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Die Heilige Jungfrau und der Gehenkte

Lieber Meister Gottfried, du hast uns doch einige so wundersame und ergötzliche Abenteuer der Hl. Jungfrau erzählt, die wir auch Unsere Liebe Frau nennen: ein wenig schnurrig, wie es deine Art ist, und doch so überaus köstlich weißt du von der hohen himmlischen Frau zu berichten, wie wenn du, der hartgesottene Züricher Ketzer, selber dabei gewesen wärst, als sie so männlich tapfer und ohne alle weibliche Ziererei mit dem leibhaftigen Teufel rang und dann gar als geharnischter Ritter in die Schranken ritt, hoch zu Roß, und zwei übermütigen Maulhelden so übel mitspielte, hernach aber in einem armen Klösterlein ein halbes Menschenalter lang die demütigen Dienste der Küsterin verrichtete, alles, als wenn du dabeigewesen wärst. Warum erzähltest du also nicht auch die uralte Geschichte von der Hl. Jungfrau und dem Gehenkten? Du hättest es besser gekonnt als irgendein anderer. Ein paar Schöppchen Hallauer Noten weniger und es wäre getan gewesen. Da du es aber verschmäht hast, muß nun der Geselle daran, so zaghaft es ihm auch zumute ist, doch weil es nun einmal sein soll, will er keine weiteren Umschweife machen und beginnt in Gottes Namen also.

Vor vielen hundert Jahren verweilte am Hof des Kaisers ein reicher Graf namens Herr Leuthold, und zwar stand er im besonderen Dienst der Kaiserin als deren oberster Marschall.

Dieser Graf Leuthold lebte mit seiner Gemahlin in kinderloser Ehe, und der Gedanke, ohne Leibeserben zu altern, bedrückte ihn schwer, ja in solchem Grad, daß seine frühere Liebe zu der Gemahlin mehr und mehr erkaltete und ein dumpfer Grimm gegen die Unglückliche in ihm aufwuchs, und das war nun freilich nicht sehr christlich. Auch kämpfte er herzhaft dagegen an und nahm dabei im Gebet seine Zuflucht zu der Hl. Jungfrau Maria, seiner besonderen Patronin, als welche sie ihm einst von seiner frommen Mutter anempfohlen worden.

Aber die himmlische Patronin vergaß er doch ganz und gar in Gegenwart der schönen Gertrude vom Stein, dem ersten Edelfräulein der Kaiserin, und sein Amt brachte es mit sich, daß ihm diese Gegenwart in den Gemächern der Kaiserin öfter beschieden wurde als die seiner Gemahlin. »Ach,« seufzte er dann oft heimlich, »welch ein glücklicher Mann könnte ich werden ohne diese unglückliche Gebundenheit an die Unfruchtbare.« Er dachte sich dabei weiter nichts Böses.

Aber so etwas wie eine Warnung von seinem guten Engel verspürte er doch in seinem Gewissen, und als er dann um diese Zeit von der Kaiserin einen Auftrag bekam an ihren Bruder, den Erzbischof von Köln, freute er sich ehrlich darüber, denn er nahm es wirklich ernst mit seiner Christenpflicht. Auch dagegen sträubte er sich nicht, weder äußerlich noch innerlich, daß die Kaiserin wünschte – sie mochte so ihre heimlichen Gedanken dabei hegen –, er möge den Ritt nach dem Heiligen Köln nicht allein antreten, vielmehr sollte seine Gemahlin ihn dahin begleiten.

Und so geschah es. Ob diese Reise sehr lustig oder gar nicht lustig vor sich ging, mag dahingestellt bleiben, jedenfalls kamen beide mit ihrem Gefolge wohlbehalten an in der erzbischöflichen Stadt, wo aber gerade eine unheimliche Pestilenz umschlich, die man das Rote Fieber nannte. Davon wurde die Gemahlin des Grafen schon am dritten Tag überfallen, und wiederum nach drei Tagen klopfte auch schon der Tod an ihre Kammertür, das ist aber ein unhöflicher Gast, der, wenn er anklopft, nicht zu warten pflegt, bis jemand Herein ruft.

