Felix Salten
Martin Overbeck
Felix Salten

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Rufen Sie meinen Sohn . . .«

Herr Overbeck sagte es leise, gleichgültigen Tones, während ihm der Sekretär ein ganzes Bündel Geschäftspapiere unter den Händen vom Schreibtisch wegzog. Schon häufte ein zweiter Sekretär neue Korrespondenz vor ihm. Und zwischendurch hatte Herr Overbeck, seine spitze Nase in die Briefe steckend, dem alten Kammerdiener Christoph mit leiser, gleichgültig klingender Stimme befohlen: »Rufen Sie meinen Sohn . . .«

Der alte Christoph verschwand ohne ein Wort.

Er wußte, daß es nicht erlaubt und außerdem ganz nutzlos war, ungefragt ein Wort zu sprechen. Er war aus den Wohnzimmern herüber beordert worden, weil Herr Overbeck, mitten in der Erledigung der Frühpost, auf den elektrischen Klingelknopf getupft hatte, ganz nebenher, in der Gewohnheit, an viele Dinge gleichzeitig zu denken und viele Angelegenheiten gleichzeitig zu besorgen. Jetzt ging der alte Christoph, ein wenig steifbeinig, aber mit einer Würde, die zu groß, zu einfach und zu selbstverständlich schien, als daß sie sich feierlich betonen müßte, durch den Vorsaal. Er ahmte die 8 Haltung des Herrn Overbeck nach, aber er wußte es nicht mehr, daß er seinen Herrn kopierte.

Im Vorsaal warteten die Ressortchefs, die Prokuristen, die Direktoren der Firma Overbeck mit Schriften, Mappen und Büchern im Arm, um der Reihe nach vor dem Gebieter zu erscheinen.

Der alte Christoph schritt mitten durch, ohne jemanden anzusehen. Er gehörte nicht zum »Bureaupersonal« und kümmerte sich nicht um diese Gesellschaft. Für ihn waren sie alle gleich, Generaldirektoren oder Praktikanten. Er machte keinen Unterschied.

Leise glitt er durch eine kleine, schwere Türe der Vertäfelung und befand sich nun im Wohntrakt des Palastes. Hier war er zu Hause.

Er stieg eine schmale, braune Holztreppe hinauf, zu den Gemächern des jungen Herrn. Den Dienern gab er Befehle: »Bad richten – Hemd bereitlegen.« Genau so tonlos und so gleichgültig, wie vorhin Herr Overbeck gesprochen hatte.

Dann trat er in das verdunkelte Zimmer.

Man kann mitten in der Nacht nicht tiefer schlafen als Martin Overbeck jetzt, am hellen Morgen, schlief. Ein gesunder, junger Mensch, beinahe ein Riese, lag er nun, um acht, in den Federn, von einem großen, schönen Schlaf umfangen.

Er hörte nichts von dem lärmenden Brausen der längst erwachten Großstadt, denn die Fenster gingen auf den weiten Park des Hauses, auch waren die 9 Laden geschlossen und die schweren Seidenvorhänge zugezogen. Außerdem stand das Haus in der stillen, vornehmen Straße einer stillen, vornehmen Gegend, wohin das betäubende Lärmen nicht dringt, das billiger Massenverkehr und gemeine Arbeit verursachen.

Martin Overbeck hörte nicht einmal den alten Christoph, der freilich sehr behutsam an das Bett trat.

»Junger Herr . . .« flüsterte Christoph, »junger Herr . . .« Vorsichtig fügte er hinzu: »Sie sollen zu Ihrem Herrn Vater kommen . . .« Aber dieses Wispern war mehr geeignet, ein kleines Kind einzuwiegen, als einen erwachsenen jungen Menschen aus dem Bombenschlaf zu holen.

Der alte Christoph beugte sich nieder, sah nichts als den in die Kissen vergrabenen blonden Kopf und vernahm nichts als die ungestörten tiefen Atemzüge des Schlafenden.

Noch zwei, dreimal flüsterte er vorsichtig: »Junger Herr . . . junger Herr.« Dann ließ er ein winziges Lächeln um seine Lippen zucken, hob, kaum merkbar, die Arme, als wollte er sagen: »Ich kann's nicht und ich tu's nicht«, worauf er sacht aus dem Zimmer schlich.

 

Was die Menschen zur gleichen Stunde so treiben, ist natürlich tausend- und aber tausendfach verschieden. Man weiß das ja und es ist eine alte Geschichte, daß der eine sich abrackert, indessen der andere schwelgt, 10 daß der eine sich in Schmerzen windet, während der andere in Gesundheitsfülle jubelt, daß der eine genau um dieselbe Stunde stirbt, in welcher der andere zur Welt kommt. Auf dem Land vermindern sich diese zahllosen Variationen ein wenig. Denn die Bauern, den Urformen menschlicher Gesellschaft noch ziemlich nahe, leben in einem einfachen, gleichförmigen Rhythmus von Arbeit und Ausruhen. Zu denselben Stunden bebauen sie das Feld, zur selben Stunde halten sie ihre Mahlzeiten, beten und gehen zur selben Stunde schlafen. Die Vielfalt der Großstadt aber steigert die Tragikomödie über jede Schablone hinaus ins Skurrile, ins Abenteuerliche, ins Märchenhafte und ins Erhabene. Hier klaffen Unterschiede, die durch keine Brücke zu verbinden sind. Hier scheidet Fremdheit den Menschen vom Menschen, kälter, grausamer, unheilbarer, als Verkrüppelung den Gesunden vom Kranken trennt. Hier gibt es Abstände von einem zum andern, die größer scheinen, als irgend ein Erdenmaß zu messen vermag. All das geschieht ununterbrochen, dicht gedrängt auf dem verhältnismäßig kleinen Erdenfleck, den eine Riesenstadt einnimmt, auf dem Raum, der, mit dem offenen Land verglichen, nur eine Handbreit Boden genannt werden kann. Wären die Menschen nicht vollkommen abgestumpft gegen die furchtbaren und grotesken Kontraste, welche die Großstadt auf Schritt und Tritt bietet, sie würden sich die Augen ausweinen oder sich totlachen oder sie würden eine noch nicht dagewesene 11 Revolution anfangen, gegen alle menschlichen Einrichtungen, vor allem aber gegen die menschliche Natur und gegen das Schicksal.

