Felix Salten
Martin Overbeck
Felix Salten

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Auf dem Speditionshof genoß Martin nach seinem Konflikt mit dem herkulischen Max ein erhöhtes Ansehen.

»Wie hast du das nur fertig gebracht?« erkundigte sich Körner freundlich.

Martin hob nur die Schultern, ohne Bescheid zu geben.

200 Winkelhuber nestelte sich an seine Seite: »Du, mein Lieber, erzähl' mir keine Geschichten . . . ich versteh' mich drauf . . . Du bist ein gelernter Athlet.«

Martin wehrte ab: »Unsinn!«

Aber Winkelhuber ließ nicht nach und wandte sich an die andern Arbeiter. Martin hörte einmal, wie der kleine Winkelhuber Griff und Schlag erklärte. Körner, Hoppler und Max lauschten voll Begierde. »Der Griff,« meinte Winkelhuber sachkundig und wichtig, »der Griff, verstehst du, das war Jiu-Jitsu! Noch eine kleine Drehung, verstehst du, eine ganz kleine Drehung und dir ist der Arm ausgekegelt . . .«

»Gib schon Ruh!« fuhr Martin dazwischen. Gehorsam verstummte Winkelhuber. Gehorsam und verschüchtert gingen alle auseinander.

Max hatte damals eine Stunde noch im Hof gesessen, schwer geatmet und erst spät am Nachmittag seine Arbeit wieder aufgenommen. Hoppler kam gleich nach dem Krach zu Martin. »Meinen besten Dank,« sagte er in seiner hastigen, ruhelosen Art, »meinen besten Dank! Die Frau ist bös auf dich, du hast sie beleidigt. Denn du hast sie für häßlich erklärt. Das war nicht recht von dir! Glaub' mir! Die Frau ist nicht häßlich! Gar nicht! O Gott, wie gut wär' das, wenn sie häßlich wär'!« Er seufzte rasch. »Aber mit dem Max, da hast du recht gehabt, der Schuft verdient's!«

Martin murmelte etwas Unverständliches und ließ Hoppler stehen. Die Sache langweilte ihn, jetzt, da 201 sie vorbei war. »Die Frau ist nicht häßlich«, klang es in ihm nach. »Meinetwegen,« dachte er. »Mit was für Hexen die Kerle sich abgeben. Gesindel!« Das blieb immer noch sein Eindruck, blieb der Schluß seines Überlegens.

Wieder einmal saß er in der Kantine mit den andern. Da er selbst beständig mit seinen Gedanken befaßt war, fiel es ihm nicht auf, wie wortkarg die anderen sich benahmen, wie kleinlaut sie sich unterhielten. Der riesige Max war einfach verschüchtert und warb um Martins Wohlwollen. Martin merkte es nicht.

Plötzlich war ihm, als habe er Tine Schaffner draußen über den Hof gehen gesehen. Er sprang auf und eilte hinaus. Da trat sie ihm auch schon zwischen Lastenautos, Fässern und Kisten entgegen.

»Ja,« rief sie lächelnd, »Sie suche ich!«

Eine schwache, doch wunderbar süße Hoffnung dämmerte in Martin. »Mich? – Wirklich . . . mich?«

Tine berichtete: »Ihr Vater war eben bei mir . . . vor einer Stunde . . .«

Martins Miene verfinsterte sich. Er zeigte dünne Lippen und schwieg.

»Fürchten Sie nichts, Herr Overbeck,« redete Tine weiter, »ich habe Sie nicht verraten.«

Martin nickte stumm.

»Nun aber«, fuhr Tine fort, »seien Sie wieder vernünftig und gehen Sie heim!«

»Wünscht das mein Vater?«

202 »Ob er's wünscht!« Tine lachte leise. »Er sehnt sich nach Ihnen!«

»Hat er Ihnen das gesagt?« Martin atmete schwer.

»Gott bewahre,« Tine schüttelte den Kopf, »er hat keine Silbe gesagt. Aber man sieht's ihm an. Genau so, wie man's Ihnen ansieht, daß Sie sich nach Hause und nach Ihrem Vater sehnen.«

»Sie irren, Fräulein Schaffner,« Martin sprach leise, langsam und leidenschaftlich, »nach Hause sehne ich mich nicht. Sie irren . . . ich habe nichts gegen meinen Vater . . . aber . . . aber ich kenne keine andere Sehnsucht, als die nach Ihnen!«

»Herr Overbeck.« Tine fiel ihm ins Wort.

Doch Martin wiederholte inbrünstig: »Nur nach Ihnen! Ewig nur nach Ihnen!«

Sie wurde dunkelrot, ihr Herz begann zu klopfen. »Sie sind eigensinnig«, flüsterte sie.

Martin war bezaubert von dem schönen Mädchen, das da so nahe vor ihm stand, das so unerwartet gekommen wär, das seine Reden nicht mehr schroff zurückwies, das errötete, wenn er von seiner Liebe sprach. Er war selig: »Fräulein . . . eigensinnig . . .? Gut! Nennen Sie's eigensinnig, wenn Sie wollen . . . und glauben Sie mir endlich, glauben Sie mir, daß ich ganz Ihnen gehöre . . . daß ich keinen Gedanken habe, keinen Wunsch, kein Verlangen, als Sie . . . Sie . . . immer nur Sie allein . . .«

Tine hatte den Kopf gesenkt. »Was nützt es, Herr 203 Overbeck, wenn ich Ihnen auch glaube . . . uns trennt so unendlich viel . . .«

»Nichts trennt uns . . . gar nichts!« Martins Worte stürmten nun blind drauf los. »Was soll uns denn jetzt noch trennen? Sie müssen mir doch jetzt glauben, jetzt endlich! Sehen Sie mich an, was ich geworden bin . . . nur Ihnen zuliebe! Denn das kann ich Ihnen sagen, mich zieht nichts zu diesen Leuten da, für die Sie so merkwürdig viel Sympathie haben – gar nichts! Mich ekelt diese Bande genau so wie früher . . . ich . . . ich warte auf den Tag, da ich sie alle los sein werde – ich warte auf den Tag, an dem ich endlich auch Sie hinausführen kann, in eine reinere, bessere Welt! Das wird der schönste Tag meines Lebens sein . . .«

Er sah nicht, wie Tine aufzuckte, er sah nicht, wie ihr schönes, strahlendes Gesicht im Unwillen sich veränderte. Sie hielt ihr Haupt immer tiefer gesenkt und er sprach nur zu dem goldenen Garten ihres Haares, der vor ihm schimmerte. »Ihnen zuliebe ertrage ich jede Erniedrigung . . . auch noch ärgere als diese . . . alles . . . Ihnen zuliebe . . . das schwöre ich . . .!«

»Schwören Sie nicht!« Tine hatte einen seltsam trockenen Ton. »Ich glaube Ihnen auch ohne Schwur . . .«

»Ja?« unterbrach Martin, faßte stürmisch ihre Hand und wollte einen Kuß darauf drücken. »Ja . . . Sie glauben mir?«

204 Tine riß ihre Hand zurück. »Davon war ich immer überzeugt.« Sie hatte das Haupt erhoben und sah ihn mit sprühenden Augen an.

Martin war fassungslos.

»Erniedrigung?« rief Tine. »Mir zuliebe braucht kein Mensch Erniedrigung dulden!«

Er wollte erklären: »Sie haben . . .«

Doch Tine fuhr drüber weg: »Machen Sie dieser Komödie ein Ende, Herr Overbeck . . .«

»Komödie . . .?« stammelte er.

»Jawohl, Komödie,« hieb Tine zu, »eine Maskerade! Was denn sonst? Ein neuer Sport! Mit allen Heldentaten, von denen ich gehört habe . . . Jawohl . . . ich habe schon davon gehört . . . nichts als ein Sport ist das für Sie und ich finde, es ist ein unwürdiger Sport . . .«

»Ich verstehe nicht, wie . . .« Martin versuchte umsonst, sie zu besänftigen.

»Meinetwegen, ein Abenteuer,« Tine ließ sich nicht stoppen, »wenn Ihnen das besser paßt, ein Abenteuer! Was riskieren Sie dabei? Was? Nicht das geringste! Sie bleiben ja doch der junge Overbeck! Sie sind immer der junge Overbeck geblieben! Sie sind es jetzt genau so wie früher, obwohl Sie da als Kistenverpacker maskiert stehen . . .«

Martin wurde zornig. »Ich antworte nichts mehr!« knirschte er.

»Hat auch keinen Sinn,« gab Tine zurück, »geben 205 Sie sich keine Mühe! Strengen Sie sich überhaupt nicht mehr an! Jetzt hab' ich Sie durchschaut! Für eine Passion ist Ihnen nichts zu viel! Das sehe ich! Kein Geld – denn davon haben Sie ja übergenug! Und keine Verkleidung, denn die macht Ihnen ja nur Spaß.«

»Spaß?« wetterte Martin. »Spaß?«

»Eine andere . . .« Tine war außer Atem, »eine andere würde sich vielleicht davon geschmeichelt fühlen. Ich bin mir zu gut dazu! Adieu!« Rasch lief sie weg.