Im Münster zu Sankt Marien im Kapitol ließ Herr Leuthold die Verblichene mit großem Pomp beisetzen. An die schöne Gertrude vom Stein dachte er dabei nicht, das brauchte er sich nicht vorzuwerfen, es war ja auch noch Zeit genug dazu auf dem langen Weg der Heimfahrt.

Diese freilich ließ er dann nicht unbenutzt, und tausendmal rief's da empor aus seiner Seele: Du bist frei, du bist frei. Er wußte, das Fräulein Gertrude war ein sehr armes Fräulein. Das betrübte ihn aber keineswegs. Um so besser, sagte er sich, so werde ich wenigstens von ihrem alten Vater keinen Widerstand zu erfahren haben.

Mit diesen Gedanken hatte er seinen Heimritt angetreten, mit diesen Gedanken ritt er eines Tages zur Zeit des abendlichen Aveläutens durch die Tore der kaiserlichen Burg, wo er denn nicht säumte, seiner hohen Herrin der Kaiserin aufzuwarten.

Aber die schöne Gertrude vom Stein sah er nicht, wie sonst immer, um die Person der Kaiserin, und das war ihm eine recht schmerzliche Enttäuschung und wie eine üble Vorbedeutung. Diese erfüllte sich nur allzusehr. Wie ein Donnerschlag trafen ihn die Neuigkeiten, die er nun erfuhr, nachdem er selber über seine Reise Bericht erstattet und auch die Kundgebungen ihres Beileids über seinen so plötzlichen schweren Verlust aus dem Munde der Kaiserin mit, man wird wohl sagen dürfen, mit etwas geheuchelter Betrübnis entgegengenommen.

Da war, so erzählte die Kaiserin, gleich nach dem Wegritt des Grafen Leuthold der Ritter vom Stein auf der Kaiserburg erschienen, um seine Tochter nach Hause zu holen und ihrem Gatten, den er für sie bestimmt, entgegenzuführen.

»Und was meint Ihr,« fragte die Kaiserin fast zornig, »wer der ist, dem meine liebe Gertrude heute als Ehefrau zugehört? Ihr kennt ihn. Es ist kein anderer als Kunzo von Argeneck auf Burg Argeneck, kaum vier Meilen von uns. Aber ach, an ihm ist nur allzuviel Arges. An die sechzig hat er sicher auf dem Buckel. Ehemals war er ein gefürchteter Haudegen und wüster Raufbold, dem es nichts verschlug, wenn er wochenlang nicht aus dem Sattel kam. Aber davon ist ihm auch das Zipperlein angefahren, daß er nun hinkt wie ein lahmer Hund.«

»Um Gottes und aller Heiligen willen,« rief Herr Leuthold; »aber wie konnte das geschehen?«

»Das konnte geschehen,« antwortete die Kaiserin düster, »weil der vom Stein sich als ganz entblößter armer Schwartenhals hinschleppt, und dem Ritter Kunzo hat seine Verstorbene ein halbes Dutzend der schönsten Meierhöfe hinterlassen; außerdem soll er sich, unter dem letzten Kaiser, bei den Sarazenen und Seldschucken einen großmächtigen Haufen roten Goldes erbeutet haben, denn er war ja in seinen jungen Jahren ein mörderischer Draufgänger, und mit einem Teil des geraubten Goldes wird er dem Schnapphahn und Elendsritter vom Stein meine liebe und schöne Gertrude abgekauft haben.«

So verhielt es sich in der Tat. Eine solche Sache ist aber ein Verbrechen gegen die Natur, und da Gott selber ja die Natur geschaffen und ihre Gesetze eingerichtet hat, so ist jede Sünde gegen die Natur, abgesehen von den Einrichtungen unserer heiligen Kirche, eine noch größere Sünde gegen die göttliche Majestät selber.

