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Der Stromer

Gleich im ersten Quartier fiel mir das alte Männchen auf, aus dessen rotbraunem und völlig verrunzeltem Gesicht zwei argwöhnische, ständig triefende Augen herausglummten, das andere war ein lächerlich dünnlippiger, zahnloser Mund und ein kümmerlicher, vom ewigen Tabakkauen braun gewordener Ziegenbart. Es war im Westen, er war von Anfang an ›dabei‹ gewesen und hatte noch den Bewegungskrieg mitgemacht, und aus der Zeit stammte der französische Brotbeutel, den er zu seinen zwei übrigen ständig mit sich trug. An diesen drei Brotbeuteln, die wie der Ansatz einer Krinoline um seine Hüften hingen, und an der Gier, mit der er in den französischen, an der linken Seite hängenden eine immense Schnapsflasche nach jedem Schluck wieder vergrub, und an dem unwilligen Knurren, mit dem er meine Bitte abwies, mir gegen Barzahlung von seinem Tropfen etwas abzulassen, war er mir gleich aufgefallen.

Wir lagen an dem Tage in einem Landhaus, das sich inmitten eines kleinen Parkes ein Pariser Rentier für die Sommermonate aufgebaut hatte, in einem mittelgroßen, kahlgeplünderten Zimmer, auf dessen strohbedecktem Boden wir zu einigen zwanzig kampierten. Es war Abend, und Kerzen waren rar, und als der einzige Besitzer einer solchen erwies sich Hetzenecker, der von der Kaminverkleidung ein Stück Holz abschlug, es zu einem flachen Brettchen zurechtschnitzte und mit dem Seitengewehr schräg links von seinem Kopf in die Wand eintrieb; dann zerschnitt er die Kerze in drei Teile, zündete das obere Stück an, tröpfelte behutsam drei Tropfen Stearin auf das Brettchen und befestigte mit vorsichtigen Fingern das Kerzenstück in dem gerade hart werden wollenden Stearin; dann holte er eine Hartwurst hervor, zerteilte sie sorgfältig in gleich große Stücke und speiste gemächlich und laut; nahm noch einen gewaltigen Schluck, korkte die Flasche fest und liebevoll zu, brach die Kerze vorsichtig von dem Brettchen ab, pustete sie aus und ließ sie in seinem Brotbeutel verschwinden; dann streckte er sich lang aus; meine abermalige schüchterne Bitte um den Kerzenstumpf wurde mit dem nämlichen Knurren abgewiesen. Er mochte mich nicht, auch als ich zu seinem Zugführer aufgestiegen war, zeigte er mir ständig das gleiche abweisende Gesicht, denn er war ein Stromer, und an meinen Schmissen und meiner hochdeutschen Aussprache erkannte er in mir ein Mitglied der Clique, die ihn während seines Lebens ruhlos verfolgt und gequält hatte, der Clique der geordneten Gesellschaft. Aber auch den anderen gegenüber blieb er wortkarg und abgeschlossen und war wenig beliebt, aber mit der Zeit setzte er sich durch und erzählte dann wohl, halb widerwillig, halb ein wenig renommierend von seinem seltsamen Leben mit einer trockenen, knarrenden Stimme und einem merkwürdig lautlosen Lachen, bei dem er den Mund von einem Ohr bis zum andern auseinanderzog und dann ruckweise und fest lautlos die Luft ausstieß.

Er war Zimmermann, aber seit seinem zwanzigsten Jahre – und jetzt mochte er vierzig zählen – hatte er sein Leben zumeist auf der Landstraße, in Haftzellen oder in Arbeitshäusern zugebracht. »Eine ganz logische Geschichte, mein Lieber; wir leben im Zeitalter der Arbeit, und wer nicht arbeiten will, wird eingesperrt, und stromern ist keine Arbeit nicht.« – »Aber ein halbes Dutzend in Bausch und Bogen und nach zwei Minuten Verhandlung auf ein halbes Jahr ins Arbeitshaus stecken, das ist Arbeit!« war seine bissige Antwort. Auf der Walze zwischen Nürnberg und München hatte er den Mobilmachungsbefehl gelesen; er war längst ausgemustert was ging ihn die Sache an! Aber während er sich wiegend weiterschob, wurde ihm langsam bewußt, was das eigentlich bedeutete, daß das Krieg bedeutete, und – es mag wohl zuerst nur der Gedanke an die Menage, Löhnung und Liegerstatt gewesen sein – er machte sich auf den Trab und langte nach einem Gewaltmarsch am übernächsten Tage in München an und brachte es hier fertig – wie, haben wir nicht ganz herausbekommen –, gleich mit dem ersten Transport ins Feld zu rücken, machte die heftigen Märsche und Rückzugsgefechte bei Saarburg mit, den Marsch durch Belgien, die letzten Bewegungsgefechte an der Somme, und – wie ich ihn kennenlernte, begann gerade der Schützengrabenkrieg – nun trottete er vom Quartier zum Schützengraben, vom Schützengraben zum Quartier, ein Zigeunerleben in Dreck und elenden Hütten den langen Herbst und Winter hindurch und Sommer und wieder Winter. Man schlug ihn zur Abkommandierung in ein rückwärts gelegenes Pionierdepot vor, empört knurrend lehnte er es ab und walzte mit uns weiter, wurde niemals krank und war so allmählich einer der wenigen von der alten Garde geworden, die den Neugekommenen gegenüber mit ihren Strapazen aus dem Bewegungskrieg auftrumpfen konnten. Und im Dienst, er war weder besonders eifrig noch besonders couragiert, er war Soldat wie die große Mehrzahl, die eben tut, was man ihr befiehlt, und die dann zu Helden werden, weniger aus persönlichen Vorzügen heraus, sondern aus der Gelegenheit einer äußerst günstigen oder äußerst verteufelten Situation; aber er murrte, er masselte, wie der Fachausdruck heißt, nie. Denn er fühlte sich wohl, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben restlos und dauernd wohl; er hatte eine Art ›Zuhause‹ gefunden, endlich einen Platz, wo er gleichberechtigt war, wo er die gleichen Rechte und Pflichten hatte wie die, die ihn in seinem halb freiwilligen, halb unfreiwilligen Landstraßenleben wie ein Freiwild gehetzt hatten, und wo er bleiben mochte.

