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Die Novize

Am Vormittag hatte in der Kathedralkirche zu Unserer lieben Frau, in Anwesenheit Ludwig XIV. und des ganzen Versailler Hofs, ein solenner Akt ersten Ranges stattgefunden, erhöht durch ein Wunderwerk der Beredsamkeit des berühmten Fléchier, Bischofs von Nimes, zum Gedächtnis der kürzlich verstorbenen Dauphine, der Schwiegertochter des Königs; am Abend aber war nun bei der Staatsrätin von Caumartin eine auserlesene Gesellschaft geladen, zu Ehren des genannten Redners, der einst, damals noch ein kleiner Abbé mit stark freigeistigem Anhauch und galanter Dichter im Stil des Hotel Rambouillet, im Hause des Staatsrats von Caumartin als armer Hauslehrer sein erstes Brot gefunden hatte, nebst einigen Sprossen zu der Leiter, auf welcher er dann zu seiner glanzvollen Stellung emporgestiegen ist.

Die Tafel war aufgehoben, und während man im Salon aus kleinen goldenen Tassen den Kaffee schlürfte, die Damen sitzend, die Herren stehend, kam die Rede auf eine böse Skandalgeschichte in der Abtei Chelles, dem berühmten und hocharistokratischen Clarissinnenkloster bei Château-Thierry, und damit auf das weibliche Klosterwesen überhaupt.

»So viel kann man sagen,« bemerkte die Dame des Hauses, »daß eine gewisse alteingebürgerte Sitte unseres Adels der Religion im allgemeinen und den Frauenklöstern im besonderen nur äußerlich zugute kommt, nicht innerlich.«

»Von was für einer Sitte wollen Sie sprechen,« fragte scheinbar naiv die blonde Marquise von Sévigné neben ihr, die wohl wußte, worauf die Staatsrätin hinauszielte.

»Lassen Sie mich für meine Frau antworten,« entgegnete ihr der Herr von Caumartin, »sie meint natürlich die Unsitte unserer herkömmlichen Familienpolitik, man kann auch Familienegoismus sagen, unsere überzähligen Töchter ins Kloster zu sperren, um ihnen kein Heiratsgut auszahlen zu müssen, wodurch freilich, da die jungen lebenslustigen Mädchen meist nur widerwillig und eben nur aus notgedrungenem Gehorsam den Schleier nehmen, unsere Klöster zwar sehr bevölkert, aber dafür in ihrem innerlichen Geist auch immer mehr korrumpiert werden.«

»Im Geist. Vielleicht. Nicht im Blut. Dies wird durch unsere Methode nur verbessert,« versetzte, indem sein knochiges Italienergesicht eine Grimasse schnitt, der Kardinal von Retz, der eben erst aus seiner Verbannung von St. Mihiel zurückgekehrt war, und als einziger unter den Herren einen Sitz innehatte; er saß neben seiner Base, der Herzogin von Lesdiguières, die ihm jetzt mit ihrem Spitzenfächer verweisend auf die Finger klopfte und ihm ein »nichtsnutziger Schäker« in die Ohren flüsterte.

»So oder so,« warf ihr Gemahl, der Herzog von Lesdiguières, dazwischen; »unsere Methode ist nun eben einmal eine Notwendigkeit. Wo sollten denn die Familien mit ihren Töchtern hinkommen, wenn diese alle ein Heiratsgut beanspruchen wollten? Da könnten dann auch unsere nachgeborenen Söhne auf das gleiche Erbteil dringen, das wäre das Ende der Welt.«

»Verzeihung, Herzog,« nahm die Dame des Hauses wieder das Wort, während sie fast etwas erregt ihre leergewordene goldene Tasse vor sich hinsetzte, »aber diese Söhne führen alle meist ein lustiges Leben, sie werden nicht eingesperrt, ihnen wird keine Gewalt angetan, aber die eingemauerten armen Mädchen, meine ich, müssen wenigstens einigermaßen unser Mitleid herausfordern.«

»Eins ist auffallend,« meinte der sehr bejahrte und etwas verwachsene Graf von Villeroy, »man hört selten, daß sich eine Tochter von guter Erziehung der aufgedrungenen geistlichen Bestimmung widersetzt. Wie die Osterlämmlein lassen sie sich alle geduldig opfern. Gegenüber ihren Eltern haben sie keinen Mut und keinen Willen. Ueberhaupt scheint ihnen die Tugend der Tapferkeit erst durch das Sakrament der Ehe eingepflanzt zu werden. Denn dann, ihren Ehemännern gegenüber, haben sie meist so viel davon, daß einer allein selten mit ihnen fertig wird; geradezu ins Riesenhafte kann sich dann ihre Entschlossenheit entwickeln.«

»Und nennt Ihr das keine Tapferkeit,« versetzte etwas spöttisch die Herzogin von Lesdiguières, »sich zum Wohl der Familie so willig hinschlachten zu lassen?«