Solches mochte auch der Graf Leuthold denken, und wenn nicht, an eines dachte er Tag und Nacht, an das lichte Goldhaar der schönen Gertrude, und eines stand bei ihm fest: noch einmal wenigstens mußte er sie wiedersehen. Er überlegte nicht, was dabei alles auf dem Spiele stand.

Da er übrigens den Ritter von Argeneck von früher her kannte, erschien nichts natürlicher als ein Besuch auf seiner Burg, in deren Nähe er ohnedies öfter der Jagd oblag und wo er denn auch von dem greisen Burgherrn in aller Unbefangenheit und Gastfreundschaft aufgenommen wurde.

Etwas anders empfing ihn die junge Schloßfrau; dem Grafen Leuthold wollte es fast scheinen, da der Ritter Kunzo ihn zu seiner Gemahlin hineinführte, als ob ein leises Erblassen über ihre frischen Wangen liefe; in ihren schönen Augen lag es wie ein unwillkürliches plötzliches Erschrecken, und die Spindel mit dem goldenen Wirtel fiel ihr jählings zu Boden. Doch faßte sie sich schnell und vergab in nichts der gastlichen Ehre des Hauses.

Bei diesem ersten Besuch blieb es nicht, Herr Leuthold wiederholte ihn von Zeit zu Zeit in gemessenen Abständen, aber in keinen allzu großen. Er tat es nicht ohne heimliche Gewissensbisse, aber er tat es wie einer, der unter einem übermächtigen Zwange steht. Und ob er dann wohl beim Empfang von seiten der Schloßherrin eine Änderung mit Bewußtsein wahrnahm?

Wenigstens dem Ritter Kunzo entging sie nicht. Er hatte auch schon beim erstenmal das Erblassen und jähe Erschrecken seiner Frau mit dem scharfen Blick eines Mißtrauischen wohl aufgefangen, später aber glaubte er zu bemerken, daß sie beim Eintritt des Besuchers eher errötete und ihr Auge wie in Beglückung strahlte.

Und er verfehlte nicht, daraus seine Schlüsse zu ziehen, dahingehend, daß zwischen den beiden ein geheimes Einverständnis bestehen müsse, ja, daß ohne allen Zweifel ein solches schon vor seiner Ehe bestanden hatte. Diese Feststellung aber, ob sie nun auf Wahrheit oder Irrtum beruhte, wirkte wie ein Tropfen tödlichen Giftes in dem trüben Wein seines greisenhaften Glückes. Ein einziger solcher Tropfen genügte bei ihm. Der brachte sein laues Blut noch einmal, wie in seinen jugendlichen Zeiten, in schäumenden Aufruhr; die tolle Mordgier seiner Vergangenheit wurde von neuem mächtig in ihm, er faßte einen grauenhaften Entschluß.

Herr Leuthold blieb ahnungslos. Aber mit ungeheurem Erstaunen erfüllte ihn eines Tages ein Brieflein aus der Burg Argeneck. Wenigstens im ersten Augenblick empfand er keineswegs den seligen Glücksjubel der Liebe. Vielmehr stand er verblüfft, und wenigstens seine Seele erbleichte, wenn man so sagen kann. Die Sache kam ihm zu unerwartet. Er hatte wohl seit einiger Zeit schon nicht mehr gezweifelt an der stillen Neigung derer, die er heimlich im Herzen anbetete. Aber gerade weil sie ihm heilig war wie eine Göttin, verwirrte das enggekritzelte Brieflein ihm jetzt den Sinn mehr als es ihn beseligte.

Aber die Herrin rief ihn, er durfte nicht zaudern. Er glaubte, es sei das ritterliche Ehrgefühl, das so in ihm sprach; es war aber die allmächtige Liebe mit ihrer unwiderstehlichen Beredsamkeit. Das überlegte sich der Graf indessen kaum, und noch weniger dachte er jetzt mit dem kleinsten Gedanken an die Hl. Jungfrau, seine himmlische Patronin, die bereits auf ein schönes Wunder sann, auf ein solches, das keiner so leicht erraten würde.

