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siehe Kapitelüberschrift

Der Alte Tumichan

Tumichan hätte etymologisch richtig seinen Namen eigentlich mit einem »h« hinter dem »T« schreiben sollen. Allein er hat die Orthographie nie hoch angeschlagen, und in Familiennamen pflegte er zu sagen, gilt sie überhaupt nichts. Er machte kein »h«, wie sehr auch der Doktor Brüllmeyer sich ereifern mochte. Der war nämlich Klassenlehrer in Quarta. Jetzt hat sich die Orthographie geändert und Brüllmeyer würde schimpfen, wenn Tumichan ein »h« machte.

Tumichan besaß noch mehr Eigenheiten, und dazu gehörte vor Allem seine große Armut. Die war ein großer Fehler an ihm und wurde ihm von aller Welt übel genommen. Er hat vielleicht deshalb außer mir nie einen Freund besessen.

Er war aber nicht nur ein armer Tropf, es wurde auch viel unheimliches Zeug über ihn gemunkelt. Ein altes Spinnrockenweibchen, das vor Alter verrückt geworden sei und sein Spinnrad für die Welt angesehen habe, soll des Tumichan's Mutter gewesen sein und einen Vater soll er überhaupt nicht gehabt haben. Man behauptete sogar, daß den Tumichan nicht der Storch gebracht hätte und daß er auch nicht vom Kappelbrunnen gekommen, wie das, so oder so, mit andern ehrlichen Menschenkindern jener Gegend geschah, was wir Alle als Kinder nur zu gut wußten. Besonders von dem Kappelbrunnen wußten wir's. Die einen sagten, die Ankömmlinge quöllen mit den heiligen Wassern herauf aus der Tiefe des Brunnens, die andern, sie kämen mit dem Tau vom Himmel herunter, von goldenen oder buntfiederigen Flügeln getragen, welche ihnen die Hebamme, wenn sie die kleinen Schreihälse heim in die Stube bringt, unterwegs abschneidet.

Wir wußten nicht, warum die Hebamme das tut. Aber der Umstand, daß sie nicht mehr da sind, die Flügel nämlich, bewies uns, daß sie abgeschnitten wurden. Und halb und halb konnten wir es uns denken, warum diese Damen so grausam verfahren. Die Flügel, die wir vom Himmel her mit auf die Welt bekommen, wären uns auf dieser Erde sehr unbequem, wir würden allerlei närrisches Zeug und Unheil damit anrichten. Man soll sich nur einmal vorstellen, es hätten in der neuen Kunstmühle am Gerbergraben die Müllersknechte Flügel – wie wollten sie da die schweren breiten Säcke auf ihre Schultern laden? Und draußen in der großen Baumwollspinnerei, wo hunderte von jungen Mädchen arbeiten, Tag für Tag, und viele es ihr ganzes Leben aushalten müssen in diesen Maschinensälen mit dem ewig gleichen, entsetzlichem Getöse, diesem Gerassel und Gerappel, Gepoch und Gepolter, diesem Geklirr und Geklingel, diesem Geklipp und Geklaff, immer fort, immer, ohne Licht, ohne Luft, ohne Sonnenschein und Himmelsbläue, ohne Berg und Tal, ohne Waldesgrün, ohne Gras und Blumen und lustig plaudernde Quellen, ohne Wechsel, ohne Frühling, Sommer, Herbst, immer fort, immer, ein ganzes Leben: wenn die Flügel hätten, die flögen alle auf und davon, hinaus auf die Berge und in die grünen Wälder, und die Baumwollenfabrik müßte Bankerott machen, die ganze Welt ginge zu Grunde. Es ist also weise eingerichtet, daß wir bei unserem ersten Gang in sie hinein so weise Frauen mit auf den Weg bekommen, die uns die himmlischen Flügel ohne Erbarmen abschneiden und dadurch uns und die Welt vor tollem Unheil bewahren.

Tumichan aber – und das war sein Unglück – hatte seine Flügel behalten, lange Flügel, die natürlich mit der Zeit nicht kleiner wurden.

Ihr Dasein bewies, daß der gute Tumichan nie durch die Flügel abschneidenden Hände einer Hebamme gegangen, also nicht wie andere Leute auf die Welt gekommen sein konnte.

Seine Mutter soll ihn vielmehr gesponnen haben. Da hätte sie denn wirklich ein Stück Weltgeschichte gesponnen, wenn auch nur ein kleines und unansehnliches, wenn auch keine Historie im großen Styl, sondern nur armes Kleinleben, wenn auch kein heldensagenhaftes Epos, sondern nur ein Märchen ...

Wenn Tumichan aber auch keinen Vater gehabt haben soll, besaß er wenigstens zwei Stiefväter.

Der erste hieß Meister Schlagein, seines Zeichens Wollenweber. Er wob dem Tumichan die Seele.

Einem seelenlosen Gebilde aber eine Seele einzuweben, fest und innig, daß sie das früher Haltlose lebendig zusammenhält und ein ganzes Leben hindurch ihm in allen Fasern lebt und webt, ist wahrhaftig kein Kleines. Der arme Tumichan mag seinen Teil gestöhnt und geächzt haben, bis ihm seine Seele so recht eingetränkt war und in allen Lebensfäden und Fasern fest saß. Sonst hatte er's nicht schlecht bei dem Meister. Statt mit Suppe wurde er mit Weberschlichte gefüttert, einem dünnen Brei aus Wasser, Mehl und Kartoffeln, berühmt durch seinen feinen Duft, der alle Weberhäuser lieblich durchströmt, vom Keller bis zum höchsten Dachgiebel hinauf. Der kleine Tumichan bekam außerdem täglich unzählige Püffe mit dem Weberbaum und unaufhörlich wurde an ihm gestriegelt, gebürstet, gekämmt – er sollte ein sauberer Bursche werden.

Schlimmer ging es ihm bei seinem zweiten Vater, dem Meister Leichtlein, einem hochmütigen und zornigen Schneider. Der stach ihn mit der spitzen Nadel und zwickte ihn mit der Schere und kniff und puffte ihn mit dem heißen, glühenden Bügeleisen. Und so alle Tage.

Tumichan seufzte nur und höchstens vergoß er einmal eine heiße heimliche Träne. Er war damals schon der stille Dulder, wie sein ganzes Leben lang.

Und so zeigte er sich auch, als wir miteinander in der Quarta saßen und Latein und Griechisch und eine Masse anderer Sachen lernen sollten. Dieses Jahr bildete den Gipfelpunkt unserer Freundschaft.

Von unserem Dorfe, Hungrighofen, hatten wir über eine Stunde in die Stadt und wir machten den Weg zweimal jeden Tag; er bildete für uns das Schönste am ganzen Gymnasium.

Hungrighofen lag drüben in der Ebene, die Stadt aber am Gebirgsrand, von schimmernden Rebenhügeln umkränzt und von tannenhaarigen, schwarzen Bergriesen in weiter Runde treu umhütet. Sie gaben uns jeden Morgen den ersten Gruß, uns, die wir unter einem schlechten Dach geschlafen und aus der ärmsten Hütte in Hungrighofen kamen.

Solcher Willkommen tat uns wohl und wir kriegten kühnen Mut in die Brust und machten uns stolze Gedanken, und Tumichan schwenkte seine Flügel im Morgenwind. Wir gingen nicht die staubige Landstraße, sondern einen Feldweg; er war grünrasig und an seinem Rand blühten helläugige Blumen und guckten uns an und grüßten uns auch, und wir verschmähten ihren Gruß nicht neben dem der Riesen von drüben auf den Bergen.

Wir gingen schweigend neben einander her. Ich trug gewöhnlich ein Buch in der Hand, woraus ich mir irgend eine Aufgabe noch einmal einprägen wollte oder sollte. Wenn dann aber die Blumen allzu hell blinkten und die Lerchen droben am blauen Himmelsdom allzu hellstimmig und lustig jubelten und die dunkeln Häupter drüben allzu geheimnisvoll in die sonnige farbige Welt hineinschauten – dann, ich weiß nicht wie es geschah, klappte sich mein Buch zu, wie von selbst und meine Augen rissen sich weit und weiter auf, als wollten sie gierig die ganze Welt in sich einsaugen, dann schwenkte Tumichan seine Flügel und ich – ich flog in Gedanken. Und noch Schöneres geschah. Wenn rings die Finken plauderten, vergaß ich Cäsar und die Grammatik; aber es gab noch ein anderes Plaudern und dann vergaß ich nicht nur Cäsar und die Grammatik, sondern auch die Finken und ihr Gekicher; wenn die Lerchen droben lachten, das war wie Sonnenschein fürs Ohr, aber es gab noch ein anderes Lachen und das bedeutete mehr; die Blumen am Wegesrand blickten hell und freundlich, aber es gab zwei andere Augen und vor ihnen wurden die Blumenaugen trüb und dunkel – – – Wir wanderten nämlich nicht immer nur selbander, der Tumichan und ich; von Zeit zu Zeit traf es sich, daß wir uns zu Dreien zusammenfanden und dem Dritten unter uns gehörte dieses andere Plaudern, dieses andere Lachen, diese anderen Augen und – doch davon später.

