Felix Salten
Martin Overbeck
Felix Salten

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81 »Was wünschen Sie, Herr Overbeck?« fragte Tine Schaffner, als ihr Martin gegenübertrat. Doch sie war in Ton und Miene nicht halb so streng, wie Martin befürchtet hatte. Das beruhigte ihn. Annähernd und beinahe erhielt er auch seine freie Sicherheit wieder, weil Tine allein war. Durch die Glastüre sah er in den Nebenraum, wo die Gehilfinnen Tines mit allerlei schrecklichen Leuten amtierten. Durch die andere Glastüre blickte er in das Zimmer, in welchem Dr. Brunner Ambulanz hielt. Beide Türen waren geschlossen. Tine blieb allein mit ihrem Besucher, doch unter den Augen der anderen, war also geschützt. Überflüssige Vorsicht, dachte Martin und hielt ein Lächeln zurück.

»Haben Sie meinen Brief nicht gelesen?« fragte er. »Darin steht, was ich wünsche.«

»Bitte. ich höre«, sagte Tine kühl.

Sie stand jenseits der Barriere. Das breite Pult trennte sie von ihm.

»Sie hatten recht, mir zu zürnen,« begann Martin, »es war unverantwortlich von mir . . . ich sehe das ein . . . ich bereue es tief . . . bitte, verzeihen Sie mir, ich bitte Sie . . .« Er war gar nicht bis ganz an die Barriere herangetreten, sondern einen kleinen Schritt davor stehen geblieben. Er sprach innig. Dann wartete er. Tine schwieg mit gesenkten Augen. Er betrachtete sie und fühlte, wie glücklich es ihn machte, sie anzuschauen. »Wollen Sie mir nicht verzeihen?« flüsterte er nach einigen Sekunden.

82 Tine hob den Blick. »Gewiß,« sagte sie leise, aber fest, »man muß alles verzeihen, auch wenn man's nicht versteht.«

»Oh,« rief Martin leise, doch mit einer ganz erfüllten Stimme, »oh, verstehen Sie nicht, daß es mich überwältigt hat? Daß ich hingerissen war von meiner Liebe zu . . .«

Tine schüttelte den Kopf: »Schweigen Sie!«

Martin aber fuhr fort: »Sie glauben mir nicht?« Seine Reden überstürzten sich: »Um Gottes willen! Nichts ist so natürlich, wie daß ich Sie auf den ersten Blick liebgewonnen habe. Ich schwöre es! Ich bitte Sie, wenn Sie mir nicht glauben, können Sie mir ja nicht verzeihen.«

Tine hatte die ganze Zeit zu seinen Worten den Kopf geschüttelt. »Nein!« sprach sie jetzt, ganz ruhig. »Lassen Sie das, Herr Overbeck.«

»Aber ich bitte Sie«, fuhr Martin dazwischen.

»Lassen Sie das«, wiederholte sie und hob ablehnend die Hand. »Es ist gleichgültig und es interessiert mich nicht.«

»Was ist Ihnen gleichgültig?« unterbrach sie Martin.

Tine sprach weiter, kalt, ruhig, bestimmt: »Sie haben gewünscht, daß ich Ihnen verzeihe. Ich verzeihe Ihnen. Die Sache ist erledigt.«

»Nein!« Es war ein unterdrückter Aufschrei, den Martin ausstieß. Er rührte sich nicht vom Fleck, aber man merkte ihm seine Erregtheit an. »Nein«, drängte

83 er. »Die Sache ist nicht erledigt. Noch lange nicht erledigt. Keine Spur von erledigt!«

Tine sah erstaunt: »Ich wüßte nicht, was jetzt noch . . .«

»Wie können Sie sagen, meine Liebe zu Ihnen ist Ihnen gleichgültig,« bestürmte er sie, »wie können Sie sagen, mein Unglück interessiert Sie nicht? Wie können Sie das sagen? Und für das Gesindel dahier haben Sie ein Herz? Für das verdammte Gesindel da?«

Tine sagte schroff: »Diese armen Leute sind kein Gesindel! Und sie brauchen mich.«

»Das bilden Sie sich ein«, brauste Martin auf. »Geben Sie ihnen Geld, mehr Geld – so viel Sie wollen – Sie können's haben . . . ich stell' es Ihnen zur Verfügung . . . und diese Lumpen da werden auf Sie verzichten.«

»Sie sind sehr . . .« Tine kam nicht weiter. Martin bat mit gefalteten Händen, in einem Gemenge von Inbrunst und Zorn: »Aber ich kann nicht auf Sie verzichten . . . ich nicht . . .«

»Sie sind sehr hochmütig, Herr Overbeck.« Tines Antlitz war verhängt. »Nichts auf der Welt gibt Ihnen das Recht, von diesen armen Leuten in solchen Ausdrücken zu sprechen.«

»Aber, meinetwegen.« Martin schien nachgeben zu wollen.

»Nichts gibt Ihnen das Recht dazu,« vollendete Tine, »als daß Sie sehr viel Geld haben und die 84 armen Leute gar keines. Ein sehr schäbiges Recht!« Das klang geringschätzig.

»Aber meinetwegen,« knirschte Martin, »meinetwegen sage ich diese Herrschaften, diese durchlauchtigsten Herrschaften! Mir ist das Pack doch so gleichgültig.«

»Mir sind die armen Leute nicht gleichgültig«, beharrte Tine.

»So?« Er fuhr los. »So? Und warum nicht? Sie verbohren sich da in einen Opfermut, der lächerlich ist, in einen Irrtum, aus dem man Sie erretten muß . . .«

»Mein Opfermut mag Ihnen lächerlich vorkommen,« entgegnete Tine mit dünnen Lippen, »Sie verstehen nichts davon!«

»Also erklären Sie's mir, wenn Sie können?« drängte er. »Was haben Sie an diesem Bettelvolk, was ist denn an diesen Schmarotzern? Erklären Sie's mir doch, wenn Sie können?«

Tine lächelte, ganz wenig und unverhüllt verächtlich: »Erklären könnt ich's schon . . . nur Sie . . . Sie würden ja doch kein Wort begreifen.«

»Wirklich nicht?« höhnte er. »Bin ich so dumm?«

»Sie haben den Verstand des reichen Mannes . . .« Tine zuckte die Achsel. »Der Reiche wird den Armen nie verstehen!«

»Und der Arme niemals den Reichen!« gab er sofort zurück.

»Mag sein,« antwortete Tine, »aber er hat auch 85 zu viel Sorgen, um das zu können. Und es ist auch lange nicht so wichtig!«

»Nein?« Seine Augen funkelten. »In der Revolution haben wir doch erlebt, daß es wichtig wäre.«

»Ach!« Tine lachte. »Haben Sie aus der Revolution Ihre Antipathie? Nun, Herr Overbeck, wenn die reichen Leute Verständnis für die Armen hätten, die Hohen für die Niedrigen, dann wurde es nie zu einer Revolution kommen!«

»Ja so!« rief Martin. »Sie treiben hier kommunistische Agitation?« Ihm wurde kalt. »Sie sind ein Kind des Volkes? Das hätt' ich nie gedacht!«

»Mein Vater war General«, sagte Tine ruhig. »Von Politik weiß ich nichts und mag nichts davon wissen.«

»Gut.« Er atmete erleichtert auf. »Lassen wir diese Dinge. Sprechen wir von uns beiden. Ich bitte Sie. Was geht uns das Volk an?«

»Sprechen wir lieber gar nicht weiter«, unterbrach ihn Tine. »Es hat keinen Zweck, wir sind einander zu fern . . .«

»Um Gottes willen, wieso denn fern? Warum denn fern?« Er bekam Angst. »Was erbitte ich denn von Ihnen? Was denn? Daß Sie mich kennen lernen . . .«

»Ich bin nicht neugierig – ich habe genug . . .« Sie schlug ihn mit diesem harten Zwischenruf. Er spürte es schmerzlicher noch als gestern. Es traf ihn, daß er zuckte. »Das ist nicht wahr!« rief er. »Warum wollen Sie mir wehtun? Ich bin ganz in Ihre Hand gegeben. 86 Ich bin Ihnen nicht fremd und nicht fern. Warum wollen Sie mich nicht kennen lernen? Warum wollen Sie sich nicht überzeugen, wie rasend ich Sie liebe? Ich bin doch dessen nicht unwürdig, daß Sie sich ein wenig mit mir befassen. So viel bin ich doch auch wert, wie einer von diesen Schubjaks dahier . . .«

Tine hob wieder die Hand. »Zweifelhaft, Herr Overbeck.«

Er starrte sie perplex an: »Was? Daß ich so viel wert bin, wie einer Ihrer Schubjaks dahier?«

»Sie beschimpfen die armen Teufel,« lächelte Tine, »aber es bleibt dennoch zweifelhaft, ob Sie so viel wert sind, wie einer von ihnen . . .«

»Na, da hört sich alles auf!« Er wollte lachen und konnte es nicht.