Zu später Nachtstunde verließ Herr Leuthold zu Pferd die kaiserliche Pfalz. Eine stürmische Septembernacht war's. Wie schwarze Pferdemähnen stoben die Wolken über dem Reiter hin und verdunkelten in dicken Zügen die Helle des vollen Mondes.

Und so sah es auch aus in seiner Seele; mit dem freudigen Licht unsagbarer Hoffnungen kämpfte eine unerklärliche dumpfe Traurigkeit und Bangigkeit. Traurig auch und wie wimmernd, gleichsam mit sturmzerfetzten Klängen, tönte von fern ein Glöcklein, und der Graf in seiner eigentümlichen Seelennot gedachte jetzt doch seiner himmlischen Patronin und fast mechanisch und doch inbrünstig betete er Ave Maria gratia plena ...

In diesem Augenblick zerriß der Sturm die Wolken und es ward ganz hell über ihm. Aber wie erschrak er, als er aufschaute. Er mußte den Weg verfehlt haben. Denn seltsame Glocken hingen da über ihm und baumelten im Sturm heftig bewegt, aber läuteten nicht. Mit ängstlichem Schnuppern wie vor etwas Unheimlichem scheute sein Pferd zurück.

Der Graf hielt unter dem Hochgericht. Die Glocken waren die grauenhaften Leiber der Gehenkten, die einen abgenagt zu Skeletten, daß ihre Knochen klapperten im Wind, die andern halb zerfressen vom Raubgeziefer mit heraushängenden Gedärmen, nur einer unter ihnen noch frisch und unversehrt. Auch die Galgenvögel fehlten nicht; als schwarze Raben hockten sie auf den Balken, nickend mit dem Kopf in müder Sattigkeit, nur hie und da einer mit den seitlichen Augen schläfrig blinzelnd.

Eine solche Begegnung hätte auch dem Sichersten als verhängnisvolle üble Vorbedeutung erscheinen mögen. In hellem Entsetzen riß der Graf sein Pferd herum. Da hörte er sich angerufen. »Haltet an,« rief es von einem Galgen herunter, »haltet an, Herr, erbarmt Euch eines Elenden, um der Heiligen Jungfrau willen erbarmt Euch.«

Wenn etwas den Herrn Leuthold bewegen konnte, so war es die Berufung auf seine himmlische Patronin. Er kehrte sich im Sattel um. »Erbarmt Euch,« rief von neuem der Gehenkte, »ich bin unschuldig, ich bin aus Versehen gehenkt worden, um der Heiligen Jungfrau willen erbarmt Euch.«

Nur mit Mühe bezwang der Graf sein Pferd und brachte es unter den Galgen. Dann zog er sein Schwert und durchschnitt damit den Strick des Gehenkten.

Was aber danach geschah, das verblüffte den Herrn Leuthold mehr als alles andere. Der abgeschnittene Kadaver, wie ein geschickter Akrobat, machte in der Luft einen Schneller, und wupps! saß er hinter dem Grafen auf dem Pferd. Das ging, wie unsere Vorfahren zu sagen pflegten, dem Grafen über das Bohnenlied. »Daß dich der leibhaftige Satan hol'!« rief er in Grausen und Empörung zugleich.

Der andere aber schien sich wenig um seinen Zorn und um sein Grauen zu kümmern. »Bst,« machte er, »fluchet nicht, Herr Graf Leuthold, damit betrübt Ihr die Hl. Jungfrau, die hohe Königin des Himmels, Eure Patronin.«

Diese Ermahnung traf den Herrn Leuthold in der Seele. Er wagte nicht mehr zu schelten. »Woher weißt du denn meinen Namen, du Rabenaas?« fragte er fast kleinlaut.

