Felix Salten
Martin Overbeck
Felix Salten

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Jetzt muß ich noch die Geschichte auslöffeln, murrte Herr Overbeck vor sich hin, als er sein Auto befohlen hatte. Ich! Was bleibt denn übrig, wenn mein liebes Söhnchen mich so im Stich läßt.

Er riß dem Diener Hut und Handschuhe weg. »Schuft!« zischte er aus dünnen Lippen und meinte Martin. Ein angenehmer Besuch, dachte er, die Treppe 120 hinuntersteigend. Eine Freude, solch einen Besuch machen zu müssen!

»Pollheim!« rief er dem Chauffeur zu und stieg ein.

Es half nichts. Dieser Besuch mußte abgestattet werden. Mußte! Die alte Freundschaft, die Overbeck und Pollheim verband, durfte an der Büberei, die Martin begangen hatte, nicht kaputt gehen. Das blieb undenkbar. Overbeck wollte alles aufwenden, um die persönliche Freundschaft mit Pollheim zu erhalten, wollte alles dransetzen, damit auch die gute Beziehung der beiden Firmen nicht in Brüche gehe.

Er knirschte im Auto auf der kurzen Fahrt zum Hause Pollheim. Das war die erste Demütigung seines Lebens. Die erste und einzige und die fiel ihm bitter schwer. Aber sein Gerechtigkeitsgefühl sagte ihm, daß er diesen Gang den Pollheims schuldig sei. Auch zu Marta wollte er dann noch hinausfahren und zu ihrer Mutter, um ihnen begütigende Worte zu geben. Vor Marta war ihm nicht bange. Aber wenn er sich das ewig beleidigte, ewig verzeihende Gesicht der Mutter vorstellte, wurde er wieder zornig.

Er begriff das Ganze überhaupt nicht. Wie hatte Martin so schnöd handeln können, so unversehens willkürlich, so wortbrüchig wider die Abrede? Nie hätte Overbeck gedacht, daß Martin einen so häßlichen Charakter zeigen werde und so viel Tücke.

Als er in der großen Bankstraße vor dem Geschäftshause Pollheims dem Wagen entstieg, war Overbeck 121 ganz rot im Gesicht vor Unmut, Gekränktheit und Erregung.

Steif und aufrecht ging er die Treppe hinan, steif, aufrecht, wenn auch klopfenden Herzens betrat er das Zimmer, wo ihm Pollheim entgegenkam, beide Hände ausgestreckt, erregt, aber gerührt, ja sogar begeistert: »Was? Sie kommen noch zu mir? Sie zu mir? Nein, das ist . . . das ist . . .«

Overbeck fühlte den harten Ruck, den ihm der doppelte Händedruck durch den Körper jagte. Ehe er sich zu fassen vermochte, wurde er umarmt und Pollheims weicher, massiger Körper lag an seiner Brust.

»Ach, Overbeck, Overbeck, alter, lieber Freund, echter, wirklicher, seltener Freund, das vergesse ich Ihnen nie!« Pollheim deklamierte, wie immer, und meinte es, wie immer, ganz ernst und ehrlich. Overbeck kannte ihn. Aber jetzt wußte er doch nicht, wie ihm geschah. Ein wenig betäubt, ließ er sich zu dem großen Fauteuil führen, saß kerzengrad in den Kissen und schaute verdutzt auf Pollheim, der in augenscheinlich starker Gemütsbewegung hin und her tanzte.

»Ich hätte gedacht,« begann Overbeck leise und tastend.

Doch er wurde sogleich unterbrochen. »Gedacht! Oh, mein Verehrter! Was haben wir nicht alles gedacht, wir beide. Aber wer kennt seine Kinder . . .? Ich frage Sie, wer?« Pollheim wurde heftiger im Tempo. »Sie freilich, Sie, mit Ihrem prächtigen Martin, Sie sind eins mit ihm! Sie können glücklich 122 sein! Sie dürfen stolz sein, so einen gut geratenen Sohn Ihr eigen zu nennen.«

Verspottet er mich? dachte Overbeck und blickte prüfend in Pollheims blankes Genießerantlitz, das jetzt hochrot zu zerfließen drohte.

»Was sind Sie für ein edler Mensch,« führ Pollheim fort, »ja, widersprechen Sie mir nicht. Nur ein wahrhaft großdenkender Mensch, nur Sie, mein lieber Overbeck, konnten auf den Gedanken geraten und zu mir kommen. Ich wüßte keinen anderen, der das fertig brächte. Den ganzen Vormittag habe ich gekämpft, natürlich . . . ich wollte doch zu Ihnen . . . ich mußte ja zu Ihnen . . . und nun haben Sie meiner Seelennot ein Ende bereitet, nun sind Sie bei mir . . .«

»Tja«, Overbeck zuckte die Achsel. Er verstand gar nichts.

»Mir fällt ein Stein vom Herzen,« redete Pollheim weiter, »und Martin . . . wie steht's mit ihm? Ist er nicht verletzt?«

Overbeck schüttelte verwirrt den Kopf.

»Aber was sagen Sie zu meinem Unglück?« klagte Pollheim. »Das hätte ich wissen sollen! Vor drei Wochen hab' ich dem Bernholmen zu verstehen gegeben, daß seine Besuche nicht mehr erwünscht sind. Glauben Sie, es nützt was? Sie treffen sich im Parkklub, sie treffen sich beim Reiten. Überall treffen sie sich! Und Marta will nicht von ihm lassen!«

Overbeck begann zu begreifen. Er stand auf. »Mein 123 Lieber,« sprach er leise und sein gleichgültiger Ton klang ein wenig freundlich, »wir bleiben die Alten.«

Pollheim schüttelte ihm die Hand. »Ich danke Ihnen! Ich danke! Nun schmerzt es mich erst recht, daß wir . . . daß uns kein engeres Band . . . nun ja . . . ich sehe doch jetzt doppelt klar, was Marta sich verscherzt hat. Solch ein Vater! Und solch ein Sohn! Mir blutet die Seele, wenn ich das überlege. Aber, bei Gott!« brach er los, »bei Gott, sie täuscht sich, die gute Marta! Nie werde ich . . . zu diesem Bernholmen . . . da bleibe ich hart wie Granit . . . da werde ich niemals ›Ja‹ sagen!«

Overbeck empfahl sich. Er wurde noch einmal umarmt. Noch einmal wurden ihm beide Hände geschüttelt. Nur daß er jetzt, bei derart geänderter Sachlage, doch spürte, wie sich Verletztheit in ihm regte.

»Sagen Sie mir's noch einmal,« bestürmte ihn Pollheim an der Türe, beim Abschied, »wir bleiben die Alten. Nicht?«

»Gewiß«, murmelte Overbeck.

»Das ist die Hauptsache!« rief ihm Pollheim nach.

Overbeck fuhr heim. So hatte er Martin unrecht getan. Er sträubte sich gegen dies Bewußtsein, das sich ihm aufdrängte. Unrecht? Wieso? Warum hat Martin mich irregeführt? Wozu diese Diskretion? Immerhin . . . das mag ein Fehler gewesen sein . . . sicherlich ein Fehler . . . na, aber tückisch war Martin nicht und wortbrüchig war er auch nicht.

124 Das lange, schmale Gesicht Overbecks blieb ernst, doch der Zug von Bitterkeit war daraus verschwunden, als er heimkam.

Er ging sogleich in den Wohntrakt zum Lunch. Nur ein Gedeck lag da.

»Mein Sohn?« fragte seine leise, gleichgültige Stimme.

Der alte Christoph meldete: »Der junge Herr sind fort. Gleich wie er vom gnädigen Herrn herüberkam. Er war furchtbar aufgeregt, nahm seinen Hut . . .«

»Danke.« Overbeck entfaltete eine Zeitung, doch er konnte nicht lesen. Zu vorschnell gewesen! Zu hart gewesen! bohrte es in ihm. Jetzt wird sich Martin tagelang unsichtbar machen, bei keiner Mahlzeit erscheinen. Ihn allein lassen. Er faltete die Zeitung sorgfältig, legte sie behutsam weg und schaute in die Luft.

Christoph hätte gern gesprochen, Overbeck merkte es. Aber er gab dem alten Mann keine Gelegenheit. Das ging ihm noch ab, jetzt die Befürchtungen dieses Waschlappens anzuhören. Er schüttelte ein einziges Mal ganz leise den Kopf. Nach drei Tagen, nach zweien, vielleicht heute schon wird Martin sich wieder zeigen. Dann ging alles eben ruhig weiter. Konnte man diesen häßlichen Auftritt von heute vormittag glatt ignorieren? Gewiß! Man konnte es. Man mußte es. Im Prinzip hatte er ja doch recht gehabt! Mit jedem Wort, das er zu Martin gesagt hatte. Vollkommen recht. Er stand auf und schritt langsam, stelzend, anscheinend gleichgültig, in sein Kontor hinüber. Wieder an die Arbeit. 125

 

Am Abend saß Martin allein in einem Vorstadtgasthaus. Er hatte, nach dem mißglückten Versuch bei jenem alten Mann in Hemdärmeln, nichts mehr unternommen. Vieles war ihm während dieses Tages klar geworden. Zunächst, daß es wohl längere Zeit dauern würde, bis er eine Stellung bekam. Vielleicht eine ganze Woche. Möglicherweise zwei oder drei Wochen. Man brauchte also Papiere, Zeugnisse und solchen Quark! Gut! Irgendwie wird er sich solche Papiere verschaffen. Er wußte noch nicht wie. Doch er zweifelte nicht daran, daß es ihm gelingen werde. Einfach nach Hause gehen und die Papiere im Sekretariat verlangen, daran dachte er nur eine Sekunde, um diesen Weg entschieden zu verwerfen. Das hätte zu Begegnungen geführt, zu einer Aussprache, und könnte den Eindruck erwecken, als bemühe er sich, wieder anzuknüpfen.

»Nie wieder!« sagte er vor sich hin.

Martin verbitterte und verbiß sich. Wenn er jetzt sein Leben überschaute, schien es ihm, als sei er fortwährend nur mißhandelt, nur tyrannisiert und gedemütigt worden. Freilich, es hatte ihm an nichts gefehlt, er war von Luxus umgeben. Aber was hätte man ihm denn für ein anderes Dasein bieten sollen? Das war doch nicht aus Liebe geschehen! Sondern weil man den ungeheueren Reichtum eben besaß. Donner ja! Gerade dieses luxuriöse Dasein, in das man ihn bettete, brachte es doch erst mit sich, daß er jetzt zu nichts taugte. Und 126 dabei warf ihm der Vater den Müßiggang, das Wohlleben immer noch vor!

Martin trommelte in kurzen, harten Schlägen auf den Tisch.

»Hab' ich mir das Leben so eingerichtet?« dachte er. »Hab' ich mir so ein Leben gewünscht? Jung bin ich gewesen und unerfahren! Das war alles!« Er glaubte wieder völlig im Recht zu sein; er hielt sich für klüger als den Vater, wie er einst, als Gymnasiast, sich für klüger gehalten hatte als die Professoren.

Jetzt hab' ich's schwer, grübelte er weiter. Schwerer als jeder andere. Aber wieviel hab' ich an einem einzigen Tag gelernt! Mich wird man nicht unterkriegen! Mich nicht!

Er blickte herausfordernd umher. Der Gasthaussaal war ganz leer geworden, die Stühle standen schon auf den Tischen, durch die weitgeöffnete Tür strich kühle Abendluft herein und wehte die Bier- und Speisedünste weg.

Der Kellner, der ihn eine Weile schon belauert hatte, kam heran. Ein kleiner, breiter, krummbeiniger Mensch, schon ein wenig älter. Seine Höflichkeit verbarg das Mißtrauen nur schlecht.

»Der Herr wünschen zu zahlen?« fragte er halblaut, doch mit hinlänglicher Energie.

Martin fuhr auf: »Was?«

»Na . . . zahlen,« drängte der Kellner, »Sperrstunde.«

»Ach so!« Martin zog seine Brieftasche, blickte 127 hinein, suchte, blickte den Kellner an und sagte lächelnd: »Ich habe kein Geld bei mir.«

»Das hab' ich mir gleich gedacht«, sagte der Kellner mit düsterer Miene.

Martin lachte laut: »Sie haben das gewußt? Komisch!«

»Gar nicht komisch«, korrigierte der kleine Krummbeinige. »Ich kenn' schon meine Gäste!«

Martin strahlte ihn mit unbefangen erheiterten Mienen an: »Das ist großartig! Ich hab's nicht gewußt, daß ich kein Geld bei mir habe . . . keine Ahnung . . . und Sie, Sie sind eben tüchtig!«

Der Kellner verlor die Geduld: »Na, was jetzt?« murrte er.

Naiv sagte Martin: »Ja . . . was fangen wir an?«

»Der Herr wird doch eine Uhr haben«, meinte der Kellner, indem er ungeniert an Martins Weste griff.

»Wirklich!« rief Martin erstaunt, indem er Uhr und Kette löste. Er reichte sie hin. »Nehmen Sie die Uhr?«

»Wenn sie echt ist«, erwiderte der Kellner und haschte danach.

»Wieso echt?« Martin verstand ihn nicht.

»Das ist doch kein Gold!«

Martin lachte wieder. »Nein! Platin! Auch die Kette.«

»Geben Sie her!« Der Kellner nahm die Uhr mit der Kette. Er spielte jetzt den Mißtrauischen, während er sie betrachtete. Dann ließ er sie in seine Tasche 128 gleiten, spielte den Gutmütigen und erklärte: »Meinetwegen, Sie können gehen.«

Martin stand vergnügt auf: »Ein tüchtiger Mann«, lachte er anerkennend und klopfte dem kleinen, krummbeinigen Kerl die Schulter. »Ja, mein Lieber, tüchtig muß man sein! Immer tüchtig!«

Er schritt hinaus in die nächtliche Straße.

»Trottel«, spottete der Kellner hinter ihm her.

Martin ging langsam und ohne Ziel. Er war steinmüde. Wo soll ich schlafen? dachte er. Pech, besonderes Pech, daß ich kein Geld bei mir habe. Für den Anfang hätte ich wohl ein bißchen gebraucht.

Er wanderte und wanderte. Die Straßen waren dunkel und menschenleer. Eine Gartenanlage öffnete die Weite ihres dunklen Buschwerks. Auf eine Bank möcht' ich mich setzen, überlegte Martin. Nur sitzen, nur ausruhen. Nicht schlafen.

Er betrat die finsteren Wege, fand bald eine Bank und ließ sich nieder.

»Ach, das ist gut!«

Ganz still saß er da, ruhig und tief atmend. In seinem Rücken rauschte das Laub der Fliedersträuche leise. Martin schloß die Augen. Er schlief noch nicht. Nur sein Erinnern brach auf und ließ viele Bilder, ungeordnet, ineinander verschwimmend an seinem denkmüden Herzen vorübergleiten. Er brauste im Kutschierwagen zu Roßhofen durch den Park. Er tanzte im herrlichen Ballsaal des Schlosses bei den Klängen 129 einer Jazzband. Viele Leute waren da, Besuche aus der Nachbarschaft, die zur Jagd gekommen waren. Er stand als Fünfzehnjähriger im Hochwald und vor ihm, auf sanft gemuldetem Eichenschlag, röhrte der Hirsch, den er damals erlegen durfte, sein erster. Langsam sah er ihn näherkommen, sah das mächtige Haupt vorgestreckt und bebte jetzt wieder, wie er damals gebebt hatte. Plötzlich stand Pallas, sein Reitpferd, vor ihm und Kicks, der Schäferhund, sprang rund um Pallas her, ungeduldig, als erwarte er seinen Herrn.

Ich bin vielleicht dumm, sann er, vielleicht ist es dumm von mir . . . Aber da schlief er ein.

»He, Sie! He – auf!«

Eine harte Faust lag auf seiner Schulter und rüttelte ihn.