Diese Dinge gehörten nämlich keineswegs dem alten Enoch Ehrlich, der hie und da ebenfalls den Weg mit uns machte. Doch an dessen Lachen kann ich mich nicht erinnern, weiß auch nicht, ob er es je getan hat. Jedenfalls aber waren seine Augen sehr verschieden von den vorhin erwähnten, obwohl sie gleich jenen im Ausdruck etwas Mildes und im höchsten Grade Gewinnendes und auch nicht jene großen hängenden Tränensäcke hatten, wie man sie bei alten Juden oft sieht.

Als solchen konnte man den Vater Enoch gleichwohl auf den ersten Blick erkennen. Er trug zwar sein Gesicht rasiert, d. h. als ein sehr unreinlich aussehendes ewiges Stoppelfeld, aber unter dem Kinn am Hals und hinter der Krawatte hervor, wo bei anderen der Bart aufhört, wuchs er ihm erst recht üppig und diesen Haarkragen von gelblich-schmutzigem Weiß trug er lang und über die Brust verbreitet, so daß es auf den ersten Blick das Aussehen gewinnen konnte, als ob er sich künstlich eine Mähne umgebunden habe. Die bezeichnete Farbe eignete, so lange ich ihn kannte, auch seinem Haupthaar. Einen Teil davon hatte er in zwei Ringellocken gedreht, die ihm an beiden Seiten über die Ohren herunterbaumelten. Diese Eigentümlichkeit machte mir den Mann zuerst merkwürdig, schon vor langen Jahren, als ich noch Mädchenkleider trug, wie es für dieses Alter die Sitte verlangte, und man mir noch drohte: Wenn du nicht brav bist, nimmt dich der Lumpenjud mit.

Anders wurde Enoch Ehrlich nicht genannt, die Wenigsten kannten seinen Namen.

Ihn selber aber kannten Alle, groß und klein, und Alles hatte ihn gern und machte ihm ein freundliches Gesicht. Er lief nie Gefahr, unhöflich abgewiesen zu werden, wenn er mit seinem: »Nix ze handle heit?« über die Schwelle trat. Mit ihm gab's immer etwas umzutauschen, und wenn es auch nur ein paar Scherzworte sein mochten. Und er machte dazu eine frohere Miene, als mancher seiner Stammesgenossen, wenn er auf der Börse Tausende gewann. Kam es aber zu einem wirklichen Handel, weil die Herrin des Hauses aus allen Winkeln ein paar Lümplein zusammengesucht hatte, da bedeutete das ein Fest, wenigstens für die Kinder. Leuchtenden Auges standen diese umher, während der Lumpenjud in seinen Zwerchsack langte und aus den mißduftenden Eingeweiden desselben ein kleines Bündelchen herausfischte. Ihre Blicke folgten ihm, wie er die Schnüre des Päckchens löste und das alte Wachstuch desselben auf dem Tische auseinanderschlug. Welche Herrlichkeiten kamen da aber auch zum Vorschein: Farbige Tüchlein und Bänder, sogar seidene, bunte Hosenträger und Strumpfgürtel, gestrickte Mützen für Buben und Mädchen, ferner Schreib- und Bilderhefte, vergoldete Griffel und Bleistifte, buntfarbige Bälle und was noch Alles mehr.

Und solche Herrlichkeiten gab der Mann für alte, schmutzige Lumpen. Deshalb betrachteten wir den namenlosen Juden nicht wie einen Menschen, der sein Brot verdient oder gar sich Reichtümer erwirbt, sondern wie eine Art Sankt Niklas, dessen Beruf es ist, den guten Kindern allerlei schöne Sachen ins Haus zu bringen und höchstens einmal ein recht böses in seinen unheimlichen Zwerchsack zu stecken; aber das hatten wir selber nie gesehen, und so glaubten wir nicht einmal recht daran, trotz der bedenklichen Größe des Sackes, trotz des riesigen Knotenstockes, auch trotz des haarigen Kragens, der gelblich-weißen Ringellocken und der ungewohnten grünen Schildmütze des Alten. Nur die ganz Kleinen fürchteten sich ein wenig vor dem Lumpenjuden.

Und Tumichan, der große, alte Tumichan.

Es war dies eine seiner vielen Lächerlichkeiten.

Ich aber konnte ihn gerade in diesem Punkte am wenigsten begreifen. Ich mochte den alten, ehrlichen Juden, und oft veranlaßte ich Tumichan, mit mir auf ihn zu warten, wenn wir ihn von Weitem hinter uns herkommen sahen, wie er mühsam seinen Zwerchsack schleppte. Tumichan, zu sehr gewöhnt, mir in allem widerspruchslos nachzugeben, erhob auch dagegen nie einen Einwand; aber während ich dann mit Vater Enoch über alles Mögliche plauderte, auch gelegentlich einige Vorstudien im Hebräischen machte, verwandte Tumichan kein Auge von dem Zwerchsack.

Einmal stellte ich ihn deswegen ernstlich zur Rede. Ich kam aber sehr in Verlegenheit. Der Bursche hätte fast geweint. Ich hätte gut lachen, sagte er schluckend, ich wüßte nicht, was ihm prophezeit worden sei von der eigenen Mutter. Natürlich lachte ich ihn daraufhin noch mehr aus und erst später lernte ich begreifen, wie dem guten Kerl das wehe getan haben muß.

Der alte Tumichan hatte seine Gründe, an Ahnungen und Prophezeiungen zu glauben.

*

Zum Glück begegneten wir dem alten Enoch Ehrlich mit dem Zwerchsack nicht jeden Tag, und so gestaltete sich unser Gang zur Schule auch für Tumichan im Allgemeinen heiter und angenehm. Von der Schule selbst kann dies nicht gerade behauptet werden. Für Tumichan bildete die Quarta sogar die schlimmste Zeit seines Lebens.

Tumichan mochte auch überall eher hingepaßt haben, als auf ein Gymnasium. Er konnte keine losen Streiche machen, wie wir anderen Quartaner, er konnte keine schlechten Witze reißen, womit wir uns über unsere Prügel hinwegsetzten und an Doktor Brüllmeyer unser Mütchen kühlten. Mit den ausgelassenen Streichen hatte Tumichan nur insoweit zu tun, als die meisten an ihm selbst verübt wurden.

Niemand mußte auch einen Witzbold mehr herausfordern als er. Er war viel älter als wir andern Quartaner und ganz altmodisch. Wie ein Festungswall zog sich sein breiter Kragen um die Schultern, daß der Kopf wie eine verschanzte Bastille aussah. Seine großen messingenen, halbverrosteten Knöpfe sahen wie Schießscharten oder Kanonenmündungen aus, welche die gefürchtetsten Geschosse hinausspeien sollten, ironische Granaten, satyrische Kartätschen, pfeilspitzige Epigramme. Aber sie sind niemals losgegangen. Dazu war Tumichan fast kahl; er erfreute sich nur noch weniger brinzelbrauner Härlein, die nicht wußten, ob sie ausgehen oder stehen bleiben sollten.

Nicht nur mit seinen Mitschülern stand Tumichan auf keinem guten Fuß, mit den Lehrern erging es ihm fast noch schlimmer. Den Festungswallgraben, die rostigen Schießschartenknöpfe, die halbausgefallenen brinzelbraunen Härchen – diese Dinge hätten die Herren ihm hingehen lassen, aber seine Flügel. –

Etwas Unglücklicheres und Unheilvolleres konnte es für einen Quartaner nicht geben. Jener Peter Schlemihl, dem sein Schatten abhanden gekommen, mußte bei allem Entsetzen der Welt über seine Schattenlosigkeit noch glücklich gepriesen werden im Vergleich zu Tumichan. Diese Lehrer des Gymnasiums hätten noch viel ärgere Dinge an Tumichan ertragen, als Festungswallkragen, rostige Hafendeckelknöpfe und brinzelbraune, im Ausfallen begriffene Härchen – aber nur keine Flügel. Das war zu viel. Sie hatten Angst davor. Ein Quartaner mit Flügeln war für die gelehrten Herren eine unheimliche Sache; sie bekamen eine Gänsehaut, wenn die Flügel sich nur ein wenig bewegten und das helle Entsetzen trat in ihre Mienen, so oft Tumichan sich zu einer Antwort erhob. Schon die Schulbänke erwiesen sich nicht für geflügelte Quartaner berechnet; sie paßten deshalb nicht zu dem Tumichan und der Tumichan nicht zu ihnen, er vermochte nie recht ruhig darin zu sitzen.

Tumichan konnte nichts für seine Flügel; aber deswegen wurde er doch dafür gequält von Lehrern und Mitschülern. Sie verstanden sich darauf und es brauchte nicht eben viel Witz, um auf die ungewöhnlichen Flügel jeden Tag dieselben kränkenden Anspielungen zu machen. Dem armen Tumichan aber taten diese immer wieder weh; denn er war ein weiches Gemüt.

Er war aber doch in gewissem Sinn auch ein dummer Kerl, sonst wäre er stolz auf seine Flügel gewesen. Statt bei sich zu sagen: Ihr Lumpenpack wäret froh, wenn ihr solche Flügel hättet, ließ er sich die Freude an seinem Eigensten verderben und grämte sich und dachte: Wenn ich nur auch wäre wie die andern.

