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Lerchen

Daß vom Sonnenaufgang an bis weit in den schläfrigen Nachmittag hinein fünfzehn, siebzehn singende Lerchen über unserem zweihundert Meter langen Schützengrabenabschnitt hängen, und zwar unter einem so tiefen, makellosen Blau, wie wir es nur von den Himmeln der Gebirge kennen, das ist uns ebenso etwas Altes wie das dumme Postengeknalle des Nachts oder etwa der kupfergelbe, pausbackige Mond, unter dem die surrenden Rollwagen der fünfzehn-Zentimeter-Granaten hinüberlümmeln – ein kurzes rötliches Aufleuchten hinter uns auf der Höhe, hinter dem struppigen Wald, ein behagliches, tiefes, eiliges, immer eiliger und heller werdendes Surren, und nun hasten sie zu vieren in Reih und Glied nicht ganz in Reihe und Glied, der eine hinkt und hastet und brummt eilends nach – wie in einem Wettrennen über uns fort; jetzt erst, gerade jetzt, wo sie über unseren Häupten hängen, durchbricht der müde, nachhastende Knall ihr immer helleres Heulen, noch eine Sekunde, und mit einem infernalischen Krachen haben sie zu Ende gelümmelt; wären sie einen Kilometer weiter, oben hinter der Pappelallee krepiert, so wäre der Vergleich der Paukenschläge angebracht gewesen: die Geschoßbahnen der Schlegelstiel und die detonierenden Granaten der ungeheure Schlegelkopf, der auf die Gräben trommelt, paukt, aber das sind alte Geschichten, so altgewohnte, daß wir später nicht einmal davon träumen mögen und sie vergessen werden ebenso, wie uns schon jetzt die ganze fabelhafte Schönheit dieser Frühlingsschützengrabentage aus den Händen gleitet.

Und auch das, was diese kleine Erzählung veranlaßt hat, ist eine alte Geschichte, und es sei dahingestellt, ob es nur der Frühling oder zudem auch der die Nächte hell durchleuchtende Mond gewesen ist, der plötzlich die Lerchen packt und sie mitten aus dem Schlaf singend in die Höhe wirbelt; jedenfalls, als ich gestern nacht wieder durch den Graben trottete und, über die klappenden Holzroste schreitend, an den putzigen Schützengraben, diesen Kinderschützengraben, dachte, den wir damals, vor Jahren, auf den Lockstedter Heidehügeln aushoben und es Mai war und ich mich grimmig nach ›ihr‹ sehnte, lärmte urplötzlich dicht neben mir vom Grabenrand, in dessen Nähe unter den Drahtverhauen und zwischen Leichen und Ratten sie ihr Nest haben mochte, eine Lerche wie toll mitten aus dem Traume hoch, sang, schrie, warf sich hoch und höher, riß einen Schwarm von fünf, sechs eifersüchtigen Männchen mit aus dem Schlaf und in die Luft, bis nach einigen Minuten das ganze überraschende, närrische Gesinge wieder so plötzlich aufhörte, wie es gekommen war, und unter dem pausbackigen, kupfergelben Mond nichts weiteres zu hören war, als das Räuspern der sich langweilenden Posten und das dumme, ewige Geknalle des etwas nervösen Nachbarregiments.

In der nächsten, durch stärkeres Gewehr- und Artilleriefeuer erregten Nacht aber verwandelte sich diese kleine Begebenheit in folgende seltsame Traumgeschichte. Es ist eine mitteldeutsche Stadt, Jena, Göttingen, oder eine sächsische, Merseburg, wie du willst; und es ist Nacht, Februar, März, und der Mond, rund und rot wie ein Falstaffkopf, sinkt gerade in die noch kahlen, aber schon knospenschwellenden Wipfel des Stadtwäldchens, in dem zu Pfingsten die Bürger Musik machen und eine Bowle trinken. Die Straßen aber sind eng und winkelig, die hölzernen Giebel hoch und spitz, kein Kater singt auf ihnen, und das letzte Mondlicht kriecht dünn und gar nicht geisterhaft durch die leeren Gassen. Ich aber liege wach in einem weichen – ach! so weichen – Federbett, ich habe die Knie angezogen und übereinandergelegt und betrachte mit einer unsagbaren Wollust meinen rechten, frisch gebadeten Fuß, wie er nackt und weiß wie Kirschenblüte unter der Decke hervorragt und nicht müde wird, seine schnurrigen Spiralen in die Luft zu zeichnen; und meine Taschenuhr auf dem Nachttisch tickt und zerschlägt ängstlich die Zeit, langsam, eins, zwei, eins, jetzt stellt sie das Ticken ein – wozu soll sie auch ticken? –, und es ist ganz still, und nur mein blütenweißer Fuß wird nicht müde zu zeichnen, zu malen, zu malen.

Ist dir schon, wenn du, mit deiner langen Pfeife zwischen den frischen Kohlbeeten deines Schrebergartens lustwandelnd, dem Gesinge eines Staren zuhörtest und zuschautest, wie er es unter Flügelschlagen eifrig in die Lüfte schickte, ist dir schon unter diesem kauderwelschen Sange und innigen Narrengekrächze ein Ton aufgefallen, der immer wiederkehrt? Ein langer, leise verklingender, süßer, jubelnder Ton voller Frieden und gemäßigter Sehnsucht? Er kehrt immer wieder, und er ist dir gewiß schon aufgefallen.