»Das sollt Ihr später erfahren,« antwortete der Gehenkte, »und jetzt reitet los, ich habe Euch allzulang schon aufgehalten, Ihr könntet Euer Stelldichein verfehlen.«

Der Graf fand keine Worte mehr. Was sollte er von alledem denken? Ihm wirbelte der Kopf. Aber wie einer, der unter einem höheren Befehle steht, ohne es selbst zu wissen, und über dem eine unsichtbare Macht waltet, fügte er sich stumm, gab seinem Pferd die Sporen, und dahin ging's in der schwarzen Sturmnacht über Schluchten und Hecken und Wasserbäche; in sausendem Galopp weiter ging es, zuerst durch offenes Feld, dann durch dichten Wald. Nie in seinem Leben hatte der Graf einen so wilden Ritt getan. Sollte er den Gottseibeiuns hinter seinem Rücken haben? Ihn schauderte bei dem Gedanken, und dieser kam auch nur von seinem bösen Gewissen, wie es sich bald zeigen sollte.

Eh' er es dachte, sah sich der Graf am Ziel, er hielt vor der aufgezogenen Hängebrücke der Burg Argeneck, und hoch ragten zu beiden Seiten die Mauern und Türme. Sein schauerlicher Begleiter war bereits abgesprungen und hielt ihm dienstwillig den Steigbügel.

Nun galt es für den Grafen, die Strickleiter zu entdecken, von der in jenem gekritzelten Brieflein geschrieben stand. Von der Brücke rechts ab, zehn Schritte sollte er messen. Dort fand er wirklich, indem er mit den Händen die Mauer abtastete, die hänfene Leiter und machte sich unverzüglich daran, an ihr hinaufzusteigen. Er fühlte sich aber am Ärmel gepackt, und da wollte er wieder zornig werden. »Bst!« machte der Gehenkte neben ihm, »nicht laut, nicht laut; aber im Namen der Hl. Jungfrau, laßt mich erst eine Probe machen, man kann nicht wissen.« Im Namen der Hl. Jungfrau sprach er, das genügte, der Ritter fügte sich.

Und flink wie eine Eidechse kletterte der Leichnam des Gehenkten an den Stricken in die Höhe, aber an der Zinne der Mauer angelangt, stieß er einen Mark und Bein durchdringenden Schrei aus und purzelte kopfüber aus seiner luftigen Höhe hernieder. Der Graf wich höchlichst erschrocken zur Seite.

Der Ermordete hatte aber kaum den Boden berührt, so sprang er schon wieder trotz seiner weitklaffenden Kopfwunde, wie ein Steh-Umfall-Männchen, flink auf seine Beine.

»Zum Teufel, was bedeutet das?« flüsterte der Graf.

»Nein,« wurde ihm geantwortet, »der Teufel war's nicht, aber wahrscheinlich der Ritter Kunzo, der Euch einen Empfang nach seiner Phantasie, seiner schnauzbärtigen, zugedacht hatte.

Und also ward dem Grafen durch einen Gehenkten das Leben gerettet.

*

Wie das alles aber zusammenhing, das erfuhr er nun auf dem nachdenklichen Heimritt, denn wirklich an Stoff zum Nachdenken fehlte es ihm da nicht. Jedoch sein Gefährte, er hatte sich wieder hinter ihm aufs Pferd geschwungen, ließ ihm nicht lange Zeit dazu. Der hatte ja eine Geschichte zu erzählen. Wer aber eine Geschichte zu erzählen hat, – nun ja, darüber weiß am besten unsereiner Bescheid. Außerdem betraf seine Geschichte den Herrn Leuthold persönlich, kein Wunder, wenn dieser dem Gesellen, der nun gar sein Lebensretter geworden, ein williges Ohr lieh.

Und folgendes ist die Geschichte des Gehenkten.