Und ich als Freund Tumichans teilte sein Los. Alle Geringschätzung der Uebrigen, ihr hochmütiges Ausweichen, ihr feines boshaftes Lächeln, ihr unverschämtes Herauslachen, ihre Püffe und Rippenstöße und Fußtritte, ihre tausend Mißhandlungen und Kränkungen, ihre verdächtigenden, hinterrücks erzählten Geschichtchen: alles widerfuhr auch mir; ich bekam mein volles Maß davon ab, deshalb sagten verständige Leute, meine Freundschaft mit diesem verdächtigen Subjekt oder Objekt sei die größte Unklugheit, die man sich denken könne und hielten nicht viel von meiner eigenen Gescheitheit.

Und alles in allem genommen präsentierte sich Tumichan in der Tat als ein schäbiger Kerl, ganz abgesehen von seinem verdächtigen Ursprung und Herkommen. Aber ich hatte für so etwas kein Auge. So ganz Unrecht mochten die verständigen Leute nicht haben. Hätte ich mich entschließen können, den alten Tumichan fahren zu lassen, oder im Notfall gewaltsam von mir wegzustoßen, wäre meine Jugendzeit gewiß lustiger geworden; denn ich war für mich ein ganz netter Junge, und ohne den alten Tumichan würde mich wohl Jedermann gern gehabt haben. Vielleicht täusche ich mich auch in meiner jetzigen Alt-Gescheitheit und vielleicht wäre ich den Quartanern und dem Doktor Brüllmeyer auch ohne den Tumichan nicht recht gewesen.

Daß man mit der Freundschaft des Tumichan keine Ehre einlegte, und es in dieser Menschenwelt nicht weit bringen könne, hätte ich schon lange vor der Quarta merken müssen, wenn ich derartige Dinge zu merken überhaupt fähig gewesen wäre.

Zum erstenmale hängte sich Tumichan an meine Socken, als wir in Hungrighofen mit einander konfirmiert wurden. Sogar diese Bauernbuben fanden den Tumichan zu schäbig, und wenn ich mich seiner nicht erbarmt hätte, wäre beim Zug in die Kirche keiner mit ihm gegangen. Die andern mochten mich allein schon nicht sehr, ich weiß selber nicht warum, vielleicht weil ich auch sie nicht sonderlich begehrte und lieber allein herumlief. Ich hätte also nicht nötig gehabt, mich noch mit dem Tumichan zu beladen. Sie weigerten sich nun hartnäckig, mit mir und ihm in eine Reihe zu treten. Man ging nämlich zu Dreien im Zug, Knaben und Mägdlein; nur wir zwei blieben allein am hintersten Ende. Dies galt für eine große Schande und das ganze Dorf redete davon. Da wars ein Glück, daß ich selber die Sache gar nicht merkte, sonst hätte mirs den frommen Ehrentag verdorben und die selige Freudigkeit in bitter Herzeleid verwandelt.

Am Nachmittag luden sich die andern alle gegenseitig ein und kamen zusammen zu Essen und Trinken und waren vergnügt. Mich und den Tumichan lud Niemand ein; wir blieben allein bei meiner Mutter – und alles wegen des Tumichans.

Am Abend zog man zu einer besonderen Andacht hinaus in die Waldkapelle. Wir hatten zu Hause keine Uhr, auch konnte Tumichan nicht schnell gehen, die langen Flügel hinderten ihn – immer die ungeschickten Flügel – und als wir außen ankamen, war der Rosenkranz zu Ende. Wir wollten nun wieder mit hereinziehen, aber da wichen uns Alle aus und sahen uns an, ganz erschrocken, als ob wir Ketzer wären und Einer, der Hammels Hannes genannt, trat auf uns zu, auf mich und den Tumichan; wir sollten nur wegbleiben vom Zug, meinte er, wir seien zu spät zur Andacht gekommen und würden sicher auch einmal zu spät in den Himmel kommen.

Da mußte ich endlich merken, daß Tumichan und ich von der übrigen Gesellschaft ausgestoßen und geächtet seien, und ein großer Schmerz kam plötzlich über mich und ich wurde ganz mutlos und war mir nicht anders, als ob ich auch von Gott verworfen sei, wie der Tumichan. Die Tränen traten mir in die Augen.

Dann fühlte ich plötzlich eine weiche, sanfte Hand sich in die meinige schmiegen, und »komm'«, hörte ich's flüstern, »du bist auch kein Heidenkind; mögen die sagen, was sie wollen, du mußt nichts darnach fragen.«

Mir rieselte es durch alle Glieder; das Gefühl, als ob ich aus dem Himmel gestoßen und geächtet sei vor dem Antlitz Gottes, war wie weggeflogen; ich meinte im Gegenteil, der Himmel tue sich weit auf vor mir und ströme all' seine Seligkeit über mich aus. In Wahrheit schaute ich in zwei veilchenblaue Augen und – doch davon später.

Im Gymnasium dann wurde Tumichan mein Banknachbar. Noch sehe ich ihn, wie er dasaß, stumm, schüchtern, unbeholfen, bäuerisch steif, mitten unter den Herrenkindern und Stadtbübchen mit den niedlichen gelben Schuhen, den roten und weißen Strümpfchen, den kurzen allerliebsten Höschen, den sanften weichen Sammetkittelchen, farbigen Brustlätzchen und Halstüchelchen, mit den Milchsuppengesichtern, mit den gescheitelten, geringelten, gekräuselten Haarlöckchen, mit den selbstbewußten, herausfordernden Blicken, den leicht hingeworfenen boshaften Bemerkungen.

Auf dem letzten Platze in der Klasse saß ein rothaariger kleiner Knirps, mit seinem, länglichovalem, aber von Sommersprossen und Rostflecken bedecktem Gesichtchen, in dem eine halb launige halb boshafte Verschmitztheit zu jeder Sommersprosse herausguckte. Er hieß Kurt von Laaren, Laaren-Schönhoff. Ich sehe noch heut' die Grimasse, die er machte, als ich mit dem Tumichan zum ersten Male in die Klasse trat ...

Obwohl der Kleinste in der Gesellschaft, stand Kurt dennoch (diesmal wie Tumichan) in höherem Alter als die anderen; denn er liebte es, zwei Jahre in jeder Klasse zuzubringen. Er bildete den Schrecken der Lehrer, nicht nur durch seine Faulheit, sondern noch mehr durch seine sonstigen Eigenschaften. Um so höheres Ansehen genoß er bei seinen Mitschülern. Seine Aussprüche wurden bewundert, sie mochten noch so dumm sein. Er äußerte einmal: So wie mir der Tumichan auf Schritt und Tritt »hinten nachschwappe«, so müsse der Sancho Pansa hinter dem Don Quichote hergetrollt sein. Diese Namen behielten wir.

In Wahrheit hat mir Tumichan Alles, was ich um ihn litt, reichlich vergolten. Manche Tracht Prügel hat er mir gespart. Wenn ich aufgerufen wurde und er merkte, daß es bei mir haperte, erhob er sich zugleich mit mir. Damit machte er Brüllmeyer wütend und statt über mich, fiel er dann stets zuerst über den armen Tumichan her. Bis er darauf an mich kam, hatte er sich müde geschlagen, so daß ich fast immer leer ausging. Denn den Tumichan zu prügeln, hatte seine Schwierigkeit. Wenn der anfing mit den Flügeln zu flattern, wußte Brüllmeyer gar nicht mehr, wo er hinschlagen sollte und tat sich selber weher als seinem Sträfling.

Eine solche kleine Genugtuung durfte man dem Tumichan gönnen; er hatte sonst genug auszustehen und ich mit ihm. Es war manchmal, als ob er übel röche. Er wirkte wie eine Vogelscheuche, die vor oder neben mir herging; er machte mir und sich selber Alles abscheu. Dadurch wurden wir mit der Zeit selber scheu, noch mehr als wir es schon gewesen waren. Zuletzt fürchteten wir uns vor Allem, was wie ein menschliches Gesicht aussah, und nur in der Einsamkeit wurde es uns wohl.

Tumichan konnte sich wenigstens mit seiner Vergangenheit trösten. Er hatte schon das höchste Glück genossen, das, wie wir glauben, die Welt zu bieten vermag. Er war schon Bräutigam gewesen, junger glücklicher Bräutigam der schönsten Braut – –

Das müssen für einen Quartaner mit wenigen brinzelbraunen Härchen eigentümliche Erinnerungen gewesen sein, etwa wie die einer Herbstzeitlose, die im ersten Frühling, wenn Alles glüht und blüht, ihre braungrünen Schlutten aus dem mütterlichen Boden hervortreibt mit einem runzeligen Alt-Kapselgesicht, so welk und müd und großmütterlich, wie der alte Kopf eines greisen Zwergs auf dem kleinen zierlichen Körperchen. Wenn dieses Herbstzeitlosengesicht auf der jungen grünen Wiese sich umschaut und die kleinen jungen Blumen mit frischen saftigen Stengeln und Blättern in tausend Gestalten und brennenden Farben herumstehen und blühen und duften sieht und es ihr plötzlich einfällt, daß sie ja auch einmal geblüht habe, schon vor so langer Zeit, schon vor dem langen kalten Winter, im Herbst schon, gleichsam in einem ganz anderen Menschen- oder Zeitalter.