»Ich nenne es keine,« sprach, ein wenig feierlich, ein Mann in schwarzer Amtsrobe, der Kammerpräsident Norlon vom Pariser Parlament, ein Jansenist, wie fast alle seine Amtsbrüder, und als solcher nicht wenig dem Protestantismus innerlich zugeneigt; denn sich öffentlich zu der verfolgten Religion zu bekennen, fing bei vornehmen Leuten allmählich an, aus der Mode zu kommen. »Nein, ich nenne es keine,« sagte er, »die übliche unfreie Erziehung – in den Klöstern – geht ja auf nichts so sehr aus, als auf die Ausrottung jeder eigenen Meinung. Aber ich möchte gar zu gern wissen, was unser verehrter Herr Bischof von Nimes dazu denkt?«

Er allein, dem zu Ehren die Gesellschaft versammelt war, hatte bis jetzt noch nicht gesprochen. Der Bischof Fléchier, dessen imposante Gestalt, erhöht durch den einfachen Stil seines violenfarbenen geistlichen Gewands, die etwas allzu bunte Versammlung merklich überragte, war bei weitem nicht mehr der scharmant plaudernde und scherzend galante Abbé, als den man ihn einst in diesem Hause gekannt hatte. Er hatte sich längst mit den bischöflichen Gewändern zugleich eine gewisse bischöfliche Würde angelegt, und war, im Gegensatz zu vielen anderen seines Standes, nicht nur in seiner Rhetorik, sondern auch in seinem Lebensstil etwas pompös und gravitätisch geworden, vielleicht in heimlicher Nachahmung seines berühmten Nebenbuhlers, des Herrn Bossuet, von dem ihn dennoch eine größere Kluft trennte, als er vielleicht ahnte. Denn jener stramme Bischof von Meaux würde ein Geschichtchen, wie der Bischof von Nimes es jetzt zu erzählen im Begriff stand, wohl für sich behalten haben.

Auf die Herausforderung des Herrn Norlon sah der berühmte Kanzelredner diesen harmlos an, der, wie schon angedeutet, für einen uneingestandenen Protestanten galt – als ein eingestandener würde er sich nicht in dieser Gesellschaft befunden haben. Und so bekamen einen uneingestandenen Sinn auch die Worte des Bischofs.

»Es freut mich,« sagte er, immer noch verbindlichst lächelnd, »daß der Präsident dem moralischen Mut eine solche Bedeutung beilegt. Ich stimme hier ganz mit ihm überein, mit seiner Einschätzung nämlich ...«

»Bravo, Bischof!« rief hier das Enfant terrible der Gesellschaft, der Kardinal Retz.

»Ja, mit seiner Einschätzung,« wiederholte Herr Fléchier. »Aber, wenn man es mir erlauben will,« fuhr er fort, »möchte ich den Herrschaften, ich werde es kurz machen, ein eigenes kleines Erlebnis erzählen, von dem man aber vielleicht doch nicht sagen kann, daß es dem Gegenstand Ihrer Unterhaltung ganz fremd sei.«

Die Gesellschaft war natürlich freudig und dankbar bereit, zu hören, und der Bischof begann.

Der Vorfall, von dem er sprach, hatte sich bereits im ersten Jahr seines Episkopats ereignet. In der Ursulinerinnen-Abtei zu Saint-André-de-Valborgne sollte eine Novize von vornehmer Geburt, die Tochter des reichen Marquis von Aiguesvives, rezipiert oder eingekleidet werden, was durch den zuständigen Bischof oder dessen Stellvertreter zu geschehen hatte, und in diesem Sinne war ein Bittgesuch der ehrwürdigen Mutter Aebtissin bei dem Bischof eingelaufen.

»Es war erst meine Absicht,« fuhr Herr Fléchier fort, »meinen Generalvikar hinzuschicken, aber als schon der für die Zeremonie festgesetzte Tag herannahte, wurde mir eines Morgens der Marquis von Aiguesvives gemeldet, der mir seine Aufwartung machen wollte. Ich kannte den Herrn Marquis bereits persönlich, und so kam unser Gespräch schnell auf das, was meinem Besucher am Herzen lag, auf die Gelübde seiner Tochter, worüber der Vater sich mit viel frommer Rührung äußerte. Wohl sei die Anregung zu dieser Standeswahl, so sagte er, von der Familie ausgegangen und rein weltliche Beweggründe, als insbesondere die standesgemäße Versorgung von fünf Kindern, hätten dabei nicht fern gelegen; um so erfreuter sei sein väterliches Herz darüber, daß bald der äußeren Notlage die innere Berufung sich gesellt habe, indem seit einem halben Jahr von der ehrwürdigen Mutter Aebtissin immer günstigere Berichte eingelaufen seien über die fromme Seelenverfassung des Fräulein von Aiguesvives, das bereits von ihren Mit-Novizen wie eine Heilige verehrt werde und ganz in Sehnsucht sich verzehre nach der vollen Vereinigung mit ihrem himmlischen Bräutigam durch die abzulegenden Gelübde.

»So der Herr Marquis von Aiguesvives. Ich fand nun zwar seine fast schwärmerische Rede nicht ganz im Einklang mit dem, was die Fama sonst von dem übertemperamentvollen Landedelmann zu berichten wußte; aber ich war hierüber ja nicht zum Richter bestimmt, und so beglückwünschte ich den Herrn Marquis aufrichtig zu der frommen Wendung der Dinge und versprach ihm, die heiligen Gelübde seiner Tochter in die eigenen Hände entgegenzunehmen.