Zur selben Stunde, als Martin Overbeck in seinem Prunkbett schlief, um acht Uhr am Morgen, jung, gesund und reich, lag der Maurer Peter Spieß in einer Gartenanlage der Vorstadt auf der bloßen, kalten Erde und schlief gleichfalls, jung, arm und berauscht. Er lag abseits vom Wege, Brust und Haupt in ein Gebüsch verwühlt, das ihm den Tau ins Gesicht und an den Leib tropfte. Die Leute, die vorbei gingen, sahen seine ausgestreckten Beine; sie wußten nicht, ob das ein Toter sei oder ein Lebendiger, ein Kranker oder ein Trunkener. Und sie hüteten sich, stehen zu bleiben, sie eilten vorüber, von Grauen, Ekel oder Mitleid ein wenig geschüttelt, denn sie mußten an ihr Tagwerk, sie scheuten sich vor Verspätung, wenn sie sich etwa darauf einließen, nach dem Mann, der dort am Boden lag, zu sehen. So schlief denn Peter Spieß, der Maurer, ungestört weiter. Er hatte die Gewohnheit, sich dann und wann einmal sinnlos zu betrinken. Das kam daher, weil er ein kleiner, dünner, schmächtiger Mann war, der nur wenig vertragen konnte. Wie so viele kleine, dürftige Kerlchen, hatte er ein geselliges Wesen; er liebte es, großzutun und sich in Gesellschaft von Kameraden aufzuspielen. Darüber ging dann jedesmal sein bißchen Wochenlohn und sein Bewußtsein flöten. Er kam niemals nach Hause, wenn er berauscht war, und es ließ sich niemals 12 ermitteln, ob er aus Schamgefühl lieber im Freien nächtigte, oder ob er in solchem Zustand den Heimweg nicht finden konnte. Oft genug wurde er in derartigem Freiluftschlaf von Vagabunden gefleddert. Manchmal hatten sie ihn schon gänzlich ausgezogen. Doch heute war nur sein Hut, sein Rock und sein Schuhzeug weg. Er lag in Hose und Hemd und schlief. Zur selben Stunde aber, da der alte Christoph an das Bett des Martin Overbeck trat, entdeckte ein Schutzmann den Maurer Peter Spieß.

Zur selben Stunde arbeitete Tine Schaffner in ihrer Rettungsstation. Sie war ein bildschönes, junges Mädchen und sie hatte ein braves Herz. Ihr Schicksal ist schwer und dennoch einfach gewesen, wie das Geschick so vieler anderer junger Mädchen in dieser Zeit großer Stürme und gewaltsamer Übergänge. Nur, daß Tine Schaffner mehr Tüchtigkeit besaß und mehr gesunde Vernunft, als manche andere. Die Tochter eines Generals, kam sie im dritten Kriegsjahr, kaum achtzehnjährig, aus einem anspruchsvollen Leben des geschäftigen Müßigganges und sportlichen Vergnügens. Wie ihr Vater ins Feld zog, hielt sie sich, ein Backfisch noch, bei ihrer Mutter. Mit allen Lustbarkeiten war es plötzlich zu Ende und sie verbrachte eine stille, ernste, traurige Zeit in der Angst um den Vater und im Kampf mit der zimperlich mütterlichen Sorge, die ihr beständig vorhielt, daß sie zu jung sei, um sich nützlich zu machen. Endlich trat sie in das kleine Verwundeten-Lazarett als 13 Pflegerin. Es war hier in der äußeren Vorstadt, ein Lokal, das vorher einem Lebensmittelgeschäft als Unterkunft gedient hatte.

Tine Schaffner lernte sich selbst kennen, während sie erste, tastende und später immer inniger gesteigerte Berührung mit dem unmenschlichen Elend der Menschen fand und mit der unermeßlichen menschlichen Geduld. Sie entdeckte in sich die Fähigkeit, helfen zu können und sie sagte sich: Helfen will ich! Nicht mit Worten sagte sie das, nicht in tragischer Deklamation. Sie hatte gar kein Talent zur Tragik oder zur Deklamation. Mit ihrer festen Willenskraft trat sie dem Unglück der Menschen überall entgegen, einfach, fast heiter, wie die blühende Gesundheit selbst, die alles überwindet. Sie wurde persönlich vom Unglück nicht verschont, aber das war ihr nur ein Antrieb mehr, anderen zu dienen. Der Umsturz kam und schleuderte den Vater-General ins Zivil und in Verbitterung. Tine Schaffner blieb aufrecht. Die Verwundeten starben oder gingen geheilt davon und das Lazarett wurde aufgelöst. Aber Tine Schaffner wich nicht vom Platz; sie nahm das Lokal in Beschlag und errichtete darin ihre Rettungsstation. Die Schieber und neuen Reichen boten ihr dazu die Mittel, die Tine mit freundlicher Bestimmtheit von ihnen forderte. Man warf ihr in Gewissensangst Tausende zu, man zahlte Lösegeld und war noch froh bei dem Gedanken, sich damit vielleicht von der Revolution loszukaufen. Tine Schaffner trieb keine Politik. 14 Sie hatte gar keine politischen Gedanken oder Meinungen und sie war vollständig frei von allen Standesvorurteilen ihrer Familie; sie folgte nur ihrem Gefühl, das sie immer wieder anwies, den Armen, den Hilflosen, den Unglücklichen beizustehen. Ihr Vater starb. Aber sie blieb aufrecht an ihrer Arbeit. Ihre Mutter verkaufte Wohnung und Möbel, zog zu Verwandten in die Provinz und verlangte unter Zanken, Tränen und Flüchen, die Tochter solle sie begleiten. Tine Schaffner blieb auf ihrem Posten. Sie nahm das Alleinsein als eine Erleichterung ihrer Arbeit und erschwerte sich das Dasein, indem sie nun eine Kammer der Rettungsstation für sich zurecht machen ließ und von da an, mit Glocke und Lichtsignal, auch einen Nachtdienst einrichtete.

Jetzt war sie eben dabei, Milch an arme Mütter und an Schulkinder auszugeben.

Durch die Glastüre sah sie in den Raum, wo der alte Dr. Brunner Ambulanz hielt, und durch eine andere Glastüre beobachtete sie ihre Gehilfinnen, die den Zudrang von allerlei Leuten in Ordnung erledigten.