Aehnliche Gefühle mußte der alte Tumichan in der Quarta haben, wenn er, etwa während der Lektüre des Cäsar, an das lustige Hochzeitsfest von ehemals dachte, wo er mit dem schönsten Strauß im Knopfloch, mit einem Strauß von Rosmarin und Nelken, bei seiner Braut an der Hochzeitstafel saß, und ihre bangfreudigen und freudigbangen Gefühle in seinem eigenen Herzen widerhallten – wenn er sich vorstellte, wie ihn weißgekleidete Mädchen gleich himmlischen Engeln sozusagen auf den Händen trugen – wenn er gar an den Augenblick dachte, wo die junge Braut den Kranz abnahm und er sie in die Brautkammer begleitete, in die duftige Kammer, und ... doch da begann sein Unglück.

Da, als ob es eine Verwechslung und der gute Tumichan gar nicht der Bräutigam wäre, kam ein Anderer, packte Tumichan wie ein Rasender, riß ihn aus den Armen der Braut und – warf ihn zur Türe hinaus. – –

Deshalb tat dem Tumichan, der so Vieles erlebt hatte, die Vereinsamung nicht so weh, wie mir. Das Alter macht bekanntlich einsiedlerisch gestimmt. Und Tumichan war Philosoph, er genügte sich selber, und ich glaube, er hätte leicht auch mich noch entbehrt.

Ich war viel schwächer geartet, viel unphilosophischer, viel bedürftiger, viel menschlicher. Ich war noch so jung. Oft wenn ich, in der Ferne stehend, oder auch still, unbeachtet und mit kummervollem Herzen unter ihnen hinschleichend, die lustigen Scharen der Anderen beobachtete, auf dem Turnplatze, auf der Eisbahn, kam es wie namenloses Weh über mich und drückte mir auf die Seele. Dann beschlich mich immer und immer wieder der böse Gedanke, ich müsse schlechter sein als die Anderen, die zusammen so gute Freunde und Kameraden bildeten, so froh und so lustig; denn ich hatte in berühmten Büchern gelesen, daß nur der Böse keine Freunde habe, daß nur der Böse traurig ist in seinem Herzen. Ich hielt mich dann für den Verworfensten unter allen Menschen und wußte doch nicht, wie ich es anfangen sollte, daß es anders sei.

Mein schnauzbärtiger Onkel Steffen, der Amtsdiener und seine dicke Häuserin, die Jungfrau Apollonia Windschräg, gaben sich auch keine sonderliche Mühe, mich von dieser Selbstzerknirschung abzubringen. Bei ihnen durfte ich mein Brot und was mir sonst der Tumichan von Hungrighofen mit hereingetragen hatte, über Mittag verzehren.

Er, der Tumichan, brauchte nichts; aber tragen wollte er, was ich bedurfte und meine Mutter mir mitgab.

»In dem Buben steckt der Leichtsinn seines Vaters und die Dummheit seiner Mutter«, pflegte die Jungfrau Apollonia Windschräg zu sagen, wenn ich ihr Holz in die Küche tragen mußte und es etwas dicker oder etwas dünner brachte, als sie gerade wollte. »Das will aber doch oben hinaus«, setzte sie für sich hinzu.

Mit dem Onkel Steffen hatten wir, Tumichan und ich, das Unglück, daß wir ihm immer im Wege standen. Wir konnten uns hinstellen, wohin wir wollten, uns noch so klein und so dünn machen, immer hatte er uns auf die Seite zu stoßen, von einem Fleck zum andern, daß es mir manchmal schien, als sei ich auch wie der Tumichan nur aus Versehen in diese Welt gekommen und habe gar kein Recht, darin zu existieren.

Und auch er, der Onkel, so wenig wie die Jungfrau Apollonia, ließ meinen verstorbenen Vater in Ruh'. Wenn du dem nachschlagen willst, dann brauchst nicht zu studieren, oder: mach' nur so fort, nachher kannst ein Lump werden wie dein Alter, von dem's auch hieß, wie gelebt, so gestorben – solche und noch bösere Redensarten bekam ich täglich zu hören.

Und dieser Mensch von Onkel war roh genug, um gar nicht zu ahnen, wie mir seine Worte in's Herz schnitten.

Tumichan tröstete mich, er nahm mich liebevoll bei der Hand, er führte mich fort, hin auf die Berge, in den hohen Wald. Dort standen wir aus den Felsen und schauten hinaus über Berg und Tal.

Tumichan blieb stumm, aber seine Flügel bewegten sich und das fuhr in meine Gedanken und meine Gedanken flogen.

Halbe Tage lang streiften wir so in der Einsamkeit. Wir kannten alle verlorenen alten Pfade, alle Schluchten und Schliche, und die Bäume standen für uns nicht gleichgültig umher, sie waren uns Alle einzeln bekannt und schauten uns vertraut an wie gute Freunde, jeder mit einem besondern Gesicht. Wenn der Wind durch die Aeste ging, dann zwinkerten sie uns zu mit ihren grünen Lidern, mit ihren dunkeln schattigen Wimpern. Die Bäume, die Büsche, die starrenden Felsen, die Halme, die daran herunternickten, die Blumen im Gras – Alles hatte für uns eine Seele, sie besaßen nur keine Sprache, um mit uns zu reden.

Manchmal verirrten wir uns weit fort von Weg und Steg. Tumichan blieb stumm, nichts störte mich. Mein Fuß verlor sich auf immer fernere Halden, in immer entlegenere Gründe. Mein Denken verlor sich auch. Wenn dann einmal ein Reh hinter einem Haselbusch oder einer jungen Fichtengruppe aufgeschreckt in die Höhe fuhr, oder eine glotzige Ohreule im Tannicht auffauchte und wie wahnwirr an mir vorüberschoß, wenn ein buntfiederiger Häher uns spottend umkreischte: erschrack ich oft und fuhr zusammen, als ob sich etwas Ungeheuerliches ereignen müßte. Oft auch wenn mich ein solcher Schauer überfiel, hatte nur eine blaue Blume im hohen Gras ihre Augen aufgeschlagen, ich aber hatte gemeint, zwei andere bekannte Augen zu sehen, zwei Augen an die ich gerade gedacht. Es war aber nur eine Blume gewesen, wie jede andere.

Die Seelen der Einsamkeit, die wilden, scheuen Waldseelen und Berggeister müssen besser und mitleidiger sein als die meisten Menschenseelen. Wir brachen als störende Unholde, wie eben der Mensch in Blumengesichter tritt, wie Elefantenkälber junge Palmen niedertrampeln, in ihre stille Einsamkeit hinein und sie zürnten uns nicht. Die Menschen aber, unsere Mitschüler vor Allem, wenn sie von unseren einsamen Gängen hörten, erinnerten sich wieder an Tumichan's Hexenmutter und sonderbare Herkunft und setzten von Neuem die alten Schauermärchen über ihn in Umlauf; auf seine Flügel ersannen sie aber die tollsten Fabeln.

Wir mochten deshalb selbst im Winter unseren Wald nicht ganz entbehren. Wenn die Zweige der Bäume von Millionen Krystallen prangten und die rote Wintersonne hineinfiel und in feurigen Lichtern funkelte, hatten wir eine unsinnige Freude daran und hielten uns allen Ernstes für verzauberte Märchenwesen, für zwei Schneeprinzen im Wunderwalde der Eiskönigin, darinnen Bäume und Büsche aus eitel Eis und Schnee gestaltet sind und ewig dastehen, in unveränderlicher starrer Schönheit, in funkelnder, strahlender, krystallener Pracht. Wenn dann ein hungriger, schelmäugiger Fuchs um die fernen Stämme schlich, wenn ein Rabe vor uns in dem bereiften Astwerke saß und wie im Traume blinzelnd nickte, wenn ein ungesehener Specht pochte, dumpf, fern, unregelmäßig, wie das Herzklopfen des frostfiebernden Waldes, da dünkte uns der Frühling dagegen etwas Gewöhnliches und Natürliches.

*

Wenn wir nicht in den Wald konnten vor bösem Wetter oder weil wir den ganzen Tag in der Schule sitzen mußten, freuten wir uns wenigstens zusammen auf den Heimweg, und auf dem Heimweg freuten wir uns auf das Daheimsein. Das war auch schön. Wir warfen den Schulranzen in die Ecke und rieben uns die blaugefrorenen Gesichter und steifen Finger, während die Mutter uns die Suppe anrichtete. Und sogar auf diese freuten wir uns. Es war oft nur eine geschmälzte Wassersuppe, aber sie schmeckte uns vortrefflich nach Cäsar und Cicero.

Und dann verdarben wir uns die schönen Stunden vor allem nicht mit den Aufgaben. In diesem Stück hielten wir es einmal ausnahmsweise ganz wie die andern. Was nicht schriftlich gemacht werden mußte, taten wir nicht. Wir meinten, das würde uns im Traume eingehen, oder müßte sich von selbst verstehen.

Andere, freie, nicht von Lehrern aufgegebene Studien lockten uns viel mehr.

In der Kammer meiner Mutter befand sich ein sogenanntes Wandbrett. Ich mußte mich auf einen Stuhl stellen, wenn ich hinauflangen wollte. Alte Spulen, Spinnrockenteile, Hämmer, Zangen, tausenderlei Eisengerümpel, abgeschliffene und zerbrochene Wetzsteine, die ein geologischer Altertümler für Steinwaffen aus der Hünenperiode gehalten hätte, ein verrosteter Säbel, eine Pistole mit Feuersteinschloß, das lag alles droben auf dem Wandbrett, bunt durcheinander, und viel Staub und Moder lag dabei und darüber.

