Peter!« zu stammeln.

Als er zurückkam, trug Marie gerade auf ihren Armen Peter ins Bett. Wie ein kleines Kind trug sie ihn, küßte ihn und wischte ihm das Blut von den blassen Lippen.

Martin sah zu, von Angst gefoltert, und stammelte ununterbrochen: »Mein Peter . . . mein armer Peter!« Plötzlich besann er sich. »Adeli!« rief er leise und dringend. »Wo kriegt man Eispillen?«

Adeli saß da und starrte ins Leere. Jetzt sah sie ihn fragend an.

»Schnell,« drängte er, »Eispillen . . . der Doktor hat mir gesagt . . . Eispillen. Wo? Wo?«

»In der Apotheke«, entgegnete Adeli merkwürdig ruhig.

Martin stob davon. »Mein Peter.« Immer wiederholte er nur diese zwei Worte. Selbst in der Apotheke hatte er vor sich hingestammelt: »Mein Peter . . .«

Er hatte einen großen Topf voll Eispillen gekauft, den trug er, laufend, wie ein Palladium, wie eine einzige Rettungsmöglichkeit. Mit diesem Topf stürmte er in die Wohnküche, hielt inne, trat ganz leise auf, und überlieferte ihn der Marie.

Der Doktor empfahl sich eben.

Martin folgte ihm in den Hof.

»Ich bitte, Herr Doktor,« flehte er, »sagen Sie mir die Wahrheit.«

272 »Ich sag' immer die Wahrheit«, knurrte Doktor Brunner.

»Ist es gefährlich?«

»Na, ein Kinderspiel ist so ein Blutsturz nicht.«

»Aber . . . er wird nicht sterben?« Martin faltete die Hände.

»Na,« Doktor Brunner wiegte den Kopf, »jetzt noch nicht . . . ich glaub' wenigstens jetzt noch nicht. Es ist eben das vorletzte Läuten!«

»Was heißt das?« Martin erschrak.

»Was heißt das?« spottete der Doktor. »Das nächste Mal ist Abfahrt! Verstehen Sie das nicht?«

»Wann meinen Sie . . .?« Martin stockte, »wann . . . das nächste Mal . . .?«

»Ich bin kein Prophet,« meinte der Doktor, »vielleicht in sechs Monaten, spätestens in einem Jahr!«

Martin berührte den Doktor: »Gibt's keine Rettung?«

Doktor Brunner schaute in Martins angstverzerrtes Gesicht. »Mein Lieber, da darf man nicht sentimental sein! Für den Maurergesell Peter Spieß gibt's keine Rettung!«

Und da Martin entsetzt die Augen weitete, fuhr der Doktor fort: »Für arme Leute gibt's überhaupt keine Rettung. Begreifen Sie doch, der Mann ist Maurer. In drei, vier Wochen steht der wieder am Bau, schluckt wieder Ziegelstaub. Oder schauen Sie seine Schwester an, die Bucklige, sie werkt von früh bis abends an der Nähmaschine. Sie wird ihren 273 Bruder auch nicht lang überleben. Da ist nichts zu wollen.«

Martin hielt den Doktor fest: »Und keine Rettung?«

Sanft machte sich Dr. Brunner los: »Ich hab' Ihnen schon erklärt, da ist nichts zu wollen. Und es hilft auch nichts, ein Geschrei und Geschichten zu machen! Ja, wenn Sie den Spieß und seine Schwester auf ein Schiff setzen könnten, Mittelmeerreise oder Madagaskar, fünf, sechs Monate, ein paar Jahre Sizilien . . .«

»Dann?« drängte Martin, »dann?«

»Ja, dann,« der Doktor lachte, »dann könnten sie gesund werden.«

»Alle beide?«

Der Doktor lachte wieder: »Sicherlich! Aber Sie sehen . . . so was . . .«

»Danke!« rief Martin und ließ ihn stehen.

In der Wohnküche saß Adeli immer noch starr auf ihrem Sessel. Im Kabinett lag Peter gebettet, hatte eine spitze Nase und das gelbliche Gesicht eines Sterbenden. Marie flößte ihm Eispillen ein. Dabei weinte sie und redete im Weinen einförmige Monologe: »So vergnügt war er heute, mein Peterchen . . . er muß das lang schon in sich gehabt haben . . . so lieb war er . . . vom Korkenziehen kann's doch nicht sein . . . und so viel Spaß hat er getrieben . . . mein Gott . . . weil er manchmal getrunken hat . . . er war so herzig . . . und ganz solid ist er die letzte Zeit gewesen . . . ganz 274 brav . . . Du wirst mich doch nicht so hart strafen, lieber Gott . . . schluck, Peterlein . . . so, schluck schön . . .«

Martin setzte sich Adeli gegenüber. Es war letzte Dämmerung.