Martin sah ihr nach. Er bebte vor grimmiger Verblüffung. Was hatte er Schlimmes gesagt? Wodurch dieses neuerliche, dieses allerärgste Mißlingen verschuldet? Warum verstand sie ihn so falsch? Warum glaubte sie so gar nicht an ihn?

Himmel, Kreuz-Element! Er stieß mit dem Fuß gegen ein Petroleumfaß. Umstürzend rollte es im Hof dahin. Er nahm eine Kiste und schmetterte sie auf einen Lastwagen, daß die Splitter flogen. Tolle Wut brach in ihm aus und er arbeitete den Nachmittag in einer verbissenen Raserei, wie Hoppler arbeitete, wenn die Eifersucht ihn striemte. Martin dachte nichts, überlegte nichts. Er war dazu gar nicht fähig, überflutet von immer wieder hervorbrechendem, schmerzlichem Zorn, wie er nun umherraste.

Die anderen mieden ihn während des Nachmittags noch scheuer als sonst. Sie sahen sein dunkelrotes, finsteres Gesicht, sie sahen sein Berserkertum an den schweren Kolli wüten und keiner wagte ihn anzusprechen.

206 Als es Feierabend wurde, fühlte Martin, daß es ihm unmöglich sei, schlafen zu gehen. Er war nicht müde, er war keines Schlafes und keiner Ruhe bedürftig. So frisch flammte und wühlte noch alles in ihm, daß er die ganze Welt hätte zusammenschlagen mögen. Er mußte das austoben.

»Max!« rief er plötzlich mit seiner Herrenstimme.

»Was denn?« klang es bereitwillig und furchtsam.

»Komm daher!« befahl Martin.

Max stand stramm vor ihm. Nur in seinen Händen zuckte es, wie wenn er sie schützend vors Gesicht halten wollte.

»Ich möcht irgend wohin gehen,« sagte Martin, »irgend wohin, wo man saufen kann und tanzen . . .«

Max glotzte ihn verständnislos an.

»Na also,« knurrte Martin, »weißt du ein Lokal? Wenn nicht, hol' dich der Teufel!«

»Freilich weiß ich eins!« Max beeilte sich. »Eine famose Kaschemme. Schöne Mädels . . . Musik . . . was du willst . . .«

»Geh' mit«, gebot Martin.

Und sie gingen. Sie sprachen unterwegs kein Wort. Max schwieg, weil er sich nicht zu reden getraute, Martin, weil ihm Max egal und fremd blieb und weil er die Wut, die in ihm kochte, mit seinem Herzen fraß.

Vor einer Kellerschenke machte Max halt. Sie stiegen hinunter und kamen in einen ziemlich großen Saal, 207 der dicht gefüllt mit Menschen war. Die Luft stank von Tabakrauch, von Wein, Bier, Schnaps und vom Dunst der vielen erhitzten Leiber.

Martin bezog eine Nische, ließ sich auf die Bank fallen und trommelte mit den Fäusten auf den Tisch.

»Wein her! Heda! Wein her!«

Max wagte nicht ihn zu beschwichtigen, saß ihm sanft gegenüber, viel gesitteter, als er je in diesem Keller oder sonst wo sich betragen hatte.

Der Wein wurde glücklicherweise rasch gebracht.

Martin ergriff das volle Glas, leerte es in einem Zug, schlug es auf den Tisch und murrte: »Pfui Teufel!«

Musik begann. Eine Ziehharmonika und eine Gitarre. Melancholisch und sehnsüchtig nach Freude. So klang das.

Martin sang die Melodie laut mit; seltsam falsch, beinahe wie absichtlich. Mit einer heulenden, zerbrechenden Stimme. Er sang vor sich hin und schaute auf die Tischplatte.

Viele Paare drehten sich im Tanz. Martin blickte zu Max hinüber, fuhr ihn an: »Warum tanzt du nicht. Na?«

Max stotterte: »Weil . . . ich geglaubt hab' . . .«

»Maul halten«, brüllte Martin. »Ich hab' dir doch gesagt, daß ich tanzen will . . . also vorwärts . . . tanz'!«

Max stob davon.

Keinen einzigen Blick schenkte Martin der wiegenden, 208 schiebenden Masse, die an seiner Mauernische vorbei glitt. Er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestutzt, hielt den Kopf zwischen den Fäusten und starrte zur Wand gegenüber. Sein Denken war gänzlich verwirrt, er bemühte sich auch gar nicht, es zu lenken. Er ließ es hinströmen, wie es, von seinem Zorn glühend geworden, hervorbrach. Zuletzt löste es sich in lauter Flüche auf. Denn Martin trank fortwährend. Er trank so fanatisch, als würde er damit Vergeltung üben an Tine, am Vater, an der ganzen Welt.

Die Musik schwieg und Max kam mit einem Mädchen in die Nische.

»Das ist der Martin,« sagte er zu ihr, »weißt' . . . der, von dem ich dir erzählt hab' . . . Ja, meine Liebe . . . der versteht's . . . ein Schlag . . . und dagelegen bin ich . . . glatt am Boden . . . nur ein einziger Schlag . . . großartig . . .«

Martin hörte das, aber wie von ferne, wie durch eine Wand. Er sah die zwei gegenübersitzen, Max und das Mädchen, aber wie durch einen Nebelvorhang. Das Mädchen reichte ihm die Hand entgegen. Martin rührte sich nicht.

»Gefällt sie dir?« erkundigte sich Max, bekam aber keine Antwort. Die Musik fing wieder an und Max beeilte sich. Er glaubte, daß er tanzen müsse.

Winkelhuber tauchte plötzlich vor Martin auf. Klein, frech, beweglich. »Ist der Max jetzt dein Freund?« schrie er. »Na, ich gratuliere!«

209 Martin blieb unbeweglich.

Winkelhuber fuhr fort: »Da gehört ein eigener Charakter dazu, sich mit so jemanden abzugeben, wie der Max ist; besonders, wenn man's ihm einmal so gezeigt hat . . . na, wie er's verdient . . . und dann die besten Freunde . . . ein eigener Charakter gehört da dazu . . .«

Martin fauchte: »Kusch!«

Der kleine Winkelhuber wurde blaß.

Martin stieß das Glas hin vor ihn: »Da . . . trink'!«

Winkelhuber atmete tief, nahm das Glas, hob es bescheiden gegen Martin: »Zum Wohl!« und setzte es leer zurück. Dann wischte er den Mund und fing wieder an: »Man wird doch seine Meinung äußern dürfen! Wenn's dir auch nicht recht ist, bleibt sich mir egal . . . aber Meinung ist Meinung!«

Martin schwieg und trank weiter.

Max kam und hatte jetzt zwei Mädchen. Winkelhuber begrüßte die drei mit einer Freundlichkeit, die aufrichtig schien. Martin, der jetzt die Menschen, die dicht vor ihm saßen, nur wie von weitem sah, erkannte die beiden Mädchen dennoch. Sie arbeiteten auch bei dem Spediteur. In einem großen Manipulationssaal. Die eine da, die Braune, Geschmeidige, hatte ihm oft herausfordernde Blicke zugeworfen, wenn er an den Fenstern vorbeiging.

»Da ist kein Platz auf der Bank für vier!« schrie 210 Winkelhuber. »Warum müssen denn wir alle hier gestopft nebeneinander sitzen? Ha? Soll doch eine hinüber zu Martin . . . na, hop, Berta, hop!«

Die Braune schwenkte sogleich um den Tisch und schmiegte sich zu Martin. »Da bin ich«, rief sie jauchzend und flüsterte: »Endlich!«

Martin blinzelte sie an. Alles an diesem jungen Geschöpf war Bereitwilligkeit. Diese lockenden Augen, die, noch von der letzten Wonne her verschleiert, nach der nächsten Wonne schon wieder begierig schienen, der junge, vielerfahrene Mund, der liebesdurstig halb offen stand, der schmale, zärtlich behende Leib, der Umarmungen erwartete, verlangte . . . Martin musterte sie herrisch. Ihm zuckte es durchs Hirn: Alles nehmen! Alles! Das Mädchen da bei der Hand fassen, mit ihm fortgehen und alles nehmen, was sich ihm bot. Einmal austoben, seine Begierden, seine Sehnsucht, seine Liebe . . . einmal zur Ruh' bringen!

Unter dem Fieberdruck angezündeter Sinnlichkeit begann er zu grübeln. Von je war das in ihm, wenn seine Triebe, plötzlich entfacht, nach Erfüllung brüllten, daß gleich so viele Warnungssignale Antwort gaben, und daß er zunächst alle Zügel seines Wesens gewaltsam straff zog, ehe er sich gewähren ließ. So blinzelte er jetzt auf das Mädchen neben sich. Sie saß da, an ihn geschmiegt, begehrt und feindselig. Der Gedanke, es könne gefährlich sein, dieser Gedanke huschte nur schattenhaft durch seine Seele. Aber Tine Schaffner 211 trat dann hervor. Tine, die er nun so lange verwünscht, gegen die er getobt hatte, Tine, die Schuld daran trug, daß er sich hier besoff, sie stand auf einmal vor seinem sinnenden Blick, leuchtend in ihrer ruhig edlen Schönheit. Mit dem ins Seherische erhöhten Bewußtsein, das Trunkenen manchmal eigen ist, nahm er nun wahr, wie unwiderstehlich Tines Wesen ihn gefangen hielt, dieses rechtschaffene, still in sich selber gefaßte Wesen, das er nicht begriff, das er nicht erraten, kaum ahnen konnte, das er aber trotzdem bewundern und lieben mußte.