Vor mir und dem Tumichan hatte wohl lange Zeit Niemand den Kram beachtet oder gar darin gewühlt. An der grauen leichten Decke, die darüber lag und die einzelnen Dinge umspann, konnte ruhig ein ganzes Jahrhundert gewoben haben, Staubfädchen an Staubfädchen.

Zum erstenmal ging hier das Ahnen der Vergangenheit in mir auf, und klopfenden Herzens mit weit aufgerissenen fast erschreckten Augen, als ob mir das strengwarnende Gesicht der Weltgeschichte entgegensähe, stand ich neben Tumichan auf dem Stuhl vor dem Wandbrett mit den hundert Gegenständen. Und manches entdeckte ich unter dem Staub, das mich ansah, als müsse es mir von den Schicksalen derer erzählen, die vor mir waren und die jetzt in Staub und Vergessenheit ruhten, wie diese Dinge selber.

Da lagen auch ganze Haufen Bücher, Gebetbücher, uralte, aus der Mode gekommene, teils geschlossen, teils umgestülpt mit zerknitterten Blättern, mit starken ledernen Einbänden voll kunstreicher Pressungen, mit blauen und roten Schnitten und großen messingenen, reichverzierten Schlössern. Sie waren mit scharfgeschnittenen und zierlich verschnörkelten großen Lettern gedruckt, rote mit schwarzen abwechselnd und hatten auf jeder Seite farbige kunstreiche Initialen. Wie waren die nur da hinaufgekommen? Sie zeigten mit den meiner Mutter zum Gebrauch dienenden Büchlein keine Verwandtschaft, so reich und vornehm sahen sie aus, trotz ihres Alters und ihrer Verwahrlosung. Sie stammten wohl aus besserem Hause. Wenn man eines von ihnen aufmachte, schlug einem ein fast betäubender Duft entgegen und zwischen den Seiten lagen breite gelbgewordene Storchschnabelblätter, Rosmarinstengel und Resedareiser. Wer mochte die hineingelegt haben?

Auch allerlei weltlich Schriftwerk lag unter den heiligen Büchern. In keiner Bibliothek der Welt habe ich später mit solcher Andacht verweilt, als vor der Bibliothek auf dem Wandbrett meiner Mutter. Stundenlang stand ich mit dem alten Tumichan auf dem Stuhle vor dem staubigen Brette. Und so war ich hingerissen von meiner Suche und Wissensgierde, daß ich gar nicht merkte, wie ich allen Staub und Schmutz auf den alten guten Tumichan warf, der sich gar nicht darüber beklagte. Nur meine Mutter wurde manchmal bös, daß ich nicht besser auf den Tumichan acht gab und ihn immer staubig und schmutzig machte.

Eines Tages standen wir wieder vor dem Brette; da entdeckte ich in der hintersten Ecke unter einem alten Tschako aus dem Russenkriege ein ganzes Nest von halbvermoderter Literatur, einen wunderbaren Schatz. Die alten Scharteken waren zwar nicht einmal eingebunden, wenigstens damals nicht mehr, und die Außenseiten zeigten sich von den Ergebnissen einer nicht zu nennenden, wenn auch sehr natürlichen Tätigkeit von Mücken und Spinnen und sonstigen Kerbgetiers schwarz und grau gesprenkelt, dick voll, daß man nur mit Mühe die Titel lesen konnte. Aber diese enthielten dafür Wörter, wie: »Der Kaiser Octavian und die vier Haimonskinder«, »Die sieben weisen Meister«, »Der Doktor Faust«, »Melusine«, »Die schöne Magelonne und Herr Peter von der Provençe«, ferner »Genovefa«, »Fortunat und sein Säckel und Wünschhütlein« und ähnliche, die mir alle blaue Wunder versprachen.

Und nicht nur versprachen. Wir hatten damit in Wahrheit eine Welt entdeckt und wir versäumten nicht, uns in sie zu versenken, uns gleichsam in ihr zu verirren wie zwischen den leuchtenden Wundern und dunklen Schrecken eines tropischen Urwaldes.

Wenn die Mutter die Suppe kochte, drängten wir uns mit unserm Buch an den Kochherd, weil wir das Licht sparen mußten, und ließen den roten flackernden Schein des Herdfeuers auf die Blätter fallen. Oft verlor die Mutter, wenn wir ihr überall Weg und Platz versperrten, die Geduld und jagte uns davon. Wir warteten dann ein wenig, darauf kamen wir von neuem. Dabei war mir oft gar nicht, als ob ich selber dem Tumichan die alte Geschichte mühsam aus den alten Schmöckern vorläse; ich konnte mir einbilden, die aufzüngelnde Flamme erzähle die Geschichte und das zugelegte feuchte Scheit, in Begeisterungswahnsinn schäumend, singe die Melodie dazu.

Aber auch wenn wir nicht lasen, wußten wir uns heimlich die Zeit zu kürzen und zu würzen. Da saßen wir in der Ecke, hinter dem großen Kachelofen auf dem Spreusack, Tumichan und ich, in der abendlichen Dämmerung und erzählten, d. h. ich erzählte und Tumichan hörte zu.

Die Mutter hatte entweder in der Küche zu tun oder im Stall die Kuh zu füttern oder sie saß am Fenster und spann. Dazu brauchte sie kein Licht. Das Spinnen wußte sie auswendig, und im Finstern konnte sie um so besser ihren Gedanken nachhängen oder still für sich hin beten. Das war die richtige Erzählstunde. Die Geschichten gingen uns nie aus, und wenn wir keine neuen mehr wußten, erzählten wir die alten wieder, oder ich erdichtete dem Tumichan eine Geschichte. Ich brauchte dazu kein großer Dichter zu sein; denn der Tumichan war ein guter Kerl, der nicht allzu genau hinsah und den ich mit meinem Fabulieren leicht zufriedenstellen konnte. Ich fing einfach an: »Es war einmal,« und machte dann so nach einander fort, oft selber auf's Höchste verwundert über das kunterbunte Zeug, welches dabei zum Vorschein kam und wovon ich kurz vorher selber noch nichts gewußt hatte. Ich glaube auch, daß mir das Erzählen mehr Freude machte als dem Tumichan das Zuhören.

Einmal erzählte ich folgendermaßen: Es war einmal in einem armen Dorfe ein kleiner Knabe, den man spottweise den Traumdeuter hieß, ich weiß selber nicht warum – vielleicht weil er einmal im christlichen Unterrichte bei der Geschichte des ägyptischen Josef und dessen Traum von den sich aufrichtenden und sich niederbeugenden Garben eine komische Antwort gegeben, nämlich eine solche Antwort, wie ein Menschenkind sie gibt, das sich bei jeder Sache etwas eigenes denkt, was die Anderen nicht tun.

Und es war ein Frühlingstag, ein Tag des späten Aprils, ein Tag voll blauen Himmels und Lerchenjubels, voll grünender Saaten und Veilchenduft um Gartenhecken und Feldwegraine. Und weit im freien Felde saß der kleine Traumdeuter. Feierliche Stille lag um ihn her, nur eine Lerche tirilirte über seinem Kopfe hoch droben am Himmel, dem Auge ein schwingender, zitternder Punkt. Neben dem Knaben stand ein Ackergespann, ein Pflug mit zwei alten, mageren Kühen, einem Rotschecken und einem Falchen. Der Falchen hatte sich gelegt und wiederkäute behaglich, der Schecken sah stumpf vor sich hin.

Die Tiere waren nicht nur schlecht gefüttert, sondern auch ruppig und unsauber. Sie mochten lange nicht gestriegelt worden sein.

Der Knabe saß neben dem Pflug auf dem noch nicht umgeackerten Boden, einem vorjährigen Kleefeld. Mit vielen kleinen Holzstäbchen, eines hart neben dem andern in die Erde steckend, hatte er eine Art Hürde oder Pferch gebaut und war bemüht, zwei wilde Tiere darin gefangen zu halten.

Solches gelang ihm nur mit vieler Mühe, seine Gefangenen waren ein schnellfüßiges, wuseliges Geschlecht. Es waren nämlich zwei jener großen Käfer, mit den goldgrün schimmernden Flügeldecken, über deren glänzenden Schmuck der Traumdeuter sich nicht genug verwundern konnte. Auch machte er sich allerlei Gedanken über die prachtvollen Gewandungen dieser Kreaturen, die dennoch verdammt sind, in dunkeln feuchten Erdlöchern zu leben, von wo sie nur selten an's goldene Sonnenlicht hervorkommen. Dem Knaben kam der Einfall, die glänzenden Gesellen könnten zwei verwunschene Prinzen sein. Er fragte sie und hielt allerlei Reden an sie hin.

Doch von Zeit zu Zeit sah er auf und blickte traurig nach dem nächsten Hügel hinüber, auf dessen höchstem Punkt ein alter hoher Birnbaum stand mit mehreren kleinen Bäumchen um sich her.

Der Knabe dachte: Wenn nur der Vater käme.

Dort hinter dem großen Birnbaum mußte er herkommen. Dort war er auch verschwunden. Er hatte dem Kinde nicht gesagt, wohin er ginge, aber der Knabe ahnte es. Er wußte es gewiß. Hinter dem Hügel lag ein einsamer Hof mit einem Wirtshaus. Der Knabe wußte, dort saß jetzt sein Vater. Er kannte dessen Schwäche. Der Brückenwart konnte es ohne Schoppen keinen halben Tag aushalten. Und bei einem blieb es nicht.

