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Der Flieger

Nachdem es vierunddreißig Stunden lang ununterbrochen geregnet hatte und es in unserem Graben ein knietiefes Waten war wie in einem dünnen Schokoladenpudding oder in einem noch zu wässrigen, noch nicht ganz backfertigen Kuchenteig, zerriß gegen Abend plötzlich der Wind den träufelnden Wolkenteppich und hastete die blaugrauen Fetzen in ungeheuren klobigen Brocken davon; und die Parks und Dörfer, die auf den Höhenrücken und in den Mulden dieser weichwelligen und verschlafenen Kreidelandschaft kauern, verloren mit einem Male ihr dunstiges Blau und standen nun da, schwarz, zerschossen und kahl. Am nächsten Morgen aber wiegte sich hoch in dem reingefegten Himmel ein feindlicher Flieger, blinkend, surrend, frech und über alle Maßen schön in seiner koketten Unbekümmertheit um die rings um ihn in graziösen Wölkchen zerplatzenden Schrapnelle. Jetzt läßt er einen Regen goldener Kreuze niederregnen und verschwindet dann rasch mitten hinein in die Sonne, und nach einer halben Stunde fährt in dem Dorfe rechts hinter uns – Guillemont heißt sich dieses dreckige Dorf – eine Granate in eine zum Appell versammelte Kompanie und reißt mit ihrer infernalischen Wucht fünfzig Ahnungslose, Unbekümmerte in einen bitteren Tod.

Gibt es etwas Verführerischeres zu denken als den Gedanken an das starre, mathematisch präzisierteste atomistische Geschehen und den Kranz und Glanz von Farben, Tönen, Sentiments und Gedanken, die dieser atomistischen Taubheit, Blindheit, Gefühllosigkeit und Gedankenleere entgegenstehen? Eine Welt, eine Seite der Welt, der eisigsten Gleichgültigkeit, der ›absolutesten‹ Kausalität, eine Welt, in der das dümmste Fatum herrscht, und eine Welt, eine andere Seite der Welt – denn die Welt, der Grund, das Ding an sich und das Furchtbare, hat sieben Seiten und sieben mal sieben Perspektiven –, in der das niemals ganz zu Fassende, das Unbedingte – denn wir glauben letzten Grundes nicht an die Bedingtheit des Denkens –, der freiherrliche Gedanke regiert, und mit seinen Flügeln, das sind die Farben und Töne und Sentiments, über der anderen Seite, über der Welt der Atome gaukelt wie ein verliebter Papillon, eine hungrige Fledermaus oder ein Uhu oder melancholischer Abendkauz? Gibt es etwas Verführerischeres, Gefährlicheres als den immerwährenden Gedanken an diese zwei Seiten der Welt und des Furchtbaren, das über uns, hinter uns, unter uns gähnt und lauert? Und kitzelt unseren träumenden Stolz etwas mehr als das Wissen, daß die Welt der Atomistik und Physik auch nur ein Ding des Gedankens ist? Und daß sie als solches Gedankending eigentlich nicht ist, sondern nur gaukelt, nur fliegt? Macht uns der Gedanke nicht selig und schwindeln, treibt er uns nicht reißend hoch und läßt allen Schmutz, allen Ekel, alle Wut der Sehnsucht und alles ›Leid‹ unter uns in Nebel und Nichts verschwinden, der Gedanke, daß wir eines Tages dieses ganze Gedankending, das ist, diese ganze Welt, die wir sehen und fühlen und sind, herrisch zusammenreißen und das so in einen strahlenden Ruf, in ein einziges klingendes Wort Zusammengeraffte ausstoßen können, hinausblasen können in ein endloses, ewiges Nichts?

Aber die Farben und Töne und Sentiments und Gedanken gehen parallel, um nicht zu sagen: sie sind die Folgeerscheinungen des Lezithinverbrauchs der Ganglienzellen, aber diese Ganglienzellen, diese dümmste, nichtssagendste aller Tatsachen, sind auch nur wieder ein Gedankending, und dieses ›Gedankending‹ ist auch nur wieder eine Folgeerscheinung – ein anderer Ring der Ringe, die Schlange beißt sich in den Schwanz.

Und nun hinein in den Tod, von dem wir auch nichts anderes wissen, als daß er ein Ring ist in dieser Kette, ein Ringelglied der Schlange, ein Wort.

Dieser Krieg ist der seltsamste aller Kriege; denn der größte Krieg, der je ausgefochten wurde, ist für uns nichts als nur ein Kampf gegen den Schmutz und den Regen und die sich türmende, von allen Seiten uns anbrüllende Langeweile. Und in diese Langeweile hinein, gegen diese dickblähigen Gespenster schickte ich meinen verführerischsten Gedanken ins Feld – vielleicht ist es aber nur das Bild der Leichen da draußen; in Reihen, in furchtsamen Haufen und in langen Schützenlinien liegen sie vor uns, schon mehr als einen Monat lang, und sacken unter dem Regen immer tiefer hinein in ihre heimatliche Erde: sie haben den Sprung in das Furchtbare, mitten hinein in die Lösung getan; und vielleicht ist nur mein Grauen vor diesem Sprung und vor dieser endgültigen Lösung, die als etwas Endgültiges nur eine ungeheure Dummheit ist, die Ursache, die mich zu dem Gedanken von den sieben Seiten und den sieben mal sieben Perspektiven der Welt hat flüchten lassen.

Ein Wind tut sich auf, ein leichter, nicht unangenehmer Leichengeruch kommt von den schwarzen flachen Haufen da draußen, Wolken kriechen langsam über die Hügel hoch und verkleiden die Parks und Dörfer dunstig und blau; und nun wird es wieder regnen und weiter Schokoladenpudding geben und noch nicht ganz backfertigen Kuchenteig.


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