Martin erwachte langsam, schwer betäubt und reagierte, wie immer, wenn er unsanft geweckt wurde, zunächst mit heftigem Zorn. Ein Ruck, und die Faust, die ihn an der Schulter hielt, flog geschleudert weg.

»Zum Teufel!« Martin sprang auf. Aber gleich packte es ihn wieder vorne an der Brust und eine tiefe Stimme knurrte: »Keinen Widerstand . . . Ja?«

Martin gewahrte einen Schutzmann, der dicht vor ihm stand. »Ach, entschuldigen Sie,« sagte er, »aber ich ertrage es nicht, so aus dem Schlaf geschüttelt zu werden . . .«

»Warum schlafen Sie denn dahier?« forschte der Schutzmann.

130 »Wollen Sie Ihre Hand von meiner Brust wegnehmen?« gab Martin zurück. »Ich liebe das nicht.«

Der Schutzmann ließ ihn los, wiederholte aber: »Warum schlafen Sie dahier?«

»Es war nicht meine Absicht,« entschuldigte sich Martin, »ich bin nur so eingenickt.«

»Obdachlos?« Die Frage klang streng.

»Nein.«

»Wie heißen Sie und wo wohnen Sie?« Es klang streng und befehlend.

»Muß ich das sagen?« wandte Martin ein.

»Wenn Sie nicht wollen, lassen Sie's bleiben,« schnauzte der Schutzmann, »aber dann gehen Sie eben mit. Aus der Wachstube werden wir schon herauskriegen, wer Sie sind.«

Martin nannte rasch seinen Namen und seine bisherige Wohnung.

»Sapperlot!« Der Schutzmann war betroffen. »Wenn man behauptet, daß man der junge Overbeck ist, muß man's beweisen können. Legitimieren Sie sich!« Er war noch mißtrauisch, doch er wurde schon höflicher.

Sie gingen zur nächsten Laterne. Dort holte Martin sein Portefeuille hervor, hielt dem Schutzmann Visitkarten hin, dann die Mitgliedskarte vom Parkklub, die er zufällig bei sich hatte, vom Automobilklub, den Waffenpaß.

»Danke, danke. Das genügt.« Der Schutzmann 131 wollte nichts mehr sehen. Er wehrte ab, nahm stramme Stellung und sagte mit Hochachtung: »In Ordnung, Herr Overbeck. Entschuldigen Sie.«

»Bitte, bitte.« Martin fühlte sich befreit.

»Ich war nicht gefaßt darauf, so einen Herrn hier auf einer Bank schlafend zu treffen.« Der Schutzmann sprach freundschaftlich und ergeben. »Gehen Sie nach Haus, Herr Overbeck, folgen Sie mir, das ist keine Gegend für Sie.«

»Ach, Unsinn,« verteidigte sich Martin, »ich wollte mal spazieren . . .«

Der Schutzmann ereiferte sich beinahe. »Und sind eingeschlafen. Es hätt' Ihnen allerlei passieren können. Noch gut, daß ich gekommen bin.«

»Danke sehr.«

»Gehen Sie da, die große Straße entlang, immer dem Straßenbahngeleis nach. Sie finden gewiß noch ein Taxi.«

Martin lüftete den Hut: »Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Herr Overbeck.« Der Schutzmann salutierte respektvoll.

Martin schlenderte davon, erreichte die Straße und schritt langsam weiter. Ich muß so eine oder zwei Stunden geschlafen haben, überlegte er. Wie spät mag es sein? Er griff nach der Westentasche. Doch sie war leer. Wo ist meine Uhr? rief er, gelind erschreckend, besann sich aber gleich, daß er sie dem Kellner gegeben, und lachte auf.

132 Wetter noch einmal, dachte er, in die Freiheit bin ich entsprungen! Allerdings! Aber dümmer hätt' ich es gar nicht anfangen können. Ohne Geld! Ohne Kleider! Ohne Wäsche! Unpraktisch! Unpraktisch! Egal! Ist jetzt nicht mehr zu ändern. Ich werde schon praktisch sein! Gewiß! Das lern' ich bald!

Die dunkle Nacht wurde fahl. Eine Kirchturmglocke schlug. Martin horchte. Drei Uhr!

Martin ging weiter. Er kam in die vornehme City, vorüber an den großen Warenhäusern, an den prunkvollen Geschäftsladen, an den monumentalen Bankpalästen. Alles schlief hier, geordnet, wohlverwahrt, in wohlhäbiger Ruhe dem neuen Arbeitstag entgegen.

Durch das stille, große Siegestor, das in der ersten bleichen Dämmerung zu träumen schien, schritt Martin dem Wohnviertel der Reichen zu. Es war sein Heimweg und er ging ihn ganz instinktiv. Aus dem blassen Grün der hohen Baumwipfel tauchten die dunklen Massen der Dächer. Martin schritt die sanfte, flache Rundung der Kurve aus, welche die Straße hier machte. Dort drüben, wo die Kastanien den Blick freigaben, stand sein Vaterhaus. Stolz, beinahe hochmütig, und jedenfalls sehr streng war die Physiognomie dieses prunkvollen Baues. Das alte, grüne Kupferdach in strengen Linien; die schmucklos strenge, breite Steinfassade, die lange Parkmauer . . . Martin war zumute, als sei unter allen schlafenden Häusern hier das Haus, das einzig wache. Die ersten Strahlen der 133 aufgehenden Sonne warfen einen blassen, aber höchst lebendigen Rosaschein über das Dach und über die Front.

Da stehe ich . . . wie der verlorene Sohn! dachte Martin.

Er griff in die Tasche und klirrte leise mit den Schlüsseln. Der Reihe nach befühlte er sie und erkannte jeden im Tasten. Das war der Schlüssel zur kleinen Seitenpforte in der Parkmauer. Dieser sperrte die niedrige Haustüre, die der Gartenpforte schräg gegenüberlag und zu seiner braunen Holztreppe führte. Dann waren noch andere Schlüssel da. Zum Schreibtisch, zum Schmuckkasten. Er brauchte jetzt nur über die Straße gehen, den Schlüssel ins Schloß stecken und er war daheim. Konnte die braungetäfelte Holztreppe hinaufsteigen, sein Zimmer betreten und sich ins Bett legen. Alles war sicherlich vorbereitet. Der gute, alte Christoph wartete gewiß. Der getreue Kicks wartete . . . und sein Vater wird ihn verhöhnen, wird ihn beschimpfen und alles wird sein wie sonst. Ärger als sonst! Viel ärger! Denn er wird den freien Mut nicht mehr haben, sich aufzulehnen!

»Nein!« Martin sagte es laut. Er rief es beinahe zu dem hochmütigen Haus hinüber. »Nein!«

So erbärmlich wollte er seine jäh erraffte Selbständigkeit nicht abschließen. Nicht so klein beigeben und nicht so rasch. Warum denn auch? Für das bißchen Behagen! Es war noch keine vierundzwanzig 134 Stunden, daß er's entbehrte. Was hatte er denn schon mitgemacht? Das konnte doch nur für einen Spaß gelten. Das war gar nichts. Er wurde noch mehr aushalten, noch hundertmal mehr, ohne zu Kreuz zu kriechen!

Ihm fiel ein, wie sein Vater ihn beschimpft hatte. »Wenn ich meine Hand von dir abziehe . . .« Und: »Du Tagdieb!« Käme er jetzt zurück, dann würde er noch Schlimmeres zu hören kriegen.

»Ich bin nicht neugierig!« brach er aus und wandte sich ab.

Tine Schaffner . . . wie der Schall einer feinen Silberglocke tönte dieser Name durch sein Inneres.

Tine Schaffner . . .

Auch die war nun fern. Auch auf Tine Schaffner konnte er verzichten. Einstweilen wenigstens. Auch sie hatte ihn nicht verstanden, hatte ihn erniedrigt und gekränkt. Sie noch ärger als der Vater. Eine hartherzige Person war sie, hartherzig und engherzig mit ihrer fixen Idee der Fürsorge, mit ihrem Stall ekelhaften, armen Volkes. Auch dieses Joch, das seine Liebe ihm auferlegte, wird er abschütteln. O ja! Früher, als man meinen sollte. Tine Schaffner . . . eine alte Jungfer war sie jetzt schon in ihrer Seele, wenn auch äußerlich noch nicht alt. Er wird sie wohl nicht wieder sehen! Er wird einsam sein, ganz einsam. Im Grunde ist er's ja immer gewesen.

Traurig ging er dahin, denselben Weg zurück, den er gekommen war. Er befand sich nun außerhalb seines 135 Lebens, außerhalb seines Ichs. Er war so stark wie nie zuvor. Vollständig unabhängig, gänzlich befreit. Nichts als Erwartung des Kommenden in Herz und Sinn, des Unbekannten. Dennoch, er fühlte sich todmüde. Nach dieser seltsamen Nacht schwankten seine Gedanken schlaftrunken durcheinander. Er sehnte sich danach, Kleider und Wäsche wegzuwerfen, in ein Bad zu steigen. Langsam bog er in die Parkanlagen. Es war halb fünf. Jetzt durfte er es wagen, wieder eine Bank zu suchen, auf der er ausruhen konnte. Zudem war hier der Park für vornehme Leute. Hierher kamen die geputzten Kinder mit ihren Bonnen und Gouvernanten. Aber kaum vor acht oder neun. Martin ging in einem kleinen, schattigen Boskett zu einer Bank und setzte sich. Hierher war die Sonne noch nicht gedrungen. Ein leiser, frischer Schauer überlief ihn. Doch er schlief sofort.

Der Hunger weckte ihn. Er rieb sich die Augen, streckte sich, stand auf und ging rasch davon. Wieder in die Vorstadt hinaus. Jetzt muß ich aber bald was verdienen, ermahnte er sich humoristisch, in zwei, drei Stunden muß ich ein bißchen Geld verdienen. So lange halt ich's schon noch aus. Aber hungern könnt' ich nicht. Das brächte ich nicht fertig. Na, er tröstete sich, irgend ein Gelegenheitsverdienst wird sich schon finden. Das kann unmöglich so schwer sein, wie eine Anstellung zu bekommen. Man muß sich nur umtun! Und Hunger ist der beste Antrieb! Sapperlot, bin ich hungrig! Am besten, man denkt nicht daran.

136 Er rannte schier durch die reichen Geschäftsstraßen, begann allmählich ein langsameres Tempo einzuschlagen und aufzupassen, ob er nicht irgendwo Gelegenheit finden könne, etwas zu verdienen.

Aber ihm mangelte die Unbefangenheit, ihm fehlte das Geschick, andern zu dienen, er hatte keine Einfälle, er war schüchtern und verstand sich nicht auf den Umgangston der einfachen Leute. Er besaß nichts als den zähen Eigensinn der Overbecks. Und er ging auf das neue Leben los mit der unbändigen Neugierde, mit der man spielfroh einen neuen Sport zu erlernen anfängt.

Nirgendwo nahm er eine Gelegenheit wahr, seinen Arbeitswillen anzubieten. Irgend eine rasche Verrichtung suchte er, voll Eifer, eine Leistung, die ihn eine Stunde, zwei vielleicht beschäftigte und die ihm so viel Lohn einbrachte, daß er sich ein Butterbrot kaufen konnte.

Da sah er endlich ein Lastauto. Der Lenker war von seinem Sitz gestiegen, hatte die Motorhaube abgehoben und murkste ratlos an der Maschine herum.

Martin blieb mit andern Müßiggängern stehen. Eine ganze Weile brauchte er, bis er die Verlegenheit des Mannes begriff. Wieder eine ganze Weile, bis er sich entschloß, ihn anzureden: »Soll ich Ihnen helfen?«

Der Lenker richtete sich auf, musterte Martin und meinte dann bedächtig: »Wenn Sie dazu imstand sind . . . nämlich, ich versteh' gar nichts davon . . . ich kann nur fahren!«

137 Martin ging näher. Da hab' ich mal Glück, dachte er, das werd' ich gleich treffen!

»Warten Sie einen Moment, Herr,« hielt ihn der Mann zurück, »nehmen Sie erst mal die Schürze da – Sie ruinieren sich sonst die feinen Kleider.

Martin ließ sich die Wachsleinenschürze des Lenkers vorbinden. Alle Umstehenden lachten. Und Martin, ganz befangen, lachte ein wenig kläglich mit. Er fuhr in die Taschen, holte seine Handschuhe hervor und zog sie an. Sie waren aus hellem Leder. Das Lachen der Zuschauer verstummte. Ehrfurcht verbreitete sich rings im Kreis.

Martin wurde unbehaglich zumute. Er beugte sich über den Motor und begann seine Untersuchung. Kiebitze hatte er genug. Jungens, Männer, sogar junge Mädchen umdrängten ihn, beugten sich mit ihm über den Motor, gafften seiner Arbeit zu und störten ihn.

Der Lenker kam ihm zu Hilfe. »Bitte, Platz.« mahnte er, »der Herr kann sich ja nicht rühren. Weg da!« Er drängte, stieß und bat die Lästigsten fort. »Ah, mein Herr,« sagte er zu Martin, »ich wäre so dankbar, wenn Sie den Teufelsmotor zur Vernunft bringen könnten. Sehen Sie, es ist ja nicht richtig von mir, daß ich fahre, ohne daß ich Mechaniker bin, aber ich war Pferdekutscher und ich hab' noch keine Zeit gehabt . . . mein Gott . . . wenn man verdienen muß . . . nicht wahr?«

»Haben Sie Zündkerzen?« erkundigte sich Martin.

138 »Ob ich . . . was habe?« fragte der Mann.

»Zündkerzen!«

»Ja, so!« Er schlug den Werkzeugkasten auf. »Sehen Sie nach, mein Herr, ich weiß nicht.«

Martin suchte in der Wirrnis von Schrauben, Schlüsseln, Zangen, Ölkännchen und fand richtig zwei Zündkerzen. Er wischte sie ab und setzte sie im Motor an ihre Stelle. Die alten warf er aufs Pflaster.

»So,« er band die Schürze ab, »jetzt sind Sie wieder flott, kurbeln Sie an!«

Der Motor brüllte mit erfrischter Kraft auf und ratterte. Martin war sehr populär.

Was wird er mir geben? dachte er.

Aber der Mann zog die Kappe tief, machte einen Kratzfuß und sagte: »Dank' Ihnen schön! Sehr freundlich von so einem Herrn, daß er sich die Mühe nimmt und einem armen Teufel hilft.« Die Umstehenden spendeten Beifall.

Martin ging beschämt rasch davon.

Es ist mir gar nicht leid, überlegte er, gar nicht leid. Aber wie konnte ich nur daran denken, daß der mir was geben wird?

Eine Stunde nachher stieß ihm jedoch wieder ein ergebnisloses Abenteuer zu. Diese Stunde, die kein Vergnügen war, trieb ihn, auf einem der großen Vorstadtmärkte umherzulungern. Da ging oder stand er zwischen Fleischerbuden, zwischen hohen Bergen grüner Gemüse, zwischen Körben voll roter Kirschen und 139 Erdbeeren, zwischen Blumen und Tischen, die bedeckt waren mit frischem Brot. Ihm wurde bei den vielerlei Gerüchen, die ihn reizten und manchmal widerten, beim Anblick all der eßbaren Fülle manchmal ganz schwach vor Hunger . . .

Eine stattliche Frau fiel ihm auf. Nicht mehr ganz jung, aber sehr blank, und offenbar ganz besonders tüchtig. Sie war augenscheinlich bekannt hier, denn alle Geschäftsleute grüßten sie, die Obstweiber nickten ihr zu oder riefen ihr Scherzworte nach. Die Frau ging, einen großen Henkelkorb am Arm, ruhigen Schrittes zwischen den Buden, blieb stehen, kaufte, ließ sich die Pakete in den Korb legen, zahlte, und jede ihrer Hantierungen war außerordentlich nett. Ihr ganzes Wesen, ihre Gestalt von fülliger Schlankheit, ihre ernste Kleidung, alles weckte Zutrauen. Sie hatte das rotwangige Gesicht mancher Schwarzhaarigen, diesen tiefgefärbten Pfirsichteint, den merkwürdige, zarte, blaudunkle Schatten zu überbreiten schienen. Ihre dunklen Augen blickten ernst, doch war irgend ein dringendes Rufen in ihnen.