Wohl zum hundertsten Mal sah das Kind nach dem Hügel mit dem Birnbaum und sein Auge blickte immer trauriger.

Endlich kam der Vater.

Der Knabe erschrack bei seinem Anblick. Der Vater sah anders aus als vor seinem Weggehen, das bedeutete nichts Gutes.

Mit einem Fußtritt trieb der Brückenwart die ruhende Kuh in die Höhe und das Gespann setzte sich in Bewegung. Die Halskette der Tiere in der Hand ging der Knabe führend und leitend vor ihnen in der Furche her. Da war keine Zeit mehr über verwunschene Prinzen nachzudenken, da hieß Augen und Ohren aufgesperrt und acht gegeben aus »Hott« und »Heri«. Aber der Knabe kam so schnell aus seinen vorigen Gedanken und Träumen nicht heraus. Dabei verwechselte er das »Hott« und »Heri«, daß die alten Kühe es manchmal besser wußten und ohne ihn richtiger gegangen wären. Das konnte der Brückenwart nicht ertragen. Er war, wenn er nicht getrunken hatte, ein guter Mensch, nur mußte man seine Geduld nicht auf die Probe stellen. Gar wenn er den Schoppen spürte. Und heute wollte es ohnedies nicht gehen. Das Feld war steinig, die dürren Kühe bewegten sich lahm und der Knabe ...

»Nun hab' ichs satt«, rief plötzlich der Vater in voller Wut. »Lieber will ich mich mit dem Vieh allein schinden und abplagen, du kannst dich zum Kuckuck scheren, nichtsnutziger Bub.«

Und mit einem Schlage über den Rücken jagte er den Knaben weg.

Langsam schlenderte dieser querfeldein, über Stoppeläcker und Kleeland, über Raine und Gräben hinweg, ohne Weg und Pfad, dem Dorfe zu. Da und dort pflückte er eine bunte Frühlingsblume, einen blaßroten Lerchensporn, eine goldene Schlüsselblumendolde, eine weiße oder blaue Anemone.

In voller Seligkeit, als ob nichts geschehen, alle Hände voll Blumen kam das Kind nach Hause. Die Mutter befand sich im Garten, er rief ihr schon von weitem freudig entgegen. Da wurde er aber unangenehm enttäuscht. Die Mutter sah ihn ernst und vorwurfsvoll an: »So konnte man dich wieder nicht brauchen«, sagte sie traurig. Am Nachmittag wurde der Knabe allein auf die Flur geschickt, um einen jungen Kleeacker abzusteinen. Er ging mit großer Freude an sein Geschäft, solche einsame Arbeit liebte er.

Da saß er dann auf dem Acker und las Steine zusammen und war recht froh im Herzen, recht hellheiter, wie ein Strahl der Sonne, die ihn umflimmerte und umzitterte. Und eine zeitlang ging ihm auch die Arbeit flink von der Hand. Da trat er an eine Stelle voll der schönsten kleinen Blumen. Gelbe und weiße Liliensterne und eine besonders schöne Art von Stiefmütterchen oder Tag- und Nachtveilchen befanden sich darunter. Von diesem Anblick konnte sich das Kind nicht losreißen. Es fühlte sich ganz wunderselig im Anschauen dieser zarten Wesen, die die so hellen verständigen Augen zu ihm aufzuschlagen schienen. Und wieder verlor sich der Knabe in seine Träumereien und begann mit ihnen zu plaudern und die Blumen schienen auch ganz Ohr und Auge zu sein.

Es ist gut, sagte das Kind, daß ihr Blumen keine Beine und keine Flügel besitzt, sonst würdet ihr am Ende auch vor mir davonlaufen oder davonfliegen, wie der Kleehase und die schwarze Amsel. Wer weiß, ob ihr nicht auch Angst vor den Menschen habt, wie die Tiere und vor Schrecken eure Sprache verliert und so stumm dasteht und zittert und bebt. Wenn ihr allein seid und um ein kleines Vogelnestchen herumsteht, wo eine Lerche oder eine Grasmücke brütet oder gar ein Goldämmerchen, dann seid ihr gewiß nicht so stumm, sondern plaudert miteinander und erzählt einander schöne Geschichtchen; dann kommt gewiß auch der Kleehase und spitzt seine langen Ohren und hört zu, oder das Reh aus dem Walde. Und die weißen und die grauen Mäuslein und der Borstenigel werden auch kommen und jedes wird etwas anderes wissen.

So plauderte der Knabe mit sich selber und mit den jungen Blüten und da kam es ihm vor, als ob immer mehr Blumen, die vorher nicht dagewesen wären, sich um ihn herumstellten. Da ward er auch am Boden wieder des Getiers und Geziefers gewahr in seinem bunten Gewimmel und Gewusel, in seinen tausend Formen und Farben, des großen schnellfüßigen Goldschmieds im glänzenden Panzer, des schwarz geharnischten Lederlaufkäfers, des gelbrot gebänderten Totengräbers, des stumpfen Trotzkopfs, des heiligen Siebenpunkts, der breitschildrigen dünnen Blattwanzen, der langbeinigen lichtscheuen Spinnen, der kugelnden Asseln, der zappeligen Tausendfüßler und Ohrzangen, der blutroten Erdläuse. Das Kind konnte nur staunen, wie das in der Sonne wob und sich bewegte und regte durch alle Adern und Fasern der Erde. Da flimmerte es dem Knaben vor den Augen, da glaubte er in eine fremde Welt hineinzusehen. Und je länger er hineinsah, desto wunderbarer kam sie ihm vor. Dann wurde sie weit und groß, wurde immer bewegter, immer farbiger, immer lebendiger, immer phantastischer. Das schien zu wachsen und sich zu verwandeln und jeden Augenblick meinte er, einer der goldgepanzerten Käfer müsse ihn anreden und –

Da fielen ihm die Steine ein und als er sich wieder an die Arbeit machen wollte, hörte er aus der Ferne seinen Namen rufen.

Der Rufer war Schulmeisters Christian, atemlos kam er näher.

Das Kind ahnte nichts Gutes. Der Vater war im Zorn vom Mittagessen weggegangen. In solchen Fällen bildete das Wirtshaus seine Zuflucht und was darauf folgte.

Das Kind hatte nicht Zeit, seinen Gedanken auszudenken, schon vernahm es die Botschaft:

Der Vater war tot. Auf dem Stangengebälk in der Scheuer war er ausgeglitten und auf die Tenne gefallen.

Eine Viertelstunde später stund der Knabe an der Leiche seines Vaters. – – –

*

Wenn ich diese Geschichte dem Tumichan so weit erzählt hatte, hinter der Ofenecke auf dem Spreusack, da besann ich mich, wie sie weitergehe, aber ich wußte nichts mehr, ich blieb stecken, obwohl ich doch alles gar nicht erdichtet, sondern aus meinem vergangenen Leben erzählt habe.

Die Wanduhr machte Tik-Tak, das Feuer im Ofen knisterte, das Spinnrad surrte, hinter dem alten Schrank knusperte ein Mäuslein, sonst lag alles still und finster im Zimmer.

»Geh«, sagte auf einmal die Mutter, »hol die Ampel, es wird Nacht.«

Es war schon seit zwei Stunden Nacht gewesen, aber die Mutter hatte es nicht bemerkt. Und ich fuhr erschrocken auf. Der Tumichan neben mir war eingeschlafen. Meine Erzählung muß ihn nicht sehr interessiert haben.

Eine rechte Geschichte wars auch nicht. Es war nur eine Erinnerung aus eigenen Tagen, aus der Zeit, wo ich den Tumichan noch nicht kannte, wo der Tumichan noch ein dunkles, rätselhaftes Dasein hinlebte wie im Traum, in der Kammer meiner Muhme Cilli, und wo es ihm noch Niemand vorsang, daß er eines Tages ans Licht gebracht würde, um gar mit mir aufs Gymnasium in die Quarta zu gehen.

*

Und dann wieder erzählte ich: Es war einmal ein schöner Tag im Herbst, ein wahrer Festtag der Natur. Der Himmel hatte sein schönstes Kornblumenblau herausgehängt und die Sonne schien so warm, daß man meinen könnte, sie wolle einen neuen Frühling hervorzaubern. Einige vorschnelle, allzu kitzliche Apfelblüten waren wirklich herausgeschlüpft aus ihren braunen Knospenhäusern und sahen nun mit verdutzten Gesichtern das alte gelbbraune Laub um sich herum. Da schüttelten sie ihre rosigen Köpfchen und es schien ihnen gar nicht wohl zu Mute zu sein. Es belief sie etwas wie Frühlingsheimweh, wie Jugendtraum.

Aber nur eine Apfelblüte kann an einem so schönen sonnenhellen Herbsttag sentimental werden.

Alle übrigen Weltwesen rundum waren heiter wie Himmel und Sonne und lustig und froh, die Spatzen auf den Dächern in ihrem Pfeifen, die Kinder auf dem Rasen in ihrem Spielen, die großen Leute in ihrem Dichten und Trachten.

