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Hinter dem Frühlingswald

Aus einer engen Waldschlucht, wie sie der Muschelkalkformation eigen sind, führte ein steiniger steiler Weg durch alten Buchenbestand zur Hochebene hinauf.

Hier stieg der Maler Anselm Kynast langsam in die Höhe, ein Mann in den letzten zwanziger Jahren.

Er kam von dem kleinen Gebirgsstädtchen drunten im Salmerbachtal. Seine Mutter wohnte dort; er hatte sie auf die Ostertage besucht, seit vier Jahren wieder zum erstenmal.

Und die alte Frau, eine Drechslerswitwe, hatte ihren Sohn sehr verändert gefunden. Anselm war aus einem ungestümen überschäumenden jungen Menschen ein stiller ernster Mann und Arbeiter geworden. Er hatte viele Täuschungen erlebt. Das Leben hatte ihm so viel versprochen und so wenig gehalten. Er begriff immer klarer, daß mit hohen Gefühlen und großen Worten nichts getan ist. Seine Freunde, Leute, die nur die Außenseite der Dinge sahen und für welche alle Wörter der Sprache nur einen oberflächlichen Sinn hatten, fingen bereits an, ihn einen Philister zu heißen. Weil er sich doch einmal in der Gegend aufhielt, wollte er auch seinen Bruder sehen. Dieser, fast zehn Jahre älter, war Pfarrer in Aachdorf, weit droben auf der Ebene. Der Maler befand sich auf dem Wege dahin. Die Wanderung hatte ihn am Anfang etwas verstimmt, die Steige waren allzu steil und holperig. Aber allmählich gewannen andere Empfindungen in ihm Raum.

Die Schönheit der armen Natur um ihn her ging ihm auf.

Die alten Buchen standen noch kahl gegen den blauen Himmel und schienen fühllos gegen Sicht und Wärme, die sie umfluteten; aber an dem jüngeren Buschwerk, noch vom dürren Laub des vergangenen Herbstes goldbraun durchleuchtet, knisterte es hörbar. Das Knistern kam von den verdorrten Blättern, die sich unter den Sonnenstrahlen krümmten; aber das Ohr glaubte die braunen glänzenden Knospen bersten zu hören, in denen sich das junge Leben regte.

Auf dem Boden lag die Aprilsonne über dem Silbergrau des letztjährigen Waldgrases. Dazwischen stachen die ersten grünen Spitzen hervor. An einzelnen sonnigen Stellen brach das Windröschen häufchenweise durch das braune Bodenlaub und öffnete seine zarten weißen Kelche dem Lichte. An anderen Punkten, wo die Erdkrume aufhörte und die nackten Kalkplatten zu Tage traten, leuchteten die tiefblauen Sterne der Frühlings-Genziane neben den goldenen Kelchen einer dem Wanderer unbekannten Blume.

Und die Aprilsonne stieg höher am wolkenlosen Himmel empor. Und immer wohliger und wärmer durchflutete sie den erwachenden Wald. Immer häufiger und vernehmbarer wurde das Knistern im dürren Gras und Laubwerk. Dem Walde lag der Frühling im Blut und auch den großen rotbrüstigen Vögeln mit den himmelblauen Flügeldecken, die, märchenhaft, hier und dort in dem kahlen Gezweige aufrauschten und jedesmal einen übermütig lustigen Schrei ausstießen.

Und auch dem Wanderer lag es im Blute. Seine Augen nahmen einen höheren Glanz an, er spürte eine Empfindung in seiner Seele erwachen, die er lange nicht gekannt hatte. Die Allgewalt der Natur berückte ihn. Er entdeckte in sich, was er längst tot geglaubt hatte: das erschauernde Gefühl des Frühlings. Er fühlte sich wieder jung. Zum erstenmale wieder seit langer Zeit.

Er fand die Welt und das Leben schön. Eine tiefe Sehnsucht erfaßte ihn, eine Sehnsucht nach etwas Unsagbarem ... nach einer Verkörperung und Vermenschlichung der Weltschönheit.

Er hatte solange, und vielleicht etwas allzu handwerkerlich, nur gearbeitet. Die Zeit kam ihm jetzt wie verloren vor; er meinte, nicht Arbeit sondern Genuß sei Leben. Und er dachte an frühere Jahre, und wie er da das Leben so leicht genommen und wie ihm alles ein Genuß geworden.

Er trat unterdessen aus dem Wald in's Freie hinaus. Und hier schaute der Frühling ihn noch sieghafter an. Die Saatfelder leuchteten in hellem Grün und in der sonnigen Luft schmetterten die Lerchen. Er hörte sie zum erstenmale in diesem Jahre.