Martin folgte ihr, unauffällig, wie er meinte. Ihm lag jede galante Absicht meilenfern, denn er war zu hungrig, zu sehr mit seiner Situation beschäftigt; auch kam diese Frau für ihn gewiß nicht als Weib in Betracht. Wie alt mochte sie sein? Vielleicht vierzig, möglicherweise noch drüber. Aber sie war ein menschliches Wesen aus dem Volke, das sah man ihr an. 140 Sie war mütterlich, sie wußte im Leben Bescheid. In jenem einfachen Leben, in das Martin so plötzlich hineingeraten war und darin er sich so gar nicht zurechtfinden konnte. Sicherheit sprach beredsam aus jedem Schritt, aus jeder Gebärde dieser Frau, das gefiel Martin und das lockte ihn. So jemanden mußte er kennen lernen! Das saß sogleich in ihm fest. Mit so einer Frau sollte man befreundet sein. Sie würde raten, helfen, Auswege finden. Alles wäre leichter. Er würde ihr seine ganze Geschichte erzählen, seinen Konflikt mit dem Vater, seine Affäre mit Tine Schaffner. Diese Frau wüßte ihn auf die richtigen Wege zu bringen, damit er rasch eine Stellung bekäme. Beständig unauffällig hinter ihr dreinziehend, schüchtern und abseits, hatte er sie doch so sehr in seine Gedanken verwoben und eingesponnen, daß er sie schon lange zu kennen meinte.

Inzwischen war der Henkelkorb mehr und mehr angefüllt. Die Frau trug ihn jetzt mit Mühe in jener Haltung, in der Frauen nicht ganz ohne Anmut solch schwere Lasten zu tragen pflegen. Nun erhielt sie noch vor einem Obststand eine große Düte Kirschen, darauf rückte sie den Korb zurecht, schaute einmal noch um sich und verließ den Marktplatz.

Martin folgte ihr, wie sie in eine Seitenstraße bog. Ich will ihr anbieten, den Korb zu tragen, überlegte er, vielleicht kommen wir ins Reden und vielleicht . . .

Sein Hoffen war fürs erste und vor allem auf einen 141 Imbiß als Lohn gerichtet, dann auf die rettende Aussprache, an deren Segen er glaubte, an Winke, Ratschläge, an weiß Gott, welche Hilfe.

Während er das noch bedachte und knapp hinter ihr her schritt, blieb sie plötzlich stehen, ließ ihn herankommen, lächelte mit blitzweißen Zähnen und sagte: »Ich hab' ja gewußt, daß Sie mir nachgehen werden.«

Martin war perplex. Verwirrt zog er den Hut: »Gnädige Frau . . . haben gewußt . . .«

Sie lachte: »Aber natürlich, schon auf dem Markt . . .«

Er entschuldigte sich: »Ich . . . ich hätte nie geahnt, daß ich Ihnen lästig falle . . .«

Sie lachte noch mehr: »So ein hübscher, junger Mann kann mir nie lästig sein!«

Martin wurde ganz befangen, stürzte sich auf den Korb und bat: »Gestatten Sie, daß ich . . .«

Sie wehrte ab: »Was fällt Ihnen ein!«

Aber Martin kämpfte um ein Frühstück: »Ich bitte Sie . . . lassen Sie mich . . . das ist ja zu schwer für Sie . . .«

»Nein, nein,« sie hielt den Henkel fest, »das wär' noch schöner! So ein eleganter Herr wird doch keinen Korb schleppen.«

Er griff entschlossen zu: »Ich bitte darum! Es ist mir unmöglich, neben Ihnen zu gehen, wenn Sie so eine Last . . .«

Da ließ sie es geschehen, behielt aber den Henkel in der Hand: »Nun, meinetwegen, tragen wir ihn 142 zusammen . . .« und mit einem ruhigen Lachen sah sie Martin an: »Sie sollen nicht sagen, ich hätt' Ihnen einen Korb gegeben!«

Abgeschmackt, dachte er und wäre jetzt am liebsten auf und davon gelaufen. Er schwieg.

Sie schritten nebeneinander, aber nicht im Takt, und es wurde ein mühsames Gezerre.

»Lassen Sie«, sagte er kurz, schwang den Korb auf seinen andern Arm und hatte ihn nun allein.

»Es ist ohnehin nicht weit«, meinte sie.

Er nickte. Irgend ein Frühstück, dachte er nur. Dann aber erschrak er. Wenn sie dabei zärtlich wird . . . »Gott, was bin ich für ein Esel.«

Sie rieb sich an seine Schulter. »Ich bin gleich zu Haus. Wir können uns verabreden, ja?«

»Ja«, keuchte er willenlos.

»Heute abend?« fragte sie.

Martin nickte. »Gewiß.« Er dachte: Ich komme ja ohnedies nicht.

»Um acht«, fuhr sie fort, »ist mein Mann im Wirtshaus, bis zwölf meistens. Kommst du um halb neun zum Haustür?«

»Natürlich!«

»Da, schau dir das Haustor an.« Sie blieb stehen: »Und merk's dir!« Sie nahm ihm den Korb ab. »Weißt du«, flüsterte sie, »am liebsten möcht' ich dir gleich jetzt einen Kuß geben! Aber . . . na, heut abend, um halb neun!«

143 Sie trat mit ihrem festen, ehrbaren Gang ins Haus, winkte ihm noch einmal mit den Augen und schloß das Tor.

»O Gott«, stöhnte Martin, »was bin ich für ein Esel.«

 

Von den zahllosen Kirchtürmen der Stadt schwang das Mittagläuten, doch der Glockenschall wurde hier in der Vorstadt vom Aufheulen der Fabriksirenen entzweigerissen.

Martin saß wieder in der Parkanlage, in der ihn heute nacht der Schutzmann geweckt hatte. Er war sehr erschöpft. Irgend etwas, grübelte er, werde ich wohl unternehmen müssen, was immer, nur . . . nur . . . Seine Gedanken dämmerten, sein Wille war schlapp geworden. Es gab nichts als Hunger. Auf nichts war sein Empfinden, sein Begehren, sein Trachten gerichtet, als auf die unendliche Schwierigkeit, sich ein einziges Mal satt zu essen. Unfähig, dieser Situation einen Sinn abzulauschen, versank er gänzlich in den Abgrund seiner schlichten, hungrigen Gier, in diesen Abgrund, der immer tiefer wurde. Martin bekam Visionen von Butterbroten, von Eierspeisen, von Schinkenstullen. Es fielen ihm nur solch einfache Dinge in den Sinn. An Leckerbissen dachte er nicht.

Ein Arbeiter näherte sich mit seiner Frau der Bank, auf der Martin saß. Schweigsam kamen sie heran, 144 murmelten ein Grußwort und ließen sich nieder. Die Frau hantierte an einem Packen, den sie in einem farbigen Tüchel gewickelt trug und den sie zwischen sich und ihrem Mann gestellt hatte. Von dort her klimperte Geräusch, wie von irdenem Geschirr und alsbald wehte ein Geruch von gesottenem Fleisch, von gezwiebelter Suppe und Kartoffeln aufreizend zu Martin hinüber. Das wirkte elektrisierend. Martin zuckte zusammen. Er fühlte, wie ihm das Wasser im Munde bis an den Rand der Lippen schoß. Der Arbeiter schlürfte, schmatzte, Martin sah ihn nicht, weil die Frau davor saß, die ihm den Rücken kehrte. Aber Martin beneidete den Arbeiter so sehr, daß er an sich halten mußte, sonst hätte er ihm die Schüssel einfach weggerissen. Der Dunst, der lebhafter aus dem gelöffelten Suppentopf stieg, umspielte Martins Nase immer eindringlicher. Das war nicht zu ertragen. Er wird um einen Löffel voll bitten. Unter irgend einem Vorwand. Oder um einen Bissen Brot. Scherzhaft, leutselig. Nein: ganz einfach bitten. Zum Dreiteufel! Er wird gar nicht bitten! Überhaupt nicht. Er sprang auf und ging rasch fort. So hörte er nicht, wie die Arbeiterfrau hinter ihm sagte. »Soll nur schauen, daß er weiterkommt, der feine Herr! Ich glaub's ihm, daß ihm unser Essen zuwider is! Aber wir haben's nicht besser!«

Martin strich wieder durch die Anlagen, die vom Volk benützt wurden. Er sah Männer auf Bänken 145 sitzen, müßig, sorgenvoll, herabgekommen und wahrscheinlich hungrig wie er. Auch solche Paare sah er genug, gleich demjenigen, das er eben verlassen hatte. Die Frauen, abgehärmt oder abgerackert, saßen gewöhnlich zur Seite gewendet, auf der äußersten Kante, indessen der Mann dumpf und müd' die Schüssel auf seinen Knien hielt und darüber gebeugt sich sättigte. Nur manchmal war ein kleines Kind dabei, das gerade so vergrämt und kümmerlich aussah wie die Eltern. Martin ging schneller vorüber. Schon die Gebärde des Essens schmerzte ihn.

Er riß ein Blatt von einem Strauch, im Gehen, ein frisches, saftiges Blatt, und kaute daran. Es schmeckte scharf, es schmeckte bitter, doch es schmeckte wenigstens nach irgend was. Sein leerer Magen hob sich stürmisch unter den falschen Signalen des Kauens und beruhigte sich sehr langsam.

Martin betrat die Straßen wieder. Jetzt hatte er weder Plan noch Vorsatz. Doch mit Wolfsgier lauerte das Bewußtsein in ihm, daß etwas geschehen müsse. Es muß! Es muß! Es muß!

Er ging an einem Lebensmittelgeschäft vorüber, blieb stehen und betrachtete das Schaufenster mit all dem Wurstzeug, den Konservenbüchsen, den Käsebergen, wie gebannt. Nur schwer trennte er sich von diesem Anblick und seiner qualvollen Verlockung.

Er kam an ein bescheidenes Gasthaus und blieb nochmals gefesselt stehen. Da drinnen saßen kleine, bescheidene 146 Leute beim Mittagmahl, Platzagenten, Kommis, Klavierlehrer. Martin starrte sie alle bewundernd an, wie tafelnde Götter. Er gaffte ihnen auf die Teller, bis er Unwillen erregte und gedemütigt weiter schlich.

Seine Schläfen fingen hart zu klopfen an; es flimmerte ihm vor den Augen. Mechanisch machte er kehrt. Zurück . . . nach Haus. Anderes blieb kaum übrig. Er war nicht mehr der Herr seiner Entschlüsse. Natürlich wollte er nicht heim. Aber was da drängte, was ihn trieb und stieß, war nun stärker als er. Langsam setzte er Schritt vor Schritt. Wenn ihm nicht Rettung winkte, dann würde er, sowie er eine zivilisierte Gegend erreichte, ein Taxi nehmen, es vom Portier bezahlen lassen, dann etwas Schinken essen, von Christoph serviert, ein paar Gläser Wermut trinken, dann baden . . . ach ja . . . baden! Bei der bloßen Vorstellung lebte er schon ein wenig auf. Freilich . . . das war die gänzliche, die erbärmlichste Niederlage . . . das hieß, sich auf Gnade und Ungnade ergeben. In einem Bezirk seines Denkens, den jetzt wallende Schleier umnebelten, regte sich Verstehen solch schmählichen Unterliegens, regte sich ganz schwach, ohne die Kraft, etwas zu hindern. Über seine Seele war jetzt eine öde Dämmerung gebreitet; sie ahnte nur, wie dieses Besiegtsein schmerzen werde. Jetzt aber schmerzte nichts, als der Hunger. Martin wäre jetzt bereit gewesen, zu stehlen oder einen Raub zu begehen, um sich von der Not dieses Tages zu befreien. Über die Gefangenschaft dieser Stunde 147 und über ihre Qual reichte sein Überlegen kaum hinaus.

Er verweilte vor einem kleinen Uhrmacherladen und gaffte mit Begierde auf den Tand, der im engen Schaufenster lag. Zu Hause hatte er Perlenknöpfe, Busennadeln, Ringe mit Edelsteinen. Davon hätte ein einziges Stück genügt, den armen Kramladen hier zu kaufen. Keine einzige Uhr war hier, die sich auch nur entfernt mit seiner schönen, blattdünnen Platinuhr vergleichen durfte. Und die hatte er sich gestern abend für eine einzige Mahlzeit abknöpfen lassen. Verdammt, daß er lauter Dummheiten beging, eine um die andere! Und jetzt steht er hier, jetzt war er einen Moment lang im Begriffe gewesen, eine günstige Gelegenheit zu erlauern, die Scheibe da vor sich einzudrücken und von dem Kram da so viel zu erraffen, als sich mit einem schnellen Griff erfassen ließ.

Unsinn! Er bewies sich selbst, wie dumm das wäre. Nie könnte es ihm gelingen. Wenn er's gleich wirklich täte, wenn das zerbrochene Fenster klirrte, ohne ihm die Faust blutig zu ritzen, wenn er schon ein paar Golduhren und ein paar armselige Ketten in der Hand hielte, man würde auf ihn Jagd machen, würde ihn einholen. Er lächelte stumpf vor sich hin und schritt weiter.

Vor einem Grünkeller standen offene Körbe, hochgefüllt mit Kirschen. Unbewacht. Es zuckte in seiner Hand. Was für ein Labsal wäre eine Handvoll 148 Kirschen. Aber nur eine einzige blieb ihm zwischen den unsicheren, furchtsamen Fingern und diese, ihm entgleitend, fiel zur Erde. Er zitterte und wagte nicht, sich nach ihr zu bücken.

Gestohlen! Er hatte gestohlen? War das nun Diebstahl gewesen? Sein Denken verwirrte sich in Angst und Scham. Er war gar nicht fähig, noch zu ermessen, was er tun wollte und was er getan hatte. Nichts konnte er, als sich dunkel seiner Absicht erinnern und sich ängstigen, daß jemand diesen frevelhaften Versuch bemerkt habe. Den Kopf tief gesenkt, ging er langsam dahin und sah nur die Pflastersteine vor seinen Schritten. Eine Hoffnung sprang in ihm auf. Eine winzige, aber willenlose, dringende verzweifelte Hoffnung. Seine Augen begannen zu suchen. Etwas finden! Eine volle Börse. Ach nein. Nur ein Geldstück. Ein einziges nur. Es wäre Glück und Wunder zugleich.

»Guten Tag, der Herr.«

Das war ganz nahe, ganz leise in sein Ohr gesprochen.

Martin erschrak, fuhr zusammen und sah aufblickend das lächelnde Gesicht eines schwarzbärtigen Mannes dicht an dem seinigen. Ein Trödler lehnte an den Eingangsstufen seines Ladens, betrachtete Martin mit pfiffigen, lebhaften schwarzen Augen, fingerte dabei nervös an seinem zausigen Vollbart und fragte schmeichelnd, devot lächelnd: »Hat der Herr nicht alte Kleider zu verkaufen? Alte Schuhe? Hüte? Möbel? Ein Geschäft zu machen?«

149 Wie angewurzelt blieb Martin stehen, schaute in das dunkle, lächelnd bewegte, freundlich-gescheite, untertänige Gesicht dieses Mannes und schwieg.

Der Mann änderte seine Stellung nicht. Er lehnte mit der Schulter an der Türleibung. Er stand zwei Stufen erhöht und war dadurch erst in der Höhe von Martins Ohr. Und er wiederholte mit geduldiger Ergebenheit: »Hat der Herr nicht alte Kleider zu verkaufen? Alte Schuhe? Hüte? Möbel? Schmuck?«

Martin blieb noch immer unbeweglich und stumm. Er fühlte nur: hier war eine Möglichkeit! Er ahnte nur: hier war Rettung! Deshalb wartete er. Aber er begriff noch nicht.