»Das war es, was er durch seinen Besuch hatte erreichen wollen; denn diese Herren, bis in die entlegensten Provinzen hinaus, sind um kein Haar weniger ehrgeizig als die anderen zu Versailles an den Stufen des Thrones. Ich bereitete mich also zur Reise nach Saint-André-de-Valborgne, und da es dort lange nicht vorgekommen sein mochte, daß ein Bischof in eigener Person eine Rezeption vorgenommen hatte, wurde ich dementsprechend empfangen, in Prozession mit Kreuz und Fahnen und Baldachin und was sonst dazu gehört. Ich hatte dann eine Unterredung mit der Aebtissin, einer Dame von Roquelaure, schon in hohen Jahren, die mir über die einzukleidende Novize womöglich noch frömmere Dinge sagte als deren Vater, so daß ich also diesmal wohl nicht zu befürchten brauchte, falsche und erzwungene Schwüre entgegennehmen zu müssen.

»Zur Zeremonie war alles bereit. Im Chor der Klosterkirche, in der Mitte, kurz vor dem Hochaltar mit den flackernden Kerzen, hatte man den bischöflichen Thron aufgerichtet, und in den umfangreichen Chorstühlen beiderseits hatten, rechts die blaubemäntelten Nonnen, und links die Eltern und eine zahlreiche Verwandtschaft der Novize Platz genommen, das Schiff der Kirche war erfüllt von andächtigem Volke. Vor dem Thron bekleideten mich die dienenden Priester mit den sakramentalen Gewändern, setzten mir die Mitra aufs Haupt und gaben mir in die Linke den reichgeschmückten Hirtenstab. Dann nahm ich Platz auf dem hohenpriesterlichen Stuhl. Zu gleicher Zeit verstummte die Orgel und der Chorgesang, eine lautlose Stille herrschte im ganzen Kirchenraum, und im Gestühl der Nonnen erhoben sich drei Gestalten und bewegten sich gegen mich.

»Es war die Novize mit einer Schwester zu jeder Seite, die ihr zu Paten standen, beide wie die übrigen Nonnen in blauen Mänteln, die Einzukleidende aber im einfach schlichten Weiß, das Haupt mit einem Kränzlein weißer Rosen gekrönt und ihr üppiges, dunkles Haar, wohlgeordnet, aber frei auf die Schulter niederfließend, da es ja bald unter der grausamen Schere zu Boden sinken sollte.

»Ich sehe die Gestalt noch heute wie leibhaftig vor mir, kräftig im Wuchs und das Antlitz ohne jede Blässe oder sonstige Spur einer Heiligkeit, in blühender Schönheit leuchtend. Vor dem Thron angelangt, wichen ihre blaubemäntelten Patinnen links und rechts zur Seite, alles genau nach der Vorschrift, sie selber beugte vor mir tief das Knie, verblieb aber nicht, wie es das Ritual wollte, in dieser Stellung, sondern richtete sich stramm auf, und ich bemerkte wohl, wie die Nonnen darüber in Aufregung gerieten. Doch ich tat nicht dergleichen, sondern erhob bereits meine Stimme zu der ritualen Frage: Was verlangst du von mir, meine Tochter? Und nun, meine Herrschaften, würden Sie gewiß nicht erraten, was ich zur Antwort bekam.

»Nämlich die prädestinierte Braut Christi sah mich aus ihren großen dunklen Augen (statt sie vorschriftsmäßig zu Boden zu schlagen) fast streng an und antwortete: ›Ich verlange von dir, Vater, die Schlüssel zur Klosterpforte.‹ Und da diese Antwort mich tatsächlich einen Augenblick sprachlos machte vor Verblüffung, so wiederholte sie, und viel lauter als vorher, die genannten Worte, daß ihre Rede durch die ganze Kirche hin deutlich vernommen wurde: ›Ich verlange die Schlüssel der Klosterpforte, um zu entfliehen, und diese Forderung erhebe ich hier in dieser feierlichen Stunde und laut und deutlich, weil jede andere Form eines Protestes, wie ich wohl wußte, vergeblich gewesen wäre.‹

»Kurz, es war ein fürchterlicher Skandal,« so schloß der Bischof seine Erzählung, »aber das tapfere Fräulein von Aiguesvives hat das Feld als Siegerin behauptet, sie ist heut eine Gräfin von Rocherolles und ihr Gemahl soll sie einzig aus Bewunderung für ihr mutiges Auftreten geheiratet haben, aber diese Spezies von Mann, scheint mir, wächst heutzutage in Frankreich nur noch in den alleräußersten Provinzen.«

Dem stimmten die Herren und Damen herzlich lachend bei, nur des Kardinals von Retz knochig häßliches Italienergesicht verzog sich abermals zur fast zynischen Grimasse, indem er seiner Base, der Herzogin von Lesdiguières, etwas ins Ohr flüsterte, das leider außer der Genannten niemand gehört hat und darum auch hier nicht berichtet werden kann.


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