»Wie mach' ich das nur?« grübelte er. »Wie mach' ich das nur? Das muß gemacht werden! Muß! Muß! Muß!«

Plötzlich fiel ihm das Geld ein, das er vor Wochen Tine Schaffner geschenkt hatte.

»Adeli!« rief er flüsternd. Da sie nicht zu hören schien, ging er zu ihr, legte ihr die Hand zart auf die Stirne: »Adeli! Ich hol' was!«

Sie hob den Blick und sah ihn verständnislos an.

»Für Peter und für dich!«

Er versuchte ein Lächeln, aber es mißlang. Leise, um den Kranken nicht zu stören, schlich er hinaus.

Die Rettungsstation hatte schon Feierabend. Es war halb neun. Martin schlug an die Tür mit Händen und Füßen, entdeckte endlich die Klingel und läutete Sturm.

Eine Gehilfin öffnete. Ihre Frage: »Was ist denn geschehen?« konnte sie kaum zu Ende sprechen. Martin hörte auch nicht. Er stieß das Mädchen zur Seite, sprang mit einem Schwung über die Barriere und brüllte: »Fräulein Schaffner!«

Der Raum lag im Zwielicht. Nur eine einzige Glühbirne brannte nebenan im zweiten Zimmer und warf ein wenig Helligkeit herein.

275 »Fräulein Schaffner!« Martin brüllte noch einmal.

Da wurden die Lampen alle angedreht, es ward ganz licht und Tine stand erschrocken in der Tür.

»Sie sind's . . .?« fragte sie mit unsicherer Stimme.

Martin rannte ihr entgegen: »Fräulein . . . Sie müssen mir . . .«

Tine winkte der Gehilfin: »Gehen Sie.«

Eine Sekunde wartete Martin. Dann unterbrach er Tine, die sich zu ihm gewendet und mit gespannter Miene begonnen hatte: »Was ist denn pas . . .«

»Sie müssen mir das Geld zurückgeben . . . Sie wissen schon . . . Ja . . . das, was ich Ihnen vor ein paar Monaten geschenkt habe . . . sagen Sie nichts . . . Sie müssen . . . ich verlang' nicht das ganze . . . die Hälfte . . . meinetwegen ein Viertel . . . aber sofort . . . hören Sie . . . sofort . . .!«

Tine Schaffner betrachtete ihn. Ihr Gesicht verschloß sich: »Unmöglich!«

»Also nicht sofort,« gab Martin nach, »morgen . . . spätestens übermorgen.«

»Es geht überhaupt nicht!« Sie sprach entschieden.

»Hören Sie,« rief Martin verzweifelt, »ich verlang' es doch nicht für mich! Was denken Sie?«

»Für wen immer Sie's verlangen,« Tine wurde sanfter, »es ist unmöglich!«

»Peter, verstehen Sie?« brach Martin los. »Peter hat einen Blutsturz! Ja! Vor einer Stunde! Einen Blutsturz!«

276 »Nun . . . und?« fragte Tine.

Martin stampfte auf: »Und? Und? Er darf nicht mehr auf den Bau! Verstehen Sie das nicht? Mittelmeer! Verstehen Sie? Er und Adeli! Zwei, drei Jahre Ruhe, Seeluft, Süden . . . Begreifen Sie doch! Eine andere Rettung gibt's nicht!«

Tine lächelte und ergriff seine Hand: »Ich verstehe. Natürlich verstehe ich.«

Martin schlug ein: »Ja? Und wann krieg' ich das Geld?«

»Gar nicht«, entgegnete Tine fest.

Martin fuhr empört zurück.

»Seien Sie nicht kindisch,« redete sie ihm zu, »das Geld gehört doch nicht mir! Das gehört den Armen!«

»Peter und Adeli sind arm!« trotzte er.

»Gewiß,« Tine nickte, »aber es gibt so viele noch, so viele andere . . .«

»Peter und Adeli sind die allerärmsten!« beharrte er.