Als die Milchkundschaft abgefertigt war, kam ein kleiner, ganz verhutzelter alter Mann hinter einem Verschlag hervor. Er blickte sorgenvoll über seine Brille hinweg auf Tine und krähte mit schwachem Fistelstimmchen: »Wir brauchen wieder Geld, Fräulein Schaffner.«

15 Tine Schaffner lachte: »Wieder Geld? Woher nehmen?«

Dr. Brunner unterbrach die Ordination und trat herzu, breit und behaglich! »Was gibt's, Fräulein Schaffner?«

Tine gab lächelnd Bescheid: »Der Mausberger meint, wir brauchen wieder Geld.«

»Na . . . und?« brummte Dr. Brunner.

»Woher?« rief Tine und schlug die Hände zusammen.

»Ja,« sagte der Doktor und seufzte auf: »So leicht wie in der Inflationszeit geht's freilich nicht mehr.«

Auch Tine stieß einen kleinen Seufzer aus.

Der verhutzelte kleine Mann, Herr Mausberger, hielt seine erloschenen alten Augen über die Brillengläser hinweg mißbilligend und erwartungsvoll auf Tine gerichtet.

»Liebes Kind,« sprach Dr. Brunner mit seiner tiefen, ein wenig röchelnden Stimme, »liebes Kind, da bleibt nix übrig, als betteln gehn oder den Betrieb einstellen.«

Tine zuckte zusammen. »Gut, dann geh' ich eben betteln!«

»Wieder einmal«, lachte der Doktor.

 

Hör' doch endlich zu heulen auf!«

Es war genau acht Uhr, also zur selben Stunde, um die der alte Overbeck nach seinem Sohn verlangte, um welche Martin Overbeck in seinem 16 herrlichen Bett so herrlich schlief; zur selben Stunde, um welche Tine Schaffner erklärte, sie wolle »betteln« gehn, und um welche der Schutzmann sich anschickte, den Maurer Peter Spieß wachzurütteln.

Da schrie die Schwester Peters von ihrer Nähmaschine her zu Peters Gattin hinüber: »Hör' doch endlich zu heulen auf!« Sie war genau so schwächlich und zerbrechlich, wie ihr Bruder, die Schwester von Peter Spieß, nur hatte sie noch bleichere Wangen, noch ein viel schmäleres Gesicht als der Maurer und überdies stieg ihr der verkrümmte Rücken über die rechte Schulter spitz hinaus. Sie hörte auf den hochgewölbten Namen Adelgunde, doch sie hörte nicht gerne darauf. »Das ist mein unsichtbarer Buckel!« pflegte sie zu sagen, und sie hatte es lieber, wenn man sie Adeli oder Gundeli rief.

Jetzt schaute sie lustig zur Schwägerin hinüber, die vor dem Herd auf einem niederen Schemel hockte und ihren Tränen freien Lauf ließ. Ein ganzes Gebirge von Fleisch war die zusammengekauerte Marie, ein gewaltiges Exemplar ihrer Gattung. Sie schluchzte wie ein Schulmädel »u–u–uhuhu« und ihre Klagetöne wurden nach dem ermahnenden Anruf nur noch lauter.

Dazwischen ratterte die Nähmaschine und Adeli schrie: »So ein Mordsweib und plärrt wie ein kleines Kind!«

Marie erhob sich schwerfällig. Es stimmte, sie war ein gigantisches Frauenzimmer. Ihre straffen, überaus 17 runden Formen drohten das blaue Kattunkleid überall zu zersprengen. Die braunen, dicken Zöpfe lagen hochgetürmt auf ihrem Scheitel. Marie schluchzte, daß ihr mächtiger Busen bebte: »Ach Gott, o Gott, der Mann – der Mann! Der macht mir mehr Sorgen als sechs kleine Kinder.«

»Was weißt denn du?« schrie Adeli durch den sanft hinratternden Donner der Maschine. »Bring' doch erst mal so ein lebendiges Junges zur Welt, dann wirst du vergleichen können.« Sie hatte eine Papageienstimme und sie lachte jedesmal hinter den eigenen Worten drein, gurrend, mit Kehllauten, wie ein Kuckuck nach dem Ruf.

»Was der Mann mir antut!« stöhnte Marie verzweifelt.

Adeli lachte, »Mann? Sag' doch Mannderle . . . Männchen . . . Hampelmännchen . . . Daumenlanger Hansl!«

»Du heiliger Himmelvater,« weinte Marie laut heraus, »wer weiß, ob ich ihn lebendig wiederseh' –«

»Ach, Unsinn«, schrie Adeli lustig.

»Neein – nee – ein,« Marie war untröstlich, »ich weiß nicht, mir ist heute so bange – so schrecklich bang.«

»Dir ist jedesmal bang,« gab Adeli zurück, »jedesmal, wenn der Peter über Nacht wegbleibt. Und jedesmal kommt er sternhagelvoll daher – deswegen braucht man kein Theater machen, was ist schon dabei?«

»Aber . . .« Marie wollte ihr Herz noch weiter ausschütten.

18 »Schluß!« kreischte Adeli. »Ich hab' Hunger, verstehst du? Drei Stunden näh' ich schon. Koch' jetzt den Kaffee.«

Marie wandte sich gehorsam zum Herd und legte Feuer an. Man hörte nun nichts mehr als das Knattern von Adelis Maschine, das leise Brausen der Flamme, das Knacken verbrennender Holzstücke und zwischendurch ein vereinzeltes Aufschluchzen von Marie.

 

Der alte Overbeck nahm den Bericht entgegen, den ihm der Zentraldirektor der Kohlenbergwerke erstattete, er besprach sich mit dem Chefingenieur der Petroleumgruben und hatte das Eintreten seines Sohnes erwartet, während er dem Direktor der Maschinenfabriken Instruktionen gab. Als der Moment verstrichen war, ohne daß Martin erschien, tupfte der alte Overbeck, ruhig weiter redend, wieder auf den Knopf, der den Kammerdiener herbeirief.

Christoph kam lautlos herein und blieb an der Türe stehen. Herr Overbeck tat, als bemerke er ihn gar nicht, und setzte seine Unterredung fort. Es dauerte noch ein paar Minuten, seine leise, tonlos gleichgültige Stimme plätscherte verschwindend und verhallend durch den riesigen Raum. Dann entließ er den Beamten, und der empfahl sich ziemlich eilig. Herr Overbeck war still und gerade in seinem Fauteuil sitzen geblieben. Der alte Christoph stand regungslos an der Türe. Ein Blick 19 aus den hellgrauen Stahlaugen Overbecks traf ihn und gab ihm das Zeichen.

Der alte Christoph hob ganz wenig die Arme: »Er schläft so gut«, sagte er flüsternd.