Der Trödler lockte: »Nu? Machen wir ein Geschäft? Ich geb' mehr als jeder andere. Treten Sie ein, bitte.«

»Wozu?« Martin fragte, ohne zu überlegen, ja, er wußte gar nicht, daß er fragte.

»Wozu? Heißt eine Red'!« Der Mann wurde eifrig. »Nu, kommen Sie schon, was überlegen Sie noch? Ich werd' Sie nicht beschummeln!«

Martin grübelte, was sich denn anfangen lasse, und schwieg.

»Sie wollten doch was verkaufen?« forschte der Trödler.

»Ja,« nickte Martin, »vielleicht . . . diesen Anzug . . .«

Der Trödler legte seine Hand auf Martins Arm! »Gemacht! Den Anzug! Warum nicht?« Seine Augen huschten abschätzend über Martins Gestalt. »Aber kommen Sie schon.«

150 Martin zögerte. »Ja . . . ich kann doch nicht im Hemd . . .«

»Nicht? Können Sie wirklich nicht im Hemd . . .?« Der Mann lachte, als habe ihn ein prächtiger Witz überwältigt, dabei hielt er Martin am Arm fest. »Haben Sie keine anderen Sorgen? Kommen Sie schon endlich! Ich werd' Ihnen geben einen andern Anzug . . .« Er führte Martin, der plötzlich voll Eifer folgte, in den Laden.

»Ich werd' Ihnen geben einen pikfeinen, einen hochnobeln Anzug . . .« fuhr er fort, »so was Elegantes haben Sie noch gar nie am Leib gehabt . . . und Sie werden mir zahlen die kleine Differenz . . .«

»Nein«, schrie Martin und das war ehrlicher Widerstand.

Der Mann klappte zusammen. »Gut . . . nein!« sagte er kleinlaut. »Nein . . . schön. Wir werd'n schon einig werd'n. Wozu schreien?« Dabei fuhr er, mit beiden Händen, vorsichtig spürend und schätzend an Martins Rock auf und nieder.

Martin schaute in dem halbdunkeln Laden umher, der phantastisch vollgestopft war mit Kleidern, Uniformen, Hüten, Schuhen, mit Teemaschinen, Bildern und Messingleuchtern. Langsam wurde ihm deutlich, was nun geschehen mußte. Langsam und bestimmt fing er zu sprechen an. Im selben Ton, in welchem er gewohnt war, daheim den Dienern Aufträge zu erteilen. »Ich will einen ganz einfachen Anzug. So wie ihn 151 ein Arbeiter trägt. Ein Paar derbe Schuhe, ein grobes Hemd oder ein Trikotleibchen und eine Mütze . . .«

Der Trödler wurde dienstbeflissen und wieder heiter: »Eine Kleinigkeit!« rief er. »Alles kann der Herr haben, alles! Und wie neu! Was heißt, wie neu? Ganz neu. Funkelnagelneu. Zieht sich der Herr nur aus. So! Nur bequem.«

Während der flinke, kleine Mann das Gewünschte heraussuchte, entkleidete sich Martin. Er leerte zuvor seine Taschen. Da war ein kostbares Portefeuille. Und da . . . er hielt überrascht das schmale Scheckbuch in der Hand. Wahrhaftig! Das Scheckbuch hatte er vergessen. Die Summe, über die er durch dieses Scheckbuch verfügte, war sein persönliches Eigentum. Nicht sehr viel. Aber jetzt für ihn ein Vermögen. Martin dachte nach. Mit dem Geld ließe sich manches . . . Doch der Trödler kam, schleppte einen ganzen Ballen von Kleidern heran. Rasch legte Martin das Scheckbuch, das Portefeuille auf einen Stuhl, warf sein Taschentuch darüber und beschwerte das Taschentuch noch mit dem Schlüsselbund.

Dann wählte er unter all den Sachen umständlich eine Hose, die er mit einem Leibriemen gürtete, ein dunkelblaues Trikotleibchen, ein braunes Sakko von zweifelhafter Neuheit, schlüpfte in große Schuhe und achtete darauf, daß die Mütze, die er bekam, vorher nicht gebraucht war. Ganz verändert nahm er sich aus.

»Was bekomme ich noch?« fragte Martin.

152 »Vielleicht ein Spazierstock gefällig?« erkundigte sich der Trödler harmlos. ». . . oder ein Regenschirm?«

Martin steckte seine Habseligkeiten eben zu sich. Als er diese Antwort hörte, fuhr er hoch: »Was ich noch bekomme?« rief er drohend.

»Nu, beides,« lenkte der Mann ein, »meinetwegen Stock und Schirm. Da drauf haben Sie noch Anspruch . . . oder . . . warten Sie,« stotterte er und wurde unter Martins zornsprühenden Augen unsicher, »warten Sie, da hab' ich was Besonderes, Sie sollen sehen, wie ich bin . . . hier,« er reichte Martin ein braunes, lackiertes Monstrum, » . . . hier . . . das Neueste . . . ein Stockschirm oder Schirmstock . . . wie Sie wollen . . . was sagen Sie nu?«

Martin schlug das Ding zur Seite. »Meine Sachen sind fünfmal so viel wert«, knirschte er.

»Großer Gott,« zuckte der Trödler, »fünfmal! Nehmen Sie Ihre Sachen, bitte . . .« Er wandte sich ab. Martin traf Anstalten, sich nochmals umzukleiden. Es war furchtbar. Schwäche überfiel ihn. Sein Kopf und sein Magen schmerzten. Er mußte sich setzen und tat, als wolle er die Schuhe wieder ausziehen.

»Wie können Sie sagen fünfmal . . .?« Der Trödler begann, ihm Vorwürfe zu machen. »Wollen Sie mich nichts verdienen lassen?«

Martin blickte trüb zu Boden. »Sie haben versprochen, daß Sie mich nicht beschummeln . . .«

153 »Nu?« Der Trödler vollführte beredsame Gebärden. »Nu? Deswegen wollen jetzt Sie mich beschummeln? Sie mich? Mir die Gurgel abschneiden? Mich ruinieren, mich ausrauben?«

»Ich muß Geld haben . . .« beharrte Martin.

»So glänzend ist das Geschäft nix, was ich da mit Ihnen mache.« Es war resignierter Trauergesang.

»Ich muß Geld haben«, wiederholte Martin eigensinnig.

»Sie sollen Geld haben!« Der Trödler jauchzte schier. »Sie werden Geld haben.« Er blinzelte ihn von der Seite an, erkannte Martins Zustand, riß schnell ein paar Scheine aus der Tasche und legte sie vor ihn auf den Tisch. »Da haben Sie Geld!« triumphierte er. »Mehr als ich leisten dürfte, mehr als die Sache wert ist. Nu . . . zufrieden?«

Martin griff danach und eilte ohne ein Wort, ohne Gruß davon.

»Essen!« schrie es in seinem Innern. »Um Gottes willen, nur rasch etwas essen!«

Der Trödler nahm, allein geblieben, Martins Garderobe in Augenschein. Ruhig genießend betrachtete er den neuen Anzug, dessen Stoff ihn entzückte, dessen schmiegsam weiches Seidenfutter seine Begeisterung erregte. Er bestaunte das eingenähte Firmenzeichen des Schneiders. »Allererstes Modehaus!« flüsterte er voll Ehrerbietung. Den Hut drehte er in den Händen, strich darüber hin, guckte hinein: »Amerika . . . Mexiko . . . prima 154 Qualität.« Er wurde immer andächtiger. »So was hab' ich mein Lebtag noch nicht gesehen«, murmelte er. Dazu das dünne Battisthemd und die Schuhe. Alles paßte. »Ein Kavalier!« Er pfiff leise und kurz. »Oder ein Einbrecher.« Herr Kesselstein, der Trödler, wurde neugierig. »Ist denn das Hemd nicht gemärkt?« Hastig untersuchte er es und entdeckte richtig, neben dem Brusteinsatz, in Gürtelhöhe, zwei zart gestickte Blockbuchstaben »M. O.« Er dachte nach. »Wer ist M. O.?« Noch einmal durchwühlte er die Kleider, ob er nicht doch irgend eine Spur entdecke. Endlich fand er, in die Brusttasche des Rockes genäht, das Namensschild, das die Schneider anzubringen pflegen. Erschauernd las er »Martin Overbeck«. Herr Kesselstein mußte sich setzen. »Was fang ich an?« sann er nach. »Was fang ich an? Martin Overbeck? Eine Kleinigkeit! Martin Overbeck!« Sollte er die Sache auf sich beruhen lassen oder ihr nachforschen? Vielleicht die Kleider ins Palais Overbeck tragen? Herr Moritz Kesselstein erschrak heftig. Er . . . im Palais Overbeck! Er . . . in Beziehung zum Erzhaus Overbeck! »Eine Kleinigkeit!« flüsterte er in seinen Bart. Daß dieser Mensch da keineswegs Martin Overbeck gewesen sei, stand für Kesselstein unverbrüchlich fest. Dieser Mensch? Der um das bißchen Geld so gestöhnt hatte, Martin Overbeck? Nicht zu denken! Lachhaft.

Aber wie kam dieser Mensch zu Martin Overbecks Kleidern? Wie?

155 Es war noch sehr zu überlegen, ob man sich da kümmern oder ob man sich nicht am klügsten ganz still verhalten sollte. Man konnte eklig ins Fettnäpfchen treten.

»Erst mal abwarten und nachdenken«, beschloß Kesselstein, während er ganz erregt die Kostbarkeiten verwahrte.

 

Martin saß in einer Kneipe, war gesättigt und wieder normal.

Komisch, dachte er, wozu ein bißchen Hunger den Menschen treiben kann! Und komisch, wie das den ganzen Charakter stärkt, wenn man keinen leeren Magen hat! Er schüttelte den Kopf und lächelte.

War er nicht schon auf dem Weg nach Hause gewesen? Er schüttelte nochmals den Kopf. Erstaunt und mißbilligend blickte er auf sich zurück, wie er vor zwei, drei Stunden war, als blicke er auf einen Fremden, dessen Tun und Wandel ihm nicht mehr begreiflich schien.

Der anderen Versuchungen, die an seinem Wesen gerüttelt hatten, wollte er sich nicht erinnern. Sie löschten vollständig aus. Jetzt hatte er den Anfang überstanden, diesen schrecklich schweren, diesen furchtbar harten Anfang. Jetzt besaß er so viel, daß er tagelang vor Not gesichert blieb, daß er ein Obdach mieten konnte. Jetzt war er gerettet. Freilich, er hatte seine Klasse gewechselt. Aber, was lag daran? Hatte er seine Klasse nicht schon verloren, als er dem 156 Vaterhaus entlief? Sie war zweifellos sehr angenehm, seine Klasse, aber sie war augenscheinlich doch nicht gar so sehr viel wert. Denn sie befähigte ihn kaum, mit seinem eigenen Ich dem Dasein standzuhalten.

Das aber wollte er. Darauf kam es ihm jetzt an. Er verbiß sich in diese Aufgabe mit der ganzen Zähigkeit und dem ganzen Eigensinn der Overbecks.

»Heda!« rief er und klopfte an sein Bierglas.

Die Kellnerin kam, ein starkes, auffrisiertes Weibsbild.

»Kann ich Briefpapier haben, Fräulein?« fragte Martin. »Tinte und Feder?«

»Aha!« scherzte sie. »Ein Liebesbrief . . . gelt?« Sie griff nach dem Glas. »Noch ein Bier?«

»Meinetwegen.« Martin sah sie gar nicht an.

Das Scheckbuch muß fort, überlegte er, ich will nicht in Versuchung kommen. Wenn ich das Geld anrühre, habe ich wieder nichts fertig gebracht, ich allein nicht! Dieses Geld . . . es kommt vom Vater, es rührt von Geschenken her . . . es war eine unverbrauchte Reserve . . . beheb ich's doch einmal in der Not, dann lacht sich der Alte nur die Hucke voll und denkt: der lebt ja doch von mir! Nein, nein, das Scheckbuch muß fort.

»Da! Schreib' dein' Liebesbrief!« Die Kellnerin setzte alles Nötige vor ihn auf den Tisch und schlug Martin mit der flachen Hand auf den Rücken.

Er rührte sich nicht.

Eine Weile stand sie noch bei ihm, als warte sie auf etwas. Dann verließ sie ihn.

157 Martin zog das Papier zu sich heran, hielt aber inne. Wozu das Büchel zurückschicken? Das war so demonstrativ und wirkte jungenhaft. Es genügte ja, wenn er's in kleine Stücke zerriß und wegwarf.

Genügte das wirklich?

Bei weitem nicht! Eines Tages konnte es geschehen, daß ihn die Not ganz arg preßte und daß er sein Guthaben brieflich einforderte. Denn das lag ja immer noch dort und blieb immer noch sein eigen, auch wenn er kein Scheckbuch mehr hatte.

Er mußte sich von dem Geld trennen! Das Ganze weggeben.

Tine Schaffner . . .

Wieder klang dieser Name mit zarten Tönen in ihm auf. Wieder sah er die leuchtende Gestalt dieses Mädchens vor sich, in ihrer ernsten, beinahe feierlichen Schönheit. Den Plan, sich von Tine Schaffner zu befreien, hatte er vergessen. Das war ihm während seiner Hungerwanderung durch den Sinn gefahren. Jetzt saß er hier, gesättigt und gesammelt und Herr seines Bewußtseins wie nur je. Nun dachte er an Tine genau mit derselben Sicherheit, die er auf seiner ersten Fahrt zu ihr empfunden hatte. Noch sicherer fühlte er sich als jenes erste Mal. Die zwei häßlichen Auftritte zwischen Tine und ihm galten jetzt nicht, waren ausgelöscht, bezogen sich auf sein früheres Leben. Das hatte er weggeworfen und damit auch diese beiden Szenen. Er meinte, daß er Tine jetzt näher 158 sei. In dieser Arbeiterkleidung, die er nun trug, in dem neuen Leben, das er nun anfing. Das Scheckbuch lag offen vor ihm. Er rechnete an den Kupons aus, über wie viel er noch verfügte. Achtundzwanzigtausend. Diesen Betrag setzte er hin, schrieb dazu »für Tine Schaffner, Rettungsstation« und unterfertigte. Dann machte er sich ohne weiteres Nachdenken an den Brief: »Nehmen Sie hier mein ganzes Eigentum. Es sei Ihnen für Ihre Zwecke gewidmet. Ich bin im Begriffe, mir mein Brot zu verdienen.« Er wollte noch hinzufügen »Näheres mündlich«, zögerte lange, unterließ es aber und verschloß den Umschlag. Dann ging er fort, um den Brief in den Postkasten zu werfen.

Auf der Straße vor der Kneipe zankte ein kleiner, magerer Kerl mit einer großen, starken Frau, die leise weinte. Martin eilte vorbei, ohne dessen zu achten, hatte ein flüchtiges Erinnerungsbild, das aber jetzt von seinem Wunsch, den Brief an Tine zu befördern, verdrängt wurde. Gleich nachdem der Brief besorgt war, fiel es ihm jedoch ein: ist das nicht der Besoffene, den ich in der Rettungsstation gesehen habe?

Entschlossen schritt er zur Kneipe zurück. Vor der Türe war niemand mehr. Martin betrat das Lokal. Richtig, dort saß der . . . und jetzt fiel ihm plötzlich auch der Name ein . . . der Peter Spieß! Mit ein paar anderen Gesellen saß er dort, hatte ein Glas Bier vor sich und gestikulierte zum Ergötzen seiner Zuhörer. 159 »Marie, sprech' ich zu ihr, laß dir's in aller Sanftmut sagen, ich zerbreche dir sämtliche Rippen, wenn du mir mein Selbstbestimmungsrecht raubst . . .« Die anderen lachten. Peter Spieß schlug auf den Tisch. »Jeder Mensch hat doch ein Selbstbestimmungsrecht, Donnerwetter noch einmal!«

Da stand Martin vor der Gesellschaft. »Herr Spieß,« sagte er barsch, »wollen Sie mit mir herauskommen?«

Alle starrten ihn an. Peter Spieß war noch bleicher als sonst geworden. Er blieb sitzen. »Hab' jetzt keine Sprechstunde«, murrte er.