»Wie ich an den Galgen kam und wie sich das alles zutrug,« so ungefähr begann er, »wäre zu lang zu berichten. Kurz, ich wurde, wie es ja manchmal vorkommen soll, aus Versehen gehenkt. Nachdem mich der Henker von der Leiter gestoßen, zappelte und strampelte ich noch ein kleines Weilchen, dann – ja dann – dann stand ich nun plötzlich vor dem Himmelstor und inwendig rasselte der Hl. Petrus mit den Schlüsseln und das Tor tat sich auf. Ich sagte ›Grüß Gott, heiliger Petrus‹. Er machte aber gar kein freundliches Gesicht dazu und knurrte nur so etwas in seinen schneeweißen Krausbart. Da sagte ich: ›Ich bin der Hansjörg, den sie aus Versehen gehenkt haben.‹

›Ich weiß, ich weiß,‹ antwortete der brummige Sanktpeter, ›du bist unschuldigerweise gehenkt worden; aber du hast dafür einige andere Sünden auf dem Kerbholz, und siehe, gleich da links geht der Weg zum Tor des Fegfeuers, das ist vorerst deine Bestimmung, und nun mach', daß du weiterkommst.‹ Ich stand ordentlich verdattert.

Aber da hörte ich eine wundersam liebliche Stimme rufen. ›Einen Augenblick, heiliger Petrus!‹ Und da stand sie auch schon vor mir, die Heilige Jungfrau, die hohe leuchtende Königin des Himmels, und lächelte mich gar holdselig an. Zu dem heiligen Petrus aber sagte sie – ›Freund,‹ sagte sie, ›du wirst immer härter mit dem Alter. Der gute Hansjörg ist unschuldig stranguliert worden, er hat da genug ausgestanden, das wiegt schon ein Häufchen Sünden auf. Ach, die weltlichen Richter, die kennen auch gar keine Barmherzigkeit, willst auch du diese Grausamen nachahmen, o heiliger Petrus?‹

Also die hohe Himmelskönigin. Mir kamen die Tränen, ich stürzte ihr zu Füßen und wollte ihr den Saum ihres Mantels küssen, leuchtend weiß wie Schnee und mit goldenen Sternen besät; er war aber als aus reinem Licht gewoben, nur zu sehen, nicht zu fühlen.

Die hohe himmlische Frau nahm mich liebreich bei der Hand und hob mich auf. Sie sprach: ›Lieber Hansjörg, du kommst mir wie gerufen. Du kannst mir einen großen Dienst erweisen. Mein treuer Verehrer, der Graf Leuthold, wandelt trotz seines guten Herzens auf ungeraden Wegen. Ihm droht heute nacht auf Schloß Argeneck Gefahr des Lebens, aber ich will nicht, daß er umkomme und sterbe auf der Straße, die zur Hölle führt.‹

Ja, so sagte die Hl. Jungfrau, und meiner Treu, Herr Graf, auf dem Pfad der Tugend und Frömmigkeit seid Ihr heute nicht geritten; denn als ich noch nicht sechs Jahre zählte, hat es mir der Mönch Anselm schon ernstlich eingeprägt: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib. Ihr könnt darum der Hl. Jungfrau nicht dankbar genug sein, daß sie sich rechtzeitig für Euch ins Mittel gelegt hat.

Sie befahl mir nämlich, schnurstracks in meinen Leichnam zurückzukehren. ›Und wenn der Graf Leuthold dann‹, so sagte sie weiter zu mir, ›am Hochgericht vorüberkommt, so rufe ihn an in meinem Namen, rufe ihn an, sich deiner zu erbarmen und dich abzulösen von dem Marterholz. Denn du sollst ihm heute das Leben retten. –‹ Und auch alles, was sich nachher zugetragen, hat mir die Hl. Jungfrau zum voraus angezeigt.«

Also erzählte der Gehenkte im Rücken des Herrn Leuthold, dieser aber verharrte in stummer Ergriffenheit.

