Felix Salten
Florian – Das Pferd des Kaisers
Felix Salten

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Das Jahr kreiste, schien während der eisigen Dunkelheit des Winters träge hinzuschleichen, kam im Blütenkleid eines märchenhaften Frühlings, gleich einem jungen Mädchen, das zum erstenmal für den Ball sich geschmückt hat.

Dann brach der Sommer an, mit brennender Sonne, mit glühendem Himmel, frühreif und üppig.

Alle Welt schwieg im Hochgefühl des Daseins. Nur wenige ahnten das kommende Unheil.

Es war der Sommer des Schicksals.

Bosco ging nicht mehr in diesen Sommer hinein.

Es hatte nichts zu bedeuten in dieser Welt der Menschen, in der Welt der zahllosen vermeintlichen und echten Wichtigkeiten. Gar nichts.

Ein Hund. Klein, weiß, mit schwarzen Flecken am Scheitel und Rücken. Ein Terrier, wie es deren genug und übergenug gibt. Eigentum eines Bauernsohns, der Reitknecht geworden war.

Daß dieser kleine Hund über große Klugheit verfügte, über unendliche Treue, daß in seiner Brust eine reine Seele wohnte, ohne Arg, ohne Eigennutz und Lüge, daß dieser armselige Hund braver und rechtschaffener und wertvoller war als viele Menschen, galt niemand etwas.

Als Bosco zu Beginn des Winters mehrmals mit der Nase gegen die Wand stieß und die Stalltür verfehlte, merkte Anton, daß der Hund das Augenlicht verloren hatte.

Er war alt geworden, der einst so muntere Bosco, alt und lahm. Auf steifen Beinen ging er langsam und furchtsam. Tat nur ein paar Schritte in den Hof, kehrte bald wieder in den Stall zu Florian zurück.

Kein frohes Spiel trieb er mehr mit dem großen, lichten Freund. Stand nur still zu dessen Füßen, beschnupperte Florians Beine und flüsterte lautlos zu ihm empor. Florian hatte das Haupt tief zu dem kleinen Bosco niedergesenkt und blies ihm aus rosigen Nüstern den Atem über Kopf und Rücken.

Wenn der Fox hie und da einmal seine Stimme erhob, klang sie heiser, und es war kein Jubel mehr darin. Tief seufzte er, indem er sich niederlegte, seufzte, während er sich in sich selbst zusammenrollte. Nur den Ausdruck der Liebe, seiner Bereitwilligkeit, seiner Begeisterung, den Rest seines Lachens hatte er bewahrt, das Wedeln. Er wedelte lebhaft, als Anton entdeckte, daß der Hund erblindet war, ihn ergriff und liebkoste und ihn dicht vor den Futternapf hinsetzte. Er wedelte, während er seine Mahlzeit hielt. Er wedelte, wenn Anton ihn aufnahm und ihn an die Brust drückte wie einst in fernen Tagen zu Lipizza.

Anton murmelte dabei wieder und wieder: »Mach dir nichts draus, mach dir nichts draus!«

Als die Frühlingssonne vom Himmel lachte und ihre Strahlen wärmer wurden, geleitete Anton den Hund sorgsam aus dem Stall in den Hof, bereitete ihm dort neben der Tür ein gepolstertes Bett, und Bosco lag da, ließ sich die Sonne warm auf den müden Leib scheinen seufzte tief und weinte ganz leise. Er hörte alles, er witterte alles. Wenn Anton, um nach ihm zu sehen, sich näherte, wedelte Bosco, sowie er nur dessen Schritte vernahm, und klopfte mit dem Schweif ganz heiter sein Kissen.

Sooft Anton Bosco ins Freie nahm, wendete sich Florian, ging bis an den äußeren Rand seiner Box mit, blickte aus großen, dankbaren Augen den beiden nach. Kehrten sie zurück, so wurden sie von Florian herzlich empfangen, der sich zu Bosco niederbeugte, als wollte er ihn fragen: »War's schön? Wie geht's dir?«

Der Mai war schon ziemlich weit vorgerückt, als Florian einmal des Nachts wach wurde, sich unruhig erhob, Bosco beschnupperte und laut zu schnauben begann.