»Woll'n wir tanzen?« schmeichelte Berta an seiner Seite und streichelte ihm den Rücken.

Martin zuckte. »Ich tanz' nicht«, murrte er.

»So bleib' ich bei dir . . .« flüsterte sie.

Er antwortete nicht.

Das Mädchen liebkoste ihn weiter, mit kaum verhaltener Heimlichkeit. Ihre Hand glitt ihm den Rücken hinauf, fingerte an seinem Hals, strich leicht an seiner Schulter. »Martin . . .« rief sie leise.

»Hm?« Er brummte nur.

»Du gefällst mir, Martin.«

»Hm.«

»Du bist so . . . so scheu . . .«

Er schwieg. Jetzt, da er die Lockung, die ein paar Sekunden lang von diesem Mädchen ausgegangen war, überwunden hatte, wurde ihm dies zärtliche Werben unbehaglich. Tine Schaffner! Er stöhnte, 212 ließ den Kopf sinken und barg das Antlitz auf seinem Arm.

»Was ist dir denn?« fragte es neben ihm. Er hörte es nicht.

»Magst du mich denn gar nicht?« drängte Berta.

Martin stöhnte noch einmal. Das Mädchen mußte weg! Sie schob sich qualvoll störend zwischen ihn und seine Erinnerung an Tine. Sie war unerträglich in ihrer vulgären Art, sich anzubieten. Wilder Abscheu regte sich in ihm, brutal fuhr er auf. Doch das hingegebene Mädchengesicht so nah vor den Augen, wurde er sanft. »Laß mich . . .« bat er, und den Kopf wieder auf den Arm geschlagen, brach er aus, » . . . ich bin ja so unglücklich . . .«

Berta verstand nicht, was er sagte.

»Ich weiß gar nicht, was er hat«, wandte sie sich an Max und Winkelhuber, die mit dem anderen Mädchen wieder in die Nische kamen.

»Seinen Sauftag hat er«, entschied Winkelhuber.

Max erklärte: »Den muß man in Ruhe lassen. Das ist ein seelenguter Kerl, ein braver Kerl . . . aber verrückt ist er. Und wenn man ihn reizt, wird er ein Vieh!«

Sie sprachen noch eine Weile über Martin. Dann redeten sie von anderen Dingen. Winkelhuber machte sich an Berta; sie gingen tanzen, sie kamen wieder. Die Musik spielte, schwieg, spielte. Martin saß und trank und trank. Allmählich wurde es still im Lokal.

213 Die Leute gingen, die Lampen wurden eine nach der andern abgedreht.

Martin war allein.

Er trank noch eine Stunde lang. Nicht mehr Wein, sondern Schnaps. Ein Gläschen ums andere.

Dann kam der Wirt und sagte, es sei Schluß.

Martin stieg die Kellertreppe so stramm hinauf, daß Wirt und Kellner ihm mit staunender Anerkennung nachschauten.

Doch droben auf der Straße erledigte ihn die frische Luft binnen wenigen Sekunden. Brausendes Schwindelgefühl packte ihn, drehte ihn gewaltsam, in stoßweisen Wirbeln. Sein Bewußtsein flatterte und drohte wegzufliegen, wie ein Hut im Sturmwetter. Dazu wühlte Übelkeit aushöhlend in seinem Magen. Er wußte nicht, daß er taumelte, nicht, daß er bald ein paar Schritte kreuz und quer lief, noch, daß er bald schwankend auf einem Fleck verharrte. Er wußte überhaupt nicht mehr viel. Ihm war, als würde er fliegen, einmal furchtbar geschleudert, dann wieder sanft getragen wie eine Flaumfeder, die der Wind vor sich herweht.

Er kam auch nicht sehr weit. An einer Hausecke fiel er um, schlief schon im Stürzen einen schweren, traumdurchtobten Schlaf, der ihn am Lenkrad eines Flugzeuges durch den Äther pfeilen ließ. 214

 

Laut lachend kam Marie Spieß nach Hause zurück. Lachend stellte sie die Milch, die sie eben geholt hatte, auf den Herd, in dem schon das Feuer brannte. Es war halb sechs Uhr früh.

Peter Spieß, gewaschen und angezogen, wandte sich an die Schwester, die gerade an ihre Nähmaschine wollte: »Da sieh mal, Adeli, wie das Gebirge fröhlich ist.« Er zeigte auf Marie. »Die ganze Landschaft lächelt.«

Marie ging zu Peter, mächtigen Schrittes, beugte sich zu ihm nieder und klopfte ihm zärtlich die blasse Wange. »Ich muß lachen, Peterchen, weil der Narr nicht mein ist.«

»Was für ein Narr?« fragte Peter.

»Na, der Besoffene, der draußen liegt,« rief Marie lustig wie ein Kind, »so oft ich einen Besoffenen seh', muß ich lachen, vor Freude, weil du's nicht bist, Peter!«

Der Maurer wurde neugierig: »Wo liegt er denn?«

»Gar nicht weit.« Marie hantierte am Herd. »Wie ich zur Milchfrau bin, ist er mitten am Gehsteig ausgestreckt gelegen.« Sie kicherte. »Und jetzt, wie ich zurück bin, war er noch immer da.«

»Aber wo? Du Lawine von einer Frau, wo?« Peter war bei ihr und täschelte sie und stieß sie mit den ausgestreckten Fingern in die Seite, daß sie, gekitzelt, vor Lachen kreischte.

»Gleich vorm Haustor,« schrie sie, »wenn ihn kein Schutzmann geholt hat, findest du ihn noch.«

215 »Das muß ich . . .!« Peter schob hinaus, und Marie klatschte hinter ihm her mit den Händen, als ob sie Hühner scheuchen würde: »Schnell, schnell!«

Adeli saß an der surrenden Nähmaschine und ließ ihre Papageienstimme vernehmen: »Soll ihn nur anschauen, der Peter, damit er den rechten Abscheu kriegt . . .«

Peter interessierte die Sache außerordentlich. Er lief über den morgenstillen Hof, wischte zum Tor hinaus, und als er eine leblose Gestalt quer über den Gehsteig hingestreckt erblickte, sprang er rasch hinzu. »Gott sei Dank, kein Schutzmann da,« murmelte er, »natürlich, nur mich erwischen sie immer!«

Martin lag, das Gesicht in den Armen vergraben, bäuchlings auf dem Pflaster.

Peter beugte sich nieder, griff ihm an die Schulter und rüttelte ihn derb: »Heda, auf! Heda!« Er war ganz Teilnahme, ganz Eifer und Verständnis: »He! Mein Lieber! Da darf man nicht schlafen! He! Auf! Auf!«

Er versuchte es, Martin auf den Rücken zu wälzen, er plagte sich, keuchte, ohne daß es ihm gelang. Aber Martin, vom Rufen, Schütteln und Stoßen schon halb geweckt, drehte sich nun selbst herum. Peter sah sein Gesicht und sprang in die Höhe. »Donnerwetter!« sprach er perplex vor sich hin und kratzte sich den Kopf. »Donnerwetter! Das ist doch der Kerl, der mein Bier weggeschüttet hat!« Er zappelte ein bißchen, ungeheuer 216 belustigt. »Ah, das ist großartig! Mir will er ein Glas Bier nicht gönnen, und er sauft wie ein Loch!«

Martin zwinkerte, streckte sich und gähnte.

»Wünsch guten Morgen!« schrie Peter lachend. »Ausgeschlafen?«

Martin öffnete die Augen, starrte Peter an und sah nicht besonders klug, aber sehr erschrocken aus.

»Was ist denn los . . .?« stammelte er.

Peter wurde immer vergnügter. »Nicht viel!« rief er. »Nicht viel ist los! Besoffen warst du, wie ein Schwein! Vielleicht bist du's noch! Du neidischer Teufel, du! Mir hast du's partout nicht erlauben wollen, aber du selbst . . . na, du hast dir keine Beschränkung auferlegt!«

Martin saß aufrecht, fuhr sich mit den Händen ein paarmal über Stirn und Augen und schaute mit Dämmerblicken in das blasse Gesicht des kleinen Mannes, der so freundlich zu ihm sprach. Jetzt erkannte er Peter.

Der redete ihm gütlich zu: »Erhebe dich, mein Sohn, ja? Da auf der bloßen Erde darf man nicht rumsitzen. Ich hoffe, du hast wieder so viel Verstand, um das einzusehen.«

Im Aufstehen ergriff Martin Peters dargebotene Hand, um sich zu stützen, riß aber den kleinen, mageren Menschen beinahe zu Boden. »Hopla«, sagte er, hielt Peter fest und war selbst auf den Beinen. »Es geht schon.«

»Glück hast du!« lachte Peter, wollte Martin auf 217 die Schulter klopfen, traf ihn aber nur am Kreuz. »Glück hast du! Dich stört kein Schutzmann, du bist nicht gefleddert worden . . . Halt! Wohin?« Er faßte Martin, der eben davongehen wollte, am Ärmel. »Wohin willst du denn?«

Martin zuckte die Achsel.