Overbeck sah nach der Uhr, die auf dem Marmorkamin tickte. »Halb neun«, sprach er mißbilligend. »Höchste Zeit . . .«

Wieder hob Christoph ganz wenig die Arme, neigte den schneeweißen Kopf ein bißchen, und sein rosiges, altes Gesicht wagte ein kleines Lächeln: »Ich hab' nicht das Herz gehabt, ihn zu wecken.«

Mit einem Ruck fuhr Herr Overbeck empor, stand hoch und schlank da, warf den Bleistift auf den Schreibtisch nieder und sagte:

»So werde ich mir erlauben, den jungen Herrn zu wecken.« Mit raschen Schritten kam er heran. Christoph öffnete die Türe, verneigte sich und murmelte: »Verzeihung.« Während Overbeck an ihm vorbeiging, sprach er zu Christoph: »Um halb neun kann man schon das Herz haben, einen jungen Menschen aus den Federn zu holen, verstehst du?« Seine Augen blitzten ihn an.

Der alte Christoph, der hinter ihm dreinging, wußte, das bedeutet Sturm. »Lieber Herr,« dachte er, während sie die enge, braungetäfelte Holztreppe hinaufstiegen, »lieber Herr, du hast leicht reden, du gehst um neun Uhr schlafen, aber dein Sohn ist jung!«

Sie kamen in das verdunkelte Zimmer. Herr Overbeck 20 wandte sich zu Christoph und deutete mit ausgestrecktem Arm nach den Fenstern. »Auf damit!« Dann stellte er sich an das Fußende des Bettes. Das Tageslicht brach herein gleich einem Donner. Die Maiensonne erhellte ein köstliches Gemach, darin antike Kommoden, Fauteuils und seltene Nippes aus der Zeit des fünfzehnten Ludwig in wunderbaren Formen, in wunderbaren Farben des Holzes, der Bronze, der Brokate und der Teppiche schimmerten. Auf dem Fell neben dem Bett dehnte Kicks, der große Wolfshund, erwachend seine Glieder und klopfte dabei im Wedeln sacht den Boden. Herr Overbeck schlug mit der Faust auf die Ornamente des Bettes. Das schmerzte unerwartet heftig. Zornig schrie er: »Auf! Martin, auf!«

»Mmhm.« Der Schlafende wälzte sich, als wollte er unter Decke und Kissen sich verkriechen.

Herr Overbeck fuhr fort, zu sprechen. Er schien anzunehmen, Martin sei wach. Er war offenbar in Erregung, Herr Overbeck, denn er redete jetzt ganz laut. Seine volle Stimme hatte einen aufpeitschenden, hellen Trompetenklang. »Was fällt dir ein, bis in den halben Vormittag zu ruhen? He? Ich frage dich, was fällt dir ein? Wie kannst du? Seit drei Stunden bin ich an der Arbeit, und du . . .« Er schrie jetzt: »Martin . . . dieses Lotterleben muß ein Ende nehmen . . . Verstehst du . . . Ich dulde . . . ich erlaube . . .«

»Was gibt's denn?«

Martin war wie ein gereizter Kater in die Höhe 21 gefahren, blitzschnell, saß nun aufrecht, den Kopf vorgestoßen. »Was gibt's denn?« brüllte er dem Vater ins Gesicht. »Zum Teufel! Brennt's?«

Overbeck antwortete in der gleichen Art: »Neun Uhr ist es! Neun Uhr!«

»Na, wenn schon!« kläffte Martin.

»Es ist schamlos!« schrie Overbeck. »Schamlos! Ein gesunder, junger Mensch –« Das klang wie Fanfare.

»Hab' dich nicht . . . Ja?« unterbrach ihn Martin.

Während sie einander anbrüllten, beide den Kopf vorgestoßen, nahe beisammen, nur die Bettwand zwischen ihnen, ging es dem Vater durch den Sinn: jung und gesund ist er . . . ein hübscher, baumstarker Bengel . . . ach was, ich darf mir nichts merken lassen . . . und er tobte: »Wie sprichst du denn mit mir? He? Was erlaubst . . .«

Martin sah dem Vater fest und zornig in die Augen und dachte: Glänzend sieht er aus, der Alte, prachtvoll gebieterisch . . . aber verdammt . . . mir soll er nicht so kommen . . . Und er gab zurück: »Weil das keine Art ist . . . einen mit solchem Krach aus dem Schlaf zu sprengen . . .« Und murrend setzte er hinzu: »Jetzt hab' ich Kopfschmerzen . . .«

»Nimm eine Dusche!« sagte Herr Overbeck.

»Danke«, erwiderte Martin und sprang aus dem Bett. »Die nehm' ich ohnedies.« Da stand er nun, im dunkelblauen Pyjama, schlank und hoch, und die 22 goldblonden Haare hingen ihm bis zu den Wangen ins Gesicht.

Mit einem kurzen Blick trank Herr Overbeck Gestalt und Antlitz des Sohnes. Dann sagte er mit leiser Stimme, in der nur noch sehr wenig Groll war: »Ich hab' dich rufen lassen . . . muß mit dir sprechen.«

»Das kann ich nicht riechen«, maulte Martin, sagte dann höflich: »Verzeih'« und beugte sich verlegen nieder, um den Hund zu streicheln. In dieser Stellung, immer wieder mit dem Hund befaßt, der den Morgengruß stürmisch erwiderte, fuhr er fort, sich zu verteidigen: »Warum hat mich denn . . . wenn du nach mir geschickt hast . . . Christoph – warum hast du mich nicht geweckt . . .?«

Ehe der Kammerdiener antworten konnte, sagte Herr Overbeck: »Er hat's nicht übers Herz gebracht, die zärtliche Seele.«

Martin schnellte empor. Vater und Sohn sahen einander an und dann lächelten sie alle beide.

Auch Christoph an der Tür erlaubte sich ein kleines Lächeln.

»Ich erwarte dich drüben.« Mit diesen Worten verließ Overbeck das Zimmer.

 

Im Vorraum der Rettungsstation war jetzt eine Menge armer Menschen, als die Türe aufging und der Schutzmann den kleinen Peter Spieß hereinschleppte.

23 Tine Schaffner hielt in ihrer Unterredung mit einem jungen, schwangeren Frauenzimmer inne und blickte auf. Auch die Leute machten so merkwürdig bereitwillig Platz und das Summen der geflüsterten Gespräche brach jählings ab.