Anton hatte die Stallwache. Da er Florian hörte, sprang er sogleich von seiner Pritsche hoch und eilte herzu.

Bosco lag auf der Seite, neben seinem gewohnten Platz, hatte den Kopf in das Stroh gewühlt, und ein Zucken bewegte ihm krampfhaft die Glieder.

Florian stand, soweit der Raum das ermöglichte, abseits gegen die Wand gedrängt. Seine großen Augen blickten voll Schrecken, seine Haltung trug alle Zeichen des Grauens.

Der Mensch denkt, die Tiere wüßten nichts vom Tod und Sterben. Das scheint denn auch manchmal der Fall. Doch es ist wohl nur Schein, ist einer der Irrtümer, in die menschliche Überhebung so oft verfällt. Weil sie keine Sprache haben, die von den Menschen verstanden wird, hält man die Tiere der Rede für unfähig. Weil die Menschen das Tun und Treiben der andern Geschöpfe nicht verstehen und ihnen Gaben des Geistes, Gaben der Seele nicht zubilligen, erklären sie sich alles mit dem Wort Instinkt, das im Grunde gar nichts erklärt. Sie sehen beim Tier nur die allerletzte Angst, wenn sie diese letzte Herzensqual überhaupt bemerken. Und sie meinen, das Tier ahne nichts von der Vernichtung, habe kein Wissen vom Tod.

Florian wußte, daß der Tod in seiner Nähe am Werk war. Der stille Kampf, darin Bosco erliegen sollte, hatte Florian aus der Tiefe seines Schlafes gescheucht. Anton war nur durch Florians Schnauben wach geworden.

Bosco wedelte ganz schwach. Das Zucken hörte auf. Ein Zittern durchrann den kleinen Körper. Dann streckte er sich.

Schwerfällig war die Bewegung, mit der Anton, niedergebeugt, Boscos Kopf zurechtrückte und in die gebrochenen Augen schaute.

»Aus!« flüsterte er. »Aus!«

Es schien, daß Florian, der noch niemals scheu geworden war, jetzt die Nerven verlieren wollte. Er trat mit zögernden, gehemmten Schritten zu seinem toten Freund, senkte das Haupt, zog witternd den Atem ein und fuhr im Sprung zurück. Er ließ sich von Anton nicht beruhigen, blickte mit wild verstörten Augen umher, stieg in die Hinterbeine und drohte über Anton wegzusetzen. Anton mußte nachgeben, mußte Florian an das andere Ende des Stalles führen und ihm dort eine leere Box öffnen.

Der Morgen dämmerte.

Anton trug Bosco hinaus, der langsam kalt wurde. Er hielt ihn in seinen Armen, zum letztenmal. Kein Wort kam über seine Lippen, keine Miene verzog er. Die Trauer saß ihm tief in der Brust, brannte dort als schmerzhafte Flamme, konnte keinen Ausdruck finden und suchte auch keinen.

Florian legte sich nicht mehr hin. Er blieb in nervöser Erregtheit, blieb unruhig, und Anton verbrachte die Stunden, während welcher die Dämmerung in den neuen Tag überging, bei ihm. Eine Stunde um die andere. Als die Sonne voll durchs Fenster drang, sagte Anton, der an Florians Hals lehnte, leise: »Jetzt sind wir zwei allein.«

 

Ein paar Wochen später ging es wieder nach Ischl.

Florian hatte Bosco im Wiener Marstall immer und immer gesucht. Oder er gab, indem er die Ecke, wo Boscos Platz gewesen, durchstöberte, zu erkennen, daß er des verstorbenen Freundes eingedenk war.