Peter dachte nicht daran, sich von Martin zu trennen. Er fand es herrlich, daß einmal er Gelegenheit hatte, sich eines Betrunkenen anzunehmen. Einmal er, Peter, der so oft selbst Gegenstand der Fürsorge anderer gewesen war. Besonders dieser Bursche weckte seine Sympathie. Dieser merkwürdige Geselle hatte ihn so abgekanzelt damals im Wirtshaus und jetzt . . . Peter dachte nicht daran, ihn loszulassen.

»Komm' mit nach Haus zu mir«, schlug er vor. »Putz' dich ab, wasch' dich, trink' einen heißen Kaffee!«

Martin stand unschlüssig.

»Mach' keine Geschichten«, drängte Peter. »Ich wohn' gleich hier, in dem Haus da . . . gleich rechts im Hof.«

Er zog ihn, und Martin folgte. Ihm war es nicht unangenehm, sich rasch jetzt irgendwo ein bißchen zu retablieren. Er dachte an gar nichts. In seinem Kopf sauste schmerzende Leere, und nagende Leere meldete sich in seinem Magen.

Als er mit Peter die Küche betrat, stemmte die mächtige Marie beide Arme in die Hüften, machte einen kreisrunden Mund und zog die Augenbrauen hoch.

218 Adeli ließ die Nähmaschine stillstehen und blickte auf.

»Weißt du, wen ich da bringe . . .?« rief Peter fröhlich. »Das ist der Mann, den ich für einen Spion von der Schaffner gehalten habe . . . Jawohl . . . der nämliche . . . und jetzt ist er selber . . .« Peter lachte.

Marie lachte harmlos und nickte Martin zu.

Adeli lachte hellauf, kam herbei und betrachtete Martin mit naivem, unverhohlenem Wohlgefallen.

»Da muß ich Ihnen ja noch vielmals danken,« sagte Marie, »das war recht von Ihnen damals . . .«

»Aber heute . . .« meinte Peter humoristisch, »das heute war nicht recht . . .«

»Doch!« fiel Adeli mit ihrem Papageiton ein. »Auch das heute war recht . . .« sie blickte Martin an, »sonst hätten wir den Herrn gar nicht kennengelernt. Und du,« sie wandte sich scherzhaft an ihren Bruder, »du Sünder bist doch der Letzte, der die Sünde verdammen darf.«

»O bitte, Adeli,« ereiferte sich Peter, »gerade ich bin Sachverständiger!«

Martin hatte, den Kopf gesenkt, die Augen niedergeschlagen, dagestanden. Jetzt sah er auf. Dieser kleine blasse Maurer, von dem er sich damals so angewidert fühlte, war gar nicht arg. Und die arme Bucklige da schien sogar gutmütig. Er überlegte nicht weiter, Sein Zustand erlaubte das nicht.

»Na, Marie,« beantragte Peter, »gib ihm einen heißen Kaffee, aber schnell.«

219 »Sofort.« Marie drehte sich zum Herd.

»Du wirst schon bemerkt haben,« wandte sich Peter an Martin, »dieses Gebirge dort am Herd, das ist meine Frau. Und da . . . der kleine Fortsatz an der Nähmaschine, das ist meine Schwester, die Adeli . . .« Martin gewahrte die Wohnküche, einen Raum, dessen Charakter er noch nicht kannte, den er nie gesehen hatte. Nahe am Herd stand ein Bett. Zwischen Fenster und Tür eine Kommode, auf der allerlei Zierat, nach Martins Meinung allerlei Greuel, sich befand. Eine Weckuhr, zwei Leuchter aus Silberglas, etliche Photographien in Muschelrahmen. Ein armseliges Sofa hatte an der großen Wand seinen Platz. Davor noch ein Tisch und ein paar Stühle.

»Kommen Sie hierher«, bat Adeli sanft.

Martin folgte und wurde zum Sofa geleitet. Er ließ sich nieder. Marie brachte den Kaffee und alle saßen nun beim Frühstück zusammen.

»Wissen Sie, daß ich Sie entdeckt habe?« fragte Marie. »Beim Milchholen wär' ich fast über Sie gestolpert . . .«

Peter stieß Adeli an: »Marie erzählt Heldentaten, was? Du hast eben scharfe Augen, Marie . . . sonst hättest du das winzige Dingelchen übersehen!«

Sie lachten alle drei.

Und Adeli rief: »Hat mal eine blinde Henne ein Körnchen gefunden!«

Sie lachten wieder. Peter klatschte Marie den Rücken: 220 »Jetzt weißt du wenigstens, was du bist . . . eine blinde Henne . . . hätt'st du nicht gedacht, was?«

Adeli sagte still: »Aber wir sind ihre Kücken . . . du, Peter, und ich . . .«

Martin trank schluckweise den schwarzen Kaffee und fühlte sich von Sekunde zu Sekunde mehr erfrischt. Sein Kopf wurde frei, sein Magen ruhig. Er sprach kein Wort und er vermied es, jemanden anzusehen.

Kaum hatte er den letzten Schluck getan, ermahnte ihn Peter: »Komm' jetzt.« Er wurde mitten in der Küche aufgestellt und begutachtet. Es ließ sich nicht leugnen, daß die Spuren seines Nachtlagers allzu sichtbar an ihm hafteten.

»Vielleicht . . . im Hof . . .« meinte Marie.

»Großartige Idee!« schrie Peter. »Vorwärts!«

»Wart' ein bissel!« Marie ersuchte Martin: »Ziehen Sie sich erst mal aus.«

Doch er verstand nicht und zögerte.

»Nur runter mit Rock und Leibchen,« redete ihm Peter zu, »die putzt dir deine Sachen, die Marie, fein, sag' ich dir . . .«

Martin legte den Rock ab. »So,« erklärte Peter befriedigt, »jetzt das Leibchen, das wird nur patschnaß beim Waschen . . .«

Niemand wunderte sich, niemand fand etwas dabei, wie Martin das Leibchen abstreifte und mit nacktem Oberkörper dastand. Nur er selbst empfand Geniertheit. Aber Peter hatte Seife und Handtuch 221 von Marie erhalten, ließ ihm keine Zeit und drängte ihn hinaus.

Am Brunnen wusch sich Martin umständlich, und das eiskalte Wasser weckte alle seine Lebensgeister. Jetzt, während er sich trockenrieb, sagte er zu Peter: »Danke!« Dann gewahrte er mit Entsetzen, wie viel Menschen ihm aus den Fenstern zugeschaut hatten, Frauen, Mädchen, Kinder, und schnell sprang er wieder in die Küche.

»Danke«, sagte er nochmals, sehr leise, wie Marie ihm sein Leibchen und den Rock, blank gereinigt, übergab. Sofort wollte er diesem Zustand von Halbnacktheit ein Ende bereiten.

Doch Marie hielt ihn ab: »Erst putzen Sie sich noch Hose und Stiebel.« Sie reichte ihm das Nötige. »Na, nicht hier herin . . . vor der Tür doch.«

Martin mußte nochmals in den Hof hinaus, so wie er war. Marie stand dabei und beaufsichtigte ihn. Nach vieler Mühe war er fertig.

»Nu gehen wir aber,« mahnte Peter, »es ist Zeit. Ich muß in die Arbeit. Du nicht?«

»Ja.«

»Also flink!«

Martin machte vor Marie und Adeli eine stumme Verbeugung, die in jeden Salon gepaßt hätte, die aber hier gar nicht angebracht war. Ohne ein Wort ging er mit Peter davon.

»Komischer Mensch«, sagte Marie, als er draußen war.

222 Adeli hatte ein finsteres Gesicht und schnarrte: »Närrischer Kerl.«

»Und wie ungeschickt er ist,« lachte Marie, »so was von Schuhputzen hab' ich noch nicht gesehen.«

»Wo bist du denn in Arbeit?« fragte Peter, als sie miteinander dahinschritten.

Martin nannte die Speditionsfirma.

»So,« meinte Peter, »da haben wir denselben Weg. Ich muß dran vorbei. Zwei Straßen weiter bin ich am Bau.«

Nach einer Weile fing er wieder an. Die Frage hatte ihm offenbar auf der Zunge gebrannt. »Nun sag' mir, warum hast du mich eigentlich vom Trinken abgehalten?«

Martin schwieg.

Peter beteuerte: »Wirklich, ich hab' nur das eine Glas trinken wollen! Kannst mir glauben.« Und weil Martin noch immer schwieg, wiederholte er: »Warum hast du das getan?«

Nach einer Pause druckste Martin hervor: »Weiß selber nicht.«

Eine Weile blieb Peter still, dann erkundigte er sich: »Du hast der Schaffner wohl kein Ehrenwort gegeben?«

Martin wurde dunkelrot und erwiderte kurz: »Nein.«

Ohne noch etwas zu reden, gingen sie nebeneinander, bis sie an das Speditionshaus kamen.