»Von diesen armen Teufeln«, redete Tine gelassen weiter, »hat jeder mit allen seinen Kräften um das bißchen Lebensunterhalt gerungen – fast jeder ist in diesem furchtbaren Kampf verwundet worden . . .«

»Oder besoffen . . .«

Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder: »Auch das nenne ich verwundet sein oder verunglücken. Sie sehen, daß Sie nichts davon wissen. Sie sind der Sohn eines reichen Mannes, Sie haben sich nie, in Ihrem ganzen Leben, um etwas geplagt oder gesorgt . . .«

»Mein Reichtum,« sagte er und trat einen Schritt näher, »sagen Sie ein Wort und ich schmeiß meinen ganzen Reichtum weg!«

87 Tine maß ihn mit Blicken des Spottes. »Wie heroisch!«

»Sie glauben mir nicht?«

»Was würden Sie denn anfangen, wenn Sie nicht reich wären?«

Martin sprühte von Energie: »Ich? Ich würde mir schon mein Geld verdienen! Ich schon!«

»Aber Herr Overbeck,« Tine lachte fröhlich, »nicht ein trockenes Stückchen Brot könnten Sie erwerben, nicht eine Brotrinde . . . Sie sind's nicht imstande.«

»Das käme auf die Probe an.« Martin redete eifrig, wie ein kleiner Junge. »Mein Urgroßvater ist blutarm gewesen und hat das Werk gegründet. Was er gekonnt hat, bring' ich auch fertig.«

»Sie täuschen sich! Niemals werden Sie ein Zehntausendstel von dem zustande bringen, was Ihr Urgroßvater vermocht hat. Niemals wird Ihnen das Anfangen gelingen, wissen Sie, der Anfang, der so schwer ist: Weil Sie eben der Urenkel sind.«

»Ich liebe Sie!« Martin dachte nichts anderes, fühlte nichts anderes. Und er sprach es aus.

Tine blieb ganz ruhig. »Da springen Sie, Herr Overbeck, über alles, was uns trennt, hinweg, da kommen Sie immer auf Ihren Wunsch zurück . . . immer auf das eine . . .«

»Weil es mich ganz erfüllt, weil es mein Leben ist . . .«

»Gehen Sie . . . gehen Sie . . . es ist das Spielzeug, das Sie sich wünschen . . .«

88 »Nein!«

»Doch! Das neueste Spielzeug . . . weiter nichts . . . glauben Sie mir . . .«

»Ich schwöre . . .«

»Schwören Sie nicht! Sie sind überzeugt davon, daß Sie alles kaufen können. Ja, doch!« Sie wurde erregter. »Auf dieser Überzeugung beruht Ihr ganzes Dasein. Mit Ihrem Mammon haben Sie sich dahier eingeschlichen. Ich bin dagegen wehrlos gewesen, denn ich darf Spenden für meine Armen nicht ablehnen, woher immer sie kommen mögen und aus welchen Motiven immer sie geboten werden . . .«

»Sie tun mir unrecht«, murmelte Martin.

»Leugnen Sie,« fuhr ihn Tine an, »daß Sie das Geld nur gebracht haben, um sich mir zu nähern?«

»Gewiß nicht«, bekräftigte er ganz naiv. »Einzig aus diesem Grund! Die Bagage, die schmutzige, geht mich nichts an.«

»Ich danke«, schnaubte Tine. »Wir sind fertig miteinander!«

»Schicken Sie mich nicht fort«, bat er flehentlich.

»Jawohl! Ich schicke Sie fort«, beharrte sie. »Weil Sie gestern mit Ihrer Attacke, mit Ihrem dreisten Angriff keinen Erfolg hatten, kommen Sie heute her und spielen mir . . . nun gut, meinetwegen, spielen auch sich selber eine Komödie des Unglücks vor. Sie merken gar nicht, wie Sie mich aufs neue beleidigen. Gehen Sie, Herr Overbeck, gehen Sie augenblicklich!«

89 Etwas Merkwürdiges geschah. Martins Augen füllten sich mit Tränen. »Ich . . . kann . . . nicht . . .« brachte er mühsam hervor.

Tine war außer sich vor Entrüstung. »Das ist der Eigensinn des Verwöhnten!« rief sie. »Wenn Sie nicht gehen . . . gehe ich! Und daß ich Sie nicht mehr hier finde!«

Rasch lief sie in die Kammer von gestern, schlug die Tür hinter sich zu, und während sie darin nervös auf und ab ging, murmelte sie vor sich hin: »Lebemannslaunen! Das fehlte noch!«

Martin blieb verblüfft zurück. Er beherrschte sich, bewahrte Haltung, trotzdem ratlose Desperation sein ganzes Wesen zerstörte. Durch die beiden Glastüren wurde er neugierig beobachtet. Das merkte er und entfernte sich mit mühsam gespielter Gleichgültigkeit.

 

Man hatte bei Pollheims auf der Terrasse gespeist. Ein kleiner, sehr einfacher, aber kostbar gedeckter Tisch. Und der Blick auf die weite Rasenfläche des Gartens, auf die mächtigen, uralten Bäume war besondere Erquickung. Daß der Ministerpräsident, Herr von Lehmscheidt, mit dabei saß, sollte dem Beisammensein nichts Festliches geben. Er gehörte seit vielen Jahren zu den Intimen des Hauses, war auch mit dem Vater Overbeck befreundet, und die Gegenwart dieses lebhaften, jugendlichen Mannes mit dem schneeweißen, dichten Haar 90 hielt die Unterhaltung im Gange und brachte eine freundliche neutrale Atmosphäre zustande. Man war ganz unter sich. Der behäbige Herr Pollheim, der als ein leidenschaftlicher Genießer während der Mahlzeiten, wenn ihm Essen und Trinken schmeckte, so leicht zu lautem Lachen, wie zur Sentimentalität Bereitschaft zeigte. Seine Gattin, die ganz mager und groß war, verblüht und ziemlich reizlos, trug beständig eine Miene, als sei sie eben im Begriffe, eine schwere Kränkung zu verwinden und zu verzeihen. Martin saß neben der »Kleinen«, wie er sie nannte.

Aber diese Kleine war ein großes, prächtiges Mädchen, rassig und munter. Hatte sie mit der Neigung zur Fülle auch die genießerische Heiterkeit und den naiven Egoismus von ihrem Vater, durch eifrigen Sport verhinderte sie, daß sie allzu rund wurde. Sie sah biegsam, frisch und angenehm sinnlich aus. Daß sie nun nervös war, fiel nicht weiter auf. Auch Martin schien ja nicht frei von Erregtheit. Alle begriffen diesen Zustand. Das Gespräch stockte keinen Augenblick. Nur der Vater Overbeck blieb so schweigsam wie stets. Doch heute verrieten ihn seine Augen, die immer wieder auf dem Sohn und auf Marta hafteten, aber gleich Herrn Pollheim suchten und zu sagen schienen: Ein schönes Paar! Dann antwortete der alte Pollheim mit einem Blick, der dasselbe ausdrückte. Sogar der Ministerpräsident hatte die Eltern schon einige Male angeschaut, als ob er sagen wollte: Ein schönes Paar.