»Das ist nicht richtig,« belehrte ihn Tine mild, »es gibt viele, die noch ärmer, noch elender sind.«

»O Gott,« er stöhnte, »von denen weiß ich nichts.«

»Aber ich!« rief Tine.

»Mir ist Peter wichtig,« preßte Martin hervor, »Peter und Adeli. Ich werde mein Geld wohl geben dürfen, wem ich will. Oder nicht?«

»Zweifellos,« Tine hatte Geduld mit ihm, »zweifellos . . .«

»Nun,« er machte eine große Gebärde, »nun, ich 277 schenke dem Peter Spieß ein Drittel von den achtundzwanzigtausend . . .«

»Nein,« widersprach Tine schonend, »Herr Overbeck, Sie können dem Peter Spieß schenken, was Sie wollen, viel mehr! Sie brauchen nur nach Haus gehen, zu Ihrem Vater!«

»Seien Sie still!« schrie Martin. Und fanatisch, mit leisem, aber von großer Willenskraft geschwelltem Ton sagte er: »Sie verhöhnen mich! Sie wissen, daß mir dieser Weg verrammelt ist!«

»Aber Ihr Vater erwartet Sie.«

Er maß Tine von Kopf bis zu den Füßen. »Mein Entschluß steht fest. Das sollten Sie wissen!«

»Dann . . .« Tine zuckte die Achsel.

»Dann,« drängte Martin, »dann . . . bleiben wir also bei einem Viertel . . . den vierten Teil bestimme ich für Peter . . .«

»Herr Overbeck!« Tine fing nachsichtig von vorn an. »Herr Overbeck . . . Sie haben nichts zu bestimmen. Begreifen Sie endlich . . . so lang Sie das Geld noch hatten, konnten Sie damit machen, was Sie wollten. Jetzt haben die Armen das Geld . . . Jetzt dürfen Sie darüber nicht mehr verfügen . . . und ich auch nicht . . .«

»Dreitausend«, flehte Martin.

»Unmöglich! Machen Sie mir's nicht schwer. Das wäre ein Raub an so vielen anderen, die im Elend sind.«

»Er stirbt mir!« Martin bebte am ganzen Körper. »Er stirbt mir . . . und Adeli auch!«

278 Tine war entzückt, doch sie beherrschte sich: »Es sterben so viele . . . an derselben Krankheit . . . an derselben Armut . . . mir ist ja sehr leid um den Peter Spieß und um seine Schwester . . . wirklich leid . . . aber ich kann ihnen nicht helfen!«

»Leid!« spottete Martin bitter. »Wirklich leid . . . und lassen sie verrecken!«

Tine senkte das Haupt. »Sie wollen das nicht einsehen, Herr Overbeck, ich kann wahrhaftig nicht . . . es wäre gewissenlos . . . und außerdem, es hätte unabsehbare Folgen. Sprechen wir nicht weiter, es hat keinen Zweck.«

Martin hatte sie mit wachsendem Entsetzen angehört. »Gut!« rief er, während sein Hoffen zusammenstürzte. »Sprechen wir nicht weiter. Ich merke, daß es keinen Zweck hat. Und ich begreife auch, warum. Weil Sie eine herzlose Person sind! Jawohl! Eine Egoistin, ohne Gewissen und ohne Gemüt.«

»Herr Overbeck«, rief Tine.

Aber er hörte den warmen Ton ihrer Stimme nicht, er sah nicht ihr Antlitz, das sich ihm geniert und zärtlich entgegenhob. Er war in vollem Zorn hinweggeeilt.

 

Als er in die Wohnküche trat, saß Adeli immer noch steif auf ihrem Sessel. Aus dem Kabinett vernahm er das leise Weinen und das unter Tränen hinfließende Reden von Marie. Er blickte schüchtern, 279 angstvoll hinein. Peter lag auf dem Rücken, hielt die Augen geschlossen, und seine schmalen, mageren Wangen glühten von Fieberhitze.

Martin setzte sich zu Adeli. »Nichts hab' ich,« sprach er zu ihr, »gar nichts . . . denn sie hat kein Gefühl . . . aber ich werd's schon herbeizwingen . . . glaub' mir . . . für meinen Peter und . . . für dich, Adeli . . . daß ihr beiden . . . o Gott . . . mein Peter . . . mein guter Peter . . . und du, Adeli . . . ihr müßt wieder munter werden . . . alle zwei . . . und ihr dürft nicht mehr arbeiten . . . weder du, noch Peter . . . ich werd's schon schaffen, Adeli . . . sei nur ruhig, verlaß dich auf mich . . .« Er liebkoste ihr trockenes, dünnes Haar, ihr kleines, blasses Gesicht, er strich ihr über die Schulter, den Arm hinunter und Adelis Erstarrung löste sich in der Wonne seiner Worte, unter der Zärtlichkeit seiner Hand.