Trübselig verbrachte Anton die Tage. Auch ihm fehlte Bosco, fehlte die Wartung, die er dem armen kranken Hund wochenlang hatte angedeihen lassen.

Traf er Florian in jenem Winkel der Box, schnaubend, suchend, das Haupt schüttelnd, dann legte er ihm manchmal die Hand auf die Kruppe, um ihn durch Liebkosungen abzulenken; meist aber ging er rasch davon, weil er Florians traurigen Blick nicht ertrug.

Vom Aufenthalt in Ischl erhoffte Anton Erleichterung; aber schon im Wagen begann Florian sich des verblichenen Gefährten seiner Jugend deutlich zu erinnern. Seine früheren Spaziergänge nahm Anton gar nicht erst auf. Er hatte keine Freude daran, allein, ohne Bosco, die Landschaft zu durchwandern.

Der Aufenthalt in Ischl wurde jählings abgebrochen.

Franz Ferdinand und seine Gemahlin, die Herzogin von Hohenburg, waren ermordet worden.

Anton hatte kaum eine Erinnerung an den Thronfolger, hatte keine Ahnung, was für ein Hoffen da zerbrochen war. Zu Fronleichnam hatte Franz Ferdinand noch in der Staatskarosse neben dem Kaiser gesessen. Das war alles, was Anton wußte.

Ermordet! Warum? Darüber zerbrach Anton sich nicht den Kopf. Er nahm alles hin. Denn alles, was Florian nicht betraf, ging auch Anton nichts an. So blieb er auch gelassen, als der Befehl zur Rückkehr nach Wien kam. Dort brachen ruhige Tage für Florian an. Ganz selten einmal wurde aus Schönbrunn nach dem Wagen telephoniert. Franz Joseph fuhr fast gar nicht mehr aus.

Eines Tages erschien Fürst Buchowsky mit dem neuen Thronfolger im Stall.

Erzherzog Karl Franz Joseph war ein ganz junger Mann. Einfach, gutmütig und bescheiden.

Vom hinreißenden Glanz seines Vaters Otto, von dessen unbändiger Lebensgier und tollem Leichtsinn fand sich bei Karl Franz Joseph keine Spur. Er hatte die schlicht-bürgerliche Art der sächsischen Wettiner und sah seinem Onkel, dem König Friedrich August, ähnlich. Da er jetzt Thronerbe geworden war, hatte er den Anspruch, Fuhrwerk, Gespann und Reitpferd aus dem Marstall zu erhalten.

»Wagen dürfte ich nicht brauchen«, sagte er zum Fürsten, »meine Frau und ich fahren Auto.«

»Das weiß ich«, entgegnete Buchowsky »aber Eurer Kaiserlichen Hoheit ist ja die Abneigung Seiner Majestät gegen Automobile bekannt . . .«

»Ja«, der Erzherzog lächelte, »bei offiziellen Gelegenheiten also schicken Sie mir dieselben Wagen und dieselben Pferde . . .« Er stockte, sein junges Gesicht wurde von einem angenommenen Ernst überschattet. Dann sehr lebhaft, als wiese er trübselige Gedanken ab: »Reitpferde muß ich allerdings leichtere haben als . . . als . . .« Er sprach wieder nicht zu Ende. Er sagte nicht, daß er den toten Franz Ferdinand meinte.

Sie gingen in die Reitbahn, und der Oberststallmeister gab Auftrag, Reitpferde vorzuführen.

Dem jetzigen Thronfolger gegenüber gab es weder den offenen noch den passiven Widerstand, den der Ermordete Zeit seines Lebens zu fühlen bekommen hatte.

Ein paar Tage später blies ein Fieberwind ungeheurer Aufregung über Wien, über das ganze große Reich, fegte von der russischen Grenze bis an den Bodensee, von Tetschen, dem Nordrand Böhmens, bis zu den Bocche di Cattaro an der Adria.