91 Frau Pollheim hob endlich die Tafel auf. In ihrer gekränkten, verzeihenden, unverbindlichen Art, die keinen Eindruck mehr übte. Pollheim schlug lächelnd ein kleines Bridge vor. Es wurde bereitwillig angenommen.

»Nur ein Stündchen,« sagte Overbeck, »ich habe noch Arbeit und muß zeitig zu Bett.«

Herr von Lehmscheidt nahm ihn unterm Arm: »Gönnen Sie sich doch eine Pause . . .«

»Das kann ich nicht«, antwortete Overbeck.

»Na aber . . .« Der Ministerpräsident sprach gewinnend herzlich, wie immer: »Na, einmal wird doch eine Ausnahme erlaubt sein«

»Ausnahmen sind niemals erlaubt«, sagte Overbeck in leisem, gleichgültigem Ton.

Die Alten gingen ins Haus. Martin war mit dem jungen Mädchen allein. Still standen sie nebeneinander an der steinernen Ballustrade, rauchten Zigaretten und schauten nachdenklich in den verdämmernden Abend.

Als die Diener sich beim Tisch zu schaffen machten, schlug Martin vor: »Wollen wir in den Garten . . .?«

Marta lief gleich die Treppe hinunter.

Langsam schritten sie nebeneinander dahin. An den Hecken blühte der Jasmin und zeichnete unzählige weiße Sterne in das Grün. Hoch standen die Irislilien in den Beeten. Schwer, voll erschlossen. Rosen neigten sich von den alten Stöcken und ein starker Duft hauchte sanft durch den Garten.

Wenn sie jetzt da wäre . . . sie! . . . dachte Martin.

92 Alle seine Gedanken weilten unaufhörlich bei ihr. Er beschäftigte sich unaufhörlich mit ihr, hatte auch bei Tisch beständig nur an Tine gedacht und fuhr fort, einen verwegenen, einen abenteuerlichen Plan, sich ihr wieder zu nähern, ausführlich zu entwerfen, um ihn alsbald wieder fallen zu lassen. Oder er stellte sich zufällige Begegnungen mit Tine vor. Begegnungen, die alle herrlich waren, friedvoll, beglückend, und die alle zu einer seligen Vereinigung mit Tine führten. Seit er heute vormittag dort draußen fortgegangen war, fortgehen hatte müssen, lag ihm nichts anderes im Sinn. Daher rührte seine Zerstreutheit und seine Nervosität. Die Sache mit Marta war ihm nebensächlich. Er würde tun, was ihm sein Vater befohlen hatte. Nicht gerne, aber in Gottesnamen.

Neben ihm schnellte ein Zweig in die Höhe. Marta hatte ihn, vorübergehend, gehascht, hatte ihn niedergebogen, einen Schritt lang festgehalten und dann wieder losgelassen.

Martin schleuderte seine Zigarette ins Gras. »Ich muß mit Ihnen reden, Marta.«

Sie schien darauf gewartet zu haben, daß er beginne, und antwortete sogleich. Ihre Stimme war von großer Erregung durchzittert, aber sie sprach mit Energie und sehr rasch: »Ich weiß, was Sie mir zu sagen haben, Martin! Glauben Sie nur ja nicht, daß ich jetzt überrascht und verwirrt sein werde. So eine Komödie liegt mir nicht . . .«

93 »Ich verlange sie auch nicht«, warf Martin, ein wenig spöttisch, dazwischen.

»Nicht?« fragte Marta. »Das hab' ich mir ungefähr gedacht. Es ist nicht Ihr Stil, Martin . . . allerdings . . . ich weiß ja nicht, was Ihr persönlicher Stil ist, so vertraut stehen wir gar nicht zueinander, obwohl wir uns von klein auf kennen. Aber diese Komödien sind heutzutage überhaupt wenig beliebt. Vielleicht werden sie später wieder einmal zum Stil gehören . . .«

»Der Stil bleibt doch jetzt Nebensache«, verwies er sie behutsam.

»Also gut«, rief Marta, die ihre Erregung weniger und weniger verbarg. »Also gut. Lassen wir den Stil beiseite und die Komödie auch. Seien wir ganz offen, ganz aufrichtig . . .«

»Hören Sie doch«, wollte Martin wieder beginnen. Es wurde ihm schwer.

»Nein!« stieß Marta hervor. »Schweigen Sie!« Er verstummte gern.

Ein bißchen ruhiger setzte sie fort: »Ich habe keine Ahnung, ob Sie mir das, was Sie jetzt zu sagen haben, aus eigenem Antrieb sagen. Mein Vater hat mir zwar erzählt, daß . . . nun also . . . von Ihrer Neigung . . . von Ihrer Sehnsucht . . . von Ihrem Entschluß . . . aber Väter lügen ja fast immer.« Sie atmete heftig.

»Hm«, ließ sich Martin vernehmen. Ihm war sehr bange. Was kommt jetzt? dachte er.

94 »Jedenfalls,« klang es neben ihm, »jedenfalls ist mir so, als ob Ihnen das Herz nicht brechen würde, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich einen andern liebe.«

»Hach!« Er war befreit. Er war vollkommen befreit. »Hach . . . was?« Er blieb stehen. »Marta! Wahrhaftig . . .?^

Sie stampfte mit dem Fuß. »Muß ich's wiederholen? Schlimm genug, daß ich gezwungen werde . . .«

Martin meinte, unterdrückte Tränen in ihrer Stimme zu hören. Rasch ergriff er ihre Hand. »Aber Marta,« rief er, »liebe, gute, alte Marta! Gezwungen . . . ich denke doch nicht daran, Sie zu irgendwas zu zwingen, Marta! Ich beglückwünsche Sie – wirklich . . . aufrichtig . . . das ist wunderschön! Wunderschön!«

Beinahe hätte er sie umarmt und geküßt.

»Was fangen wir nun an . . .?« flüsterte sie leise. Jetzt war sie wieder ein kleines Mädchen.

»Nichts fangen wir«, lachte Martin. »Natürlich nichts! Wir werden unter diesen Umständen doch nicht . . .«

»Ach, Martin.« Sie ging weiter. »Wie unbeholfen Sie doch sind!«

Er erschrak. »Warum? Was sollen wir . . .?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind dumm, Martin. Wir . . . wir sollen natürlich nichts. Die Frage ist, was soll ich anfangen? Ich?«

»Sie?« Martin wurde überlegen. »Sie sollen zu Ihren Eltern genau so aufrichtig sein, wie zu mir!«

95 »Ich sagte Ihnen ja, daß Sie dumm sind.« Marta sprach bekümmert. »Glauben Sie wirklich, daß ich meinen Eltern etwas verschwiegen habe? Alles wissen sie!«

»Und ihre Antwort?« forschte Martin.

»Daß man Ihnen alles haarklein erklären muß! Merken Sie denn nicht aus unserem Beisammensein, an dem heutigen Diner mit Ihnen und Ihrem Vater . . . ist das so schwer zu erraten, was meine Eltern geantwortet haben . . .?«

»Aber,« Martin wollte ihr Mut einflößen, »aber, wenn sie nun erfahren, daß es mit uns Zweien nichts ist, werden sie einwilligen?«

Sie schüttelte wieder den Kopf. »Niemals!«

»Wer ist es?« forschte Martin.