Peter blieb stehen, murmelte: »Wart' ein bissel«, kramte in seiner Tasche, holte Geld hervor und reichte es Martin: »Da hast . . .«

223 Martin zuckte zurück: »Keine Spur . . . ich nehme doch nichts . . .«

Aber Peter fuhr ihn an: »Sei nicht so blöd, ja? Du hast doch dein Geld versoffen? Na also . . . Du mußt doch essen! Nicht?«

Und als Martin sich wehren wollte, drang er in ihn: »Was ist denn dabei? Ha? Gibst es mir doch wieder! Du weißt, wo ich am Bau bin, und du weißt, wo ich wohne! Fertig!« Er drückte ihm das Geld in die Faust und lief schnell weg.

Martin blieb stehen, sah auf die Silbermünze, die in seiner Hand schimmerte, und ein seltsames Gefühl preßte ihm das Herz zusammen.

Was war das? Was war das nur?

Da hatte ihm ein fremder Mann Vertrauen und Wohltat erwiesen? Ein Mensch, der selbst nichts besaß, der arm war, schwächlich, und der um das bißchen tägliche Brot schwer arbeiten mußte.

Martins ganzes Wesen erglühte vor Scham.

Dieser fremde Mensch hatte ihn von der Straße aufgelesen, hatte ihn zu sich in seine Stube geführt, hatte ihn bewirtet . . . und jetzt . . .

Martin schloß die Hand um die Silbermünze, als hielte er einen Talisman.

Es gab noch Wunder!

Es gab Dinge, die er nie erwartet hätte und die ihm unbegreiflich blieben. 224

 

Während der Mittagspause kam Peter Spieß ganz vergnügt in die Rettungsstation.

»Denken Sie mal, Fräulein Schaffner, wen wir heute früh besoffen auf der Straße gefunden haben?«

»Wen denn?« fragte Tine ohne besondere Neugierde.

»Das werden Sie nicht erraten!« freute sich Peter.

»Natürlich nicht,« meinte Tine, »es trinken ja so viele . . .«

»Haben Sie wieder recht,« gab Peter zu, »aber wegen jeden ersten besten komm' ich nicht her.« Er machte eine dramatische Pause.

Tine merkte es kaum. Sie war jetzt immer zu sehr mit sich selbst beschäftigt und ihr voller Eifer von früher hatte etwas nachgelassen. Ruhig erkundigte sie sich: »So? Sind Sie deshalb hergekommen?«

»Nur deshalb,« versicherte Peter, »denn wenn einer mir das Bier wegschüttet und mich vor allen Leuten blamiert, wenn einer mir erklärt, daß ich kein Selbstbestimmungsrecht mehr habe,« er fing zu lachen an, »und derselbige geht dann her und besauft sich selber so toll, daß er besinnungslos am Pflaster liegt . . .«

Tine fühlte, daß sie bleich und wieder rot wurde. Sie schluckte, beherrschte sich und fragte mit gepreßter Stimme: »Brauchen Sie Hilfe für ihn?«

Triumphierend schwenkte Peter seine Mütze: »Nein, Fräulein, nichts brauchen wir! Danke! Ich kenn' doch den Rummel! Nicht wahr? Also den hab' ich auf gleich gebracht, den Burschen . . .«

225 »So?« entschlüpfte es Tine. Sie sah sich um. Da steckte Mausberger sein zerknittertes Sorgengesicht aus dem Verschlag und horchte.

»Ein Glück hat Ihnen der Kerl,« erzählte Peter, »kein Schutzmann hat ihn erwischt, kein Fledderer hat ihm was genommen,« Peter lachte, »und eine Kraft hat der! Nichts merkt man ihm an! Der arbeitet schon wieder!«

»Dann . . .«, Tine hielt sich an der Barriere und brachte mit mühsamer Gleichgültigkeit hervor, »dann ist ja alles in Ordnung . . . oder fehlt vielleicht doch noch . . .?«

»Nichts fehlt,« renommierte Peter, »ich hab's Ihnen nur sagen wollen, damit Sie's wissen.«

»Nett von Ihnen!« Tine gab ihm die Hand.

Beim Fortgehen rief Peter lachend von der Tür her: »Das hat sich aber gedreht, das Blatt! Jetzt geb' ich den Spion ab. Gelt?«

Tine sah sich nach Mausberger um. Der war in seinen Verschlag zurückgekrochen. Sie grübelte, aber ihre Gedanken stürzten durcheinander. Was sollte sie von dieser neuen Tollheit halten? Was sollte sie selber beginnen? Sie war ratlos und ging zu Mausberger.

»Haben Sie gehört?« stammelte sie und hatte jetzt auf ihrem schönen Gesicht alle Zeichen des Entsetzens, das sie empfand, alle Verwirrung und alle Angst, davon sie durchwühlt wurde.

Mausberger rechnete, hielt den Bleistift auf die Ziffer, bei der er unterbrochen wurde, sagte »Sst« und rechnete eifrig weiter.

226 »Nun . . . und . . .?« Tine flehte mit Blicken.

Er sah sie nicht an, rechnete murmelnd: »Hundertzweiundachtzig . . . hundertsiebenundneunzig . . . nichts . . . und! Zweihundertelf . . .^

»Lassen Sie das Addieren, Mausberger.« Tine legte ihre Hand auf die seinige. »Was sagen Sie?«

Mausberger blieb über das Buch gebeugt: »Nichts. Ich sage nichts!«

»Sie müssen doch eine Meinung von der Sache haben«, beharrte Tine.

»Sie auch, Fräulein!« Das kam mit der dünnen Fistelstimme wie ein kleiner Peitschenhieb.

»Nein,« jammerte Tine, »ich weiß gar nichts mehr, bei Gott.«

»Schade,« fistelte Mausberger, »und auf einen andern hören Sie nicht.«

»Doch, ich höre . . . auf Sie höre ich.« Tine wurde wie ein Schulmädchen so verschüchtert . . . . »Auf Sie, Mausberger, höre ich . . . Sie sind der einzige . . . das wissen Sie doch . . .«

»Ich weiß nur,« krähte Mausberger, »daß Sie auch mir nicht glauben . . .«

»Aber nein!« Tine hielt ihre Hand an die Stirne. »Diesmal glaub' ich Ihnen.«

Mausberger untersuchte seinen Bleistift, als habe er ihn noch nie gesehen: »Sie sind schuld, Fräulein Schaffner, daß der junge Overbeck sich betrunken hat, Sie ganz allein!«

»Möglich,« klagte Tine, »möglich, daß ich schuld 227 bin. Mir ist selber so zumut. Aber ich allein? Ich ganz allein?«

»Für Sie ist der junge Overbeck so tief heruntergestiegen, nur für Sie!«

»Ach, das hat er aus Eigensinn getan,« wandte Tine ein, »aus Sport, aus Lust am Abenteuer.«

»Nun, dann ist ja alles gut . . . wozu reden?« Mausberger neigte sich über seine Bücher.

»Aber jetzt das . . .« Tine gab nicht nach, »alles verstehe ich . . . nur das, das jetzt . . .«

Mausberger sah sie mit seinen kummervollen, erloschenen Blicken an: »Nichts verstehen Sie, Fräulein, gar nichts.« Und als sie eine Bewegung des Widerspruchs machte, krähte er: »Wollen Sie hören oder nicht? Ich kann ebensogut schweigen!«

»Sprechen Sie nur,« drängte Tine, »sprechen Sie!«

»Sehen Sie, Fräulein Schaffner,« fuhr Mausberger fort, »Sie sind ja so früh schon in die Spitalspflege und in die Fürsorge geraten, was wissen denn Sie vom Leben?«

»Ich dächte doch, gerade ich . . .« murmelte Tine.

Mausberger nickte: »Vom Elend wissen Sie viel, Fräulein Schaffner, von Krankheit, von Unglück. Sicherlich! Da wissen Sie mehr als manche alte Leute! Das ist ehrenvoll für Sie, ich geb's zu, ich verehre Sie dafür, und Tausende arme Leute verehren Sie, wie Sie's verdienen.«

»Mausberger . . . nicht!« Tine winkte ab. Sie hatte Tränen in den Augen.

228 »Schon gut, bin schon fertig damit,« beschwichtigte sie Mausberger, »ich mußte das vorausschicken. Denn, sehen Sie, Fräulein Schaffner, das Leben besteht nicht bloß aus Elend, Krankheit und Unglück! Zum großen Teil besteht es daraus, zum größten Teil! Leider! Aber was in einem jungen Mann vorgeht, der verliebt ist, in einem jungen Mann besonders, wie Herr Overbeck einer ist, das verstehen Sie nicht. So gut Sie sind, Fräulein Schaffner, für den Herrn Overbeck haben Sie kein Verständnis und keine Güte.«

Tine weinte. »Mausberger,« rief sie, »erinnern Sie sich doch, daß er kein Verständnis hat, er! Und keine Güte!«

»Da haben Sie Ihren Fehler,« Mausberger stand auf, »wie viel Martin Overbeck gibt es denn in der Welt? Kaum ein Dutzend! Er ist ein Königssohn, verstehen Sie das? Ein Kronprinz! Fassen Sie das, Fräulein?«

»Was weiter?« fragte Tine.

»Was weiter?« Mausberger war erstaunt. Leise, eindringlich sagte er: »Man muß auch für Kronprinzen Verständnis und Güte haben, Fräulein! Sie sind oft wehrloser, sind oft unbeholfener als gewöhnliche Menschen.«

»Hätte ich mich ihm gleich an den Hals werfen sollen?« fragte Tine, und ihr Antlitz flammte.