Adelis Augen wurden naß. Jetzt erst hatte sie Tränen, nicht viel, nur ein paar. Und jetzt konnte sie auch wieder reden. »Um mich,« es war ein seltsames Gemisch von Härte und Weichheit in ihrer Stimme, von Weh und Beherrschung, »um mich ist nicht schad', Martin. So ein Krüppel wie ich . . . wenn ich krepiere . . . aber der Peter . . . der lebt so gern . . . und der kann so schön glücklich sein . . .«

Marie kam aus dem Kabinett. »Er schläft,« weinte sie hin, »das Bluten hat aufgehört . . . oh, warum bin ich so stark . . . und er so schwach . . . warum 280 bin ich so gesund und er so krank . . . das ist nicht gerecht . . .«

Martin und Adeli sahen sich an.

Marie konnte nicht weiter. Sie kehrte zu Peters Bett zurück.

Stunden vergingen.

»Adeli!« Martin zupfte sie leise.

»Was denn?« schrak sie auf.

»Geh' schlafen«, riet er.

Gehorsam erhob sie sich, schlich zu ihrem Bett und legte sich in den Kleidern drauf.

Martin saß und grübelte.

Was vermochte er zu tun? Was?

Sein herrliches Portefeuille fiel ihm ein. Vielleicht . . . vielleicht . . . er hatte es noch unter seinen Sachen . . . vielleicht geschah ein Wunder und im Geheimfach dieses Portefeuilles lag noch eine große Banknote.

Martin wußte genau, daß nichts, kein Geld, keine Spur von Geld in dem Portefeuille war. Aber . . . vielleicht doch! . . . Ein Wunder!

Er stand auf und schlich zu dem Fenster, wo das Holzkofferchen stand mit seinen Habseligkeiten. Er kniete nieder, öffnete leise den Deckel, begann zu wühlen. Mit Vorsicht und Hast.

Ehe er zu dem Portefeuille gelangte, klirrte der Schlüsselbund in seiner Hand.

Martin erhob sich, ging an den Tisch unter die Lampe und betrachtete die Schlüssel.

281 Prächtige Schlüsselchen waren das, fein und kunstvoll gearbeitet. Das bemerkte er jetzt erst. Früher hatte er andere Schlüssel überhaupt nicht gekannt.

Der hier sperrte die kleine Gartenpforte. Der hier das Haus. Der hier sein Zimmer. Und der . . . den Schreibtisch.

Martin dachte nach.

Im Schreibtisch und im Schlafzimmerschrank lagen seine Schmucksachen.

»Die gehören doch mir!« rief er aus.

Hastig steckte er den Schlüsselbund in die Tasche. Hastig setzte er die Mütze auf. Behutsam schlich er hinaus.

Im Eilschritt legte er den weiten Weg durch die schlafenden Straßen zurück.

Nur schnell, dachte er, nur schnell. Sonst dachte er an nichts.

Die Morgendämmerung war nahe.

An der Kurve, welche die noble Straße mit ihrer Baumallee bildete, stand er still. Ohne viele Mühe entzifferte sein Blick in der Dunkelheit und beim Schein der Laternen die wohlvertraute Physiognomie des Vaterhauses. Martin fühlte sich erschüttert. Aber es trieb ihn: nur schnell!

Ohne Zögern übersetzte er die Straße und stand an der kleinen Gartenpforte.

Er sah sich um. Weit und breit kein Mensch.

Den Schlüssel hielt er bereit und sperrte. Leise. Ganz leise.

282 Da war er im Garten. Nur schnell! Er wollte zum Haus, doch der Kies knirschte unter seinen schweren Schritten.

Verdammt!

Er sprang ins Gras, machte ein paar Schritte. Dann fiel ihm ein, daß er mit diesen Schuhen unmöglich über die Treppe hinauf könne. Er streifte sie ab, ließ sie liegen, wo sie waren und huschte zum kleinen Tor, schloß auf und war im Nu in seinem Zimmer.