Sie redete weiter! »Ach, wenn er noch reich wäre! Er war einmal sehr reich . . . aber jetzt hat er gar nichts!«

»Darf ich wissen, wer es ist?« Martin forschte schonend.

»Er hat gestern mit mir Tennis gespielt,« gab Marta Bescheid, »im Parkklub, als Sie kamen.«

»Bernholmen?« rief Martin.

Marta sagte leise»Ja!«

Martin erinnerte sich daran, was gestern zwischen ihm und dem Grafen vorgefallen war. Ein häßlicher Gedanke tauchte in ihm auf und störte ihn. »Sagen Sie, Marta,« begann er, »hat Bernholmen gestern das gewußt . . .?«

96 »Was?«

»Nun, das von uns beiden . . . heute . . . das?«

»Natürlich hat er's gewußt . . .«

Martin zuckte.

Sie sprach weiter: »Ach Gott . . . er war gerade so unglücklich wie ich.«

»Marta,« ganz ergriffen blieb Martin stehen, »wir wollen zusammenhalten, wir beide, ja?« Er streckte ihr nochmals die Hand entgegen.

»Danke, Martin,« sie schlug ein. »Ich habe ja sonst niemanden, mit dem ich sprechen kann.«

»Auf beste Freundschaft«, flüsterte er ruhig.

Und Marta führte sogleich mit frischer Entschiedenheit aus: »Sie können mir ab und zu ein bißchen helfen.«

»Das will ich!« gelobte er.

»Und . . .« sie bat, »auch ihm können Sie behilflich sein. Nicht wahr?«

»Gewiß!« versprach er.

Hand in Hand kehrten sie auf die Terrasse zurück. Man hätte sie für Verlobte halten können. Durch das Fenster sahen sie, daß die Eltern und Lehmscheidt beim Kartenspiel saßen. Der alte Overbeck war schon fort. Martin empfahl sich nur von Marta und ging heimlich weg.

Zu Hause warf er sich sogleich ins Bett. Er war erschöpft. Bis zum äußersten.

Ach, Tine, Tine, Tine, dachte er. Und: Es geht anderen auch nicht nach Wunsch.

97 Dann fiel er sofort in einen tiefen Schlaf.

Den nächsten Morgen spielte Martin lange mit seinem Schäferhund Kicks. Er ließ ihn alle Kunststücke aufführen, die der Dresseur dem Hund beigebracht hatte.

Kicks war voll stürmischem Eifer und war glückselig. Dabei verging er schier vor Zärtlichkeit.

Martin befahl dem Hund, einen Schuh zu bewachen. Kicks lag auf dem Boden, die Vorderpfoten schlank gestreckt, den Schuh dazwischen, das Haupt zurückgeworfen, die Ohren hochgespitzt. Mit seinen braunen, sprechenden Augen verfolgte er aufmerksam jede Bewegung Martins. Der entfernte sich drei Zimmer weit. Der Hund blieb liegen. Martin warf sich in einen Fauteuil und grübelte: Wie fange ich es an, daß ich sie heute sehe? Dazwischen fiel ihm ein: Dem Vater muß ich auch noch Bescheid sagen. Ein leises Unbehagen griff nach ihm. Na, ich danke . . . das wird nett sein . . . der Alte wird sich nicht schlecht ärgern. Er verschluckte den Gedanken. Tine war die Hauptsache. Tine war das Wichtigste. Tine war Lebensnotwendigkeit.

Zunächst einmal mit dem Vater sprechen! beschloß er und sprang auf. Vor allem dem Vater über Marta Pollheim Bescheid sagen!

Ihm war, als könnte er nicht eher über Tine einen Plan fassen. Diese mißglückte Heiratsgeschichte mußte verschwinden, der kleine Konflikt mit dem Vater erledigt sein. Dann würde er sich dieser Sache widmen, Tine 98 Schaffner! Daß er so ganz ratlos war, bekümmerte ihn nur wenig. Er schob es auf die Unterredung mit dem Vater, die bevorstand. Diese Unterredung sperrte ihm Weg und Aussicht. Zwei Dinge konnte er nicht zugleich im Kopf tragen. Im dritten Zimmer saß Kicks voll angespannter, geduldiger Aufmerksamkeit. Martin sah das stolze Haupt, die hochgespitzten Ohren. Die großen, braunen Augen des Hundes riefen: Wann kommst du zu mir? Wann darf ich zu dir, mein Gebieter? Martin betrachtete den Hund. Er schaute in seine Augen, die unaufhörlich sprachen: Du weißt, ich erfülle deine Befehle . . . ich liege ruhig hier . . . ich warte, so lang du willst. Aber ich sehne mich nach dir . . . Wann? Wann kommst du? Glückliches Tier, dachte Martin. Keine höhere Freude kennt dieser Hund, als wenn sein Herr bei ihm ist, keinen größeren Schmerz, als wenn er allein gelassen wird. Glücklicher Kicks! Und alles tut er so ganz! So ohne Rückhalt, so herrlich vollständig! Wie einfach ist solch ein Dasein, dachte er und stand Aug' in Aug' mit dem Hund, wie wunderbar einfach, wie unschuldig, wie klar!

»Na, Kicks«, sagte er leise. Der Hund zuckte, drehte das Haupt schief und lauschte entzückt. Martin flüsterte: »Komm'!« und wie geschleudert fuhr das Tier empor und sprang schnell heran. Diese Sprünge, dieses Wedeln, dieses liebevolle Hundeantlitz . . . das war ein einziges, stummes Jauchzen. Martin streichelte den Rücken, die Flanken, klopfte Kicks auf die Brust, flüsterte: »Sitz'!« 99 Und der Hund klappte in die Hinterbeine. Martin kauerte nieder, nahm die lange, edel schwarz geflammte Schnauze in beide Hände und sagte: »Genug gespielt, mein Lieber! Genug! Jetzt muß ich zum Vater hinüber, ja, mein Guter, ich hab's schwer . . . geh' jetzt schön auf deinen Platz . . . ich komme später wieder!« Kicks glitt langsam aus Martins Hand, schritt langsam zu dem flachen, gepolsterten Korb, drehte sich noch einmal zärtlichen Blickes um, dann legte er sich nieder und seufzte dabei tief.

Martin lief die braune Holztreppe hinunter und trat durch die kleine Tür in seines Vaters Zimmer. Overbeck war allein.

»Morgen«, grüßte Martin.

Overbeck nickte bloß.

»Verzeihung«, sagte Martin, der an den Schreibtisch getreten war. Er drückte einen der Knöpfe. Sofort erschien der Diener.

»Jetzt niemanden vorlassen«, befahl Martin. Der Diener verschwand.

Während sich Martin dem Vater gegenübersetzte, dachte er: »Ich will ihm anbieten, er soll mich in die Firma nehmen. Er soll mir welchen Platz immer geben, ich will arbeiten, richtig arbeiten. Er soll mit mir zufrieden sein . . . und . . . auch sie . . . auch sie wird nicht mehr sagen können . . .«

Eine Garbe guter Vorsätze schoß in ihm auf.

Overbeck fragte in seiner leisen, bagatellisierenden Art: »Du gehst also jetzt zu Pollheim?«

100 »Was?« Overbeck wiederholte nicht. Er warf Martin nur einen kurzen Blick zu. »Ach so,« zögerte Martin, »zu Pollheim? Nein. Jetzt nicht. Gewiß nicht.«

»Er dürfte dich aber erwarten,« meinte Overbeck, »nach gestern.«

»Du bist gestern so früh nach Hause«, lenkte Martin ab.

Overbeck machte ein unzufriedenes Gesicht: »Das ist belanglos. Wann gehst du zu Pollheim?«

Jetzt muß es heraus, dachte Martin. »Ich gehe gar nicht hin,« stammelte er undeutlich, »überhaupt nicht.«

»Wie, bitte?«

Der scharfe Ton peitschte Martins Energie wach.