Auch die Herbstzeitlosen auf den Wiesen freuten sich des Tages, sie konnten sich keinen schöneren denken. Und am Ufer des Baches, der sich durch die Wiesen schlängelte, hingen auf hohem buschigem Krautwerk nebst reifen Samenkapseln auch noch einige andere späte Blüten von Weidenröschen und gelbem Alant. Und hier auf einem alten Weidenstrunk, der halb sich in den Bach hineinbog, saß ein Knabe zwischen den schlanken, goldgelben Ruten.

Der Tag neigte sich zu Ende und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen durch die gelben Haare des Kindes und durch die langen gelben Weiden und schienen sich darin zu verfangen und hängen zu bleiben. Da leuchtete es wie eine Krone von Sonnengold um das Haupt des Kindes und der stille Knabe saß auf seinem Thron wie ein Königskind und die hohe Königin des Himmels und der Erde, die Sonne, küßte ihm Augen und Stirne und weihte ihn. Und er wußte es, er fühlte es im heimlichsten Grund der Seele, wenn er auch nicht daran dachte.

Am Fuß des Weidenstumpen, hart am Bachrand, von Weideröschen und Minze überragt, stand ein Mädchen und sah zu dem Knaben empor. Dieser trug ein armseliges Höschen und ein grobes Hemd; die Kleidung des Mädchens aber war fein und vornehm.

»Hör doch, Berta«, sprach der Knabe, »wie es da unten im Wasser heimlich murmelt. Glaubst du nicht, daß da die Wasserfräulein wohnen? Ich möchte nur einmal eines sehen. Es gibt einen Vogel, der gehört den Wasserfräulein. In ihrem krystallenen Schloß unter dem Wasser sitzt er in einem goldigen Käfig und nickt mit seinem Kopf und dreht seinen langen Schnabel hin und her. Einen langen Schnabel hat er, so lang wie kein anderer Vogel. Die Wasserfräulein verstehen ihn und er erzählt ihnen, was oben auf der Erde geschieht und dann kommt er von Zeit zu Zeit herauf und huscht den Bach entlang, an Weiden und Büschen hin, in die Dörfer und Mühlen, wo Sonntagskinder sind, und erzählt ihnen im Traum, was Wunder er gesehen und gehört in den Unterwassern drunten. Manchmal führt er eines mit hinunter. Das darf dann alles mit Augen sehen im Palast der Wasserfräulein, und darf in ihre heimlichen Schlafkämmerlein treten mit klopfendem Herzen und in den seidenen Bettlein schlafen und darf –

Der Knabe stockte. Er saß jetzt selber auf seinem Weidenknorren zwischen den schlanken, goldgelben Ruten wie in einem goldenen Käfig.

Das Mädchen fragte: »Und von wem weißt du denn das alles?«

Eine Weile zögerte der Knabe mit der Antwort. Von niemand weiß ich es, erwiderte er dann; aber wenn ich so in das Wasser hinuntersehe, so recht bange, da –

»Da siehst du dich drunten im Wasser«, rief die kleine Berta lachend, nicht wahr und dann meinst du, du sähest ein Königskind, einen verwunschenen Prinzen! Traumdeuter sehen solche Dinge und du willst ja einer werden. Aber kann man davon auch leben? Das ist ja kein Handwerk.«

Der Knabe antwortete nicht. Beide schwiegen.

Die Sonne war untergegangen und über dem Tal und auf den Wiesen wob allmählich leichte Dämmerung, aus dem Wasser und zwischen den Weiden stiegen weißgraue Nebel empor.

Das Mädchen mahnte zum Aufbruch.

Plötzlich stieß der Knabe einen dumpfen Angstruf aus. Mit unterdrückter Stimme und in höchster Aufregung flüsterte er: »Siehst du's dort? es kommt, es kommt auf uns zu, dort bei den drei Pappeln –«

Zitternd am ganzen Körper schaute das Mädchen in der angedeuteten Richtung hinaus, dann schrie es plötzlich ebenfalls laut auf. Der Knabe aber sprang von seinen Weidenstumpen, ergriff die Freundin bei der Hand und in atemloser Hast liefen die beiden Kinder den Bach hinunter auf die Dorfgärten zu; an bekannten Schlupflücken drangen sie durch die Häge und über die Gras- und Obstgärten hinweg, hinaus auf die Dorfgasse.

Hier erst getrauten sie sich anzuhalten und Atem zu schöpfen.

»Das garstige Ding, was mir das Angst gemacht hat«, flüsterte die Kleine, noch immer heftig zitternd.

»Hast du's auch recht gesehen?« fragte der aufgeregte Knabe, »das war ein Wasserfräulein. Und einen bläulichen Schleier wie aus Wasser gewoben, hatte es umhängen und hatte einen spitzen Federbusch auf dem Hut. Aber garstig war's nicht.«

»Ich werde gesucht«, rief jetzt das Mädchen. »Gute Nacht.« Damit sprang es auf einen langen Menschen zu. Er trat aus einem hohen Gartentor von kunstreich geschmiedeten Eisenstäben und trug einen bis zu seinen Füßen hinuntergehenden Rock mit roten Aufschlägen und spiegelblanken Metallknöpfen. Hinter dem Tor und einer hohen Mauer verschwand er wieder mit seiner kleinen Prinzessin. Der Knabe schaute das Tor und die Mauer noch einen Augenblick verdutzt an, dann wandte er sich ab und trottete langsam vor sich hin, seinem eigenen Hause zu.

Drüben auf den Wiesen wob die Nacht weiße Nebeltücher. Den Bach entlang aber wandelte noch immer das geheimnisvolle Wesen, das sich den Spaß gemacht, die beiden Kinder als Wasserfräulein zu schrecken. Es war ein blauer Reiher, ein seltener Vogel in dieser Gegend. Mit langsamen Schritten stelzte er bei den alten Pappeln auf und nieder.

*

Auch um mich, der ich erzählte, auf dem Spreusack hinter dem Kachelofen und um den Tumichan, der schlummernd mir zur Seite hockte, war es wieder Nacht geworden. Die schwarzwälder Wanduhr machte Tik-Tak, das Feuer im Ofen knisterte, das Spinnrad der Mutter surrte, hinter dem alten Schrank knusperte ein Mäuslein, sonst lag alles still und finster im Zimmer.

»Diese Geschichte hast du aber schon oft erzählt«, sagte Tumichan plötzlich, daß ich fast erschrack. Er mußte also doch nicht geschlafen haben. »Du erzählst nichts lieber, fuhr er in seinem eigentümlichen brummenden Ton fort, ich weiß wohl warum.«

Er stockte und machte ein verlegenes Gesicht. Das sah ich nicht in der Finsternis; aber ich fühlte es.

»Ich weiß warum«, hub er wieder an und vielleicht zwinkerte er dabei mit den Augen und drohte mir mit dem Finger, sehr wahrscheinlich; doch konnte ich nichts sehen.

»Man kann dir's nicht übel nehmen«, begann der Tumichan abermals, »du bist so jung, du bist ein richtiger Quartaner.«

Daß er kein richtiger war, wußte er also.

»Uebel nehmen, nein. Ich begreife dich. Sie ist auch wirklich ein herziges Geschöpf, und damals an unserem Konfirmationstag, wo dich alle von sich stießen, weil ich mit dir ging, hat sie sich schön betragen und hat dich vor der ganzen Welt in Schutz genommen. Ich erinnere mich noch recht wohl, wie sie dich auf die Wange getätschelt. Das war dein Ritterschlag. Sie selber hat dich zu ihrem Ritter geschlagen. Und heute noch, wenn sie uns begegnet, oder wenn wir auf dem Weg nach der Stadt zusammentreffen, ist sie freundlich gegen dich und tätschelt dich noch immer, nicht mit ihren Händen, sondern mit ihren Worten. Ich passe dann nur auf, was du für ein Gesicht dazu machst. Ich habe Zeit dazu; denn ich bin für die Prinzessin nicht vorhanden. An mich richtet sie nie ein Wort. Und also gaudiert mich dein Gesicht. Aber, wie gesagt, ich begreife dich, wenn auch die ganze Schwärmerei – aber du bist noch so jung, ein richtiger Quartaner ... freilich, wenn du meine Erfahrungen hättest ... Und dann, lieber als der Alte mit dem Zwerchsack – –«

Hier verstummte Tumichan plötzlich mitten im Satz. Ich war paff. Nie in seinem Leben hatte Tumichan eine so lange Rede gehalten. Noch mehr als über die Länge, erstaunte ich über den Inhalt der Rede. Fast war's ja, als ob da etwas wie Neid und Eifersucht durchklang. Und dann zuletzt das Pochen auf seine Erfahrungen. Nie zuvor hatte ich Tumichan in irgend einer Sache sich rühmen hören.

Also die Rede des Freundes gefiel mir nur halb. Ziemlich verstimmt suchte ich mein Bett. Tumichan blieb in seiner Ofenecke liegen; ich kümmerte mich nicht um ihn.

Von diesem Tage an benahm ich mich merklich kälter gegen den alten Kameraden; ich ließ ihn sogar deutlich merken, daß es mir lieb wäre, wenn unser Verhältnis sich auflöste. Nur meiner Mutter zu Liebe brachte ich es über mich, Tumichan nicht von mir zu stoßen; der guten Frau hätte ich damit wehe getan.

Unterdessen ging die Quarta zu Ende und ich kam in die Tertia.

Der Tumichan aber kam nicht in die Tertia.