Im Marstall wurden alle von rasender Nervosität ergriffen, die sich wie ein ansteckendes Übel verbreitete. Einzig Anton blieb still und langsam wie immer. Hatte er seine Pflicht erfüllt, so saß er allein und schweigsam auf dem Bänkchen vor der Stalltür, immer von dem Gedanken an Boscos Schmerzenslager in der Frühsonne gequält. Sonst dachte er an nichts.

 

Den inneren Burghof erfüllte eine dichtgedrängte Menschenmenge. Die Leute glaubten, der Kaiser wäre oben in seinen Gemächern.

Als die Wache abgelöst und die Fahne übergeben wurde, spielte die Militärkapelle ein paar Takte der Volkshymne. Sie spielte sie jedesmal, und jedesmal nur so lange als es brauchte, bis der eine Fahnenträger dem andern die Fahne ausgehändigt hatte. Mitten in der Melodie brach die Musikkapelle ab. Auch heute.

Heute aber sang die Menge das Kaiserlied weiter. Zuerst allein. Dann rauschte die Militärmusik wieder auf. Strophe um Strophe wurde gesungen, Jubel und Rührung brachen aus, und beim Schluß: »Österreich wird ewig stehn« erhob sich ein Orkan der Begeisterung.

Alle blickten zum Fenster des Kaisers empor. Alle erwarteten, das wohlbekannte schöne greise Antlitz zu sehen, das sie in diesem Augenblick aufrichtiger liebten als jemals zuvor. – Aber Franz Joseph war nicht in der Hofburg. Er blieb von jetzt an unsichtbar.

In den ersten Nachmittagsstunden lief die Botschaft durch die Stadt: »Friede!«

Dann jedoch, gegen Abend, kam die Nachricht: »Krieg!« Noch einmal schäumte die Straße auf. Scharen von Menschen zogen in den Straßen umher, singend, johlend, von unnachdenklicher Trunkenheit umnebelt. – Das große Schadenfeuer entbrannte in hellen Flammen. Die allgemeine Mobilisierung wurde angeordnet. Tausende und aber Tausende mußten ihre Frauen, ihre Kinder, ihre Eltern verlassen.

Auch Anton mußte Abschied nehmen.

Ihn traf die Einberufung wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er hatte nichts gedacht, weil er gewohnt war, nichts zu denken. Er hatte in dem Glauben gelebt, keine Macht der Welt werde ihn von Florian trennen.

Den vollständig Verwirrten wollte Gruber ermutigen.

»Hat nichts zu sagen«, meinte er, »eine kleine Waffenübung.«

»Aber«, stotterte Anton, »aber . . .«

»Nicht verzweifeln«, sprach Gruber, »in zwei, drei Monaten sind Sie wieder da.«

»Zwei, drei Monate«, stöhnte Anton, »so lang, so schrecklich lang, und . . . und . . .«

»Keine Sorge!« entschied Gruber. »Wir werden schon achtgeben, daß hier alles in Ordnung bleibt.«

Er reichte Anton die Hand. Zum erstenmal. Anton erfaßte mit seinen unbeholfenen Fingern nur die Fingerspitzen Grubers und war tief bewegt.

»Kommen Sie gesund zurück!« sagte Konrad Gruber. Das klang wie ein Befehl. Anton gelobte sich, auch diesem Befehl Gehorsam zu leisten.

Dann ging er in den Stall, hielt Florians Kinn zwischen seinen beiden Händen, sah stumm und lange in die großen, dunklen Augen und kehrte sich ab. Das war Antons Abschied.

Im Gewühl der Truppen, die einwaggoniert wurden, blieb Anton allein. Da waren Hunderte von Frauen, Hunderte von Mädchen, Hunderte von Kindern. Da gab es Umarmungen, Küsse, Schluchzen und Jubel. Um Anton kümmerte sich kein Mensch. Keine Träne floß, weil er jetzt ins Feld mußte, und niemand küßte seinen Mund oder seine Wangen.