»Ich sage,« wiederholte er fest, »daß ich bei Pollheims nichts zu suchen habe.«

»Verrückt geworden?« In Overbecks Stimme regte sich Groll.

Martin saß steif. Bockig, wie immer, wenn sein Vater zornig wurde, gab er Antwort: »Ich war im Leben noch nie so bei Vernunft wie jetzt.«

Overbeck fing nervös mit einem langen, dünnen Papiermesser aus Elfenbein zu spielen an. »Unverständlich«, stieß er hervor.

Voll Trotz erwiderte nun Martin: »Ich glaube, ich bin deutlich genug.«

Das beinweiße Papiermesser tanzte: »Es war doch abgemacht.«

Martin wollte widersprechen, doch es fiel ihm ein, 101 daß der Vater recht hatte. Es war abgemacht gewesen. Er zuckte die Achsel.

Overbecks Augen funkelten. Das schmale, lange Elfenbein vibrierte zwischen seinen Fingern. »Darf ich erfahren, was sich zugetragen hat?« Er beherrschte sich nun wieder und schien eiskalt. Doch Martin kannte diese starre Ruhe, die der Vater vor dem Losbrechen annahm. Er wollte ihn beschwichtigen und war ungeschickt. »Was soll sich denn zugetragen haben?« stotterte er. »Nichts . . . Gott, es kam eben so . . .«

»Du hattest doch Gelegenheit, mit Marta . . .« Das klang ungeduldig.

»Gewiß, ich hatte . . .« fiel ihm Martin ins Wort, »wir hatten Gelegenheit . . .«

»Also, also!« drängte Overbeck, »muß ich dir jeden Satz aus dem Schlund ziehen?«

Martin war gelähmt. Der Vater verhörte ihn, als sei er noch ein kleiner Junge. »Wir haben uns ausgesprochen.«

»Nun?« Es pfiff wie ein Peitschenhieb.

Vorwärts! entschloß sich Martin. »Ich habe ihr gesagt . . .« berichtete er freimütig, hielt aber den Blick zu Boden gesenkt, »ich habe ihr gesagt, daß ich sie nicht liebe und nie lieben kann . . .« Er schwieg und wartete. Es blieb still. So fuhr er fort: »Sie war mir für meinen Bescheid sehr dankbar.« Er schwieg wieder. Und wieder blieb es still. Martins Blick haftete an einer Teppichblume, während er sagte: »Wir sind 102 als die besten Freunde geschieden.« Nochmals schwieg er und betrachtete die große, zierlich in den Teppich gewebte Blume. Dann hob er nach einigen Sekunden die Augen und sah den Vater an: »Ein gutes, reizendes Mädel, die Marta«, sagte er treuherzig.

Overbeck schwieg immer noch. Nur seine Hände drehten das lange, schmale Elfenbein, als hätten sie damit eine wichtige Arbeit zu verrichten. Jetzt war er es, der den Blick gesenkt hielt. Eine unnatürliche Blässe deckte seine mageren, gefurchten Wangen. Ganz langsam wurde er dunkelrot. Endlich preßte er zwischen dünnen Lippen hervor: »Unverschämt!« Nicht laut, aber angefüllt mit Erbitterung. »Un–verschämt!«

Martin fuhr getroffen zusammen: »Vater!«

Doch Overbeck kehrte sich nicht daran und sprach in der gleichen Art weiter, als rede er zu sich selbst und sei allein: »Die beste Hoffnung zerstört, die einzige . . . eine wertvolle, alte Freundschaft auseinandergebracht . . . mich selbst gefoppt und bloßgestellt . . .«

Martin versuchte ihn zu beschwichtigen: »Aber das ist ja gar nicht so . . . das . . .«

Overbeck hörte ihn nicht: »Das alles mutwillig . . . hinterlistig . . . bübisch!«

Martin zuckte zusammen. Es wurde arg, er fühlte es, ärger vielleicht, als er gefürchtet hatte. »Nein!« beteuerte er. »So darfst du die Sache nicht auffassen!«

»Darf nicht . . . ich darf nicht«, Overbeck nahm dieses Wort in den gezügelten Rhythmus seiner Rede 103 auf, hinter dem jedoch schon zornige Entrüstung tobte. »Darf nicht . . . und das setzt sich her und das sagt mir geradeaus ins Gesicht . . . ein reizendes Mädel, die Marta . . . wie um mich zu verhöhnen . . .«

»Ich gebe dir mein Ehrenwort, Vater . . .«

Ein kurzes Auflachen unterbrach ihn: »Ehrenwort? Wieso? Woher? Seit wann hast du Ehre im Leib? Du?« Dabei trafen ihn die Blicke aus den hellen Augen Overbecks wie zwei Dolche.

Martin sprang auf: »Das . . . das . . . verbitte ich mir!« stieß er heftig hervor.

Overbeck blieb ruhig sitzen und hatte die Augen stählern auf den Sohn gerichtet. »Maul halten!« sagte er laut. Und Martin verstummte bei diesem groben Befehl. Er fühlte, wie sein Blut zu fiebern begann. Ausharren! dachte er, nur ausharren, bis der Anfall vorüber ist. Der Vater wollte ihn verletzen, wollte ihn demütigen, das merkte er. Und gebot sich: nur ruhig bleiben. »Du hast zu schweigen, Bursche«, fuhr Overbeck gesteigert fort: »Ich bin nicht neugierig auf das, was du sagst, . . . absolut nicht mehr neugierig . . . Jedes Wort von dir ist unerhörte Frechheit.«

»Nicht schimpfen!« bat Martin.

Overbeck redete daran vorbei: ». . . und kindischer Blödsinn obendrein! Was bist du denn, wenn ich meine Hand von dir abziehe? Du Müßiggänger . . . Nichts bist du! Weniger als mein letzter Laufbursch . . . und du erlaubst dir . . .«

104 Martin überkam das Gefühl, als habe er, dem Sinne nach, ähnliches schon zu hören gekriegt, anderswo. Ihm wurde schwach.

». . . und du erlaubst dir, bei einer Marta Pollheim den großen Herrn zu spielen? Du bist unverschämt genug und treibst deinen Spott mit mir? Du Tagedieb!«

»Nicht schimpfen, Vater!« bat Martin.

»Schimpfen?« Overbeck schnellte auf. »Meine Meinung sag' ich dir! Verstehst du? Endlich einmal die Wahrheit! Du Lümmel, du arroganter! Du Geck, du leerer! Ich bin viel zu gut mit dir gewesen. Aus meinem Haus sollt ich dich jagen, du Lump! Prügeln sollt ich dich!«

»Versuch's doch!« schrie jetzt Martin außer sich und trat dem Vater entgegen. Overbeck hob die Hand mit dem Papiermesser, als wollte er zuschlagen. Da griff Martin blitzschnell zu. Denn die Raserei, die ihn bei solchen Anlässen befiel, brach aus. Blitzschnell griff er zu. Das Elfenbein zerbrach, zerknickte, die Splitter stoben auf die Brust, ins Gesicht der beiden Männer, fielen dann zur Erde.

Overbeck schleuderte den Stumpf, den er in Händen hatte, wuchtig ins Zimmer. »Hinaus mit dir!« schäumte er. »Hinaus!«

Aber Martin hatte ihm schon den Rücken gekehrt und war zur kleinen Tür gestürmt. Dort blieb er eine Sekunde stehen und knirschte zum Vater 105 hinüber: »Jetzt ist Schluß! Du siehst mich nie mehr wieder!«

Overbeck stand noch immer und zeterte: »Hinaus! Hinaus!«, als Martin schon längst verschwunden war.