Tine Schaffner gewahrte zuerst nur die hohe Gestalt des Schutzmannes.

»Da bring ich Ihren Liebling, Fräulein,« lachte der, trat vor und sagte: »Guten Morgen« und zeigte Peter Spieß, der ihm wie ein schlappes Bündel vom Arm hing.

»Ach, du heiliger Strohsack,« rief Tine Schaffner, schlug die Hände zusammen und lächelte den Schutzmann, dann alle Anwesenden der Reihe nach an: »Schon wieder, Herr Spieß? Schon wieder?«

»Hat sich was, mit Herr,« meinte der Schutzmann, »liegt da im Dreck, der . . .«

Tine Schaffner winkte freundlich ab. »Wo soll er denn liegen? Wenn er so ein Pech hat«, sagte sie. »Nicht wahr, Herr Spieß?«

Der kleine, bleiche Maurer war noch nicht vernehmungsfähig. Er zitterte am ganzen Körper, hatte die Augen geschlossen, drohte umzusinken und barg seinen Kopf an der Brust des Schutzmannes.

»Na, kommen Sie,« sprach ihm Tine Schaffner zu, »kommen Sie, noch ein bißchen schlafen . . . das wird Ihnen gut sein.« Sie löste die kleine Jammergestalt von der Brust des Schutzmannes, und Peter Spieß sank nun ihr in die Arme.

Dr. Brunner war herangetreten, auch ein paar von 24 den jungen Mädchen, die in der Rettungsstation Hilfsdienst verrichteten.

»Tragen wir ihn dort hinein, in die Kammer . . .« beschloß Tine.

Eines der Mädel griff nach den bloßen Füßen des Maurers, Tine hielt ihn unter den Achselhöhlen. Ein zweites Mädchen wollte ihr die Last abnehmen. »Lassen Sie nur, Emma,« dankte Tine, »ich hab' ihn schon! Also vorwärts.«

Peter Spieß schlief.

Die Leute sahen seinen Abtransport stumm mit an. Entrüstet die einen, mitleidig die andern.

Drinnen wurde der betrunkene Maurer auf die einzige Pritsche gebettet, die der Raum enthielt. Sie war mit einer Wachsleinwand bezogen, und Peter Spieß wurde sogleich von Frost geschüttelt.

»Bringen Sie rasch eine Decke«, befahl Tine dem Mädchen, wandte sich dann zu Dr. Brunner und fragte: »Nun . . .?«

Dr. Brunner sah mißbilligend zu dem Schlafenden nieder. »Sternhagelvoll«, brummte er.

»Scharfsinnige Diagnose«, lachte Tine.

»Das verdammte Saufen,« ließ sich Dr. Brunner weiter vernehmen, »die kalte Nacht im Freien . . . es gibt was Besseres für kranke Lungen . . .«

»Ach ja«, seufzte Tine.

»Wird diesmal noch davonkommen«, beruhigte sie Dr. Brunner.

25 Das Mädchen brachte einen schweren dicken Pferdekotzen und breitete ihn über den Maurer. Tine zog ihm die Decke bis ans Kinn zurecht.

Draußen ging Tine zum Schutzmann, der sich eben entfernen wollte. »Danke Ihnen, daß Sie mir ihn gebracht haben.« Sie gab ihm die Hand.

»O bitte,« stotterte der, »nichts zu danken . . . wir bringen diese Kunden ja immer zu Ihnen . . . wir sind ja froh, wenn wir sie nicht haben müssen . . .«

»Sagen Sie, bitte,« erkundigte sich Tine, »können Sie seine Frau verständigen . . . oder soll ich hinschicken . . .?«

»Na,« der Schutzmann zögerte, »ich hab' nämlich noch eine Stunde Dienst . . . aber dann . . .«

»Nein, nein,« rief Tine, »Betti wird gleich hinlaufen . . . es ist besser so . . . die Frau erfährt's früher . . . und . . .« sie lächelte, » . . . vor Ihnen würde sie erschrecken.«

Als dann der Schutzmann fort war, wandte sich Tine zu Dr. Brunner und den Gehilfinnen: »Doktor, Emma, Julie . . . Ihr müßt mich jetzt für eine Stunde oder zwei vertreten . . . Ich muß doch zu den reichen Leuten«, lachte sie.

In ihrem Stübchen machte sie sich rasch fertig. Ehe sie die Station verließ, ging sie noch in den Verschlag, wo Mausberger zwischen hochgeschichteten Konservenbüchsen an einem kleinen Pult Bücher und Briefe besorgte.

26 Sie tupfte ihn auf die Schulter: »Addio . . . ich hole Geld!«

Mausberger wandte ihr sein vergilbtes, altes Gesicht zu und sah sie über die Brillengläser mit trübseligen, erloschenen Augen an. »Wenn Sie nur nicht immer lachen wollten, Fräulein Schaffner,« krähte er leise, »wer bitten kommt, muß traurig sein.«

»Glauben Sie?« warf Tine ein. »Ich bin anderer Meinung.« Aber da Mausberger aufzuckte, fügte sie schnell hinzu: »Na, ich will mir Mühe geben.«

Sie riß ihre Handtasche vom Haken und lief hinaus.

 

Martin lag im Bad, wo ihn zwei Diener mit großen Bürsten bearbeiteten. Er stand auf, während sie fortfuhren, ihn zu bürsten, und trat, den nackten Leib vom Seifenschaum umschlagen, unter die kalte Dusche.

Als ihn dann Christoph in den weichen Mantel gehüllt hatte und die beiden anderen Diener ihn trockenrieben, befahl er, nach Atem jappend: »In den Stall . . . hinüber sagen . . . man soll . . . die Pallas . . . satteln . . .«

Christoph eilte ans Telephon, klingelte das Stallgebäude an und bestellte den Auftrag. Dann rief er die Küche und gab telephonisch die Order: »Das Frühstück in zehn Minuten!«

Zurückgekehrt fand er Martin schon im Ankleideraum vor dem Spiegel. Die beiden Diener waren 27 damit beschäftigt, Breeches, schwarzes Sakko, Reitstiefel und weiße Plastronkrawatte herzurichten. Christoph frisierte das dichte blonde Haar des jungen Herrn, band es mit der Netzhaube fest. Dann rasierte er das frische, rosige Antlitz Martins, das er so sehr liebte.