Die Militärkapelle spielte einen Marsch nach dem andern. Anton lauschte der Marschmusik. Fröhliche, stürmische, mutvolle Rhythmen klangen auf. Ohne Pause fügte sich ein Marsch an den andern. »Unter dem Doppeladler«, »Prinz Eugen«, »O du mein Österreich«. Es war wie ein Fest.

Anton hörte aufmerksam zu. Von einem Fest gewahrte er nichts. Die Marschmelodien drangen nur in sein Ohr, ohne sein Herz zu erreichen. Weder Mut empfand er noch Angst. Was rings um ihn her vorging, betrachtete er zwischendurch mit flüchtigen Blicken. Nichts verband ihn mit diesem Treiben. Seine Einfalt versuchte gar nicht, die Lage, in der er jetzt war, zu erfassen.

Während der Zug durch die Nacht rollte, während die Kameraden um ihn her schwatzten, lachten, sangen, schwieg Anton und starrte dumpf vor sich hin.

Florian . . . Konrad Gruber . . . das schöne friedliche Dasein . . . die weiten Höfe des Marstalls . . . Anton scheuchte diese Bilder weg, verbot sich diese Erinnerung.

Ein junger Mensch, mitten unter den anderen, begann mit einemmal die Volkshymne zu singen. Seine frische, hohe Tenorstimme sang die Hymne so brav, wie Kinder in der Schule singen.

Anton fiel jener Frühmorgen in Lipizza ein.

Florian, eben erst geboren, lag im Stroh, konnte sich nicht erheben. Rittmeister von Neustift war in den Stall gekommen. Da wehte von weither die Volkshymne herein.

»Siebele«, flüsterte Anton, »Siebele . . .«

Dann drangen die Worte in sein Gemüt, die der junge Mensch soeben gesungen hatte. »Gut und Blut für unsern Kaiser, Gut und Blut fürs Vaterland.«

Das war es! Anton begriff nun. Das war das natürliche, war das selbstverständliche. War das Müssen.

Er hatte kein Gut, um es dem Kaiser . . .

Er gab sein Blut.

Sein Blut?

Wer würde Antons Blut hinnehmen?

Wer dieses Blut vergießen?

Was wird geschehen, was gewonnen, was gerettet sein, wenn Antons Blut vergossen war?

Sein Kopf geriet in volle Wirrnis, sank ihm schwer zur Brust nieder.

Anton glitt in die Tiefe eines traumlosen Schlafes.

 

Florian kam fast nicht mehr aus dem Stall.

Der Kaiser fuhr ein paarmal aus. Von Schönbrunn zur Hofburg. Dann in einige Spitäler zu Verwundeten. Es griff ihn an, und er wurde alt. Der Krieg dauerte, sein Ende ließ sich nicht absehen.

Da blieb Franz Joseph in Schönbrunn.

Die Pferde wurden nicht mehr verwendet. Man vermied es, die Luxusgeschöpfe dem darbenden Volk zu zeigen.

Franz Joseph lebte in klarer Erkenntnis des Geschickes. Innerhalb der kämpfenden Mittelmächte gehörte er zu den ganz wenigen Menschen, deren Blick scharf ins Künftige schaute. Zum erstenmal während seiner langen Regierung erkannte er die Zukunft, sah ihrem Medusenantlitz in das furchtbare Auge, sah das Verhängnis, das immer näher kam, sah den Sturz seines Hauses. Und schwieg.

Der Marstall wartete. Ein Jahr, ein zweites Jahr. Vergeblich. Nur alte Männer waren hier noch beschäftigt. Alle jüngeren befanden sich an der Front. Zu den jüngeren wurden jetzt auch die Fünfzigjährigen gerechnet. Die Pferde des Marstalls aber wußten nichts vom Krieg, sie hatten unter der Hungersnot bis dahin sehr wenig zu leiden.