 

Martin sprang die enge, braungetäfelte Treppe hinauf, riß oben im Vorraum einen seiner Hüte vom Haken, wandte sich und stürmte wieder zwei Stockwerke hinunter, zum Gartentor hinaus, auf die Straße. Er war nicht ganz bei Sinnen, denn Wut, Scham und Schmerz trübten sein Überlegen. Aber er war auch nicht gänzlich benommen. Seine Gedanken stürzten nun wirr und ungeordnet durcheinander. Ihm fiel ein, daß er Kicks versprochen hatte, zurückzukommen. Ich kann niemandem ein Versprechen halten, dachte er. Dann sah er das schlanke Elfenbeinmesser vor sich und besann sich, daß es ein Geschenk seiner Mutter und dem Vater überaus lieb gewesen sei. Besser gebrochen, entschied er, als damit . . . er wurde wieder zornig. Mutter sollte am Leben sein, räsonierte Martin. Dann wäre alles anders, alles.

Ganz trübselig und ein wenig taumelig ging er durch die stille Straße. Wenn Mutter noch lebte . . . er wäre nicht so allein. »Mutter – seelen – allein«, sprach er vor sich hin. Er malte sich aus, wie seine Mutter zu Tine gefahren wäre und dort für ihn gebeten hätte. So wie er sie im Gedächtnis hatte, sah er sie 106 jetzt, eine bildhafte Frau, hochgewachsen, ein wenig voll, überaus prächtig, mit strahlendem Schmuck und mit einem Lächeln der Zärtlichkeit auf ihrem schönen Gesicht, das noch blendender leuchtete, als alle ihre Perlen und Diamanten. Weil niemand da war, der sich zu Martin gütig gezeigt hätte, legte er fast alle Güte, die es auf der Welt nur gab, die er vermißte, nach der er sich sehnte, in das Herz der toten Mutter. Weil sie mild zu ihm gewesen war und mit ihm viel gelacht hatte, weil es ernste Dinge zwischen ihm, dem kleinen Jungen von damals und der Mutter noch nicht gab, fühlte er sich überzeugt, sie wäre heute, wäre in der Sache mit Tine ganz auf seiner Seite gewesen, als verständnisinnige, liebevolle Helferin. Und er dachte nicht daran, er wußte es gar nicht, was für eine hochmütige, in ihrem Ehrgeiz unerbittlich harte Frau die Mutter gewesen war.

Es schadet nichts, daß ich das Elfenbein zerbrochen habe, dachte er. Mich anrühren! Das wär' noch schöner! Er verdient's nicht anders, der Alte. Schon als Kind hab' ich mir das nicht gefallen lassen. Und ich bin kein Kind mehr! Energisch ging er weiter. »Mit dem Alten bin ich fertig,« sagte er vor sich hin, »ganz fertig! Er mit mir! Aber ich noch mehr mit ihm!«

Das Bewußtsein stellte sich ein, mit diesem häßlichen Auftritt habe sich etwas Entscheidendes in seinem Leben zugetragen. Nie wieder geh' ich nach Hause, nie wieder zu ihm zurück! Freilich huschte die 107 Erwägung durch sein Gehirn, wie viel er einbüßen würde, wie viel er verspielt hätte, wenn er sich's beikommen ließe, heimzukehren und den Vater um Frieden zu bitten. Sein ganzes Wesen empörte sich dagegen. »Nie wieder!« rief er laut. Ihm war, als habe er einen wichtigen Sieg errungen. Dennoch wurde er ein leises Empfinden nicht ganz los, das etwa ein aus dem Nest gefallener Vogel haben mag.

Nun wollte er allsogleich zu Tine gehen und ihr erzählen, was sich begeben hatte. Seine Entrüstung, seine ganze Kampflaune glitt weg, fiel ab von ihm, löste sich in Frohsinn. Ich bin frei! Ich bin frei! Ich bin frei! Das trommelte er in seinem Innern und marschierte dazu. Es war ähnlich, wie einst, als er, ein Knabe noch, das Gymnasium verließ, wenn ein Schuljahr zu Ende war und lange Ferien winkten. Ohne daß er sich je darüber Rechenschaft gegeben hatte, er war sich immer viel klüger erschienen, als alle seine Professoren, wenn er so in die Ferien ging, klüger als das ganze Gymnasium. Er kam sich jedesmal vor, als sei er im Recht, er allein gegen alle die anderen, und als sei das nun klar erwiesen. So ungefähr wurde ihm jetzt zumute. Er war frei, er war klüger als sein Vater und er befand sich vollkommen und zweifellos im Recht. Begründen . . . nein, das zu begründen wäre er freilich kaum imstande gewesen. Aber das brauchte er auch nicht. Genug, er fühlte es mit der ganzen Kraft seiner Jugend. »Zu ihr! Zu ihr! 108 Zu ihr!« schlug es in seinem Herzen, hämmerte es lustig in seinem Kopf, drängte es sich auf seine Lippen. »Tine Schaffner«, er begann leise zu singen, zur Melodie einer berühmten Hymne sang er das als Text: »Tine Schaffner . . . Tine Schahaffner – Tine Schahahaffner – Tiiine!«

Plötzlich hielt er inne. Was wollte er jetzt bei ihr? Jetzt? Hatte es einen Zweck, vom Hause wegzurennen, geradeaus zu Tine zu laufen und ihr nichts anderes zu erzählen, als daß man dem Herrn Vater davon sei? Unsinn! Er wollte immer wieder Unsinn anstellen! Wies ihn das Mädchen wieder von sich, hatte er selbst daran die Schuld. Ebenso wie die beiden ersten Male. Was war damit bewiesen, daß er sich mit dem Vater verkracht hatte? Was kümmerte sich Tine Schaffner darum? Jetzt mußten wichtige Entscheidungen getroffen werden! Wichtige Entscheidungen! Tine Schaffner hatte ihm gesagt, er sei unfähig, sich eine Brotrinde zu verdienen. Sein Vater hatte ihn angeschrien, er werde verhungern, wenn er auf sich selbst gestellt sei! Nun! Das mußte widerlegt werden. Noch nie hatte jemand an die Wurzeln von Martins Existenz gerührt. Jetzt war es in zwei Tagen zweimal geschehen. Unsanft, höhnisch, verletzend. Und Martin entschloß sich, seiner Existenz einen anderen Boden zu schaffen, neue Wurzeln in diesen neuen Boden zu treiben, als sei das die leichteste Sache von der Welt. Er überlegte: Pah, was ist denn weiter dabei, solch 109 einen kleinen Posten zu finden, als Korrespondent oder als Bureauschreiber. Großartig! In ein paar Stunden, in ein paar Tagen wird er einen Platz haben und ein unabhängiger Mensch sein. Er wird ein möbliertes Zimmer mieten – vorerst – ganz bescheiden. Martin, der nie ein bescheidenes Zimmer mit eigenen Augen gesehen hatte, stellte sich eine Art von herzigem, winzigem Himmelreich vor. Dann wird er weiterarbeiten, sich vorwärtsbringen! Geschäfte abschließen. Im Anfang nur kleine. Um Praxis und Routine zu kriegen. Was für Geschäfte? Er dachte gar nicht darüber nach. Lieber Gott, eben Geschäfte, wie alle Leute sie machen. Warum sollte es ihm mißlingen? War das so eine Zauberei oder war er so dumm? Des Abends wird er immer bei Tine sitzen. Ach, wie schön! Wie schön!

Manchmal wird sie ihn anschauen, mit ihren großen, sprechenden Augen. Ganz mild, ihr herrliches Antlitz wird in Zärtlichkeit ausstrahlen und sie wird sagen:. »Ich hätte nie gedacht, daß du ein so ernster, tüchtiger, fleißiger Mann bist . . . Kannst du mir verzeihen?« Aber er hatte ihr längst verziehen, ja, er verzieh ihr jetzt schon, in dieser Sekunde. Er hielt sich gar nicht auf bei dem Unrecht, das Tine an ihm beging. Er war doch überzeugt, im Recht und klüger zu sein. Er baute seine Luftschlösser weiter. Eines Tages wird er so viel beisammen haben, daß er Größeres unternehmen kann. Da wird er zu Tine gehen und sie fragen: Kommst 110 du mit? Und sie werden zusammen in die weite Welt gehen. Wohin, weiß er im Augenblick nicht, doch dann wird er's natürlich wissen. Es wird über See ein fremder Erdteil sein, wo man noch zu Reichtümern gelangt. Nach ein paar Jahren kehren sie dann zurück. Er und Tine. Oh, nicht für immer. Nur ein kurzer Besuch. Martin blickte, wie erwachend, um sich. Er war am Siegestor, im Tumult der Menschen.