Er hatte in der Quarta soviel wie nichts gelernt: aber seine halbausgefallenen Härchen waren ihm vollends ganz ausgegangen und er sah schäbiger aus als je. Im verdächtigsten Zustand befanden sich seine Flügel. An ihnen war kein guter Fetzen mehr. So hatte Tumichan sie auf den Bänken der Quarta verrutscht und verrieben. Flügel und Schulbänke passen eben schlecht zusammen, das spanische Rohr des Herrn Brüllmeyer wußte auch etwas davon zu erzählen.

Und jeder hatte einmal an diesen Flügel herumgezaust; kein Wunder, wenn Tumichan sie endlich hängen ließ.

Ich aber schämte mich seiner, besonders seit einem bestimmten Tag. Wir gingen zusammen über den Münsterplatz in der Stadt und begegneten Berta Hollerbach; sie befand sich in Gesellschaft eines jungen Fräuleins und des roten Kurt von Laaren, Laaren-Schönhoff. Berta hatte uns seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Sie grüßte mich freundlich, warf aber dem Tumichan einen Blick zu, daß ich an seiner statt über und über rot wurde. Der rote Kurt hatte uns alle Beide spöttisch angegrinst und ich hörte, daß er über den Tumichan eine Bemerkung machte, worüber die jungen Damen laut lachen mußten.

Da schwur ich, nicht mehr mit dem Tumichan auszugehen.

Selbst die Mutter sah endlich ein, daß man sich mit dem Tumichan so nicht mehr sehen lassen könne. Seine Flügel bildeten nachgerade ein öffentliches Aergernis, und am Ende der Quarta holte die Mutter bei unserem Nachbarn, dem Schneidermeister Leichtlein, dem Urenkel von Tumichan's zweitem Stiefvater, die größte und längste Schere. Mit einem Ruck lagen die beiden Flügel am Boden.

So hartherzig habe ich meine Mutter nie gesehen. Tumichan blieb seinem Charakter treu; er beklagte sich nicht. Wozu auch? Seine Flügel hatten ihn ja nichts genutzt auf der Welt, sie hatten ihn nur lächerlich gemacht.

Natürlich konnte Tumichan jetzt nicht mehr auf's Gymnasium gehen. Sie hatten ihn schlecht behandelt, als er seine Flügel besaß, die Flügel sind ihm teuer zu stehen gekommen; aber wenn er nun sozusagen mit abgesägten Flügeln vor ihnen erschienen wäre, hätten sie ihn dafür wieder mißhandelt, noch mehr als zuvor. Sonst hatten sie ihm seine Flügel wie ein Verbrechen vorgeworfen; nun hätten sie sicher gesagt, er habe sie aus Furcht vor der Welt abschneiden oder ausrupfen lassen und das sei schnöde, sei eines Lumpen würdig.

Ich war nicht viel besser als die andern. Auch ich wußte einst seine Flügel nicht zu schätzen; ich fand sie unbequem, weil sie mir den Spott der Welt eintrugen. Jetzt aber nach ihrer Entfernung gingen mir die Augen auf, und ich sah mit Entsetzen, wie Tumichan herunter gekommen und auf dem besten Wege sei, ein Lump zu werden.

Ein halber war er schon. Nur meine Mutter hielt ihn noch ab, ein ganzer zu werden.

Meine Mutter allein blieb nun Tumichan treu, ja sie schien ihn immer lieber zu gewinnen, wenn er auch von Tag zu Tag mehr verlumpte.

Auch er zeigte sich ihr sehr anhänglich. Er blieb immer bei ihr; er saß bei ihr am Ofen, wenn sie spann. Wenn ich in der Schule weilte, bildete er ihre einzige Gesellschaft. Und er war mir gar nicht bös für meine Treulosigkeit. Wenn sie so allein beisammen saßen, meine Mutter und er, dann unterhielten sie sich von mir und er erzählte ihr nur das Gute, das er von mir wußte.

Dadurch gewann die Mutter ihn noch lieber. Sie fühlte, er sei ihr ein warmer Freund; sie nannte ihn ihren lieben alten Kittel.

Ein Kittel war er geworden.

Sein Schicksal verdroß ihn aber nicht; wie immer in seinem Leben wußte er sich auf's beste in den neuen Stand zu schicken. Er schien sogar aufgeräumter und mitteilsamer als vorher. An den Winterabenden, wenn die Mutter am Ofen saß und spann, halb im Finstern, während ich am Tische stumm über ein Buch gebückt alles Licht allein in Anspruch nahm, wachten in Tumichan die alten Erinnerungen auf. Er hatte meine Mutter schon als Kind gekannt, und später, und sie plauderten miteinander von den vergangenen Tagen.

Manche geheimen Beziehungen aus früheren schöneren Zeiten herrschen zwischen Tumichan und meiner Mutter. Ich habe schon erwähnt, daß Tumichan, bevor er mit mir konfirmiert worden ist, bei meiner Großtante, der alten Cilli, gewohnt hat, fast ein Gefangener, eingeschlossen in eine Truhe von Eichendielen in der hintersten dunkelsten Kammer des Hauses. Aber auch ehrenvolle und glänzende Tage sind in dieser Geschichte angedeutet worden. Die alte Cilli war die Taufpatin meiner Mutter und im gewissen Sinne konnte Tumichan ihr Pate heißen. Als Zeuge wenigstens hatte er ihrer Taufe beigewohnt, denn er diente damals der genannten Muhme Cilli als Festkleid.

Vorher war er sogar ihr Hochzeitskleid gewesen.

Dennoch freute er sich, wenn meine Mutter ihn nun ihren guten Kittel nannte, und er hielt als solcher noch manches Jahr bei ihr aus.

Dann auf einmal sah ich ihn nicht mehr. Ich mochte aber auch nicht nach ihm fragen; denn ich fühlte mich im Gewissen nicht ganz rein gegen ihn. So vergaß ich ihn.

Aber ich sollte an ihn erinnert werden, ich sollte ihn sogar wiedersehen.

»Nix ze handle heit?« rief's unter der Türe und die grüne Schildkappe des Juden streckte sich durch den Spalt. Die Mutter, die an meinen Socken ausbessernd an der Fensterbank saß, ihre altmodischen Brillengläser auf die Nase geklemmt, zögerte mit ihrer Antwort.

»Ich könnte schon einen Vierling Stopfwolle brauchen,« sagte sie dann langsam, »ich weiß aber nicht, ob ...«

»Na, uhser, und wann Ihr se braucht de Woll, so sollt ihr se hawe, und weche de Lumpe, so komme mer ja widder zusamme.«

Die Mutter ging aber hinaus, sie mußte doch etwas wissen. Unterdessen packte der Jude sein Bündelchen auseinander. Ich schenkte ihm diesmal kaum einen Blick, weder dem Krämer noch seinem Kram. Ich hatte Wichtigeres zu tun. Ich war auch kein Quartaner mehr, sondern Student, der hohen Weltweisheit selbstbewußter Jünger. Im Augenblick aber las ich im göttlichen Plato, in seinem Buche genannt Phaedon und fühlte mich tief ergriffen vom Unsterblichkeitsgedanken des großen Philosophen.

Die Mutter trat herein und warf dem Juden etwas vor die Füße. Das plumpste so schwer und dumpf, verwundert sah ich hin.

Es war der Tumichan – Tumichan in einem entsetzlichen Zustand.

Enoch Ehrlich griff nach der dunklen Masse, wog sie einen Augenblick in der Hand und steckte sie dann tief in den Bauch seines Zwerchsackes.

» Sic transit gloria mundi«, wollte ich gemeinplätzig in Schülerart vor mich hindeklamieren, aber mich traf ein so eigentümlicher Blick des alten Juden, dieses Juden, der seit Lebtagen gleich weiß und uralt aussah, als sei es der ewige Jude – ich verstummte.

Die Mutter erhielt einen Vierling Wolle, um meine Strümpfe zu stopfen, und Enoch Ehrlich kramte sein Bündelchen wieder ein, langsam und bedächtig, band die Schnur darum und steckte es in den Sack zu dem verlumpten Tumichan, dessen seltsame Ahnungen nun also doch in Erfüllung gegangen waren, oh Plato, oh Unsterblichkeit!

»Na, und hawener aach schon geheert das Neieste, sprach der Jude während seiner Hantierung, das Neieste, was mer liest in der Zeiting, wie sich hat verlobt da drübe de reiche Erbin, de Fraile Berta, mit dem Sekundelaitnant von Laaren, na, von Laaren-Schönhoff. Hat gemacht ä gute Partie, der Herr Laitnant, trotz seine rote Haar und seine Sommersprosse, kann sein zefriede, hat awer aach 'n scheene Name un 'en scheene Rock, der Herr Laitnant, und werd aach hawe ze bezahle scheene Schulde. Na, uhser, was kammer sage, ich sag' adjes beisamme.«

So sprach der Lumpenjud, mir aber war's als hörte ich noch einmal die Stimme des alten Tumichan: »Ich begreife ja deine Schwärmerei, man kann sie dir nicht übel nehmen, du bist noch so jung, du bist ein richtiger Quartaner.«

Nun freilich war ich keiner mehr, ich war wie plötzlich alt geworden.

Enoch Ehrlich aber hing sich den Sack über die Schulter und wandte sich zum Gehen; unheimlich bauschte dieser Sack auf seinem Rücken, und fast mit Entsetzen sah ich ihn unter der Türe verschwinden.


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