Dann schritt er durch die Gasse eines kleinen armseligen Dorfes. Der Weg war schmutzig von zerstreutem Dünger, den die Bauern links und rechts von der Straße auf ihre Karren luden. Die schmutzig ärmlichen Kühe vor den unsauberen Fahrzeugen benützten die Zeit der Ruhe zum Wiederkäuen. Aber in der sonnigen Luft geigten die ersten Frühlingsmücken, und auf den getrockneten Hofplätzen spielten kleine Kinder zwischen Hühnern und Enten. Auch ihnen lag der Frühling im Blut.

Aus einer Haustür trat ein großes Mädchen, mit einem einzigen groben Rock angetan, mit einem roten Leibchen, das bis zum Hals hinaufging und die Brust breit drückte.

Anselm Kynast sah ihr unwillkürlich nach, das war auch ein Stück Frühling. Nicht nur ihre Augen mit den gesunden Rändern, jede Bewegung ihres plumpen Körpers sprach es aus.

Dem Maler kam eine dumpfe Erinnerung ... Daran hatte er lange nicht gedacht.

Mit einem plötzlichen Ruck wandte er sich. Er kehrte einige Schritte zurück und stieg eine schadhafte steinerne Staffel von vier bis fünf Stufen in die Höhe.

Er trat in die Wirtsstube des Dorfes. Sie war noch ungekehrt. Böse Dinge lagen auf dem Boden umher. Die Dielen waren schwarz von Schmutz. Auf dem Tisch am Ofen lag eine beschmutzte Kleinbubenhose, sie lag hart neben einem Teller mit einem Rest von bräunlicher Suppe und einem Löffel darin. Andere unabgewischte Löffel lagen umher.

Ein zweiter Tisch stand in der vorderen Ecke des Zimmers. Ein paar Lachen verschütteter Flüssigkeit standen darauf und ein alter verschleißter Strohnapf mit Kartoffelschälig.

Hier setzte sich der Maler. Aus der anstoßenden Kammer drang Menschengeräusch, Stimmenlaute von Alten und Jungen.

Anselm Kynast saß nicht zum erstenmal an diesem Platz. Dennoch erschien ihm die Stube so seltsam fremd. Nur von der Wand her schaute es ihn bekannt an, dort hingen vier Bildertafeln, deren er sich sofort wieder erinnerte. Es waren uralte, seltene Sachen, keine mechanischen Reproduktionen, sondern Gemälde, eine Art Glasmalerei. Die ursprüngliche Beschaffenheit der Rahmen konnte man vor Schmutz nicht mehr erkennen und ebenso schmutzig sahen die Ecken aus; in der Mitte aber wirkten die Farben blank und frisch. Denn die rückseitig gemalten Glasplatten konnten mit Wasser leicht sauber gehalten werden.

Anselm Kynast machte von neuem die Bemerkung, um wieviel die alten Dinger künstlerisch höher ständen, als die neueren Dorfstubenkunstwerke. Es hingen deren einige daneben: Das Kaiserpaar mit kleinen und großen Prinzen und Prinzessinnen. Sie prangten im vollen Ornat oder in Uniform, und die Kronen und Ordenssterne, die Ketten und Armbänder, die Degengriffe und Knöpfe waren nicht gemalt, sondern waren körperlich nachgebildet und bestanden aus aufgeklebten Papierpressungen in Gold und Silber ... Nicht lange verweilten die Gedanken des jungen Mannes bei den Bildertafeln. Er gedachte der Zeit vor vier Jahren, da er auch hier saß, an einem Frühlingstag wie heute, nach dem gleichen Wandern durch den Frühlingswald.

Mit besonderer Lebhaftigkeit vergegenwärtigte er sich das Mädchen, das ihn damals bediente. Die andere, die von vorhin draußen auf der Gasse, hatte wieder die erste Erinnerung an sie erweckt. Gerade so hatte sie ausgesehen. Und war auch ganz so gekleidet gewesen.

Er sah sie wieder, wie sie so vor ihm stand, ein wenig grobknochig, aber auch voll im Saft, mit frischer reiner Haut, Gesundheit aus jeder Pore atmend, mit Bewegungen und Manieren, die auf gänzliche Ahnungslosigkeit ihres weiblichen Wesens und Wertes zu deuten schienen.