»Verlang' ich das?« antwortete Mausberger. »Hat Herr Overbeck das verlangt! Er liebt Sie! Sagen Sie nichts, Fräulein, es gibt jetzt keine Zweifel mehr, daß er Sie wirklich liebt, ernsthaft liebt, und Sie wissen das auch!«

229 »O Gott.« Tine schlug die Hände vors Gesicht.

»Aber was tun Sie?« Mausberger war im Zug. »Was tun Sie . . . Sie . . . obwohl Sie ihn auch lieben . . .?« Er wartete. Doch Tine hielt ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckt und schwieg. »Nun gut,« sprach er weiter, »trotzdem Sie ihm gut sind, werfen Sie ihm seinen Reichtum vor! Das ist genau so häßlich, genau so engherzig, wie jemandem seine Armut vorzuwerfen. Ach, mein gutes Fräulein Schaffner,« er seufzte, »es gibt Menschen, die können nichts dafür, daß sie reich sind, und es gibt Menschen, die können nichts dafür, daß sie arm sind.«

»Nein,« Tine schüttelte den Kopf und flüsterte, »sein Reichtum ist es nicht . . .«

»Warten Sie!« unterbrach Mausberger. »Er liebt Sie, und Sie verlangen von ihm, er soll die Armen lieben, die Schmutzigen, die Kranken, die Betrunkenen . . . Ja, mit welchem Recht verlangen Sie das? Es ist nicht seine Sache! Seine Sache ist es, Geld zu geben. Und er hat es mit vollen Händen verschenkt! Ihnen zuliebe! Gewiß! Im Effekt bleibt das gleich. Er hat's verschenkt! Basta. Er könnte ja heucheln, könnte sich anstellen, als seien ihm diese armen, unglücklichen Menschen weiß Gott wie teuer, weiß Gott wie nah. Aber er tut's nicht! Er läßt sich von Ihnen mißhandeln und tut's nicht! Denn er ist ein ganzer Kerl und ein ehrlicher Kerl!«

Tine ließ ihr Gesicht sehen. Ein Lächeln schwebte darauf. Sie nickte.

230 »Warum sollte er die armen Leute lieb haben?« fragte Mausberger. »Er kennt sie nicht. Sein Leben hat sich weltenfern von ihnen abgespielt. Er weiß nichts von ihnen. Nur Ihre Jugend, Fräulein, und Ihr Mangel an Lebenserfahrung, jawohl, trotz allem, Ihr Mangel an Lebenserfahrung, kann solch eine Forderung an ihn stellen, und . . . Ihre Treue, Ihre Hingegebenheit, an Ihre freiwillig gewählte Aufgabe.«

»Also,« Tine begann flüsternd, »wenn er schon keine Güte aufbringt, aber diese Geringschätzung, dieser Haß . . .«

»Das weiß ich nicht,« lächelte nun auch Mausberger, was sein altes, in vielen Falten erstarrtes Gesicht grotesk verzerrte, »das weiß ich nicht, ob es mit diesem Haß wirklich so arg ist . . . und ich möchte auch nicht darauf schwören.« Er wurde ernst. »Jedenfalls müssen Sie das, was Herr Overbeck für Sie aufgegeben, das, was er getan hat und tut, um so höher einschätzen, noch viel höher. Wenn ein Overbeck Abenteuer will, dann findet er andere. Wenn der einen Sport wünscht, dann steht ihm alles in der ganzen Welt offen – und Sie werden nicht leugnen, daß es angenehmere Dinge gibt, als Kisten verladen. Nicht wahr? Sehen Sie! Bedenken Sie, woher so ein Mann, wie er, kommt, was er gewohnt ist. Dienerschaft, Auto, Schlösser . . .«

»Ich will kein Auto,« rief Tine heftig, »ich will kein Schloß . . . ich will ein ganzes Herz!«

231 Sie drehte sich brüsk um und ging hinaus.

Mausberger legte den Kopf schief und begann mit Trauermienen wieder zu addieren.

 

In seinem Vogelbauer, wie die Arbeiter das gläserne Bureau nannten, lehnte sich der joviale Beamte behaglich zurück, sah Martin mit heiterem Staunen an und fragte: »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, daß Sie Chauffeur sind?«

Martin drehte die Mütze in den Händen: »Sie haben einen Verlader gebraucht . . .«

Der Beamte lächelte: »Prüfung gemacht . . .?«

»Gewiß«, bekräftigte Martin.

»Vortrefflich!« rief der Beamte. »Wo ist der Führerschein?«

»Das ist es eben«, erklärte Martin. Er war jetzt nicht mehr verlegen, wenn es um diese Dinge ging. »Meine Papiere hab' ich nicht. Kann sie im Moment auch nicht beibringen. Aber ich bin jeden Augenblick bereit, die Prüfung nochmals abzulegen.«

»Das dauert zu lang«, entschied der Beamte. »Sie müßten den Dienst morgen übernehmen, weil der Pleschke heute abgeht.«

»Dann ist nichts zu machen.« Martin wollte sich umkehren.

»Warten Sie,« rief der Beamte, »warten Sie, wenn das nicht gelogen ist,« unter Martins 232 aufloderndem Blick korrigierte er sich, »also wenn Sie wirklich einen Führerschein irgendwo liegen haben . . .«

»Hab' ich«, fiel Martin zuversichtlich ein.

»Nun,« meinte der Beamte, »dann können Sie von morgen an ruhig fahren.«

Martins fragende Miene beantwortete er dahin: »Begibt sich irgend ein Anstand mit einem Schutzmann, nennen Sie Ihren Namen ganz einfach. Der ist doch in die Führerliste eingetragen? Nicht wahr?«

Martin nickte: »Das kann ich ruhig machen.«

»Na also.« Der Beamte lachte und sog an seiner Zigarre. »Gratuliere zum Avancement. Komischer Mensch! Ist Chauffeur und sagt kein Wort.«

Erfreut verließ Martin den Vogelbauer. Vorwärts geht's, dachte er. Schneller, als ich gehofft habe!

Allein es kam nicht dazu, daß er Chauffeur wurde. Ein Unfall gebot dem Ehrgeiz und der Karriere Martins vorläufig halt. Er war in bester Laune an der Arbeit. Zum letztenmal plagte er sich mit Kisten, Fässern und Kollis. Von morgen ab wird er am Volant eines Autos durch die Stadt gondeln. Kreuz und quer – freilich wird es nur ein Lastauto sein – aber er wird frei und selbständig dasitzen! Und bald dürfte sich eine bessere Stelle finden! Sehr bald! Ohne Zweifel, sehr bald!

Erkennen wird ihn keiner aus seinem früheren Kreis. Keiner! Die schauen einen Lastenchauffeur ja überhaupt nicht an. Hatte er jemals einem Lastenchauffeur ins 233 Gesicht geguckt? Vorher, da er noch ein Müßiggänger war? Keine Spur! Er hatte nicht einmal daran gedacht!

Und wenn sie's dennoch taten, der eine oder der andere. Keiner würde ihn erkennen. Keiner! Schon schimmerte ja ein Vollbart hellblond um Martins Gesicht, stoppelig noch und ein bißchen wild. Aber das war gerade recht.

Na, und wenn ihn doch einer erkannte? Ja freilich, dann würden's im Nu alle wissen. Das würde wie ein Lauffeuer sich verbreiten. Die sind doch froh, wenn sie was haben, worüber sie klatschen können, diese Bummler! Oh, so mögen sie's wissen! Martin lachte, während er mit den schweren Kisten, heute beinahe spielend, hantierte. Mögen sie's immer wissen! Nur zu! Er scherte sich nicht drum. Er war jetzt ein unabhängiger Mensch! Jawohl! Unabhängig! Da hatte sein Vater behauptet, wenn er die Hand von ihm abziehe, müsse Martin verhungern! Tine Schaffner hatte gesagt, er könne sich keine Brotrinde verdienen! Justament! Er schleuderte eine Kiste von ihrem Stapel! Justament! Gehungert hatte er. Allerdings. Aber nur einen einzigen Tag. Und ganz von unten mußte er anfangen, nur, weil ihm sein Vater, sein berühmter Name, sein Reichtum im Wege stand.

Aber gerade das war ihm heute lieb. Ganz von unten anfangen! Vor ein paar Wochen hatte er begonnen. Ein paar Wochen erst . . . und stand schon auf der zweiten Staffel.

234 Er hat's schwerer gehabt als andere. Aber er wird alles überwinden! Alles!

Hohoho! jauchzte er.

Da riß ihn ein furchtbarer Schmerz nieder.

Von den hochgetürmten Kisten, die er so stürmisch heruntergeholt hatte, eine nach der andern, so fröhlich und deshalb wahrscheinlich so achtlos, von diesen hoch aufgestapelten Kisten war eine ins Rutschen gekommen und mit ihrer Zentnerlast auf Martins linke Hand gefallen.

Das hatte ihn plötzlich ins Knie gezwungen.

»Ffhhtt!« zischte er mit dünnen Lippen.

Er lag ganz verborgen hinter der Wand, die von den Kisten erbaut war. Niemand sah ihn.