Konrad Gruber fuhr mit Florian und Capitano in den Höfen umher, fuhr auch mit den übrigen Leibpferden des Kaisers. Er redete kaum ein Wort. Er zwang sich zu Hoffnungen, zu leichterem, froherem Denken, aber sein Herz war schwer.

Der ganze kaiserliche Hof glich einem Zifferblatt, hinter dem das Uhrwerk fehlte. Alles war zwecklos geworden, hatte seinen Sinn verloren.

 

Eine Herbstnacht senkte sich nieder, draußen in der polnischen Ebene, wo die Schützengräben der Österreicher und Russen einander gegenüberlagen. Finstere, sternenlose Nacht.

Der qualvolle Donner des Trommelfeuers war losgebrochen. Dann Sturmangriff. Die Hölle des Bajonettkampfes. Tumult, Stöhnen. Wildes Aufschreien. Pistolenschüsse.

Zuletzt Trampeln, Klirren und Murmeln, das sich in der Ferne verlor.

Ganz zuletzt Schweigen und Finsternis. Hie und da ein Ächzen, ein Seufzen, ein Veratmen.

Anton lag auf dem Rücken und blieb ganz still. Er atmete mühsam, und er konnte nichts dafür, daß sein Atmen bald ein hörbares Röcheln wurde. Er war immer ein stiller, bescheidener Mensch gewesen, hatte nie gelärmt und blieb auch jetzt, am Ende seines Daseins, still, bescheiden, einsam und im Dunkeln.

Als Schrapnellsplitter ihn zu Boden warfen, fühlte er kaum argen Schmerz, nur Überraschung. Er wunderte sich, daß er so kraftlos war und sich nicht erheben konnte. Geduldig hielt er aus und wartete. Die Sanitätssoldaten würden kommen und ihn holen.

Er tastete an sich und bekam nasse Hände . . . Da strömte nun sein Blut.

Wenig hatte er während seines Lebens von der Herrlichkeit des Reiches, der Erde, der Landschaft gekannt.

Wien! Die Stephanskirche erhob sich vor ihm. Der weite Platz vor der Burg strahlte in der Sonne. Drüben saß Maria Theresia hoch auf ihrem Thron. Das war alles. Dafür gab er sein Blut. Es war das große, das vernichtende Müssen.

Anton dachte gar nicht an dieses große Müssen. Er dachte auch gar nicht an sein Blut. Nur die paar Bilder wunderbarer Schönheit, die er in seiner Seele getragen hatte, wachten auf und zogen jetzt, da er so herrlich wach geworden war, an ihm vorbei.

Und an Florian dachte er. An den mächtigen, sanften, klugen Florian, den er liebte und von dem er geliebt wurde. Ganz nah vor sich hatte er Florians große, beredsame, freundlich schimmernde Augen.

Anton meinte, die samtig zarten Lippen Florians zu spüren, die blasenden, feinen, beweglichen Nüstern.

Er spielte mit den Fingern im nassen Gras und glaubte, daß er Florian liebkoste.

Als der Morgen kam, lag Anton ruhig da und hatte die Augen weit offen. Doch die aufgehende Sonne sah er nicht mehr.

 

Der November schlich heran. Und an einem späten Nachmittag begannen im ganzen Reich alle Glocken zu läuten. Kaiser Franz Joseph hatte sich zu ewigem Schlummer hingestreckt.

Als er den Thron bestieg, achtundsechzig Jahre vorher, flammten die Länder der Habsburger Krone in Blut und Feuer.

Jetzt sank er ins Grab, während ihn wieder, furchtbarer denn je, Blut und Feuer umdampften.

Als ihn die schwarzen Schatten des Todes umfingen, saß er in Schönbrunn an seinem Schreibtisch und erledigte Akten.

»Ich bin müde«, sagte er. Das waren seine letzten Worte.