Solch einen Ton, aber einen um das Zwanzigfache verstärkten, hallenden, jubelnden Ton voller Frieden und gemäßigter Sehnsucht, hörte ich, nachdem die Uhr stille geworden war und auch mein Fuß anfing des Malens und Zeichnens müde zu werden, mit einem Male von dem Giebeldach drüben in die Nacht sich schwingen, und er umkreiste die Stadt und kehrte zurück, von wo er gekommen, und schraubte sich höher, höher, um über mir, zwischen den Sternen des kleinen Bären friedlich zu verklingen. Und wie ich meine Augen, die unwillkürlich den unsichtbaren Schraubenlinien dieses Tones gefolgt waren, wieder senkte, sah ich, daß der Rechnungsrat von nebenan rittlings auf dem Dachfirst vor meinem Fenster saß und sang und sang. Da spitzte ich die Ohren, denn er sang voller Begeisterung, und ich hörte, wie er das Lob seiner Gattin sang, mit durchdringender, herausfordernder Stimme, wie sie ihm Gefährtin gewesen und ihm Kinder geboren und sie gepflegt und schon wieder ein anderes unter dem Herzen trage usw.

Und jetzt dauerte es nur eine kleine Weile, bis daß die geöffneten Fenster klirrten und die Türen und Tore dröhnten, eine Regenrinne niederpolterte und da und dort ein Ziegel niederklatschte, und ein seltsames Scheuern und Knirschen wurde hörbar, und ein hitziges Stöhnen wurde laut, auf das alsobald ein vieldutzendstimmiger eifriger Jubelgesang sich anschloß. Und da der Gesang ringsumher aus der Höhe kam, sah ich, bevor ich wußte, daß ich an mein Fenster geeilt war und mein schneeweißer Fuß in einem noch weißeren Bärenfell versank, und bevor ich wußte, was ich sah, jedwedes Dach gekrönt von einer schwarzen Reitergestalt, von ekstatischen Männern, die, einer den anderen durch helleren Sang und eifrigeren Sang übertrumpfend, das Lob ihrer Gattin sangen, wie sie ihnen Gefährtin gewesen und ihnen Kinder geboren und sie gepflegt und schon wieder ein anderes unter dem Herzen trage usw.

Und das mochte einige zehn Minuten oder weniger gedauert haben, dann kletterten sie behende, fluchtartig wie die Spinnen wieder von ihren Schornsteinen und Firsten herab, und die Türen und Fenster schlossen sich rasch und leise, und es war wieder so still wie zuvor.

Dann träumte mir, ich wäre von meinem Fenster wieder zurückgetreten und fiele in einen tiefen Schlaf. Und als mir träumte, wieder aufgewacht zu sein, war ich mir bewußt, daß das Land des Wunders voll war, daß allnächtlich in jener kleinen Stadt es über einen der Ehemänner, deren Frauen guter Hoffnung waren, käme wie der Blitz, urplötzlich mitten aus dem Schlaf und Ehebett auf das Dach ihres Hauses klettern zu müssen, um von dort aus das Loblied ihrer Gattin anzustimmen, auf welchen herausfordernden Sang dann die umwohnenden Ehemänner, deren Gattinnen in den gleichen Umständen waren, nicht verfehlten, eilends ihrem eifersüchtigen Triebe zu folgen, also, daß auch sie mondwandelnd ihre Dachfirste erkletterten, um von dort den Preis ihrer Gesponsin in noch helleren, noch lauteren, noch friedlicheren, noch maßvoll sehnsüchtigeren Tönen in die Nacht zu senden; ihre Gattinnen aber lächelten dazu und streichelten friedlich ihren gesegneten Leib.

Und je länger die Tage wurden, desto mehr wuchs diese Unart, desto mehrere wurden von dem Taumel erfaßt, und je kürzer die Nächte wurden, desto konzentrierter und rekordlüsterner wurden die nächtlichen Gesänge, und wenn zuerst nur die Sänger eines Viertels einander zu übersingen strebten, so suchten jetzt diese Viertel vereint einander die Preise abzuringen, kurz gesagt, es kam so weit, daß die ganze Stadt nach Milch roch.

Es ist still, die Stunde und ihr Zeiger stehen, und der Strom der Zeit, der brausend aus der Höhe stürzend an unserer Seele Balkenwerk sich bricht und dessen Schaum und Wellengekräusel du bist, ist lau und warm und fällt nicht mehr; nur mein nackter Fuß malt und malt und will nicht müde werden – und ein langgezogener, ein heller Ton voller Frieden und gemäßigter Sehnsucht –, und schon kräht von dem Dachfirst gegenüber der Sänger antwortend in die Nacht. Als sei ein Berg vom Himmel gestürzt, zerschlägt ein Krach die Welt, und wo die Stadt stand, bäumt sich eine Riesenzypresse himmelan, aus einer wilden Manschette von schwefelgelbem Rauch und roter Glut fährt krachend eine ungeheure Säule in die Nacht; und es ist nichts als diese schwarze Säule, Häuser, Dächer, Sänger und mein schneeweißer Fuß, es ist nichts; und was gewesen war, fährt in dieser Säule und mit dieser Säule in das Nichts.

Ich erwache; es hat dich neben mir eingeschlagen, und ich höre die arbeitenden Leute über die klappenden Roste in die Stollen flüchten. Als ich aber aus meinem Unterstand hervorgeklettert war – denn wir hausen tief in der Erde –, war schon das Feuer weitergelaufen und lag rechts von uns auf der Mulde und den Verbindungsgräben, die nach dem zerschossenen Dorfe rückwärts führen. Der Mond aber hing wie ein Kupferkessel über den westlichen Höhen, als warte er darauf, von dem kommenden Morgen zu einem Klumpen zusammengehauen zu werden. Dann wurde es Tag, kein Angriff kam, und die Posten rückten ein.


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