Das Herz schlug ihm fühlbar gegen die Rippen. Seine Schläfen hämmerten. Der Atem flog ihm laut und pfeifend durch die trockene Kehle.

Kein Licht andrehen.

Martin tappte zum Schreibtisch. Dort lagen in der mittleren Lade fünf goldene Zigarettendosen. Er fühlte sie in den Fingern, steckte sie ein und wandte sich zum Schlafzimmer. Nur schnell!

Da stieß er heftig gegen den zierlichen Schreibtischfauteuil. Der wäre beinahe umgefallen. Im Finstern zugreifend, erhaschte ihn Martin eben noch. Dann aber mußte er innehalten. Das Erschrecken hatte ihn gelähmt. »Allmächtiger!« sagte er.

Ganz langsam, Schritt für Schritt, die Hände immer suchend vorgehalten, gelangte er an den Schrank im Schlafzimmer.

Ganz leise tastete er nach dem Schlüsselloch, öffnete leise, zog behutsam die Laden und raffte die Etuis 283 schleunig zusammen, Perlknöpfe, Perlnadeln, Ringe, Frackuhren, Ketten aus Platin mit Perlen. Er hatte alle Taschen voll.

Jetzt fort!

Da hörte er ein Geräusch. Ganz fern im Haus. Irgendwo, gedämpft, aber deutlich.

Wieder stockte ihm der Herzschlag.

Unmöglich, über die Treppe hinunter zu gelangen.

Er riß das Fenster auf.

Wenn ihm das glückte, von hier auf das breite Sims des ersten Stockwerks zu springen, dann war's getan! Vom ersten Stock kam er dann schon zur Erde. Schlimmstenfalls gingen die Geißblatthecken kaputt, die sich bis zum Rand des ersten Stockwerks hinzogen.

Er schwang sich hinaus, klammerte sich ans Fensterbrett, ließ los und fühlte, nach Sekundenprobe, das breite Sims unter den Füßen, fühlte aber in einem, daß er kein Gleichgewicht besaß, daß er sich nicht zu halten vermochte. Sofort abwärts stürzend, griff er in das Blattwerk, mit aller Kraft. Die Ranken zerknickten, zerrissen in seinen Händen, aber die Wucht des Falles war gemildert. Ein wenig betäubt landete Martin im Gras.

Nur fort! Nur schnell!

Mochten die Stiefel bleiben, wo sie sind. Jetzt blieb keine Zeit, sie zu suchen.

Behutsam horchte er, ob draußen vor der Mauer jemand gehe. Alles blieb still. Behutsam drückte er 284 sich hinaus, ließ das Pförtchen angelehnt und sprang über den Fahrdamm, lief eine Strecke und schlug endlich ein eiliges Marschtempo ein, das nur gemäßigt wurde, da Martin bloß Socken an den Füßen hatte und jedes Steinchen spürte. Die Handflächen schmerzten. Sie waren naß. Doch er wußte nicht, ob vom Tau oder vom Blut. Er wischte sich an den Hosen und am Rock. Es brannte und schmerzte weiter; er blutete wohl. Was schadete das? Gelungen! Gelungen! Das wird ausreichen! Das wird genug sein!

Am liebsten hätte er gejauchzt.

Fußmüde kam er an. Aber sonst ganz munter. Adeli lag still auf ihrem Bett. Marie saß schlummernd beim schlafenden Peter.

An der Lampe besah er seine Hände. Ein paar Risse, einige Schrammen, das Ganze nicht schlimm. Er nahm ein Tuch, tauchte es ins Wasser, putzte sich den Schmutz und das Blut weg. Zuletzt hielt er das Tuch fest zwischen die Handflächen gedrückt. Und lachte leise vor sich hin. Noch nie im Leben war er so glücklich gewesen.

Endlich warf er das Tuch zu Boden und fing an, seine Taschen auszukramen. Stück bei Stück legte er nebeneinander auf den Tisch. Und lachte dazu.

»Was treibst du dort?«

Erschrocken fuhr er herum. Von ihrem Bett aus flüsterte Adeli: »Was treibst du dort? Ich schau' dir die ganze Zeit schon zu!«

285 »Adeli!« Martins Stimme hatte ein Schmeicheln und Jubeln. »Adeli, kannst du aufstehen? Kannst du herkommen?«

Die kleine Bucklige flog herbei.