Martin wiederholte: »Wollen Sie mit mir herauskommen?«

Peter Spieß fluchte. »Ich kenn' Sie nicht – lassen Sie mich in Ruhe.«

Martin gab nicht nach: »Zum letztenmal . . . wollen Sie . . .?«

Eine kurze Pause entstand. Die anderen schwiegen. »Ich trink jetzt mein Bier . . .« maulte Peter Spieß. »Sie können mir ja da hier sagen, was Sie mir zu sagen haben.«

»Vor den anderen möchte ich nicht sprechen,« entgegnete Martin, »das wäre peinlich für Sie . . . und Sie werden jetzt nicht trinken, Herr Spieß.« Er nahm das Glas und schüttete das Bier mit einer Armschwenkung auf den Boden.

Peter Spieß sprang auf: »Das verbitt' ich mir,« zeterte er, »das ist eine . . .«

160 Aber Martin hatte ihm sogleich die Hand auf die Schulter gedrückt, daß der kleine Peter Spieß verstummte. Martin wandte sich zur Kellnerin und gab ihr ein Geldstück: »Die Zeche des Herrn Spieß.«

Die Kellnerin fragte schmeichelnd: »Was hat dir denn das kleine Kerlchen getan?«

»Was hab' ich Ihnen getan?« kreischte Peter und bäumte sich unter dem Griff, mit dem er gehalten wurde.

Martin führte ihn ohne zu antworten hinaus.

Auf der Straße sagte er: »Gehen Sie ruhig ein Stück mit mir, Herr Spieß, die andern schauen uns nach. Wollen Sie ruhig mitgehen. Dann laß ich Sie los.«

»Zum Henker, ja!« versprach Peter.

Martin gab ihn frei. »Hören Sie, Herr Spieß,« begann er mild, »Sie dürfen nicht wieder ins Wirtshaus gehen und trinken . . .«

Peter fauchte: »Woll'n Sie mir's verbieten? Sie?«

»Gewiß«, entgegnete Martin mild, wie vorhin. »Sie habens doch soeben gesehen! Und so oft ich Sie dabei erwische, werd' ich's Ihnen verbieten.«

»Erwische!« pfiff Peter und blieb stehen. »Was geht dich mein Selbstbestimmungsrecht an? Du!« Er trat ganz nah zu Martin, dem er kaum bis zur Schulter reichte, und maß ihn drohend.

»Sie haben kein Selbstbestimmungsrecht!«

Peter zuckte getroffen zusammen: »Ich? Kein . . . 161 Warum nicht? Bitte! Wieso nicht! Jeder Mensch hat . . . und ich nicht? Wieso?« Er erhitzte sich.

Martin blieb unerbittlich: »In dieser Sache nicht! Sie haben dem Fräulein Schaffner . . .«

»Huch . . . huch«, zischte Peter.

»Sie haben Ihr Ehrenwort gegeben!« Martin war entrüstet.

»Huch!« Peter schlug in die Hände. »Ein Spion sind Sie . . .? Ein Spion?« Er tanzte vor Zorn. »Schämen Sie sich! Schäm' dich, daß du so einer bist, so ein Angeber, so ein gemeiner!«

»Sie irren sich, Sie sind auf ganz falscher . . .« Martin wollte ihn unterbrechen.

Aber Peter schäumte: »Ah, das wär' ja das Neueste. Das Fräulein Schaffner läßt mich ausspionieren! Edel! Schickt mir Kundschafter nach! Eine feine Person! Na, der werd' ich meine Meinung sagen, der werd' ich's zeigen! So ein Frauenzimmer, ein miserables!«

Weiter kam er nicht. Martin hatte ihn an der Brust ergriffen, ihn ganz an sich herangerissen, ihn hochgehoben und knirschte ihm nun zornbebend ins schreckensblasse Antlitz: »Noch ein Wort über Fräulein Schaffner . . . und ich zerquetsch dich wie eine Fliege . . .«

Peter wurde ganz kleinlaut vor Entsetzen. »Bitte . . .« stammelte er. Und Martin ließ ihn sofort los. »Ich merk' schon . . .« sagte Peter leise und keuchend, »ich merk' schon, du kennst mich nicht . . . was hab' ich denn . . . über die Schaffner . . . gesagt . . . was denn?«

162 »Gemeinheiten«, entgegnete Martin, noch immer entrüstet.

»Keine Spur!« protestierte Peter. »Keine Spur!«

»Sie verdient Dankbarkeit,« sprach Martin, »und so ein Bursche . . .«

»Warum schickt sie mir einen Spion nach?« Peter geriet nochmals in Aufruhr. »Warum?«

»Ich bin kein Spion!« behauptete Martin.

»Bist du vielleicht ein Detektiv?« wollte Peter wissen.

»Ich bin kein Spion und kein Detektiv«, versicherte Martin.

»Wer's glaubt! Wer's glaubt!« schrie Peter.

»Mein Ehrenwort!« schrie nun Martin. »Genügt das?«

Peter mußte wohl so ein Gefühl haben, daß es nicht ratsam sei, an diesem Ehrenwort Zweifel zu äußern. »Merkwürdig.« Er schüttelte den Kopf. »Du paßt mir auf! Du bist also im Dienst von der Schaffner . . .«

»Fräulein Schaffner ahnt nicht, daß ich mich da eingemengt habe,« beteuerte Martin, »mein Ehrenwort!« Die Sache wurde ihm unangenehm, er fürchtete, der Kleine werde sich bei Tine beschweren. »Mich geht die Geschichte gar nichts an. Eigentlich gar nichts«, verantwortete er sich. »Ich weiß nur, was zwischen Ihnen und Fräulein Schaffner vor ein paar Tagen vorgefallen ist . . .« Er stockte.

»Na . . . und . . .?« inquirierte Peter. »Wenn du selbst zugibst, daß dich die Geschichte nichts angeht . . .?«

»Ich hab' mich geärgert«, bekannte Martin ehrlich.

163 »Warum denn?« Peter hatte die Oberhand.

»Weil das Fräulein Schaffner so zum besten gehalten wird.«

»Von mir? Von mir?« Peter war ganz erstaunt. »Von mir gewiß nicht! Ich mag sie ganz gern, die Schaffner,« versicherte er, »und wenn ich auch einmal ein Glas Bier . . .«

»Aber«, wandte Martin ein, »Sie haben ihr versprochen . . .«

»Ein Glas Bier!« replizierte Peter. »Mensch, verstehst du denn nicht? Ein einziges Glas!«

»Wer weiß, ob's dabei geblieben wär'«, meinte Martin skeptisch.

»Ein Glas Bier braucht man,« belehrte ihn Peter, »wenn man die Gurgel voll Ziegelstaub hat.«

»Also . . . entschuldigen Sie . . .«, murmelte Martin und bog schnell in eine Seitengasse.

»Verdammter Hund!« schimpfte Peter und trollte heimwärts.

 

Tine Schaffner drehte den Scheck in ihrer Hand. Sie las den Brief wieder und wieder, besah noch einmal den Scheck und wußte sich keinen Rat. Das war sehr viel Geld. So viel, daß ihr Fürsorgewerk auf lange Zeit gesichert schien. Aber . . . aber . . . Barg dieser Brief, barg diese große Spende nicht irgend eine neue Falle? Sie wurde diesen jungen Overbeck nicht los! Was 164 für ein sonderbarer Mensch war das? Bisher hatte sie sich von seinen galanten Annäherungsversuchen belästigt gefühlt und sich darüber geärgert, weil ihr Martins Gehaben zudringlich erschien, plump und von der eigensinnigen Laune eines jungen Herrn diktiert, der gewöhnt ist, jeden Wunsch sofort erfüllt zu sehen. Diese Auffassung, die freilich ein wenig oberflächlich war, bekam nun einen Stoß. Tine geriet ins Schwanken und wußte nicht, woran sie sich halten sollte.

Sie trat zu Mausberger in den Verschlag. Der vertrocknete, alte Mausberger, dieses klägliche Überbleibsel eines Menschen, verstand mehr vom Leben als viele andere. Er hatte einst im Wohlstand gesessen, war auf dem ehrgeizig beschrittenen Weg zu großem Reichtum ausgeglitten, knapp vor dem Ziel, und rettungslos gestürzt, erst in Ohnmacht, dann, gestoßen und getreten, in tiefe Armut. Seine schöne Frau verließ ihn auf der Stelle. Sie führte zunächst ein liederliches Leben voll Skandal und Sensation. Nun saß sie, seit langem schon, als die Gattin eines üppigen Viehzüchters auf irgend einer Hazienda in Brasilien oder Argentinien. Mausberger wußte nicht mehr recht, wo. Seine Tochter war bei der Frau und ihm ganz entfremdet. Er erinnerte sich nur des kleinen, sechsjährigen Mädelchens, das ihm damals zugleich mit allem Glück, mit der geliebten Frau, mit Reichtum und Ansehen entschwand. Das alles war vor dem Krieg geschehen. Mausberger wurde ärmer und ärmer, älter und älter, doch wie er von allem, was ein 165 Menschendasein wurzelhaft macht, losgelöst dahinlebte, wurde er auch klüger und klüger. Ein nachträgliches Begreifen ging ihm auf, der Treppenwitz seiner Existenz meldete sich. Und er hatte Mühe gehabt, unter diesen späten Erkenntnissen nicht in Verzweiflung zu fallen.

Tine Schaffner zeigte ihm den Scheck: »Was sagen Sie, Mausberger?«

Er las, sah über die Stahlbrille aus erloschenen Augen zu ihr auf und meinte still: »Viel Geld.« Bei sich dachte er: Verkauft sie sich für die Armen? Er wunderte sich über nichts mehr.

»Lesen Sie auch das . . .« Tine reichte ihm Martins Brief.

Mausberger durchflog ihn und gab ihn zurück. Er schwieg. »Nun?« drängte Tine.

Mausberger blätterte in seinem Hauptbuch: »Was wollen Sie wissen?«

»Ich bin mir nicht klar darüber . . .« zögerte Tine, »ob ich das annehmen darf . . .«

»Den Brief?«

»Aber . . .« sie lachte kurz und ungeduldig, »wer spricht denn vom Brief . . .?«

»Ich denke, der Brief ist die Hauptsache . . .« Mausberger flüsterte immer noch.

»Ach, der Brief,« Tine zerknitterte ihn, »der Brief geht nur mich allein an.«

Mausberger wandte ihr sein zerdrücktes, vorwurfsvolles Antlitz zu: »Sie haben mir ihn doch gezeigt.«

166 »Weil Sie doch die ganze Sache mit dem jungen Overbeck kennen,« erklärte Tine, »Sie allein. Weil ich Sie also fragen will, ob wir da nicht an einen Punkt gelangt sind, wo die Motive, aus denen eine Spende kommt, doch eine Rolle spielen . . .«

»Natürlich spielen sie eine Rolle, die Motive,« Mausberger nickte kaum merklich, »immer spielen sie eine Rolle, die Motive . . .«

»Wir nehmen das Geld also nicht?« fragte Tine.

Mausberger stand langsam auf. »Wenn Sie erlauben, Fräulein Schaffner,« krähte er mit seinem dünnen Fistelstimmchen, »gehe ich gleich hin und kassiere den Scheck ein . . .«

»Sie sagen doch selbst, Mausberger, die Motive . . .« rief Tine.

Er unterbrach sie. »Die Motive sind ganz allein Sache des Herrn Overbeck . . .«

»Und meine Sache doch auch«, fügte Tine hinzu.

»Das habe ich nicht gewußt,« krähte Mausberger, »doch die Rettungsstation geht das gar nichts an.« Er griff mit seinen armen, alten Fingern nach dem Scheck. »Wollen Sie mir ihn anvertrauen . . .?«

Tine überließ ihm den schmalen Papierstreifen. »Aber die Folgen, Mausberger, die Folgen . . . das wird doch kein Ende nehmen mit dem jungen Overbeck.«

»Die Folgen«, Mausberger faltete den Scheck umständlich zusammen und barg ihn in einer riesenhaften, vollständig leeren Brieftasche. »Die Folgen,« sprach 167 er dabei, wie zu sich selbst, »die werden die gleichen bleiben, ob wir nun das Geld annehmen oder nicht.« Er wandte sich zu Tine und schaute ihr mit seinen ausgelöschten Augen ins Gesicht. »Was den jungen Overbeck betrifft, das hat gewiß kein Ende . . . das fängt erst an! . . . Ich gehe jetzt . . .«

»Aber mir ist die Sache peinlich«, rief Tine.

»Es gibt peinlichere Dinge,« warf Mausberger hin und schlich zur Türe.

Tine hielt ihn auf. »Und . . . was denken Sie davon?« fragte sie dringend. Sie war ganz rot geworden.

Mausberger blieb eine Sekunde stehen. »Ich denke, daß diese Sache aufgehört hat, für Sie eine Beleidigung zu sein, Fräulein Schaffner.« Er ging.

Tine stürzte sich in ihre tägliche Arbeit. Doch sie war heute nervös, sie wurde allzu rasch ungeduldig. Das ruhige Gleichmaß fehlte. Sie spürte, daß ein unbekannter Wille sie umgab, sich ihr näherte, daß Martin Overbeck sich an ihre Worte geklammert hielt, daß er ihr damit irgend eine Fessel schmieden, ihr eine Verantwortung auflasten werde. Wo steckte er? Warum kam er denn nicht so offen wie bisher? Dieses Kommen Martins hatte ihr jedesmal mißfallen. Jetzt aber schien es ihr ehrlich, fast lobenswürdig, indessen sie dieses Fernbleiben beunruhigte, wie Hinterlist oder Tücke beunruhigt.

Eine Gehilfin meldete, Peter Spieß wolle sie sprechen.

Tine ging aus dem Verschlag, wo sie sich gerade 168 befand, hinaus zur Barriere. Da stand der kleine Maurer mit einem verbitterten Gesicht. Auch Tines Antlitz war nicht eben freundlich. »Was gibt's?« fragte sie kurz.

»Spione gibt's,« antwortete Peter.

»Bitte, deutlicher,« mahnte sie.

Peter brach los: »Warum schicken Sie mir Aufpasser nach, Fräulein? Das verdien' ich nicht! Das laß ich mir nicht gefallen, verstehen Sie?«

Tine fiel ihm ins Wort: »Nichts versteh' ich! Nur daß Sie so mit mir nicht reden dürfen, sonst . . .«

»Was – sonst?« Peter war wütend. »Was sonst . . . ich bin nicht Ihr Schuljunge!«

Tine wurde zornrot im Gesicht: »Machen Sie sofort, daß Sie rauskommen!« Sie öffnete die Gittertüre und stand vor dem kleinen Kerl. »Und lassen Sie sich nicht mehr blicken, weder nüchtern, noch . . . Sie wissen schon . . .«

»Haben Sie sich nicht, Fräulein,« Peter knickte doch vor dem schönen, zornigen Mädchen ein wenig zusammen, »ich weiß schon, was Sie meinen, und ich weiß schon, daß ich Ihnen Dank schuldig bin . . . aber deswegen Spione . . . das ist kein Witz, verstehen Sie?«

Tine fuhr auf: »Ich hab' Ihnen schon gesagt, daß ich nichts verstehe!«

»Aber geh'n Sie.« Peter winkte ab und sagte gekränkt, mit weinerlicher Stimme: »Ich hätt' mich nicht betrunken! O Gott, nein! Was braucht der Hund mein Bier auszuschütten und mich vor allen Leuten zu blamieren?«

169 »Wer?« Tine stampfte. »Wer denn?«

»Na,« Peter dehnte die Worte, »der Kerl, den Sie mir nachgeschickt haben . . .«

»Ich habe Ihnen niemanden nachgeschickt!« widersprach Tine energisch.