Genau zehn Minuten waren vergangen, da schlüpfte Martin fröhlich pfeifend in den vorgehaltenen blauen, pelzbesetzten Seidenschlafrock und begab sich in sein Wohnzimmer, wo das Frühstück bereit stand. Er trank den braunen Tee, den Christoph ihm einschenkte, er aß von den Toastschnitten, die Christoph für ihn mit Butter und Honig bestrich, ließ sich die gebratene Seezunge schmecken, deren Filets ihm Christoph auf den Teller legte, löffelte dann noch in den Erdbeeren, die der Alte ihm hinschob. Zuletzt griff er in die silberne Schatulle, die ihm bereitgestellt wurde, hielt die Zigarette zwischen den Lippen mit einer kurzen Kopfbewegung der brennenden Kerze entgegen, die Christoph hinreichte, begann zu rauchen, die Zeitung zu entfalten und die Sportnachrichten zu lesen.

Nach einer ziemlichen Weile erhob er sich, warf den Zigarettenstummel in die Teeschale, wo er zischend verlöschte, und ging, begleitet von Kicks, dem Wolfshund, und vom alten Christoph, wieder ins Ankleidezimmer, um seine Toilette zu beendigen.

Kicks verfolgte alles mit gespitzten Ohren und wedelndem Schweif. Als er seinen Herrn in Breeches und Reitstiefeln vor sich stehen sah, stieß er ein jauchzendes Bellen aus.

28 Martin drehte sich im Kreise und lachte. »Ja, ja, Kicks,« sprach er zu ihm, »ja, ja, braver Kicks . . . du kommst mit . . .«

Der Hund wollte an ihm hochspringen. »Still!« rief Martin streng und sagte milder zu Kicks, der sofort platt am Boden lag: »Du wirst's noch erwarten, ja? Gestatte, daß ich mich fertig anziehe . . . Ja?«

Kicks blickte, das Haupt an den Teppich gedrückt, mit sehnsüchtigen Augen zu Martin empor und wedelte stürmisch.

Martin hatte den Hut aufgesetzt, die Handschuhe angestreift, hatte die Reitgerte ergriffen und ging. »Komm«, sagte er in der Türe ganz leise.

Kicks fuhr auf, als hätte ihn eine Explosion in die Höhe geschleudert, und sprang seinem Herrn nach.

Christoph schaute durchs Fenster. Er sah Martin auf dem Kiesweg des Parkes zwischen Rasen und Beeten zum Stallgebäude gehen, er sah, wie Kicks voraus und wieder zurücktobte, und er sah, wie man die Fuchsstute Pallas gesattelt herausführte.

Da schnarrte das Haustelephon.

Christoph stürzte hin, erinnerte sich im Augenblick, daß Martin doch von seinem Vater erwartet wurde, und hörte Herrn Overbecks leise, gleichgültige Stimme:

»Kommt er bald?«

»So–fort«, entgegnete Christoph schluckend, hängte ab, klingelte gleich den Stall an und rief hastig: »Der junge Herr . . . augenblicklich zurück . . . sehr dringend . . .!«

29 Dann keuchte er ans Fenster und sah Martin, der schon im Sattel saß. Ein Reitknecht kam aus dem Stall gesprungen, rief Martin etwas zu, worauf der sich nach dem Haus umdrehte.

Christoph zog sein Taschentuch und winkte aufgeregt.

Martin wandte das Pferd und kam auf dem schmalen Kiesweg herangeritten. Der Stallbursche im Laufschritt nebenher. Kicks ratlos, in großen Sätzen kreisend, mit dazu.

Nahegekommen, schrie Martin unwillig, mit rotem Gesicht zum Fenster hinauf: »Verrückt geworden, Alter? Was soll das Flaggensignal?«

Christoph beugte sich herab und sagte halblaut: »Junger Herr müssen doch zu Ihrem Herrn Vater.«

»Waas? brüllte Martin. »Bitte, deutlich!«

Immer ruhig, wiederholte Christoph: »Ihr – Herr – Vater –.«

»Ach so!« unterbrach Martin. »Das haben wir beide vergessen!«

Er schwang sich aus dem Sattel, warf dem Reitknecht die Zügel zu und befahl: »Herumführen! Warten!« Damit wandte er sich ins Haus.

 

Herr Overbeck erhob sich aus seinem Fauteuil. Jetzt würde Martin gleich kommen. Es war gerade die rechte Zeit, ein wenig mit dem Sohn zu sprechen und ihm die wichtige Angelegenheit mitzuteilen. Nachher begannen 30 die Börsenberichte einzulaufen und es blieb keine Pause bis zum Lunch.

Mit langsamen Storchschritten ging Overbeck an das Etablissement, das vor dem Kamin arrangiert war. Dort stand ein Glas Milch für ihn vorbereitet, wie alle Tage, von Christoph hingesetzt, und Herr Overbeck wollte es soeben, wie alle Tage um diese Stunde, austrinken.

Da meldete der Diener: »Fräulein Schaffner.«

Overbeck zog augenblicklich die Hand zurück, die er nach dem Glas Milch ausgestreckt hatte. Niemals wäre er fähig gewesen, vor irgend jemandem zu trinken, oder sich beim Trinken ertappen zu lassen. Es war eine seiner vagen Einbildungen, daß kein Mensch dieses Glas Milch jemals bemerken konnte, das Tag für Tag auf dem Tisch da stand. In solchen Dingen erschöpfte sich das, was Herr Overbeck an Phantasie besaß.

Er stelzte zum Schreibtisch zurück, ließ den schmalen, grauhaarigen Kopf nachdenklich hängen, pflanzte sich vor seinem Fauteuil auf und vollführte eine geringe Handbewegung, die etwa ausdrücken sollte: »Ich lasse bitten . . .«

Der Diener verschwand, riß dann die Türe auf und Tine Schaffner trat ein. Sie mußte einen verhältnismäßig weiten Weg zurücklegen, vom Eingang bis an den Schreibtisch; aber sie ging leicht und munter durch den großen Saal, nachdem sie von der Türe her gegrüßt und ein stummes Kopfnicken des Herrn Overbeck 31 empfangen hatte. Es war geradezu tapfer, wie heiter sie dem streng aussehenden alten Herrn entgegenschritt.

Noch ein Kopfnicken Overbecks, als sie bei ihm war, ein leise gemurmeltes: »Bitte . . . Platz zu nehmen . . .« und sie saß. Dann ließ sich auch Herr Overbeck nieder, und sein glattes, verschlossenes Gesicht, seine hellen, kalten Augen fragten: »Nun?«

»Ach, es ist nur wegen eines Beitrages zu meiner Rettungsstation . . .« fing Tine an. Ihre liebe Stimme klang hier in dem ernsten, schweigsamen, an Flüstertöne gewohnten Saal so befremdlich, als hätte plötzlich ein Vogel, frei und wild, zu singen begonnen.