»Nun fängt der Ernst des Lebens an«, sagte er vor sich hin, während er durch den hochgewölbten Torbogen schritt.

Er musterte die Geschäfte und Firmen der großen, reichen Straße, in die er gelangt war. Ach was, dachte er, man geht einfach irgendwo hinein und fragt, ob eine Stelle frei ist. Und man geht so lange, bis man irgendwo festhängt.

Aber wo anfangen?

Am besten in einer Bank, fiel ihm ein.

Entschlossen bog er in eine breite, ruhigere Seitenstraße, wo die Bankpaläste standen.

Als er vor das Gebäude der Landesbank gelangte, verhielt er sich. Das wäre ganz gut, die Landesbank, überlegte er, das würde mir passen. Die Landesbank befand sich dem alten Overbeck gegenüber immer in der Lage hochachtungsvollster Gegnerschaft. Das wird ein Spaß, lächelte Martin, wenn ich gerade hier als Beamter meinen Sitz einnehme. Und er betrat das 111 Vestibül. Den devoten Gruß des Portiers erwiderte er freundlich, besann sich nach ein paar Schritten und rief ihn an: »Ach, sagen Sie, bitte, zu wem geht man hier wegen einer freien Stelle?« Der Portier zog nochmals die silberbebortete Mütze, hielt sie ehrfurchtsvoll in der Hand und erwiderte: »Bitte, ergebenst, nur durch den Kassensaal . . . dann links, die zweite Türe, zum Herrn Sekretär Dr. Rainer . . . neben der Direktion . . .«

Martin stieg zum ersten Stockwerk hinauf und schritt langsam durch den monumentalen Kassensaal, der wie ein Bienenstock durchschwärmt und durchrauscht war von emsigem Leben. Er blickte in die marmorverkleideten, mit Goldbronze geschmückten Schalter und es fiel ihm zu Sinn: Wer weiß, wie bald sitze auch ich an solch einem Schreibpult hinter goldenem Gitterwerk. Er sehnte sich danach, dieser neuen, unbekannten Welt anzugehören, ja, er betrachtete sich schon als ein Mitglied dieser fremden, in Arbeit erglühenden Welt. Daß ihm selbst neugierige Blicke folgten, daß er direkt Aufsehen erregte, merkte er gar nicht.

Der Sekretär empfing ihn mit einer Ergebenheit, die Martin in Erstaunen setzte. Wie gut man behandelt wird, dachte er. Herr Dr. Rainer war ein riesenhafter alter Herr, hatte schneeweiße Lockenhaare, einen weißen, dichten Schnurrbart, mit langen, abwärts geschwungenen Büschelenden. Sein würdiges Wesen verband sich nicht ohne Anmut mit einem beflissenen, 112 geschmeidigen Eifer, als strebe er noch danach, Karriere zu machen, oder als sei es etwas Beseligendes für ihn, mit den Großkapitänen der Finanz Umgang zu pflegen.

»Ich möchte gern wissen,« begann Martin, schüchtern und höflich, »ob hier eine Stelle frei wäre . . . nämlich ich . . .«

Herr Dr. Rainer ließ ihn nicht weitersprechen. »Oh, bitte,« rief er, »wenn Sie einen Wunsch nach dieser Richtung haben, das ist ein besonderer Fall . . .«

»Erlauben Sie«, versuchte Martin zu unterbrechen.

»Nein,« widerstrebte Dr. Rainer mit vollendeter Höflichkeit, »erlauben Sie gütigst, ich bitte darum. Das ist ein besonderer Fall, wie gesagt, und der verlangt besondere Rücksicht. Wenn Sie nur einen Moment . . .« Er wandte sich zur Türe.

»Nur ein Wort –« rief Martin.

»Nicht nötig, durchaus nicht nötig«, Dr. Rainer lächelte süß von der Türe her. »Ich verständige sofort den Herrn Präsidenten – sofort – selbstverständlich . . . nur einen Moment Geduld . . . und bitte einstweilen gütigst Platz zu nehmen.«

Eine tiefe Verbeugung, dann war Dr. Rainer draußen.

Eine Sekunde blieb Martin perplex. Dann schlug er sich vor die Stirne. »Hier bin ich ja der Sohn meines Vaters!« rief er. Auf den Fußspitzen schlich er zur Türe, durch die er hereingekommen war, ging draußen gemächlich am Diener vorbei, beschleunigte im 113 Kassensaal sein Tempo, sprang eilig die Treppe hinab und rannte aus dem Haus.

»Wieder eine Dummheit!« murmelte er und schritt rasch weiter. »Der hat doch nie geglaubt, daß ich eine Anstellung für mich suche – der hat gemeint, daß ich jemanden protegieren will. Wieder eine Dummheit!« Er schüttelte den Kopf. »Zu Leuten, die mich kennen, darf ich doch nicht gehen!«

Hier aber kannte ihn jeder Mensch, das fing Martin nun zu merken an. Hier, in dieser Gegend der großen Banken und der Börsenfirmen durfte er nicht suchen. Er sah jetzt, wie viele Leute ihn anstarrten, wie viele sich gegenseitig auf ihn aufmerksam machten, sich nach ihm umdrehten. Er wurde oft und oft gegrüßt. Von fremden Menschen oder doch von solchen, die gar nicht zu seinem gewöhnlichen Umgang gehörten. Sie leisteten ihm freiwillig die Ehrenbezeigung aus Devotion vor der Macht und dem Reichtum, den der Name Overbeck umfaßte. Martin begann sich unbehaglich zu fühlen. Diese Grüße gebührten ihm nicht mehr.

Er wanderte weiter und weiter, ließ das noble Viertel hinter sich, gelangte hinaus in die Vorstadt. Die Straßen sahen ärmer aus, die Geschäftsläden, die Menschen. Alles war anders und alles war fremd.

Martin verspürte Hunger. Ich darf noch nicht essen gehen, beschloß er, ich habe noch keine Anstellung. Noch nicht einmal den richtigen Versuch, eine Anstellung zu kriegen, habe ich unternommen.

114 Er strich umher, bog einmal links ab, ging ein Stück, bog dann wieder rechts ein. Wie es der Zufall ergab. Er lernte sehen. Mit anderen Augen, als mit den sorglosen, mit denen er bisher um sich geschaut hatte. Das fiel ihm schwer und er war unbeholfen. Aber der Zweck, den er verfolgte, die Not, die ihn trieb, ohne daß er es noch wußte, sein frisch erwachter Ehrgeiz saßen ihm in den Augen und lenkten seine Blicke.