Er erinnerte sich, wie er sie angestaunt in ihrer gesunden Ungeschlachtheit, zuerst als Künstler, sie in Gedanken malend, unverschönert und unabgeschwächt, ein Stück strotzenden Lebens.

Aber war denn das da, um gemalt zu werden? Er vergaß zuletzt den Künstler in sich. Sie kam ihm einigemale nahe, zu nahe, ihr praller Schenkel berührte ihn. Durch den einfachen Rock fühlte er die Wärme ihres gesunden jungen Körpers.

Darin lag keine Frechheit ihrerseits. Sie war nur eine naturrohe, vielleicht etwas dumme Dirne. Sie hatte die unverfeinerten gesunden Nerven der Natur, sie wußte nicht, was sie für eine Wirkung ausübte. Sie war ein ehrliches Blut.

Anselm Kynast stand das Alles deutlich vor den Sinnen, als ob es gestern gewesen wäre.

*

Da ging die Kammertüre auf. Der Wirt, ein Bauer mit blödem Gesicht, trat mit schweren Holzschuhen in die Stube. Er bemerkte den Gast. Einen Schoppen Wein? fragte er.

Anselm Kynast nickte mechanisch mit dem Kopfe.

Erschrocken starrte er in die offen gebliebene Kammertüre. In der Kammer saß die Wirtin auf einem niederen Schemel, ein Weib, von dem man nicht sagen konnte, ob es alt oder jung sei, ein häßliches grobes Gesicht, eingefallen und verwettert, mit vorstehenden Backenknochen, mit häßlichen unsauberen Mundwinkeln.

Das Weib erinnert dennoch in seinen Zügen an das Mädchen, das Anselm im Geiste noch gerade vor sich gesehen ...

Auf ihren Knien lag ein mächtiger Bündel von Kissen, an dessen oberen Ende ein unverhältnismäßig großer Kinderkopf hervorsah. Ein älteres Kind von etwa anderthalb Jahren mit halb blödsinnigem Ausdruck hockte am Boden und zerrte eine junge Katze am Schwanz, die einigemal laut aufschrie.

Neben der Mutter, auf einem zweiten Schemel, stand ein Teller weißen Brotbrei's. Damit fütterte sie das Jüngste. Mit dem Löffel stopfte sie ihm Brei in den Mund und dabei half sie mit einem Schnuller nach, indem sie das, was an den Mundwinkeln herunterrann, damit auftunkte.

Von Zeit zu Zeit schob sie dem am Boden einen Löffel voll zu. Sie lachte ihn dann freundlich an, wobei sie ganz besonders häßlich wurde. Auch das blöde Gesicht des Kindes verzog sich dann zu einem grinsenden Lächeln.

Der Wirt kam mit dem Wein zurückgeschlurcht. Er führte jetzt ein drittes Kind an der Hand, einen Knaben von ungefähr drei Jahren, dem offenbar die Hosen auf dem Tisch gehörten. Denn er hatte nichts an, als Hemd und Strümpfe.

Er sah aber seinen beiden Geschwistern nicht ähnlich. Er hatte weder ihren dicken Kopf, noch ihr strohgelbes Haar und am wenigsten ihre wasserfarbenen blöden Augen. Er war braun und hatte auch braune Augen, die lebhaft und klug blickten.

Anselm Kynast erbleichte vor diesen Augen. Es waren seine eigenen.

»Vatta, mi Hös«, sagte der Junge, und dem Gast ging das Wort durch Mark und Bein.

Der Wirt zog den Knaben mit in die Kammer, deren Türe er anlehnte, und Anselm Kynast saß wieder allein mit seinen Gedanken, die bald auf das Vergangene zurückkehrten.

Damals vor vier Jahren besuchte er auch seinen Bruder. Er kam am Nachmittag hier an; das Wirtshaus betrat er nur, weil es zu regnen begann, das erste Frühlingsgewitter entlud sich. Und der Regen hörte nicht auf. Anselm Kynast mußte sich entschließen, die Nacht zu bleiben.

Es war langweilig.

Es wäre langweilig gewesen ohne die Karoline ... Als sie ihn am Abend auf sein Zimmer begleitete, ließ sie sich leicht zurückhalten, noch ein wenig zu plaudern. Sie hatte ihre Arbeit getan und die Anderen schliefen schon, die alte taube Mutter nebenan und der Jörg drunten neben dem Hausgange. Der Jörg war ein Vetter und zugleich der Knecht im Hause. Die Karoline erzählte, daß er sie heiraten wolle. Auch die Mutter wünsche es. Die Karoline mochte ihn aber nicht recht. Und doch paßte auch sonst nicht leicht einer in's Haus, eine große Wahl hatte sie nicht.