»Nicht?« Peter blinzelte sie an und lächelte spöttisch. »Nicht? Hat er das ganz von allein getan? Daß er mir gesagt hat, ich darf nicht trinken, weil ich Ihnen mein Ehrenwort gegeben habe? Schüttet mein Bier aus und blamiert mich vor allen Leuten . . . ganz von allein?«

»Wer war das?« forschte Tine dringend.

»Das frag' ich Sie,« gab Peter rasch zurück, »wer war das? Ich kenn' ihn nicht!«

Tine wurde unsicher. »Hören Sie, Peter Spieß,« sprach sie, »ich kenn' ihn auch nicht!«

»Merkwürdig,« lächelte Peter vor sich leise.

Tine ereiferte sich: »Sie müssen mir glauben! Ich weiß nichts davon! Und ich kenne den Menschen nicht. Ich würde das nicht vor Ihnen leugnen, wenn ich irgend jemandem Auftrag gegeben hätte.«

Peter war besänftigt. »Es ist gut, Fräulein. Ich glaub's. Aber merkwürdig bleibt die Sache doch!«

»Hat er Ihnen gesagt, daß er von mir kommt?«

»Nein,« Peter schüttelte den Kopf, »das hat er Stein und Bein abgestritten, wissen Sie.«

Tine wurde verwirrt.

Aber Peter bekam neue Gedanken. »Dabei hat er mich . . . na, Sie verstehen doch, Fräulein, ich hab' 170 gleich auf Sie geraten . . . da hätt' er mich fast in Stücke gerissen, so ein großer, starker Mensch, mich armen Knirps . . .«

Martin Overbeck! schoß es durch Tines Kopf. Sie schwieg betreten.

Peter faßte ihr Handgelenk: »Drum möcht' ich bitten, Fräulein Schaffner . . . wir zwei sind ja wieder gut, nicht wahr . . . wenn sich der Mensch bei Ihnen meldet, sagen Sie ihm nichts.«

Tine lächelte: »Eben haben Sie noch behauptet, ich hätte ihn geschickt . . . und jetzt soll ich ihm verschweigen . . .«

»Ich glaub's ja nicht mehr,« beteuerte Peter, » . . . und er hat mir verboten, daß ich was zu Ihnen erwähne . . .«

Martin Overbeck! durchblitzte es Tine wieder.

»Wenn der . . . und kommt mir dahinter . . . so einem Gewaltskerl ist alles zuzutrauen . . .«

»Ja,« flüsterte Tine vor sich hin, »dem ist alles zuzutrauen.«

»Adjes, Fräulein Schaffner,« empfahl sich Peter, »sind wir wieder gut?«

Tine raffte sich zusammen: »Gehen Sie nicht mehr ins Wirtshaus,« ermahnte sie Peter, »Sie sehen, es gibt nur Unannehmlichkeiten . . .«

»O Gott nein!« rief Peter. »Da trau' ich mich faktisch nimmer!« Er hatte die Türklinke in der Hand. »Wenn ein Mensch sein Selbstbestimmungsrecht 171 verloren hat,« klagte er, »kann er nirgends mehr hingehen. Seien Sie ganz ruhig, Fräulein Schaffner . . . und schicken Sie mir keinen Aufpasser mehr nach.«

Er war draußen, noch ehe Tine antworten konnte.

Gern hätte sie ihn zurückgerufen. Sie hatte zu fragen vergessen, wie der Mann gekleidet war, wie er aussah. Das wäre wichtig gewesen. Dann fiel ihr ein, Peter hätte schon von selbst ein Wort gesagt, wenn jener Fremde ein eleganter Herr gewesen wäre. Selbstverständlich, das hätte dem guten Peter doch auffallen müssen. Sie verwarf den Gedanken an Martin Overbeck wieder.

Unmöglich konnte das Martin Overbeck sein. Die Noblesse Martins war zu augenfällig. Das mußte Peter doch bemerken. Nein, sie irrte sich. Sie hatte eben viel zu sehr an diesen Martin Overbeck gedacht. Viel zu sehr! Sie dachte auch jetzt noch weiter an ihn. Seiner auffallend eleganten Erscheinung erinnerte sie sich mit einem Stolz, dessen sie sich gar nicht bewußt wurde. Dieses gepflegte, verhätschelte Wesen hatte sie doch früher abgelehnt; es war ihr eher zuwider, schien ihr frevelhaft. Dergleichen fiel ihr jetzt nicht mehr ein. Nun galt ihr gerade das Äußere Martins als ein Merkzeichen, das ihn von tausend anderen unterschied, galt ihr als Beweis, daß er mit jenem Fremden unmöglich identisch sein konnte. Dann kam ihr zu Sinn, mit welcher Verachtung Martin auf alle Menschen, ganz besonders auf die armen Leute niedersah. Ein Peter Spieß . . . was war 172 ihm der? Nichts. Nur ein Abscheu! Nie würde er sich herbeilassen, mit Peter Spieß zu sprechen, geschweige, ihn vom Trinken abzuhalten. Das war ein neuer Beweis, wie arg sie sich irrte, als sie Martin für fähig hielt . . .

Schnell trat sie in den Nebenraum, wo ihre Gehilfinnen arbeiteten. »Weiß noch jemand von euch, wer neulich da war, wie der kleine Maurer, der Spieß, den Anzug bekam?« erkundigte sie sich.

Die Mädchen überlegten, nannten verschiedene Namen.

Tine schüttelte den Kopf. »Von denen kommt niemand in Betracht.«

Sie erzählte Peters Abenteuer und meinte zuletzt: »Ist denn keiner damals dagewesen, der in die christlichen Vereine geht . . .?«

Kein einziger. Die Mädchen hätten das gewußt. Und Tine wußte gleichfalls, daß sie selbst sich dessen erinnert hätte.

»Außerdem,« wandte eine von ihnen ein, »außerdem konnte man doch draußen gar nicht hören, was das Fräulein mit dem Peter Spieß im Zahnarztzimmer gesprochen hat.«

»Einen Augenblick!« rief das andere Mädchen. »Ein fremder Herr war noch da, im Zimmer . . . mit Ihnen, Fräulein Schaffner! Ein sehr feiner Herr!«

»Damals?« Tine Schaffner errötete, weil sie verlogen gefragt hatte.

»Aber natürlich,« alle Mädchen sprachen 173 durcheinander, »ein schöner, junger Mann!« – »Goldblond!« – »Und so stolz!« – »Das ist der einzige, der's gehört haben kann!«

»Ach, es ist ja nicht wichtig,« Tine kehrte sich ab und ging hinaus. Alle ihre Gedanken hatten einen Stoß erhalten und waren wieder unsicher geworden. Die Vermutungen liefen von neuem, blind tastend, nur einer schwachen Witterung folgend, zu Martin Overbeck. Tine warf, kurz entschlossen, die ganze Grübelei von sich. »Was kümmert's mich?« sagte sie und gab sich mit verdoppeltem Eifer ihrer Arbeit hin. Aber sie wurde weder zufrieden, noch ruhig. Der Eifer war flüchtig, das fühlte sie, wenn sie sich's auch nicht gestehen wollte. Und in ihrem Innern lastete der unterdrückte Knäuel von Gedanken, die nicht zu Ende gedacht waren, nicht entwirrt werden konnten.

Mausberger kam zurück. Tine erwiderte kaum seinen Gruß und fragte ihn nichts. Aber er trat zu ihr und berichtete mit seinem kummervollen, zerknitterten Gesicht, mit dem Blick seiner erloschenen Augen, den er über die Brille hinweg auf Tine heftete, und mit seiner leise krähenden Stimme: »Das Geld ist behoben, Fräulein, ist bei unserer Bank deponiert. Alles ohne Zwischenfall erledigt . . .«

»Um so besser«, meinte Tine und ließ ihn stehen.

Als sie dann nach dem Mittagessen wieder in der Station war, saß ein großer Mensch auf der Bank außerhalb der Barriere. Er saß ganz vorgebeugt, die 174 Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf, den eine Mütze deckte, tief gesenkt.

Tine schritt durch das Türchen hinaus, näherte sich ihm und tippte ihn an die Schulter: »Wo fehlt's denn?«

Martin richtete sich langsam auf, zog die Mütze, lächelte und gab Antwort: »Mir fehlt gar nichts . . . danke.«

Tine sah ihn erstaunt an. Er hatte blonde Bartstoppeln, er war ungepflegt, aber offenbar in brillanter Laune. »Wie sehen Sie denn aus?« stammelte sie.

Martin sprach ruhig, an dieser Frage vorbei: »Ich wollte Sie nur bitten, gnädiges Fräulein, wenn man sich bei Ihnen erkundigt, Sie wissen gar nichts.«

»Ich weiß ja nichts.« Tine maß ihn immer noch verwundert.

»Auch das Wenige, das Sie wissen,« fuhr Martin ernst fort, »sagen Sie, bitte, nicht. Es könnte immerhin sein, daß mein Vater . . . den Kammerdiener . . . oder einen Detektiv . . . geben Sie keine Auskunft . . . ich bitte Sie darum.«

»Sagen Sie,« fragte Tine plötzlich, »waren Sie das vielleicht, der gestern abend den Maurer Spieß . . .?«

Martin schaute sie an. Tine vollendete unter seinem Blick ihren Satz nicht. Eine Sekunde standen sie Auge in Auge.

Dann begann Tine von neuem: »Ich bin sehr überrascht . . . sehr angenehm überrascht, daß Sie an dem armen Menschen Interesse nehmen . . .«

175 Martin senkte den Kopf: »Der Kerl ist mir schnuppe, aber total schnuppe . . . ich nehme an Ihnen Interesse, wie Sie ja wissen.«

»Lassen Sie das«, sagte Tine leise. Sie war wieder rot geworden.

»Nun, auf Wiedersehen, Fräulein.« Martin wollte zur Türe.

»Hören Sie, Herr Overbeck,« rief Tine, »machen Sie keine Dummheiten . . .« Martin blinzelte bei diesem Wort. »Kehren Sie zu Ihrem Vater zurück . . .«

»Unmöglich!« Das klang fest und entschlossen. Tine wurde immer erregter. »Warum denn unmöglich? Unmöglich ist nur das, was Sie jetzt tun! Herr Overbeck, ich bitte Sie, seien Sie vernünftig.«

»Ich glaube, ich bin es.« Martin sprach ganz ruhig.

Tine drang in ihn: »Herr Overbeck, nein, Sie sind nicht vernünftig, entschuldigen Sie, ich muß es Ihnen sagen! So wie Sie jetzt handeln, benimmt sich . . . aber ich bitte Sie . . . so was kommt doch nur in kitschigen Tendenzromanen vor!«

»Was liegt mir daran?« gab Martin zurück. »Wenn Sie wüßten, gnädiges Fräulein,« er lächelte gelassen, »wenn Sie ahnen würden, wie gleichgültig mir das ist. Meinetwegen kitschig!«

»Aber dieses Leben ist nichts für Sie,« beteuerte Tine, »und Sie sind nicht für solch ein Leben.«

»Das will ich sehen.« Martin wandte sich: »Addio!«

Tine hielt ihn nochmals auf: »Was haben Sie vor?«

176 »Meine Sache«, bemerkte er kurz abweisend.

Tine stellte sich zwischen ihn und die Türe: »Sie tun das mir zum Trotz?«

»Zum Trotz?« Martin lächelte wieder. »Warum nicht gar? Jedenfalls, wenn es Sie beruhigt, Fräulein Schaffner . . . Sie haben keine Verantwortung . . .«

Er ging und ließ sie in großer Verwirrung.

 

Schon am andern Tag fand Martin Arbeit. Im Stellennachweis hatte man ihm gesagt, eine Speditionsfirma hier draußen, nahe am Frachtenbahnhof, brauche einen Schwerarbeiter. Zum Verladen von Kisten.

Martin ging sofort hin. Er fand einen weitläufigen Hof, riesige Magazinhäuser, zwängte sich durch viele Lastenautos und Pferdefuhrwerke, durch Packer, Arbeiter, Chauffeure, über Pfützen und Bretterstege, bis er vor einen gläsernen Verschlag gelangte. Dorthin hatte man ihn gewiesen. Hinter einem Schreibtisch saß der Beamte: wohlgenährt, jovial, gesprächig. Martin reichte ihm die Karte vom Stellennachweis.

Der Beamte lehnte sich weit zurück, sog an seiner Zigarre und musterte Martin. »Hm,« meinte er, »jung! gesund! kräftig! Vielleicht geht's.«

Martin lächelte ihm zu: »Sicher wird's gehen!«

»Schon in der Spedition gearbeitet?« fragte der Beamte.

»Nein«, gestand Martin.

177 Der Beamte entschied: »Na, wollen's versuchen«, und ergriff die Feder.

Jetzt wird er nach meinen Papieren fragen, dachte Martin und bekam Angst. Doch von den Papieren war nicht die Rede. »Wie heißen Sie?«

Martin nannte seinen Namen.

Der Beamte lachte laut. »Wissen Sie, daß es einen jungen Mann gibt, der auch Martin Overbeck heißt, aber steinreich ist?«

Martin drehte die Mütze in den Händen: »Hab' davon gehört!«

Der Beamte lachte dröhnend: »So ein Pechvogel wie Sie! Trägt da einen der reichsten Namen und ist ein armer Teufel!«

»Da kann man nichts machen«, sagte Martin ergeben.

Während er schrieb, schüttelte der Beamte belustigt den Kopf: »Ein sonderbares Gefühl, Martin Overbeck in die Arbeiterliste einzutragen, wirklich komisch . . .« Dann erhob er sich, schlug Martin auf die Schulter und rief in den Hof hinaus: »Körner!«

Nach einer Weile kam ein stämmiger, breitschultriger Mann, mit großem Hindenburg-Schnurrbart, stiernackig und finsteren Blickes.

»Da haben Sie den Arbeiter, den Sie brauchen, Körner«, stellte der Beamte vor. »Er heißt Martin, das genügt . . . den andern Namen sag' ich Ihnen gar nicht, der ist zu sensationell.«

178 »Bin auch gar nicht neugierig«, murrte Herr Körner.

»Er heißt Overbeck, denken Sie nur, Körner, Martin Overbeck . . .« Der Beamte fing wieder zu lachen an.

»Bist wohl mächtig stolz darauf?« wandte sich Herr Körner an Martin.

Der schüttelte den Kopf: »Keine Spur!«

Aber Herr Körner ließ das unbeachtet. »Komm' nur gleich mit,« brummte er, »den Stolz werd'n wir dir schon austreiben, gründlich auch noch . . .«

Neugierig folgte ihm Martin.

Sie kamen an die Rampe eines offenstehenden Magazins, aus dem soeben große Kisten in ein Lastenauto verstaut wurden.

»Das ist der Martin«, stellte ihn Herr Körner kurzweg vor.

Er bekam einen scharfen Haken wie die andern, und er schlug ihn wie die andern in das Holz der Kisten, um sie vom Fleck zu bewegen. Voll Eifer machte er sich an die Arbeit, und diesen ersten Tag ging alles so ziemlich. Nur einmal hatte ihn ein Hüne von einem Burschen unsanft gestoßen und ihn angeknurrt: »Nicht so hitzig!«

Zu Mittag ging er mit den andern in die Kantine, blieb aber nicht, denn er konnte den schlechten Tabaksqualm, den Menschendunst und den Geruch billiger Speisen noch nicht ertragen. Er kaufte Wurst, Käse 179 und Brot, ging in den Hof und setzte sich. Sein Hunger war groß. Nach Feierabend war er so müde, daß er ans Essen gar nicht dachte. Nur schlafen wollte er. Und er suchte sein Quartier auf.