»Verzeihung, gnädiges Fräulein,« unterbrach sie Overbeck, »diese Angelegenheiten erledigt der Sekretär Mehrenbacher . . .«

Tine Schaffner fiel ihm lachend ins Wort: »Das weiß ich natürlich, Herr Overbeck, aber den Herrn Sekretär Mehrenbacher kann ich diesmal nicht brauchen . . .«

Overbecks Mienen zeigten kühles Erstaunen.

»Nein,« wiederholte Tine in unerschrockener Heiterkeit, »ich kann den Herrn Sekretär diesmal wirklich nicht gebrauchen. Der Höchstbetrag,« sie wurde ernster, »zu dem er Vollmacht hat, nützt mir nicht. Die Rettungsstation braucht ausgiebige Hilfe.«

In diesem Augenblick wurde die kleine Tür vom Wohntrakt her geöffnet und Martin kam herein. Als er sah, daß sein Vater nicht allein sei, rief er »Pardon«. Aber er sah sofort auch, obwohl Tine Schaffner mit 32 dem Rücken zur Tür saß, daß ein junges Mädchen zugegen war. Er hörte die letzten Worte Tines, und ohne sie zu verstehen, gefiel ihm doch der Klang dieser frischen, zuversichtlichen Stimme. Er blieb. Er vermied es, den Vater anzusehen, um nicht von dessen Gebieteraugen hinausgewiesen zu werden.

Overbeck nahm, nach einem kurzen, vergeblichen Blick, von Martin keine Notiz mehr. »Hat Sie der Sekretär zu mir geschickt?« fragte er. Und Tine entgegnete: »Natürlich nicht. Das war auch unnötig. Denn ich war von Anfang an fest entschlossen, mich direkt an Sie zu wenden.«

»Sapperment,« dachte Martin, »die muß ich mir anschauen!« Während sein Vater leise und gleichgültig sagte: »Ich glaube nicht, gnädiges Fräulein, daß ich Ihre Hoffnungen erfüllen kann . . .«, tat Martin so, als ob er, ganz uninteressiert, das Ende der Unterredung erwartend, im Zimmer hin und her ginge. Er manövrierte geschickt, kam hinter den Schreibtisch und den Fauteuil des Vaters und sah nun direkt ins Gesicht von Tine Schaffner.

Betroffen hielt er inne. »Sapperment!« durchzuckte es ihn, »sapperment, die ist wunderschön!«

»Doch! Sie können meine Hoffnung erfüllen«, rief Tine eben aus. »Ich weiß das, Herr Overbeck. Ja, ich weiß sogar, daß Sie meine Erwartungen noch übertreffen werden.« Ihre Mienen strahlten in einem aufmunternden Lächeln.

33 Martin stand betäubt und starrte auf Tine. Der offene, freie Blicken ihrer braunen Augen traf ihn wie eine Freudenbotschaft. Dieses feine, schmale Mädchenantlitz, das von Gesundheit sprühte, bezauberte ihn. Der anmutig frische, energisch geschwungene Mund rief sein staunendes Entzücken wach, und der feste, sangliche Ton dieser unbekümmerten Stimme drang verführerisch auf ihn ein. Martin mußte sich fassen. Er war ein paar Sekunden in seiner Verblüffung dagestanden wie ein rechter Bauer vor einem Jahrmarktswunder. Aber es schien ihm nun selbst unmöglich, dazustehen und eine fremde Dame so ungeniert anzusehen. Er riß sich los und begann seinen Rundgang von neuem. Erst schritt er hinter dem Fauteuil des Vaters hin und her, mit dem Versuch, einen Blick des jungen Mädchens für sich zu erhaschen, um durch das stumme Augenspiel, um durch die Sprache der Mienen zu irgend einem vorläufigen Einverständnis mit der Fremden zu gelangen. Das blieb ganz vergeblich. Tine Schaffner schien Martin gar nicht zu bemerken. Verwirrt kehrte er sich endlich ab. Es war ihm unerträglich, dieses herrliche Gesicht anzuschauen, ohne das Wort an dieses Mädchen zu richten. Er fühlte, wie ihm einige Male das Blut in den Kopf schoß und wie er eiskalte Hände bekam. Er wurde ungeduldig, strich die Wand entlang, an den drei großen, breiten Fenstern vorbei, sah durch die Stores zur stillen Straße nieder und hörte nun zu, was gesprochen wurde.

34 »Ich habe an viele Stellen Spenden zu verteilen,« sagte Herr Overbeck, »da ist nun ein System festgelegt, das ich unter keinen Umständen . . .«

»Lieber Gott,« vernahm Martin die sangliche Mädchenstimme, »die Armut kümmert sich nicht um das System reicher Leute.«

»Desto mehr«, warf Herr Overbeck ein, »müssen sich die Leute darum kümmern, die Sie reich zu nennen belieben, gnädiges Fräulein . . .«

Immer derselbe leise, wohlgeordnete, gleichgültige Ton.

Martin war zu dem Etablissement am Kamin gelangt, stand vor dem Tisch mit dem Rücken zum Vater und zur fremden Dame. Er vernahm, wie sie sagte: »Eigentlich tue ich doch Ihre Pflicht, Herr Overbeck. Gewiß die meinige auch, aber ebenso die Ihre mit dazu, und ich denke, es ist nicht recht, daß Sie sich von mir bitten lassen.« Es klang freundlich, aber bestimmt. Martin verstand nicht, worum es sich handelte. Irgend so eine Wohltätigkeitssache, stellte er sich vor. Das interessierte ihn kein kleines bißchen. Ihn interessierte nur der unerklärliche Wohllaut dieser Stimme, das Temperament und der Charakter, die daraus zu sprechen schienen, die besitzergreifende Macht dieser Stimme, der er sich verfallen fühlte. Martin war erregt, sein Mund und seine Kehle, ganz ausgetrocknet, peinigten ihn. Er nahm das Glas Milch und trank es in einem Zug aus. »Ein Stück Holz, der Alte,« dachte er, indessen 35 er das Glas wieder hinsetzte, »solch einem Geschöpf gibt man eben, was es will.« Blitzartig schoß es ihm durch den Sinn: »Ich will ihr auch was geben! Natürlich, das ist die beste Möglichkeit, mit ihr zu reden. Himmelherrgott, aber selbstverständlich! Nur rasch! Nur rasch!« Er drehte sich zur Tür, durch die Tine Schaffner eingetreten war, und ging eilig hinaus. Das Zimmer, darin die Schreiber des Vaters saßen, durchschritt er, lief durch den Vorsaal, in welchem die Diener warteten, und machte erst im Treppenhaus halt.