Denn dieses Sich-zu-Hause-Fühlen wurde ihm ja nicht schwer gemacht, er brauchte nicht allzusehr seine Gewohnheiten zu ändern; der ständige Wechsel, sechs Tage hier, sechs Tage dort, neue Quartiere, andere Stellungen, andere Straßen, dieses anderthalbjährige Koffer- und Brotbeutelleben war nicht so sehr verschieden von seinem alten Stromerdasein, es war nur allgemein geworden, es war sanktioniert. Und er hatte zu essen und zu trinken. Und dieses Freisein von der materiellen Not bewirkte bei ihm, der immer nur von der Hand in den Mund gelebt hatte, eine komisch ängstliche Besorgnis um seine Habe. Er wird in den letzten zwanzig Jahren wohl nie so viel besessen haben wie jetzt: er verfügte über den mit reichlicher Wäsche, mit Lebensmitteln, aufgeklaubten Raritäten und Erinnerungsstücken schwerbepacktesten Tornister der Kompanie, verfügte über zwei ständig mit Brot, Wurst, Tabak und Kerzen angefüllte Brotbeutel und hatte dazu noch seinen Extrafranzosenbrotbeutel, den Aufbewahrungsort seiner Kirschwasserbuddel, an einem langen Schulterband an der Seite hängen; und er trennte sich von diesen Sachen nie, er schleppte seine drei Brotbeutel zu jeder Arbeit mit, wurde im Sturmanzug in Stellung gerückt oder sollte der ersoffenen Unterstände wegen der Tornister zurückbleiben, er schleppte ihn trotzdem mit und fand einen trockenen Platz für ihn; hieß es: es wird in Mütze in Stellung gerückt, so ließ er eben seinen Helm am Seitengewehr baumeln; und mit seinem empörtesten Knurren wies er in der Weihnachtszeit die Zumutung zurück, die für ihn reichlich eingetroffenen Liebesgaben in dem eigens für diese Zwecke errichteten Depot zurückzulassen, klein, verhunzelt, mit Kisten und Kasten bepackt wie ein Weihnachtsmann stapfte er los. Und diese Lust am endlichen Besitz erstreckte sich auch auf seine Ausrüstungsstücke: er besaß noch Zeltbeutel und Zeltstöcke, die kein Mensch mehr besaß, wachte eifersüchtig über sein Gewehr, seinen Spaten, und seine gesamten Sachen waren die saubersten der Kompanie.

Aber es war eben dieses äußerliche Geborgensein nicht allein, was ihn in einem dauernden Wohlbehagen leben ließ, es war insbesondere das Freisein von den seelischen Beklemmungen, unter denen er während seines Strolchendaseins zu leiden hatte; das Außenseiter-, das Pariatum war zu Ende; er war wieder einer wie die anderen. Und dieses seelische Moment mag auch wohl den, ihm nicht bewußten Grund abgegeben haben, die Abkommandierung in ein Depot oder in das Etappengebiet nicht anzunehmen; denn dort wäre er sich sogleich wieder wie auf einem kleinen Außenseiter-, einer Art Drückebergerposten vorgekommen; er wollte eine innere Berechtigung zu seiner materiellen Geborgenheit haben, und die fand er in der Gefahr.

Andererseits gab ihm dieses Gefühl, wieder ein vollberechtigtes Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein, eine merkwürdige Unbekümmertheit: riet ich ihm zum Beispiel, die weitleuchtenden Bretter, die zum Verschalen der Schützenauftritte und Unterstände in die Gräben gebracht wurden und oft das feindliche Feuer auf uns gezogen hatten, nicht so hoch und sichtbar zu tragen, so zuckte er verächtlich die Achseln, als wollte er sagen: Laß man, Korl, mir kann nix mehr geschehn.

Es war durchaus kein überströmender Patriotismus in ihm, es war wohl nichts von diesem Gefühl in ihm, und er machte oft genug seine bissig knurrenden Bemerkungen über den ›ganzen Schwindel‹, wie er großzügig den ganzen Mechanismus Staat und was mit ihm zusammenhängt, bezeichnete; nur das Außenstehen war er satt, nur seine Nummer wollte er haben. Und es ist witzig genug, daß er, der früher am liebsten auf den Mond gewandert wäre, um dort seine Freiheit vor dieser verhaßten Gesellschaft zu haben, nun gerade in dem sinnfälligsten Ausdruck ihrer unerbittlichen und unbedingt souveränen Gewalt, im Heer, das beglückende Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Gesellschaft und auf seine Art den Frieden fand.

Anderthalb Jahre trottete er mit uns durch dick und dünn, schwerbepackt und bei den Märschen ständig als letzter Nachzügler hinter der Kompanie, mit seinem alten wiegenden Landstreichergang, bis auch ihn das Geschick sich holte: ich war im Sommer zu einem anderen Regiment versetzt worden, und als ich nach einigen Monaten durch ein zu einem wüsten Trümmerklumpen zerschossenes Dorf marschierte und mich Leute meiner früheren Kompanie begrüßten, erzählten sie mir auf meine Fragen als erstes, daß vor einer halben Stunde eine Granate eine halbe Gruppe zerrissen hätte und unter ihnen den alten Hetzenecker.


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