Martin wohnte nicht weit von der Arbeitsstelle. In einer der riesigen Kasernen des Elends, die es hier draußen gab, hatte er ein Kämmerchen bei Eheleuten gefunden, die ihm, wenn auch keineswegs sympathisch, so doch nicht unbedingt verhaßt waren. Den Mann sah er fast nie. Der arbeitete in einer Maschinenfabrik, ging abends in Versammlungen und kam spät heim. Die Frau war nett, hielt die kleine Wohnung mit fanatischem Fleiß reinlich, so daß es kein Ungeziefer gab. Die beiden Kinder, zwei Jungens von acht und zehn Jahren etwa, hatten ein lautes, ungezwungenes, aber durchaus artiges Wesen, gingen so sauber und blank einher, wie die Wohnung und die Mutter aussah. Allein das half weder ihnen noch der Mutter vor Martins Augen. Er hörte nur, durch die Türe seiner Kammer, manchmal des Abends oder am frühen Morgen, daß die beiden Knaben Kurt und Walter hießen, aber er wußte nicht, welcher von ihnen der Kurt und welcher der Walter sei. Er hatte nie darüber nachgedacht, wünschte nichts zu wissen, nichts zu hören und nichts zu sehen. Das ganze Haus war ihm zuwider, die ganze Gegend. Alle diese schlecht gekleideten, schlecht aussehenden Menschen konnte er nicht leiden. Er haßte ihre Stimmen, ihren unkultivierten 180 Dialekt, den Dunst ihrer Stuben, die Luft ihrer Straßen, Höfe, Korridore, ihre lärmende Fröhlichkeit, ihre exzessive Trauer. Sie schienen ihm unwürdig, verächtlich, zu jedem Laster und zu jedem Verbrechen hemmungslos bereit. Einzig die Overbecksche Zähigkeit ließ ihn den Aufenthalt in solcher Umgebung ertragen. Sie war nun voll ausgebrochen in Martin, diese ererbte Zähigkeit seines Blutes, sie umschloß ihn gleich der engen niederen Mauer eines langen Tunnels. Er schritt dahin, unbeirrbar, unermüdlich und irgendwo in seiner Seele des Ausgangs gewiß. So kam er Tag für Tag nach der Arbeit in seine Kammer, warf sich aufs Bett und schlief den Schlaf gesunder Müdigkeit. Jeden Morgen nahm er von der Frau Giesebrecht den Topf Kaffee mit dem Stück Brot entgegen, aß und trank in seiner Kammer, bei verschlossener Tür, wich jedem Gespräch aus und hatte nach einer Woche mit seinen Quartiergebern kaum ein anderes Wort gewechselt, als die hingemurmelten Grüße. Giesebrechts und alle anderen Leute im Haus betrachteten Martin, der sich jeder Annäherung entzog, als einen Sonderling. Die einen meinten, er müsse wohl einen geheimen Kummer haben, andere wieder neigten zur Ansicht, er sei vom bösen Gewissen bedrückt.

Indessen verstrich mehr als eine Woche mit Kistenpacken. Martin saß des Mittags nun schon in der Kantine bei den anderen. Dazu hatte er sich aus 181 mancherlei Ursachen schon am dritten oder vierten Tag entschlossen. Der Partieführer, Herr Körner, hielt seine Schar gerne um sich am Tisch versammelt und sah es offenbar mit scheelem Auge, daß Martin fernblieb. Jener Hüne, den sie einfach Max riefen und der ihm vom ersten Moment an unfreundlich begegnete, verfolgte Martin mit Stänkereien. »Der gnädige Herr ist zu nobel, der will nicht mit uns zusammensitzen«, hatte er geschrien. Dann hatte er wieder spöttisch gesagt: »Den Herrn Baron woll'n wir nicht stören. Der wartet auf eine Einladung zu einer Millionärstafel!« Martin konnte ein Gefühl leiser Beängstigung nicht los werden. Er fürchtete diesen Riesen. Die ungeheueren Fäuste, die gewaltigen Nackenmuskeln, die Max zeigte, waren Martin unheimlich. Das breite, glatte Gesicht Maxens, rotglühend, von der Sonne verbrannt, gedankenlos heiter und ebenso gedankenlos wieder rasend vor Wut, erschien ihm tierisch. Dann war Hoppler da. Ein magerer, blasser Kerl mit abgezehrtem Gesicht und tiefliegenden Augen. Er war im Betragen sanft, beinahe schüchtern. Aber er stürzte sich in die Arbeit wie in Tobsucht. Er bewältigte die schwersten, größten Lasten wie in einem leidenschaftlich erbitterten Kampf. Eines Tages trat er zu Martin. »Bist organisiert?« Martin sah ihn verständnislos an: »Nein!« Hoppler fragte: »Willst dich nicht organisieren lassen?« Und als Martin wieder verneinte, war das Gespräch zu Ende.

182 Eine Weile gab es neue, heftige Stichelreden von Max. Und als es Feierabend wurde, gesellte sich der kleine Winkelhuber zu Martin. Locker in den Gelenken, frech, unbekümmert und lustig stand er da: »Warum bist du nicht organisiert?«

»Weiß nicht«, gab Martin Bescheid und wandte sich ab.

»Halt!« Winkelhuber hielt ihn am Arm fest. »Ich frag', warum?«

Martin fuhr auf: »Geht dich nichts an!« und wollte die Hand vom Arm schütteln. Aber Winkelhuber ließ nicht los.

»Da bist im Irrtum, Brüderl,« sagte er zänkisch, »geht mich sehr viel an. Mich und alle!«

Martin stutzte: »Warum?«

Jetzt lachte der Kleine: »Weil wir mit dir nicht arbeiten, wenn du nicht organisiert bist.«

Martin wurde nachdenklich.

»Verstehst mich endlich?« triumphierte der Kleine.

Aber Martin schüttelte den Kopf: »Nein! . . . Was ist das, organisiert . . .?«

Winkelbauer stieß ihn scherzhaft in die Rippen: »Aber geh'! Verstellst du dich oder bist wirklich so blöd? Kennst du das nicht? Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Mein Lieber, das kennt doch heutzutag jedes Kind!«

»Gewiß! Natürlich!« Martin beeilte sich. »Gewiß . . . das kenn' ich . . . aber ich hab' nicht gewußt . . .«

183 »Na also!« fiel ihm Winkelhuber ins Wort. »Laß dich organisieren, Freund. Heutzutage ist der Sieg der proletarischen Sache gewiß! Oder glaubst vielleicht, nicht?«

»Ich weiß nicht,« gestand Martin, »davon verstehe ich nichts.«

»Egal,« entschied der Kleine, »wir Proletarier müssen zusammenhalten, verstehst? Sonst zertritt uns der Kapitalismus!«

»Ach was!« Martin versuchte ein Lächeln.

Aber Winkelhuber ereiferte sich: »Nix zu lachen, mein Lieber! Solidarität! Verstehst? Einigkeit ist Macht! Verstehst? Wenn du allem bist, bleibst ein Dreck! Verstehst?«

Martin verstand und sprach seine Bereitwilligkeit aus, sich organisieren zu lassen.

Darauf wurde Winkelhuber vertraulich. »Schau' mich an, Martin,« sagte er, »ich bin nicht so wie du! Ich habe bessere Tage gesehen, mein Lieber . . . ich habe Fox Foxwell geheißen . . . gelt, da staunst du? Jawohl, ich war Akrobat! Ich hab' große Erfolge gehabt! Na, damals bin ich bei die Artisten organisiert gewesen. Hätt' ich mir nicht den Fuß verstaucht, hätt' ich Karriere machen können. Jawohl, mein Lieber. Und jetzt wart' ich auf ein Engagement als dummer August!«

Martin wollte höflich sein. »Gott behüte.«

Winkelhuber lachte, zog ein komisches Gesicht und rief mit der Stimme einer schlecht geblasenen 184 Trompete: »Oah, uarum Gott behüte. Oah, Gentleman . . . Clown . . . das sein gut, das sein very well! All right! Sie könn' massig viel Geld verdienen . . . very much money!« Und ruhig fuhr er fort: »Kistenpacker bleib' ich nicht.«

Winkelhuber rief Hoppler heran. »Das ist der Vertrauensmann«, sagte er zu Martin.

Hoppler kam. Er hatte mit Max und Körner auf den Ausgang dieses Gespräches gewartet. Jetzt erteilte er mit seiner sanften, nervösen Stimme Aufschluß, nahm Martins Beitrittserklärung entgegen, gab ihm die Hand, versprach für den anderen Tag die Sache zu erledigen, sagte »Servus, Genosse«, und ging eilig fort.

»Armer Teufel,« lächelte Winkelhuber hinter ihm drein.

»Warum?« fragte Martin.

»Weißt' das auch nicht,« der Kleine zeigte sich mitleidig, »du weißt ja gar nichts! Der Hoppler ist doch ein Narr vor lauter Eifersucht! Der glaubt doch, seine Frau betrügt ihn jeden Tag . . .«

Martin lachte: »Hat er sie schon oft erwischt?«

»Aber kein einziges Mal!« Auch der Kleine lachte. »Noch nie! Nur er glaubt's! Er ist überzeugt davon! Hast' ihm schon bei der Arbeit zugeschaut? Paß einmal auf. Man meint immer, daß er einen Mord begeht.«

»Wirklich! Das stimmt!« bekräftigte Martin.

Der kleine Akrobat interessierte ihn. Er faßte auch ein entferntes Interesse an dem von Eifersucht 185 gepeitschten Hoppler. Er duldete die rauhe Art, die Körner an den Tag legte, und empfand eine dumpfe Scheu vor dem Hünen Max. Deshalb saß er nun in der Kantine mit ihnen beisammen. Er sprach fast nie ein Wort. Seine Einsilbigkeit behielt er bei. Denn er fühlte sich im Grunde meilenfern von all diesen Menschen. Sie blieben ihm fremd. Sie blieben für ihn Gesindel. Nur im Augenblick weilte er unter ihnen. Nur ein Viertel, ein Zehntel seiner Aufmerksamkeit war ihnen so ganz nebenher geöffnet. Martin hatte sich seinen Weg schon zurechtgelegt. Papiere! Die brauchte man. Jetzt diente er um Papiere. Ihm paßte es, daß er von ganz unten anfing, als Prolet. Hatte er die Parteilegitimation, dann wollte er die Chauffeurprüfung wiederholen. Einmal hatte er sie schon glänzend bestanden. Doch es mußte noch einmal geschehen. Mit dem Prüfungszeugnis wird er einen Chauffeurposten suchen. Dann, als Autolenker, kann er sich umsehen, wo er als Luftpilot unterkommt. Und dann eben weiter. Immer weiter. Er dachte nicht daran, wie lange es dauern werde, bis er sich ein menschenwürdiges Dasein errungen haben wird. Das war ihm gleich. Er dachte an nichts als an das nächste. Genau so, wie er am ersten Tag hungernd durch die Straßen gegangen war, den Blick immer nur auf die Pflastersteine zu seinen Füßen gerichtet, hatte er jetzt nichts im Auge als das allernächste. Und die Feier seiner Seele blieb der Gedanke an Tine Schaffner.

186 An Tine dachte er, als er eines Tages mit Kisten hantierte, auf denen »Vorsicht!« zu lesen war und »Nicht stürzen!« Er war achtlos, sekundenlang, und warf eine dieser Kisten zu Boden, statt sie sacht niederzusetzen. Sofort war Körner bei ihm.

»Hundskerl, miserabler!« schrie er, hochrot im Gesicht.

Martin horchte auf. Das war neu und seltsam. Noch nie hatte ihn jemand beschimpft. Außer seinem Vater hatte noch niemand je ein häßliches Wort gegen ihn gebraucht. Das war neu! »Es gilt nicht mir!« dachte er. Und: »Man muß alles erleben!« Laut sagte er: »Entschuldigen Sie, Herr Kör . . .«

Weiter kam er nicht. Ein heftiger Stoß vor die Brust warf ihn gegen die Wand und riß ihm das Wort von den Lippen.

»Du Schweinehund!« teufelte Körner. »Ich werd' dir geben, entschuldigen Sie! Du Gauner, du hergelaufener!«

In Martins Schläfen zischte das jäh aufgereizte Blut. »Diesen Mann zu Boden schlagen!« durchzuckte es ihn. Er lehnte an der Wand und hielt beide Fäuste zusammengepreßt. Einen Moment schloß er die Augen. Dann fuhr es ihm blitzartig in den Sinn: »Das gilt nicht mir!«

»So eine Kiste,« heulte Körner, »was da drin ist, das ist mehr wert, als der Lump sein ganzes Leben lang verdienen kann.«

»Das gilt nicht mir«, empfand Martin und wurde seelenruhig.

187 Körner schlug ihn auf die Schulter. »Da hast für dein ›entschuldigen Sie‹!« Er schlug nochmals zu: »Da!«

»Wie merkwürdig,« dachte Martin, kühl bis ans Herz hinan, neugierig und amüsiert, »wie merkwürdig! Ich werde geprügelt! Und ich verdien's! Und ich laß' es mir gefallen!« Er blieb regungslos und wartete.

»Steh' nicht da müssig herum«, donnerte Körner, und sachter vergrollend schloß er: »Sonst meiner Seel' kannst' noch was erleben von mir!«

Martin öffnete die Augen. Körner war schon anderweitig beschäftigt. Keiner kümmerte sich um den Vorfall. Es war, als sei gar nichts geschehen. Martin ging wieder an die Arbeit, fröhlicher als vorher.

Eine Weile darauf raunte ihm Winkelhuber zu: »Sei froh, daß du organisiert bist.«

»Warum?« fragte Martin verwundert.

»Na,« Winkelhuber tat wichtig, »sonst wärst' auf der Stell' hinausgeflogen, aber so bist' mit einer Ermahnung davongekommen.«

In der Kantine gab es aber etwa eine Woche später den heftigsten Auftritt.

Hopplers Gattin war zu Mittag erschienen, aus irgend einem Grund, den Martin nicht kannte, dem er nicht nachfragte und der ihm ebenso gleichgültig blieb, wie diese ganze Gesellschaft. Eine häßliche, kleine Person, sehr sanft, sehr verschüchtert, saß sie zwischen ihrem Mann und Max, gegenüber Martin und 188 Winkelhuber. Sie hatte schwarze, traurige Augen, die nur manchmal unwillkürlich aufflammten, und aus ihrem von Leberflecken entstellten Gesicht leuchtete der Mund mit roten Lippen und weißen Zähnen, die ein wenig fletschten. Max machte sich den Spaß, mit der Frau zu schäkern, um Hopplers Eifersucht zu erregen.

»Ach Gott, ach Gott,« flötete er, »so eine, wie du bist, wünsch' ich mir schon lang.«

»Ich bitt' Sie,« flüsterte die Frau erschrocken, »lassen Sie die Witze . . .«

»Das sind keine Witze,« fuhr Max ganz laut dazwischen, »du gefällst mir, Herzchen!«

»Lassen Sie die Witze,« bat die Frau flüsternd, »mein Mann ist so viel eifersüchtig.«

»Was? Wirklich?« Max tat hocherstaunt. »Der Hoppler ist eifersüchtig? Das wär' mir nie nicht eingefallen! Eifersüchtig? Tja, das ist bös für'n Hoppler, denn ich scher' mich nicht drum.«

Körner und Winkelhuber lachten unterdrückt.

Das spornte Max noch mehr an. »Bist du eifersüchtig, Hoppler,« rief er, »wenn ich deine Frau zur Geliebten nehm'?«

Hoppler schwieg.

Max redete weiter: »Na, siehst du, mein Herzchen, dein Mann traut sich nicht einmal, mir zu antworten. Er wird nicht mucken, wenn wir zwei miteinander . . . was? Nicht Mau wird er sagen.« Er legte seinen Arm um die Frau und zog sie an sich. Sie leistete 189 schüchtern Widerstand. Hoppler wurde noch bleicher als sonst und seine Hände bebten.

»Ich bitt' dich,« raunte Winkelhuber in Martins Ohr, »das ist eine Kreuzerkomödie . . . der Hoppler zerspringt!«

Martin hatte ganz in Gedanken versunken dagesessen und nichts bemerkt. Jetzt sah er auf. Mit einer Herrenstimme rief er befehlend über den Tisch zu Max: »Lassen Sie augenblicklich die Frau in Ruh, verstanden?«

Tiefe Stille folgte. Alle schauten perplex auf Martin. Auch an den benachbarten Tischen wurde es still. Diese Kommandostimme war plötzlich wie aus einer anderen Welt hier hereingeklungen.