Er stand vor Läden und beobachtete. Das waren Geschäfte von einer vorstädtischen Behäbigkeit. In den Schaufenstern lagen Kleiderstoffe für Damen oder Herrenwäsche, alles zierlich arrangiert, alles nach dem Muster und Beispiel des vornehmen Zentrums. Nur alles wohlfeil, unecht, oft geschmacklos. Plunder! dachte er und wollte spotten. Da fiel ihm ein, daß er noch nicht so viel erworben habe, um den schäbigsten Schlips zu kaufen. Und er wurde wieder ernst. An einer dieser Firmentafeln stand als stolzer Vermerk »Gegründet 1880«. Jetzt konnte sich Martin eines kleinen Lächelns nicht erwehren. Davon wird Aufhebens gemacht? Noch keine fünfzig Jahre alt und dieser Stolz? Hätten sie gar nichts auf ihr Schild geschrieben, würde man glauben, dieses Geschäft sei schon immer dagewesen. Man glaubt's ja von allen anderen! Aber der Kaufmannssohn, der Martin doch im Grunde war, merkte nach einiger Zeit, daß man es keineswegs von all diesen Läden glauben konnte. Er fing an, sie zu unterscheiden. Die Filialen großer Häuser waren kenntlich an ihrem 115 wohlhabenden, soliden Aussehen. Die leichtsinnigen Unternehmungen stachen davon ab. Man merkte ihnen den eilfertigen, verlogenen Kundenfang an, sogar die Schulden, darin sie stecken mochten. Dazwischen sah Martin kleine Kaufmannsläden, in denen Spezereiwaren gehandelt wurden oder täglich frische Lebensmittel, dann die Läden von Tischlern, Schustern, Mechanikern, von Näherinnen, die sich aus ihrer Kammer zu dem Erfolg eines offenen Straßengeschäftes durchgerungen hatten. Alle waren Einzelexistenzen, die erschienen und verschwanden, wie ihr Inhaber lebte und starb. Es waren Muscheln, Gehäuse, je nach der Kraft des Wesens, das sie bewohnte, das sie rings um sich her gebildet hatte, zum Schutz gegen den großen Feind, gegen die Not. Verschwand das Lebewesen aus solch einer Schale, dann schwand auch diese weg. So ging es tausend und tausendfach, Straße auf, Straße ab. In allen Städten. Auf der ganzen Welt.

Als Martin später wieder eine Inschrift las: »Gegründet 1882«, konnte er sich so wenig, wie vorher eines Lächelns, diesmal des Gefühls der Achtung nicht enthalten. Da wurde gute Arbeit geleistet, mit Zähigkeit, anständig! Arbeit jedoch wurde überall verrichtet. Angestrengte, sorgenvolle, rastlose Arbeit. Haus bei Haus, Straße bei Straße, Stadt bei Stadt. Müßiggang gab es nirgendwo, außer in dem winzigen, luxuriös gepolsterten Eckchen dieser Welt, das Martin 116 soeben verlassen hatte. Sonst war die Erde eine einzige, riesenhafte Werkstatt.

Er war eben an einer Reihe von Parterrefenstern vorbeigekommen, als ihm nachträglich ein Wort ins Bewußtsein fiel, das seine Augen gelesen haben mußten: »Bureauschreiber . . .« Rasch machte er kehrt. Da stand richtig in einem Fenster, etwa in Kopfhöhe ein weißer Pappendeckel, der die Inschrift trug: »Bureauschreiber, der die Buchhaltung versteht, wird aufgenommen.«

Martin studierte die pedantisch gemalten Buchstaben, die sorgsam geordneten drei Zeilen, von denen eine immer kleiner war, als die andere. Er musterte das Haus. Es hatte nur ein Stockwerk. Vier Fenster Front. Unten, im Parterre, drei Fenster und das verschlossene Tor. In der Mauerecke winkte eine sehr alte, aber blitzsaubere Bronzetafel: J. B. Stockhausen, Kommissionslager.

»Das ist etwas für mich«, dachte er. »Kein Straßenladen! Ruhig. Verschlossen. Beinahe vornehm. Ja, das ist etwas für mich! Sapperlot! Und daran wäre ich um ein Haar vorbeigegangen!«

Stürmisch trat er ein, mit dem Gefühl, als werde er längst erwartet.

Er stand in einem engen Raum. Die Glastüre, die den Flur nach innen absperrte, ließ ein wenig Tageslicht durchscheinen. Rechts führten ein paar Stufen zu einer Türe, auf der »Kontor« zu lesen war.

117 Martin schritt, nun schon weniger rasch, hinauf, klopfte energisch und öffnete. Bing! Eine Glocke schwang grellen Metallton, und ein kleiner, fetter, alter Herr, der hemdärmelig am Schreibtisch saß, blickte auf. »Schließen Sie die Türe, bitte«, jammerte seine dünne, wehleidige Stimme.

»Pardon!« rief Martin eifrig und warf die Türe ins Schloß. Bong! Wieder schwang heller Metallton durch den Raum und zitterte lange nach.

»Guten Tag«, sagte Martin frisch, ging näher und bemerkte nun einen jungen Burschen, einen blassen, schwachen Knaben von etwa fünfzehn oder sechzehn Jahren, der neben dem Schreibtisch des Alten Pakete einschnürte.

Der alte Herr hatte ein kümmerliches Gesicht. Unter dem geringen weißen Schnurrbart verzog sich sein Mund, als habe er eben Saueres geschluckt. Er war unrasiert, die weißen Bartstoppeln schimmerten und stachelten auf seinen blassen Wangen. Er trug eine altmodische Stahlbrille. Die Hemdärmeln mochten vor Zeiten einmal weiß gewesen sein. Jetzt waren sie dunkelgrau.

»Was steht zu Diensten?« fragte der alte Herr mit dem Versuch, sich zu erheben und nach seinem Rock zu greifen, um ihn anzuziehen.

»Ich komme wegen der Stelle, die bei Ihnen frei ist,« Martin sprach munter und einschmeichelnd.

»Ach so!« Der Alte ließ sich wieder in den Sessel 118 fallen. Seine Miene wurde streng. In dem käsigen Gesicht des Burschen entschwand der Ausdruck von Achtung, der vorhin darin entstehen wollte. Frech blickte er auf Martin.

»Was können Sie?« inquirierte der Alte.

»Buchhaltung,« gab Martin Auskunft, »wenn auch ohne Praxis. Doch ich arbeite mich leicht wieder ein.«

»Leicht auch noch«, sauerte der Mund des Alten.

»Jawohl, in acht Tagen«, bekräftigte Martin. »Außerdem spreche ich englisch, französisch und italienisch und bin auch im Korrespondieren perfekt.«

»Sehr gut, sehr schön«, murmelte der Alte, während er etwas auf dem Schreibtisch zu suchen schien. »Und wo waren Sie früher . . .?«

»Früher?« Martin wurde verwirrt. »Ich . . . nirgends war ich . . .«

Ein mißtrauischer Blick traf ihn. »Nirgends waren Sie? Merkwürdig!«

Der Bursche neben dem Schreibtisch beugte sich tief über seine Arbeit, als verberge er ein spöttisches Lächeln.

»Ich,« Martin stotterte, »ich war eben bisher noch nie in Stellung . . .«

»Darf ich um Ihre Papiere bitten?« Das klang eiskalt.

Martin erschrak sichtlich. »Papiere . . .? Was für Papiere . . .?«

Ungeduldig kam die Antwort: »Nun . . . Papiere . . . 119 Geburtsschein . . . Schulzeugnisse . . .« und jetzt war ein entrüsteter Unterton dabei: »Was eben jeder anständige Mensch hat.«

»Ja,« Martin suchte sich zu fassen, »ich habe keine Papiere . . .« Er wollte die Sache bagatellisieren. »Meine Papiere,« lächelte er, »leider, sie sind mir in Verlust geraten . . .«

Er merkte, wie der Alte und sein Lehrjunge einen Blick tauschten, doch er gab den Kampf noch nicht auf. »Hoffentlich spielt das keine Rolle,« fuhr er liebenswürdig fort, »ich kann . . . vielleicht später . . . nachträglich . . .«

Der alte Herr griff wieder zur Feder: »Nein!« sagte er hart. »Zwecklos! Kann Sie nicht brauchen!«

Das war Schluß.

Im Hinausgehen gewahrte Martin noch, wie die beiden ihm interessiert nachschauten, mit Gesichtern, in denen Verdacht und Verurteilung ganz unverhohlen zu lesen waren.

 


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