»Da sieh'!«

Adeli erblickte die fünf goldenen Zigarettendosen, die nebeneinander schimmerten. Sie war gänzlich benommen, wie Martin ein Etui ums andere ergriff und ihr den Inhalt wies. Perlen, Edelsteine, goldene Zifferblätter, Ketten.

»Martin . . .« hauchte sie.

»Das gehört dir und Peter!« sprach Martin, »dir und Peter, das schenk ich euch!«

»Aber . . . Martin . . .« Adeli zitterte.

»Euch beiden«, Martin strahlte. »Du verkaufst den ganzen Plunder! Und ihr beide, du und Peter, packt eure Marie zusammen, fort, auf ein Schiff. Drei . . . sechs Monate Seefahrt . . . dann zwei, drei Jahre Sizilien oder Tanger oder sonstwo im Süden. Das ist die Rettung. Ich freu' mich! Adeli, ich freu' mich! Du auch?«

Adeli schluckte: »Ja, Martin!«

Er faßte sie unters Kinn, hob ihr Gesicht: »Sag' mir, daß du dich freust, Adeli!«

Sie sah ihm in die lachenden Augen: »Ja, Martin, ich freu' mich!«

»Mehr verlang ich nicht.« Er ließ sie los.

»Und ich freu' mich,« fuhr Adeli fort, »weil du so gut bist.« Es war deutlich viel Traurigkeit und Angst 286 in ihrem Ton. Aber Martin merkte das nicht. Er gab sich arglos seinem Glück hin. »Was meinst du, Adeli,« fragte er, »wird Peter sich freuen? Er freut sich so schön! Und Marie, die gute, dicke Marie?« Er lachte. Dann wandte er sich, ernsthafter geworden, wieder zu Adeli: »Räum' den Schmarr'n weg!«

Während Adeli alles ehrfürchtig in den Einkaufskorb packte, ermahnte sie Martin: »Und gib acht beim Verkaufen, daß du nicht übers Ohr gehauen wirst. Verstehst du? Mich würden sie übers Ohr hauen, verstehst du? Denn ich kann nicht recht sprechen mit solchen Leuten. Ich kann mich nicht wehren. Deshalb schick' ich dich. Du bist gerissen.« Er lachte. »Du wirst dich nicht betrügen lassen. Gelt? Gib acht! Diese Sachen da haben zusammen mehr als Hunderttausend gekostet, verstehst du? Das weiß ich genau. Also gib acht, daß du wenigstens den dritten oder vierten Teil dafür kriegst. Und noch was: wenn man dich fragt, woher du das hast, dann sag' ihnen einfach, von mir. Nenn' ihnen ruhig meinen Namen. Verstehst du?«

Martin streckte sich aufs Sofa. »Ach Gott, bin ich froh!« rief er leise.

Adeli nahm den Korb, stellte ihn behutsam zum Herd, nahe der Tür, und legte sich wieder auf ihr Bett.

Als es sechs Uhr schlug, erhob sie sich, spähte zu Martin hinüber, der ruhig atmend dalag, schlich zum Herd und ergriff den Korb.

Dann huschte sie hinaus. 287

 

Es war kurz nach sechs, als der alte Christoph ganz verstört in Overbecks Zimmer trat.

Herr Overbeck war eben aus dem Bad gestiegen, und zwei junge Diener halfen ihm beim Ankleiden.

»Was gibt's?« fragte er mit seinem gleichgültigen Ton.

»Einbruch, Herr Overbeck«, stammelte Christoph.

»Warum nicht gar«, zweifelte Overbeck.

Der alte Christoph war außer sich vor Aufregung. »Herr Overbeck . . . beim jungen Herrn . . . alles gestohlen.« Sein Kinn bebte.

»Das möcht' ich doch sehen.« Overbeck blieb gelassen.

»Kommen der gnädige Herr mit mir«, eiferte Christoph.

Die beiden Diener wollten ihnen folgen.

»Ihr bleibt, wo ihr seid«, gebot Overbeck kalt.

Sie gingen in die Zimmer hinüber, die Martin gehörten.

»Da sehen der gnädige Herr,« jammerte Christoph und zeigte auf die Laden, die heraushingen, »alle Schmucksachen sind fort.«

»Wirklich!« Overbeck blickte sich um.