Niemals hatte er bekannt, müde zu sein. Unermüdlich hatte er ausgeharrt, hatte sich von keinem Schicksalsschlag mattsetzen lassen. Jetzt war er wirklich sterbensmüde, und er schloß auch gleich, nachdem man ihn zu Bett gebracht hatte, die Augen für immer.

Konrad Gruber lenkte die acht Rappen, die den schweren, geschnitzten Wagen zogen, der die Leiche zur Aufbahrung in die Hofburgkapelle brachte.

Dreißig Jahre hatte er den Kaiser gefahren.

Als die acht Rappen angespannt wurden, stand er mit zusammengepreßten Lippen dabei, so bleich wie sein von der Luft und der Sonne vieler Jahre gebräuntes Antlitz nur sein konnte. Er trug die schwarze Trauerlivree, den schwarzen Mantel mit dem riesigen schwarzen Pelzkragen, trug die weiße Allongeperücke und den schwarz betreßten Dreispitz. Er sagte kein Wort. Dann bestieg er den Kutschbock und nahm die vielfachen Zügel in sichere Hände.

Er dachte: Das ist meine letzte Fahrt. Unablässig, während er den Wagen durch den trüben Abend lenkte und der Zug altmodischer, schwerfälliger Kaleschen ihm folgte, dachte er nur eines: Meine letzte Fahrt . . .

Unterdessen hatte sich eine kleine Schar im inneren Burghof versammelt, Aristokraten, Anhänger, Würdenträger, die dem toten Kaiser auf seinem letzten Weg zur Kapelle Ehre erweisen wollten. Auch Fürst Buchowsky promenierte mit Elisabeth um die Statue des Kaisers Franz.

»Gewehr heraus!«

Vom äußeren Burgtor klang der Ruf herüber, schwermütig, trauervoll. Dreimal wiederholt durch das Dunkel des weiten Raumes. Dumpfer Trommelwirbel folgte.

»Er kommt«, sagte der Fürst mit gepreßter Stimme.

Hastig gingen die beiden zur Hauptwache hinüber, stellten sich neben den ersten Torbogen, mit dem Blick gegen den Schweizerhof. Nur wenige Leute waren da. Man begrüßte einander stumm.

Dicht hinter ihnen rief der Posten dreimal: »Gewehr heraus!«

Die Trommel, von schwarzem Tuch überzogen, tönte hart und knöchern.

Das Aufschlagen der Pferdehufe, langsam, taktmäßig, klappte in der Finsternis, die durch spärlichen Laternenschimmer nur gespenstischer war.

Zwei Lampenträger auf hohen Rappen kamen durch den mittleren Torbogen geritten und schwenkten nach rechts in den Schweizerhof.

Nun erschienen feierlich, im verhaltenen Schritt die acht schwarzen Pferde, die den Leichenwagen zogen. Man hörte das laute Knarren des gewichtigen, reich geschnitzten Holzwerks, aus dem dieser Wagen bestand. Es war wie ein Schluchzen, Weinen und Jammern. Unstillbar, ohne Ende.

Konrad Gruber, die Hände unbewegt vor sich im Schoß, lenkte die acht Rappen so behutsam, als wäre der tote Franz Joseph, der hinter ihm ausgestreckt im Sarge lag, noch lebendig, noch sein Gebieter, und als erwartete er das Lob seines Herrn.

Meisterhaft vollzog er die knappe Schwenkung der acht Pferde von Tor zu Tor, vom inneren Burgplatz zum Schweizerhof.

Konrad Grubers Antlitz, von der Kälte gerötet, hatte den gleichen Ausdruck wie sonst. Aber zwei feuchte Streifen glänzten schmal von den Augen zu den Mundwinkeln nieder. Denn unaufhörlich rannen Tränen über seine Wangen.

Konrad Gruber konnte sie nicht trocknen.

»Jetzt fängt eine neue Zeit an«, sagte Elisabeth.

»Die alte war mir lieber«, meinte Fürst Buchowsky.

Er setzte seinen Zylinder auf.

 


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