Er versuchte zuerst, sich zu befreien. Aber die unnatürliche Stellung, zu der ihn die eingeklemmte Hand zwang, ließ ihm keine Möglichkeit, Kraft zu entfalten. Diese Hand war jetzt ganz gefühllos. Doch im Gelenk über den Arm hinauf tobte das Blut, als wollten die Adern bersten. Seine Stirne wurde kalt und feucht.

»Heda!« schrie er mit geschnürter Stimme. »Kommt doch her . . . einer . . . schnell!«

Sie stürzten herbei, Winkelhuber zuerst, dann Max. Sie riefen Körner. Viele andere kamen gerannt.

»Der Martin ist verunglückt!« schrie es über den ganzen Hof. Einige Male. Als Antwort auf verworren gerufene Fragen.

»Komisch,« dachte Martin, »ich bin . . . verunglückt. Was für ein Wort, verunglückt . . . aber es 235 ist nicht so arg, wie man sich's vorstellt.« Er merkte gar nicht, wie ihm sein Kopf auf die Brust sank.

»Mensch,« fragte Körner, über ihn gebeugt, »wie ist dir das bloß passiert?«

»Platz da!« schrien Winkelhuber und Max. Sie hatten vorsichtig die Kiste gehoben, hatten sie gerückt und warfen sie nun aufs Pflaster.

Martin sah seine Hand. Wie etwas Fremdes lag sie da, leichenhaft weiß, mit vielen blauroten Flecken und Pünktchen. Unter die Haut gepreßtes Blut.

Er wollte aufstehen, aber es gelang ihm nicht gleich. Viele griffen zu, ihm zu helfen.

»Oh, danke«, flüsterte er und sprang empor. Doch er schwankte. Sofort wurde er von einigen Männern umfangen. Da stand er nun, hielt die verwundete Hand vor sich und versuchte ein Lächeln.

»Führt ihn doch in die Kantine!« – »Telephoniert schnell um einen Arzt!« – »Jesus, die Hand!« – »Der arme Teufel!« Unaufhörlich scholl es durcheinander. Als man ihn aus dem Winkel in den Hof brachte, öffnete sich das Gedränge der Arbeiter zum Spalier. Ein Mädchen begann laut zu weinen, erschüttert von dem Anblick seiner Hand. Andere Mädchen bekamen Tränen in die Augen. Die Männer hatten alle erschrockene, teilnahmsvolle Gesichter.

»Nicht in die Kantine,« bat Martin, »laßt mich im Freien . . .« Er konnte kaum sprechen.

»Er will nicht in die Kantine«, verkündigte Winkelhuber.

236 »Er will an der Luft bleiben«, erklärte Körner.

»Holt einen Stuhl«, riefen viele. »Schnell!« »Einen, der bequem ist!«

Martin versuchte, die Finger zu bewegen. Es war unmöglich.

Die Hand wurde langsam dunkelrot, wurde blau und schwoll unförmig an. Ein dumpfer Schmerz raste in ihr, pulste, hämmerte, pochte, griff den Arm hinan in die Schulterhöhle, wurde heftiger und heftiger.

Martin zerbiß seine Lippen.

Er war froh, als sie einen Stuhl brachten. Sie hatten noch eine kleine Weile gestritten, welcher der beste sei, der bequemste.

»Ist ja egal,« flüsterte er kaum hörbar, »nur sitzen.«

»Egal,« brüllte Max, »er will sich setzen.«

Behutsam ließen sie ihn nieder. Ein paar Mädchen waren da und stützten ihn.

Körner strich mißmutig seinen Hindenburg-Schnurrbart und befahl: »Bringt doch einen Schnaps!«

»Da ist er schon!« rief Berta, drängte sich vor, hielt ein Glas in der Hand und führte es Martin an die Lippen.

»Danke«, hauchte er, nahm es selbst und trank es aus. Dann ein wenig hörbarer: »Danke!«

»Du Armer,« sagte Berta, »tut's sehr weh?« Das klang ganz rein und beinahe mütterlich.

Ein anderes Mädchen brachte ein kaltnasses Tuch, das sie Martin auf die Stirne legte.

237 »Ah,« sagte er, »ah, das tut wohl!«

Da rannte wieder eine andere fort, kam mit einem zweiten kalten Umschlag und versuchte Martins Hand darein zu wickeln.

Doch schon bei der ersten Berührung stöhnte Martin »Oh!« Sein Kopf fiel nach rückwärts.

Er hörte, wie sie erschreckt murmelten: »Jetzt verliert er die Besinnung . . . Jetzt wird er ohnmächtig . . . keinen Umschlag, nehmt den Fetzen weg . . . aber nein, der Umschlag muß bleiben! Das ist gut . . .«

Plötzlich gab einer den Rat: »Hebt ihn auf ein Auto und fahrt mit ihm zur Schaffner.«

Martin zuckte. Nur das nicht! Überall hin! Nur nicht zu ihr! Nicht zu ihr als einer, der Hilfe sucht. Nicht zu ihr als einer, der Mitleid erregt. Er wehrte sich leidenschaftlich gegen alle, die nach ihm griffen. Er stieß mit beiden Ellbogen um sich.

»Was ist denn?« forschte Körner und neigte sich zu ihm.

»Nicht zur Schaffner!« brachte Martin hervor. »Nicht zur Schaffner! Um keinen Preis!«

»Nein . . . nein . . . sei nur ruhig . . . wenn du nicht willst . . . niemand zwingt dich . . .« Sie beschwichtigten ihn, wie man ein krankes Kind beschwichtigt.

Der Doktor kam und mit ihm der Beamte. Alle wichen zurück, machten Platz, blieben aber stehen.

»Na,« lachte der Beamte, »ein kleiner Unfall! Tut 238 mir sehr leid. Pech! Pech! Hat nicht viel zu sagen, was, Herr Doktor?«

Martin erkannte den Doktor Brunner. Der stand mürrisch vor ihm, sah ihm ins Gesicht und meinte: »I wo, der hält schon was aus.« Dann wickelte er, merkwürdig behutsam und schonend, den Umschlag herunter. »Jetzt tut's nicht mehr so weh?« fragte er.

»Nein«, bestätigte Martin.

»Also, ein paar Wochen wird's schon dauern«, meinte Doktor Brunner. »Frischen Umschlag«, befahl er. Dann betrachtete er die Hand genau. Sie war jetzt ganz dunkelblau, war so verschwollen, daß sie einer Hand kaum ähnlich sah. Doktor Brunner verordnete: »Oft gewechselte Umschläge mit essigsaurer Tonerde. Dann eine Salbe, zur Schonung der Haut und damit sie sich leichter schält. Allein können Sie nicht bleiben. Verheiratet?«

Martin lächelte schwach: »Nein.«

Doktor Brunner entschied: »Also erst mal Rettungsstation.«

Martin fuhr auf: »Nein!«

»Was heißt das?« brummte der Doktor.

Martin schüttelte den Kopf: »Nein! Nicht um die Welt!«

Doktor Brunner blickte ihn kühl an: »Brauchen sich nicht ereifern. Wir werden Sie nicht zwingen. Aber da Sie keine Privatpflege haben, ins Spital.«

Martin stimmte zu: »Meinetwegen.«

239 »Wenn Sie glauben, daß es im Spital besser ist!« herrschte ihn der Doktor an.

»Wasser!« bat Martin.

»Bringt ihm zu trinken«, gebot der Doktor und wandte sich zum Beamten: »Ich schreib' Ihnen den Spitalzettel in der Kanzlei.«

Die beiden gingen.

Berta brachte ein Glas Wasser.

Martin trank und dachte nach. »Winkelhuber«, flüsterte er.

»Winkelhuber!« rief Berta.

Im Nu war Winkelhuber bei ihm: »Willst was, Martin, sag's!«

Die anderen kehrten langsam wieder zu ihrer Arbeit zurück. Gerufen und angetrieben von den Werkführern, von der Notwendigkeit gedrängt, verließen sie ihn. Fast alle sagten ein gutes Wort, ehe sie gingen, entweder unmittelbar zu Martin oder untereinander, so daß er's hören mußte.

Martin war mit Winkelhuber allein.

»Bitt' dich,« sprach er leise, »geh' auf den Bau gleich nebenan.« Er wollte ihm den Platz beschreiben.

»Laß' nur,« unterbrach ihn Winkelhuber, »ich weiß schon, wo das ist.«

»Frag' dort nach dem Peter Spieß,« bat Martin, »so ein kleiner, blasser Kerl ist das.«

Winkelhuber nickte eifrig.

240 »Sag' ihm, er soll herkommen, ja? Ich laß' ihn ersuchen, daß er kommt.«

»Ja . . . gleich in der Mittagspause spring' ich hinüber,« versprach Winkelhuber, »es wird ohnehin bald zwölf sein!«

Martin blieb einsam inmitten der emsigen Arbeit des Hofes. Ab und zu kam einmal Berta oder ein anderes Mädchen, wechselten behutsam den kalten Umschlag seiner Hand, legten ihm ein frisches, kaltnasses Tuch auf die Stirn und tauschten dabei nur einen Blick mit Martin.

Er saß da, umlärmt und umhämmert, umklopft und umdröhnt von der Musik menschlichen Werktags, umhegt, umsorgt und betreut von menschlicher Teilnahme.