»Und hier,« Christoph bebte vor Empörung, »hier das offene Fenster . . . da sind sie hinausgesprungen . . .«

»Aber wie sind sie hereingekommen?« fragte Overbeck. »Doch nicht durch dieses Fenster? Das war doch geschlossen?«

»Unbegreiflich,« entsetzte sich Christoph, »ich war 288 schon unten an der Haustür. Die ist in Ordnung, wie immer.«

Overbeck überlegte. Dann fragte er: »Und in der Nacht? Nichts gehört? Der Hund? Nicht angeschlagen?«

»Nichts.« Christoph schüttelte den Kopf. »Kicks schläft ja bei mir . . . seit . . . seit . . .« Er schwieg.

»Und Kicks hat sich nicht gerührt?«

»Nicht so, daß man auf Einbrecher hätte verfallen können,« meinte Christoph, »einmal hat er auch gebellt, ist wedelnd zur Tür . . . aber . . .«

Overbeck zog die Brauen hoch: »Bring' mal den Hund her.«

Kicks fuhr, kaum hereingelassen, an den Schreibtisch, lief, immer schnuppernd, an den Schrank im Schlafzimmer, winselte ungeduldig, wedelte stürmisch, beleckte den Rand der Laden, rannte dann zum Fenster, sprang mit den Vorderpfoten hinauf und wäre aus dem Fenster gesprungen, wenn Christoph ihn nicht am Halsband erwischt hätte.

»Weißt du jetzt, Christoph, wer das war?« fragte Overbeck.

Christoph schlug die Augen nieder.

»Glaubst du,« forschte Overbeck weiter, »daß der Hund die Spur hält?«

»Der Hund? Wenn's wirklich die Spur von . . . sicher! Jetzt ist's noch ganz früh . . . Wenig Verkehr . . . Unbedingt sicher!«

289 »Dann komm'!«

Sie holten ihre Hüte, Christoph nahm die Leine, und sie gingen hinunter.

Im Garten sauste Kicks sofort auf Martins Schuhe los und begrüßte sie zärtlich.

»Leg' den Hund an den Riemen,« befahl Overbeck, »und nun vorwärts.«

Immer die Nase am Boden, immer wedelnd, zog der Hund Christoph und Overbeck hinter sich her durch die morgenstillen Straßen.

Christoph schaute manchmal seinen Herrn mit hoffnungsvollen Blicken an.

»Sei ruhig, Alter,« meinte Overbeck leutselig, »jetzt haben wir ihn.«

 

Er hat seine Schuhe angehabt, wie er weg ist,« Adeli schloß ihre Erzählung, der Tine gespannt lauschte, »jedenfalls, Fräulein, ist er in Socken heimgekommen. Verdächtig, nicht wahr?«

Tine hatte während des Berichtes von Adeli bald gelächelt, bald wieder ernst und manchmal ungläubig dreingeschaut. Sie war nervös. Jetzt wurde sie unruhig. Doch sie bezwang sich noch, zuckte die Achsel und sagte: »Gott . . . verdächtig! Warum denn verdächtig?«

Adeli starrte sie mit brennenden Blicken an:

»Er hat sich gleich die Hände gewaschen! Ich hab' das Wasser gesehen, in dem er sich gewaschen hat, und 290 das Tuch, an das er sich abgewischt hat . . . alles voll Blut!«

Tine erschrak.

»Ja denken Sie nur, Fräulein!« Adeli war verzweifelt, hielt sich aber fast bewegungslos, nur ihre Papageienstimme bekam einen matten, grauen Klang, »denken Sie nur! Er ist ein seelenguter Mensch . . . wirklich seelengut . . . nur heftig! Ich weiß wirklich nicht . . . vielleicht ist er fähig gewesen . . .«

Tine machte eine entsetzte, abwehrende Bewegung.

Adeli unterbrach sich und seufzte: »Er hat es ja auch nur aus Güte getan . . . nicht für sich . . . gar nichts will er für sich . . . nur unseretwegen hat er das getan . . .«

Tine schwieg. In ihr ging es brausend rundum, als stürze alles zusammen.