Anselm Kynast machte einige Bemerkungen über den Jörg. Und Karoline lachte. Sie zeigte dabei große gesunde Zähne. Dem jungen Maler klang dieses Lachen in seiner augenblicklichen Sinnesverfassung übermütig und herausfordernd. Es reizte ihn. Er sprach von ihren Armen. Er bewunderte ihre kräftige Gestalt. Er habe nie solche Arme gesehen. Und wie zu einer Maß- oder Kraftprobe umfaßte er die bewunderten Oberarme. Das Mädchen lachte ...

Den Maler Kynast, den von heute, überkam ein plötzliches fröstelndes Gefühl. Die Kammertüre öffnete sich und die Wirtin, ihr Kleinstes auf dem Arme, trat heraus. Sie legte den dicken Wickel in eine Wiege am Ofen mit schmutzigem Bettzeug. Dann kauerte sie sich daneben auf eine niedere Bank und schaukelte den Kleinen, indem sie ihm herzlich Koseworte zuflüsterte.

Der dreijährige Knabe kam auch heraus und stellte sich still und nachdenklich daneben. Er hatte jetzt seine Hose an, ein nicht ganz weißer Zipfel ragte hinten am Schlitz heraus. »Was guckst denn wieder groß, Jörg«, sagte die Mutter. Anselm Kynast betrachtete die Gruppe, ihm war seltsam zu Mute.

Die Wirtin richtete einige Fragen an den Gast. Ihre Sprache war schleppend, faul. Der Maler hatte das Gefühl, als ob die Worte schmutzig wären. Er wollte eine Probe machen; er sagte, daß er schon einmal hier gewesen sei. Sie konnte sich nicht erinnern. Er beobachtete sie genau, sie schien in der Tat ahnungslos. Schon hatte er's auf der Zunge, er sei sogar zu Nacht dagewesen. Aber er vermochte das Wort nicht auszusprechen. Halb war's ihm, als ob er damit eine Roheit sage, halb, als ob er ein keusches Geheimnis vor Uneingeweihten aussprechen würde. Seltsam.

Er brach auf.

Draußen glänzten die jungen Saatfelder im sonnigsten Grün und am Himmel schmetterte die Lerche.

Anselm Kynast hörte sie nicht. Er blickte dumpf und trüb. Ungeheuerliche widersprechende Empfindungen stritten in ihm. Der Wein hatte seinen Gang nicht elastischer gemacht, er schritt müder dahin als vorher.

*

Mehr als ein Jahrzehnt ist unterdessen vergangen. Anselm Kynast hat noch manche Täuschung erlebt. Er wohnt nicht mehr in der großen Kunststadt; er hat sich in die bischöfliche Residenz seiner Provinz zurückgezogen, wo sein Bruder Domherr geworden ist. Es würde ihm sogar schlecht gehen, wenn er sich nicht auf die religiöse Malerei verlegt hätte. So erhält er durch die Vermittlung seines Bruders viele kirchliche Aufträge und verdient schweres Geld.

Aber es ist ihm nicht wohl dabei, seine Arbeit gibt ihm keine Befriedigung. Nicht hohe Anforderungen muß er an sich und die Kunst stellen, um seine Arbeitgeber zu befriedigen, er muß, um den Geschmack derselben nicht vor den Kopf zu stoßen, unter sich selbst hinuntersteigen.

Manchmal ekelt ihm vor sich selber. Denn er ist zwar weit abgekommen von den Träumen seiner Jugend, aber ein Lump ist er doch nicht geworden. Er hat nichts gemein mit den meisten seines neuesten Handwerkes.

Er triebe dieses Handwerk nicht, wenn er allein in der Welt stünde, er schösse sich lieber eine Kugel durch den Kopf! Er hat aber, irgendwo auf dem Dorf, einen Knaben mit auffallendem Zeichentalent entdeckt und hat ihn zu sich genommen. Für ihn schafft und lebt er. Und er darf es wohl der Mühe wert halten; denn das Talent des Jungen zeigt sich von Tag zu Tag deutlicher. An ihm hat Anselm Kynast seine einzige Freude.

Er ist ein kräftiger wohlgebauter Junge, der seinem Lehrer und Beschützer fast ähnlich sieht. Dieser hegt große Hoffnungen für ihn und zweifelt nicht, daß sein Georg das wirklich erreichen wird, was er selber einmal schon errungen zu haben glaubte. Und in diesem Glauben ist er fast glücklich.


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