Zum erstenmal fühlte er: Gemeinsamkeit.

Es durchzog ihn jetzt, da er mit gemilderten Schmerzen allein blieb, wie sie alle sich bereitwillig gezeigt hatten, ihm zu helfen, wie sie voll Mitleid waren, voll Verstehen für Leid, Unglück und Qual, wie sie sich drängten, seine Not zu lindern, wie sie ihm Freunde waren, ohne Nebengedanken, wie viel Güte sie an den Tag legten.

Er fühlte: Gemeinsamkeit!

Sein Haupt lehnte weit zurück; er hielt die gesunde Hand vor die Augen und empfand tiefe Beschämung wie niemals noch im Leben. Das war kein Pack! Das war keine Bande! Das war kein Gesindel!

241 Nur sein Hochmut, sein dreister Dünkel hatte diese Menschen so beschimpft!

Ach, er war dumm! Dumm, hartherzig und schlecht! Er war unwissend. Früher!

Nun wußte er: das waren Menschen, wie er, wie sein Vater, wie Pollheim, wie Marta . . . Marta . . . Er lächelte. War sie besser, diese verwöhnte, reiche, hochgeehrte Marta, als die arme, kleine, verbuhlte Berta? Behütet war sie und kultiviert. Darin lag der ganze Unterschied.

Da waren Menschen, die in der Tiefe des Daseins gegen ein grausames Schicksal härter ringen mußten, als die erlesenen Menschen auf den Höhen des Lebens je ahnen konnten. Aber es waren Menschen wie diese! Genau so zart, genau so rechtschaffen, oft viel tapferer noch. Verschwendete, verlassene, mißhandelte, geduldige Menschen.

Großer Gott, wie geduldig sie waren.

In dieser Stunde fing Martin an, Tine Schaffner zu verstehen. So mächtig schoß dieses Verstehen in ihm auf, so breit durchströmte es sein Wesen, daß er wieder die Hand vor die Augen legte und in tiefer schmerzhafter Beschämung verharrte. Was für ein Geschöpf war Tine, was für eine große, gütige Seele. Er liebte sie in dieser Stunde mit einer demütigen, von Reue erfüllten Liebe. Er war ihr inniger verbunden als je vorher. Heißer als sonst sehnte er sich nach ihr und fühlte doch zum erstenmal ganz deutlich, daß er ihrer nicht wert war.

242 Jetzt begriff er, weshalb und wieso er sie erzürnt hatte, begriff, warum sie ihn immer wieder so heftig zurückgewiesen hatte.

Sie war, halb ein Kind noch, an den Betten der Verwundeten und Sterbenden gestanden. Sie hatte alles kennengelernt, was Menschen an argen Schicksalen, an Martern, an quälendem Unglück ertrugen. Sie hielt aus bei ihnen, teilnahmsvoll, hilfsbereit, unermüdlich tätig. Sie brachte sich dar, opfermutig, mit ihrer Jugend, ihrer köstlichen Schönheit, Tag um Tag, Jahr um Jahr . . . Und er? Wie schämte er sich jetzt all der törichten, häßlichen Reden! Wie brannten diese anmaßenden, knabenhaften Worte in seinem Herzen.

Die Glocken läuteten, die Dampfmaschinen pfiffen, die Sirenen heulten Mittag.

Von allen Seiten liefen, gingen, wimmelten die Arbeiter zur Kantine. Fast jeder machte den Bogen, um vorher an Martin vorbeizukommen.

»Nun, wie geht's?«

»Tut's noch sehr weh?«

»Armer Kerl . . . Du tust mir leid!«

»Hoffentlich wird's bald besser!«

Fast jeder rief ihm ein freundliches Wort zu, eine teilnehmende Frage. Und jedem antwortete Martin, jeden lächelte er an. Es belästigte ihn nicht mehr, im Gespräch mit so vielen fremden, armseligen Leuten zu sein. Es forderte keinen Hochmut mehr heraus. Diese Schranke war eingestürzt. Das waren keine Fremden, 243 und ihre Armseligkeit weckte ein Erbarmen, das in ihm stürmisch sich regte. Er war selbst ein Armseliger, blieb es, wenn er gleich morgen wieder heimkehrte in den Palast des Vaters. Er gehörte zu den Menschen, nicht zu diesen nur allein, aber auch zu den Glücklichen nicht allein mehr, in deren Mitte er aufgewachsen war. Zu allen Menschen gehörte er von jetzt an. Sein Herz stand weit offen.

»Na, du schaust nett aus, mein Lieber!«

Das war Peter Spieß, der ihn anredete. Über und über bedeckt mit rötlichem Ziegelstaub, den Rock und das blasse, schmale Gesicht mit Kalkspritzern beklext, lachte Peter ihn an.

»Fein herausgeputzt, du blessierter Krieger!« Er scherzte Sentimentalität hinweg, doch in den flinken Augen sprachen aufrichtiges Bedauern und herzliche Sorge.

»Schmerzen?«

»Nicht sehr arg«, antwortete Martin und hielt Peters Hand fest in der gesunden Rechten. »Spieß . . .« begann er.

»Na, was soll ich?« Peters Stimme hatte einen weichen Klang.

»Sei so gut,« bat Martin, »sei so gut und führ' du mich ins Spital!«

»Wozu denn?« Peter lachte. »Wegen dem bissel brauchst du doch nicht ins Spital!«

»Ich muß aber,« Martin hielt Peter noch immer bei der Hand, »der Doktor hat's befohlen.«

244 »Ach was,« widersprach Peter, »du hast doch nichts anderes nötig, als Umschläg'. Das kenn' ich doch, wenn sich einer was zerquetscht hat . . .«

»Ja,« Martin senkte den Kopf, »in die Rettungsstation will ich nicht . . .«

»Warum nicht?« staunte Peter.

»Ich will nicht und will nicht!« Martin zeigte dünne Lippen und ein eigensinniges Gesicht. »Lieber sterben, als dorthin!«

»Komischer Kauz.« Peter blickte erstaunt. »Gerad dort wär's am besten. Dort wird unsereiner so behandelt, wie ein Mensch. Früh um sieben gehst hin, abends um acht oder neun kommst nach Haus. Und das Essen ist gut. Und ein Garten ist auch da.«

Martin murmelte mit zusammengebissenem Mund: »Lieber sterben.«

»Sterben hat Zeit,« Peter wurde wieder munter, »willst nicht zur Schaffner,« Martin zuckte, »na so willst eben nicht. Des Menschen Wille ist sein Bumslokal . . .«

»Also führst du mich . . .?«

»Ins Spital?« Der kleine Peter riß seine Hand los und zappelte ein wenig. »Nicht einmal denken, mein Lieber! Was hast du im Spital zu suchen? Gar nichts!«

»Aber . . .«

»Kein Aber! Du kommst zu mir. Fertig und Schluß,« Peter war seelenvergnügt, »schweig! Und ruhig, wenn 245 du mit mir sprichst. Du kommst zu mir. Das ist das Allergescheiteste, was so ein Schwerverwundeter tun kann . . .«

»Das ist doch unmöglich?« wehrte sich Martin.

»Was heißt unmöglich,« prahlte Peter, »was weißt denn du, was möglich ist und was nicht! Mein Lieber, bei mir ist's besser wie in der Rettungsstation, das sag' ich dir, und auf mich kannst du dich verlassen, ich kenn' mich überall aus, dort bei der Schaffner und zu Haus bei der Marie.«

»Ach, Peter.« Martin mußte lächeln.

»Ich sag' dir,« fuhr Peter fort, »meine Marie, die pflegt dich, daß du dir die Händ und Füß einquetschen wirst, nur damit du in ihrer Pflege bleibst. Sie ist ein großartiges Weibsbild, meine Marie . . .«

»Das glaub' ich«, beteuerte Martin.

»Und schlafen?« Peter klatschte in die Hände. »Ja, schlafen mußt du in der Küche, wo die Adeli schlaft. Na, keine Angst! Nicht bei ihr im Bett. Neben so einem Riesenfrauenzimmer wär' ja kein Platz für dich. Auf dem Sofa mußt schlafen oder auf dem Fußboden. Und daß du der Adeli ihrer Tugend gefährlich wirst, da hab' ich keine Sorg'! Daß sie dich in Versuchung führt, noch weniger! Arme Adeli!« Er wurde ernst. »Arme Adeli, schad' um das Mädel.« Peter schlug einen andern Ton an. »Abgemacht! Komm' nur gleich mit! Die Marie wartet schon! Die bringt mir das Essen auf den Bau . . . und mit ihr gehst du nach Haus!«

246 »Nein, Peter!« Schon bezwungen, wollte Martin doch noch ablehnen.

»Soll mir mein Essen kalt werden, wegen dir? Du fader Zips!« Peter war spaßig, doch energisch. »Rühr dich! Wir werden schon alles erledigen, Feierabend, alles, dahier und bei deinen Quartierleuten.«

»Soll ich denn wirklich?« fragte Martin.

»Aber schleunigst!« rief Peter. »Steh' endlich auf von dem Thron da! Und glaub' mir, mit der Marie gehst du viel besser, wie mit mir. Die tragt dich auch, wenn's sein muß!«

 


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