Da mußte sie vorbeikommen, da wollte er sie ansprechen. Die monumentalen Maße, der ruhige Stil des Treppenhauses, der kühle, weißgraue Marmor von unten bis oben, die blanke Bronze und die Farbigkeit des Deckengemäldes, all das gab eine gelinde Harmonie und ließ Martin tiefer Atem holen. Flüchtig erinnerte er sich, wie oft er als Knabe in diesen feierlich-großartigen Raum geeilt war, wenn Erregung ihn überwältigen wollte. Hier hatte er als achtjähriger Knabe gesessen, als seine Mutter im Sterben lag. Auf dieser breiten Bank dort lag er an jenem Morgen und schluchzte in die Fäuste, allein, von niemandem gesehen. Immer wieder hatte er in diesem Treppenhaus Zuflucht gesucht, so oft ein Zwist mit dem Vater, ein Konflikt mit den Lehrern oder Lampenfieber vor einer Prüfung ihn aus seinen Stuben trieb.

Er zündete sich eine Zigarette an und lächelte, während er auf dem roten Laufteppich hin und her ging. Jetzt 36 befand er sich hier wie ein Jäger auf dem Anstand, erlauerte ein edles Wild, das seinen Zwangswechsel da vorbeinehmen mußte. Er blies den Rauch vergnügt vor sich hin. Was für ein prachtvolles Mädel! Und wie wunderbar einfach; trotz ihrer Bildung, trotz ihrer tadellosen Manieren . . . wie wunderbar einfach! Gewiß aus gutem Haus. Das merkte man. So was verleugnet sich nicht. Was für eine herrliche Geliebte wird das sein! Er schnippte vor Freude mit den Fingern, er schnalzte mit der Zunge, er begann sogar ein Liedchen zu summen. Kein Zweifel rührte sich in ihm. Er war dessen ganz sicher. Was für eine herrliche, was für eine heißgeliebte Geliebte erwartete er jetzt. Es war ein toller Glücksfall, einer der größten, blödsinnigsten Glücksfälle, die einem Menschen begegnen können.

Die Türe wurde geöffnet. Tine Schaffner kam heraus. Martin vertrat ihr den Weg und merkte dabei, daß er es ein wenig zu stürmisch tat. Was liegt daran? dachte er und geriet dennoch in Verlegenheit. »Gnädiges Fräulein,« fing er an, »gnädiges Fräulein . . . gestatten Sie . . . gestatten Sie . . .« Er stockte und stotterte und ärgerte sich darüber. Tine sah ihn an, verwundert und lächelnd. Martin blickte in ihre beredsamen Augen und schwieg. »Bitte . . .?« fragte Tine. Martin rang nach Besonnenheit. »Gestatten,« brachte er hervor, »erlauben Sie . . . ich weiß nicht, was mein Vater . . .« Er überstürzte sich wieder. »Ach,« rief Tine freundlich, »waren Sie vorhin im Zimmer . . .?« »Ja, jawohl, ja!« 37 versicherte Martin. Tine fuhr fort: »Oh, Ihr Herr Vater ist sehr freigebig gewesen.« Ihre Augen lachten ihn an. »Sososo?« sprudelte Martin. »Mir schien aber . . . so viel ich von dem Gespräch . . . nämlich mein Eindruck . . .« Tine schüttelte den Kopf. »Nein, nein,« wiederholte sie, »er war wirklich sehr freigebig.« Martin lachte, ohne rechten Sinn. »Gestatten Sie, daß . . . auch ich . . . ein kleines . . . Scherflein . . .« Er fuhr mit der Hand in den Rock und zerrte seine Brieftasche heraus. »Bitte,« sagte Tine ruhig, und während ihr Martin eine Note in die Hand preßte, meinte sie lächelnd: »Wie schön! Ich danke Ihnen herzlich«, schloß sie mit wirklicher Herzlichkeit und wollte fort. Aber Martin hielt sie fest. »Einen Augenblick nur«, flehte er und empfand einen leisen Verdruß, weil er so demütig bettelte; der Verdruß schwand jedoch unter Tines Augen rasch genug dahin. »Einen Augenblick,« hastete Martin weiter. »Verzeihen Sie . . . aber sind Sie denn so eilig?« Tine erwiderte trocken: »Gewiß. Ich muß noch an die Kasse.« Und mit einem energischen Ruck entzog sie ihm ihre Hand, die er umklammert hielt. »Aber, gnädiges Fräulein . . .« rief Martin, »ich möchte doch wissen . . .« – »Was wünschen Sie zu wissen . . .?^ forschte Tine, während sie ihn, ernst geworden, von Kopf bis zu den Füßen maß. Martin sank nun vollends der Mut. »Ja . . . ich möchte . . . möchte . . . wissen, was denn . . . was denn das eigentlich . . . für eine Sache ist, zu der Sie . . . 38 Spenden . . .« Tines Antlitz erhellte sich. Sie lächelte wieder und Martin fühlte sich unter diesem Lächeln wieder hochbeglückt. »Ach, das ist nett,« sagte sie, »das ist sehr nett von Ihnen.« Sie entnahm ihrer Handtasche eine Karte und reichte sie ihm. »Hier . . . bitte.« »Tausend Dank,« stürmte Martin, »tausend schönen Dank.« Er blickte die Karte an, als lese er, sah aber gar nichts. Ihm schwamm und funkte es vor den Augen. »Das ist gut,« rief er begeistert, »das ist ausgezeichnet!« Er meinte aber etwas anderes, als Tine Schaffners Rettungsstation. »Das ist großartig! Ich komme zu Ihnen und bringe Ihnen noch mehr, noch viel mehr!« Tine gab ihm freundlich die Hand. »Wie lieb Sie sind,« lächelte sie, »also . . . auf Wiedersehen!« »Auf Wiedersehen«, hauchte Martin. Er wagte nicht, ihr die Hand zu küssen, wie er gewollt hatte. Er fürchtete, sich zu verraten.

 


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