»Fräulein Schaffner,« bat Adeli, »ich laß die Sachen da! Bitte! Ich verkauf' sie nicht! So was möcht' ich mich ja nicht trauen!«

»Nein!« Tine entschloß sich. »Nehmen Sie nur alles wieder! Ich gehe mit Ihnen! Ich muß selbst mit ihm reden!«

Adeli streifte die Kostbarkeiten mit scheuen Fingern in den Korb. Unterwegs mußte sie sich anstrengen, um Tine, die rasch ausschritt, zu folgen. Sie wurde atemlos, doch sie achtete nicht darauf. Sie hatte solche Angst um Martin, daß ihre Sorge wegen Peter einstweilen verstummte. In Tines Begleitung fühlte 291 sie sich persönlich gesichert vor Polizei und Verhaftung. Unglücklich blieb sie. Das war sie immer gewesen. Doch jetzt gedachte sie der Zeit, in der sie bloß rackern mußten, Peter und sie, bloß sich plagen und darben, dieser Zeit gedachte sie, wie ferner, glückerfüllter Jahre. Nun erst waren sie geschlagene Menschen, doppelt und dreifach geschlagen.

Sie sprachen kein Wort unterwegs miteinander.

Tine trat zuerst in die Wohnküche, Adeli huschte hinterdrein.

»Guten Morgen«, rief Tine.

Martin fuhr vom Sofa auf. »Sie . . . Sie sind da?« Er war perplex. »Peter schläft, glaub' ich . . . und Marie auch . . .«

Tine dämpfte ihre Stimme: »Ich komme zu Ihnen!«

Martin wunderte sich: »Zu mir?«

»Jawohl . . . zu Ihnen!« Tine stülpte den Korb, daß sein Inhalt auf den Tisch rollte. »Wo haben Sie das her?«

Martin wandte sich zur Buckligen und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf: »Aber . . . Adeli . . .«

Mit Entschiedenheit wiederholte Tine: »Wo haben Sie das her?«

Martin schwieg. Lehnte die Stirn an den Rand des Tisches, so daß man sein Gesicht nicht sehen konnte.

Streng rief Tine: »Antworten Sie mir!«

Martin rührte sich nicht.

Tine wartete, dann aber drängte sie, mit einem Ton, der ein Beben nicht zu unterdrücken vermochte: »Sie 292 können mir nicht antworten . . . Sie wagen es nicht . . . Sie können mir ja nicht einmal in die Augen sehen!«

Martin stand langsam auf, kam um den Tisch herum, stellte sich vor Tine und schaute sie an. War es möglich, daß sie . . . das von ihm glaubte, das! Sein Blick wurde tief und dunkel.

»Wo haben Sie das her?« Tine war am Weinen.

Martin sah ihr immer noch in die Augen und sagte ganz langsam: »Das geht Sie gar nichts an!«

Jetzt schwieg Tine.

Martin las den Verdacht auf ihren erblassenden Zügen und fing an, in eine schmerzende, verzweifelte Gekränktheit zu geraten. »Das ist meine Sache«, knurrte er.

Tine rang die Hände: »Sie sind ohne Schuhe zurückgekommen!«

»Stimmt!«

»Sie haben sich das Blut von den Händen gewaschen!«

»Richtig!« Ein Lächeln der Genugtuung schwebte um Martins Lippen.

»Wie kann man nur so was tun?« rief Tine, »wie kann man, um Himmels willen . . .«

»Peter muß gesund werden«, erklärte Martin fest, langsam, mit einem Ausdruck, der endgültig war. »Muß gesund werden . . . mein Peter . . .! Und die da,« seine Augen deuteten auf Adeli, »die da darf auch nicht mehr arbeiten . . . alles andere ist mir gleichgültig . . .«

293 Tine näherte sich ihm: »Aber . . . Sie . . . an sich denken Sie gar nicht . . .^

»Man darf nicht immer an sich denken . . .« Er sagte das beinahe wie eine Ermahnung.

»Und . . .« Tine flüsterte, »und wenn Sie . . . wenn Sie dadurch selbst ins Unglück kommen?«

Martin schnippte mit zwei Fingern: »Ich komm' schon nicht ins Unglück . . . wenn aber doch . . . das stört mich nicht. Das bereu' ich nicht!«

Da fiel sie ihm einfach um den Hals und küßte ihn mitten auf den Mund.

Eine Sekunde später flog die Türe auf, ein Schäferhund jagte herein und sprang mit stürmischen Liebkosungen an Martin empor.

Zwei alte Männer standen auf der Schwelle.

Eines Vaters Stimme sagte leise: »Martin . . .!«

Christoph rief, fast schluchzend: ». . . Junger Herr . . .!«

Aus der Kammer trat groß, dick und gewaltig, Marie. Sie war ebenso perplex wie Adeli; nur nicht so beherrscht.

Der Schäferhund Kicks tobte in Zärtlichkeit.

Wodurch die ganze Szene immer bewegter wurde.

 


 


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