Langsam erwiderte Max: »Das geht dich einen Dreck an!«

Sofort antwortete Martin: »Ich verbiete mir Ihr Du! Mit Ihnen hab' ich nicht Bruderschaft getrunken. Lassen Sie die Frau in Ruh oder machen Sie, daß Sie rauskommen!«

Wieder tiefe Stille. Alle betrachteten Martin, der kerzengerade dasaß (wie sein Vater dazusitzen pflegte, wenn er erregt war), der anscheinend ruhig gesprochen hatte und dem die Augen funkelten.

Auch Max betrachtete ihn spöttisch und offenbar erfreut darüber, weil Martin sich nun selbst ans Messer lieferte. Er spielte mit ihm: »Du hast wohl selbst Absichten auf die Kleine?«

190 »Unsinn!« Martin unterbrach ihn streng. »Die Frau ist häßlich und anständig. Machen Sie Schluß, Kerl, mit Ihren frechen Witzen, sonst fliegen Sie raus!«

Max sprang auf. »Jetzt mach' ich Schluß,« brüllte er, »aber mit dir! Du –« Er schwang sein Bierkrügel und wollte einen Hieb gegen Martin führen.

Aber auch Martin hatte sich erhoben. Vollständig gelassen. »Knock out«, dachte er.

Ein Jiu-Jitsu-Griff, und Maxens Hand sank gelähmt nieder, ein Faustschlag, Kinnhaken, und der gewaltige Max stürzte zu Boden.

Während alle eine Sekunde wie versteinert dasaßen, dann aufsprangen und sich um den am Boden Liegenden bemühten, ging Martin in den Hof.

»Jetzt könnt Ihr ihn auszählen,« dachte er, »der steht bis zwanzig noch nicht auf.«

Befreit zündete er sich eine Zigarette an.

»Den Burschen wär' ich los«, sagte er vor sich hin.

 

Herr Kesselstein sprach mit dem alten Christoph. Nach längerem Überlegen und vielem Grübeln hatte er sich zu dem Gang ins Palais Overbeck entschlossen. Diese feinen Sachen waren hier ja doch schwer zu verkaufen. Verschleudern freilich, verschleudern hätte er sie wohl können. Aber schon bei dem bloßen Gedanken blutete ihm das Herz. Zudem trieb ihn die Neugierde. Er wollte durchaus wissen, ob der junge 191 Mann, der ihm die Kleider verkauft hatte, Martin Overbeck gewesen sei. Martin Overbeck persönlich! Der reichste Erbe im Land! Und der war in Kesselsteins Trödlerbude gestanden? Der hatte mit Kesselstein verhandelt? Ein Geschäft abgeschlossen mit ihm? Darüber mußte sich Kesselstein Gewißheit verschaffen.

»Eine geheime Angelegenheit«, flüsterte er dem alten Christoph zu und deutete auf das von schwarzem Lüster verhüllte Paket, das er im Arm trug.

Christoph zögerte.

»Den gnädigen jungen Herrn betreffend«, bemerkte Kesselstein, während sein kluges, bartumflitztes Gesicht, seine lebendigen Augen hundert Fragen und Antworten brüllten.

Christoph zog ihn sofort in sein Zimmerchen.

Kesselstein öffnete das Paket, zog zuerst die Schuhe, dann den Hut, dann das Hemd hervor.

Der alte Christoph griff mit zitternden Fingern danach. »Wo haben Sie das her?« fragte er, fast ohne Atem.

»Warten der Herr Kammerdiener gütigst,« jetzt fühlte sich Kesselstein als Herr der Situation und legte seinem Temperament, legte seiner Neugier zehnfache Zügel an, »einen Augenblick wollen der Herr Kammerdiener gütigst warten. Nur Geduld. Sprechen können wir später . . . Erst einmal das . . . in Ordnung bringen . . . ich seh' doch, daß das alles hiehergehört . . . so . . . und nur noch die Hose . . .«

192 Er hatte die Kleidungsstücke der Reihe nach entfaltet, hatte sie glattgestrichen und sie, verbindlich lächelnd mit lebhaftem Augenzwinkern, Christoph übergeben, der sie behutsam aufs Bett legte.

»Ich denk',« sagte Kesselstein schmeichelnd, »ich denk', der Herr Kammerdiener ist ein großer Sachverständiger . . . das kennt man, wie einer so teuere, feine Kleider in die Hand nimmt . . . teuer waren sie, die Kleider . . .«

»Wo haben Sie das her?« Dem alten Christoph zitterte das Kinn, während er fragte. Der Anblick dieser sinnlos leeren Kleider seines geliebten jungen Herrn hatte ihn erschreckt und erschüttert. Durch die Rückkehr dieser entseelten Hüllen schien ihm eine längst gefürchtete Katastrophe nun erst bestätigt und besiegelt zu sein.

»Wo soll ich's herhaben?« fragte Kesselstein nach gewohnter Art, doch mit Würde. »Gestohlen hab' ich's nicht. Gekauft hab' ich's. In meinem eigenen Laden. Für mein eigenes teueres Geld.«

»Von wem? Aber von wem?« drängte Christoph.

»Weiß ich, von wem?« fragte Kesselstein wieder.

»Sagen Sie die Wahrheit,« drohte Christoph, »sonst hol' ich die Polizei!«

»Bitte!« Kesselstein wurde ganz langsam im Tempo und schwer beleidigt im Ton. »Bitte! Lassen der Herr Kammerdiener holen die Polizei. Ich wart' so lange. Ich hab' keine Angst. Und ich hab' Zeit . . . Sie 193 erlauben schon.« Er setzte sich ohne Umstände und drehte seinen Hut in den Händen, wie einer, der gefaßt ist, stundenlang zu warten.

»Sagen Sie mir wenigstens, wie er ausgesehen hat!« flehte Christoph. Die vergebliche Bemühung, Energie zu zeigen, hatte ihn ganz entkräftet. »Erzählen Sie doch!«

»Ich bin nicht hergekommen, Ihnen Geschichten zu erzählen.«

Kesselstein streckte die Beine weit von sich und höhnte: »Nu, wann kommt die Polizei?«

»War er jung? War er blond?« Der alte Christoph weinte beinahe.

»Wer?«

»Nun, der Mensch doch, der Ihnen . . «

»Mensch?« Kesselstein wurde wieder lebhaft. »Mensch? Das war kein Mensch! Der hat ausgesehen wie ein Prinz! Jung! Blond! Nobel!«

»Dann . . .« Der alte Christoph schwieg.

»War das der junge Overbeck?« erkundigte Kesselstein sich jetzt eindringlich. »Wirklich? Ist er das selbst gewesen? Noch in dem Arbeiteranzug hat er ausgesehen wie ein verkleideter Prinz!«

Christoph gab keine Auskunft. Aber als Kesselstein die Summe nannte, um die er Martins Garderobe angeblich gekauft hatte, zahlte Christoph ohne Feilschen, ohne Zaudern, und das war Antwort genug auf alle Fragen, die Kesselstein Christoph und sich selber vorlegte.

194 »Sind Sie ganz beruhigt, Herr Kammerdiener, es bleibt alles unter uns!« Mit diesen Beteuerungen empfahl sich Kesselstein. »Keine Seele wird von mir was erfahren! Nicht ein Wort! Wozu braucht jeder solche Familiengeschichten zu wissen? Verlassen Sie sich, Herr Kammerdiener . . . auf mir können Sie Steine klopfen.«

Aber Christoph hatte sich inzwischen schon wieder auf seine Würde besonnen und die Würde des Hauses. Er war undurchdringlich geworden und verabschiedete den Trödler ganz fest, stumm und eiskalt.

Dann aber eilte er, so schnell ihn seine wankenden Knie tragen wollten, hinüber zu Herrn Overbeck, trat ein, obwohl er nicht gerufen worden war, und gab durch Zeichen zu verstehen, daß er sprechen wolle.

Herr Overbeck blickte ihn aus hellen, kühlen Augen nicht ohne Verwunderung an und sagte leise, gleichgültig: »Nun . . .?«

Christoph berichtete das Vorgefallene in einer Bestürztheit, als sei ein großes Unglück geschehen oder doch unvermeidlich und zu befürchten. Aufregung, Angst, Beschämung über den »Skandal« des Trödelhandels, Sehnsucht nach Martin, alles war in der bebenden, fassungslosen Stimme des alten Mannes zu hören. Sogar verhaltene Tränen.

Unbeweglich hatte Herr Overbeck zugehört, den Blick gesenkt. Als Christoph schwieg, wartete er noch eine Weile, dann sah er diesen wiederum an, mit 195 denselben kühlen, hellen Augen und fragte wieder in seinem leisen, gleichgültigen Ton: »Nun?«

»Um Gottes willen, gnädiger Herr,« Christoph rang verzweifelt die Hände, »was ist aus Martin geworden . . .«

»Das weiß ich nicht.«

Christoph knickte zusammen. »Bitte, verzeihen . . . wollen mir der gnädige Herr nicht sagen . . . was Sie davon denken . . . bitte . . . bitte . . .«

Eine Pause.

Dann sagte Overbeck und seine Stimme klang wie sonst: »Wenn man diese Kleider irgendwo gefunden hätte . . . aber unter diesen Umständen, die ja . . . die ja ganz eindeutig sind, liegt, wie mir scheint, kein triftiger Grund vor, sich zu beunruhigen.«

Christoph begriff heute nicht, daß die Unterredung zu Ende sei.

Overbeck fügte nach einer Weile hinzu: »Das denke ich von der Sache . . . und ich denke, daß ich arbeiten muß.«

Der alte Christoph verbeugte sich tief und ging unsicheren Schrittes hinaus.

Lange saß Overbeck still und kerzengerade in seinem Fauteuil, starrte vor sich hin und kämpfte gegen die Erregung, die in ihm aufstieg. Er war seit dem Zwist mit Martin, war seit Martins Verschwinden so leicht erregt. Eigentlich war er seither beständig nervös, wenn er das auch verbarg, ja, wenngleich er sich's 196 selber nicht eingestehen wollte. Das Bewußtsein, bei jenem Zusammenstoß im Unrecht gewesen zu sein, bohrte in seinem Herzen. Jetzt hatte ihn das Anhören des alten Christoph, die Verzweiflung dieses Guten, die so rückhaltlos sich kundgab, aufgewühlt. Er wiederholte sich Christophs Erzählung und begriff gar nichts davon.

»Was ist denn los mit dem Jungen?« dachte er. Ihm fiel ein: »Martin muß ja noch ein bißchen Geld hier liegen haben. Warum verkauft er die Kleider?«

Overbeck telephonierte an seine Hauptkasse: »Das Konto meines Sohnes.«

Wenige Minuten später hatte er es schwarz auf weiß vor sich, daß Martin sein ganzes Guthaben der Rettungsstation Tine Schaffner geschenkt hatte. Er sah den Scheck, der Mausbergers quittierende Unterschrift trug. Er begriff erst recht nichts.

Wieder saß er lange aufrecht in seinem Fauteuil, wehrte sich gegen die Sorge um Martin, wehrte sich mit seiner ganzen Willenskraft gegen die Sehnsucht, die sich nach dem Sohn in ihm zu regen begann.

»Was soll ich tun?« überlegte er. Es war ihm hart genug, sich das fragen zu müssen. Sein ganzes Leben lang hatte er immer genau gewußt, was er tun sollte.

Detektivs aufnehmen . . .? Vielleicht half das! Er verwarf den Plan, angewidert von der Abgeschmacktheit, die er für ihn besaß. Privatdetektivs . . . 197 manchmal sind sie zuverlässig . . . manchmal gehen sie aufs Neppen los . . . und überhaupt . . . es paßte ihm nicht.

Er dachte an Lehmscheidt, den Ministerpräsidenten. Das war ein Freund. Ein Mensch, der menschlich empfand, der Erfahrung in Fülle hatte, Güte und Klugheit. Lehmscheidt würde den ganzen großen Apparat der Staatspolizei zur Verfügung stellen . . .

Overbeck schüttelte still das Haupt. Nein! Er wollte keinen Vertrauten in dieser Sache, auch den besten Freund nicht. Er hat niemals im Leben einen Vertrauten seiner Angelegenheiten gebraucht. Niemals einen geduldet. Jetzt wollte er das auch um Martins willen vermeiden. Außerdem, Privatdetektivs oder Staatspolizei . . . dem Jungen bliebe doch ein Stigma aufgedrückt. Und das wäre erneutes Unrecht.

Aber! Ein Gedanke blitzte in ihm auf. Aber! Tine Schaffner, dieses Fräulein von der Rettungsstation! Die hatte doch so viel Geld geschenkt erhalten . . . vielleicht wußte die etwas! Die durfte er befragen! Natürlich! Das war möglich. Das war zulässig.

Overbeck überlegte: wenn er sie telephonisch herbeirufen ließ, blieb ihr immer noch Zeit, sich Instruktionen von Martin für ihre Antwort zu holen. Nein! Er wird sie überraschen. Er wird selbst hinfahren. Sogleich! Seine Ungeduld beschleunigte den Entschluß.

Eine halbe Stunde später befand er sich in dem kahlen Raum der Rettungsstation und stand an der Barriere, Tine Schaffner gegenüber. Dem Haufen 198 armer Leute, Männer, Frauen, Kinder, der sich da versammelt hielt, schenkte er keine Beachtung. Diese Menschen gafften ihn alle neugierig an, wie er dünn, hoch und streng hier aufragte. Ihn schien das nicht zu stören.

Er fragte ganz geradezu: »Wissen Sie etwas von meinem Sohn?« Die Geldsache zu erwähnen, schien ihm nebensächlich. Nach den Umständen der Beziehung zu forschen, erachtete er für nutzlos. Geradeaus fragte er: »Wissen Sie etwas von meinem Sohn?«

Tine Schaffner entgegnete offen: »Ja.«

Overbeck schloß für eine Sekunde den Mund, zeigte dünne Lippen. Er blieb gelassen, ohne Erstaunen, kühl wie vorher und höflich: »Wollen Sie mir freundlichst sagen, wo er sich befindet?«

Tine zuckte ganz wenig die Achsel: »Leider . . . das darf ich nicht.«

Die beiden schauten einander in die Augen und Tine Schaffner hatte dabei das Gefühl, als ob die hellen, kalten Blicke Overbecks ihr Inneres durchsuchten. Ihr war es recht. Sie hatte von sich aus nichts zu verbergen und sie empfand Sympathie für diesen anscheinend so harten alten Mann. Sie spürte, daß er jetzt litt, daß er nur sehr ungern noch ein Wort sprach, daß er aufgeregt war und mit sich rang. Sie wollte ihm helfen.

»Herr Overbeck,« begann sie und ließ dabei ihre Augen nicht aus den seinen. »Herr Overbeck . . . ich 199 habe Ihrem Sohn mein Wort gegeben, seinen Aufenthalt nicht zu verraten. Aber ich glaube, Ihnen sagen zu dürfen, daß er vollkommen wohl ist.«

»Danke.« So leise und gleichgültig Overbeck sprach, Tine merkte an der Entspannung seiner Mienen, daß ihm ein Stein vom Herzen fiel.

Sie fügte noch hinzu: »Wenn irgend ein Zwischenfall eintreten sollte . . . ich glaube gewiß nicht daran . . . aber wenn doch was passiert, werde ich Sie gleich verständigen . . .«

»Danke . . . es . . .« Overbeck hatte sagen wollen: »Es ist nicht notwendig«, aber er besann sich, hüstelte, zog artig den Hut und empfahl sich.

Im Auto saß er ruhiger, als auf der Herfahrt. Er wußte jetzt, was ihm nötig war. Er hatte sich nichts vergeben, hatte an Martin keine Bestellung zurückgelassen, keine Bitte um Heimkehr. Martin konnte ungehindert auch weiterhin seiner Wege gehen.

Aber Herr Overbeck begriff nichts und vermochte sich diese Wege nicht vorzustellen.

 


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