»Herr Graf, Herr Graf,« rief plötzlich der Erzähler, »wir sind am Ziel, nicht an dem Euren, aber an dem meinigen. Auch das Tagesgrauen bricht schon an, und seht Ihr, die schwarzen Glockenschwengel baumeln im Morgenwind? Ach Gott, die armen Kerle. Aber wie auch alle Kreatur schauert zu dieser Stunde, frieren werden die nicht mehr, trotz all ihrer Nacktheit. Und hier, seht, das ist der Galgen, der auf mich wartet. Da muß ich wieder hinauf, die Hl. Jungfrau könnte es sonst mit dem hochnotpeinlichen Gericht zu tun bekommen. Diese Herren sind sehr eifersüchtig auf ihre schönen Rechte und Vorrechte. Und so habe ich, Euer Lebensretter – und Ihr werdet nicht den Undankbaren spielen wollen –, habe ich eine letzte Bitte an Euch. Im Namen der Hl. Jungfrau bitte ich Euch, knüpft mich nun wieder da auf, wo Ihr mich heruntergeschnitten habt.«

Dem Herrn Leuthold gruselte. Aber was tun? Wer den frommen Grafen im Namen der Hl. Jungfrau um etwas bat, der durfte keine Fehlbitte getan haben.

Als aber das grauenhafte Geschäft dann vollbracht war, da kam ihm erst dessen Bedeutung zum Bewußtsein.

»Da hast du ja nun den Henker gespielt,« sprach er zu sich selber, »und nach den Gesetzen dieser Welt bist du nun unrein, bist du unehrlich geworden, du bist ein Ausgestoßener, du bist ein verlorener Mann, du kannst dem Kaiser kein ehrlicher Ritter mehr sein.«

So ritt er seines Weges in tiefer Bekümmernis. Plötzlich aber ward ihm eine wunderbare Erscheinung. Zu seiner Rechten, über dem hohen schwarzen Wald stieg am bleichen Himmel der schöne Morgenstern empor, der damals auch Mariae Stella, der Stern der Hl. Jungfrau genannt wurde. Bei diesem Anblick wurde es auch in der Seele des Grafen plötzlich wieder Licht. Und nicht mehr fast mechanisch, aus tiefstem Herzen betete er: Ave Maria gratia plena ...

»Nun weiß ich Rat und Tat«, sprach er heiter vor sich hin. »Nun verstehe ich meiner hohen Patronin Absehen. Ihr Ritter, so will sie es, soll ich fortan sein. Denn sie, die Göttliche steht hoch über dem albernen Urteilen und Richten der Menschen, und gegen ihren Ritterschlag ist der des Kaisers so, wie wenn Kinder mit hölzernen Schwertern spielen.«

Diesergestalt sprach der Graf zu sich selber, und danach handelte er. Er nahm Urlaub von der Kaiserin und auch vom Kaiser und verfügte sich in seine Grafschaft. In deren Nähe lag das Kloster Mariä Gnadental, in dem arme Söhne des heiligen Benedikt dem Herrn und seiner glorreichen Mutter dienten mit Beten und harter Arbeit. Diesem zuvor noch armen Kloster vermachte er alle seine Güter und – – –

*

Hier gehen die beiden Niederschriften der Legende auseinander. Die jüngere Schrift, deren Schreiber sich einen ritterbürtigen Jungherrn von Süßholz nennt, schweift von der älteren hier weitläufig ab. Nach diesem späteren Schreiber wurde der Herr Leuthold, nach der Abtretung seiner Güter an das Kloster Gnadental, ein frommer Einsiedler, und zwei Meilen von der Burg Argeneck entfernt erbaute er sich seine Einsiedelei, die der Jungherr von Süßholz so bis auf die kleinste Kleinigkeit ausmalt, als ob er sie mit eigenen leibhaftigen Augen gesehen hätte mit allen Requisiten, die bei einer solchen Siedlerklause nun einmal herkömmlich sind, woraus denn mancher gar den Verdacht schöpfen mag, der Jungherr von Süßholz werde wohl so nebenbei ein wenig in das bedenkliche Handwerk der Dichterei hineingepfuscht haben. Auch läßt er den Herrn Leuthold in einem falschen Bart, weil er nicht erkannt sein wollte in seinem Kapuzenkleid, jeden Morgen auf eine Höhe hinaufsteigen, wo er in der Ferne die Zinnen und Türme der Burg Argeneck aufragen sah. Da saß er tagtäglich vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang, und sein zahmes Rehlein lag neben ihm, und in seinen frommen Augen konnte man deutlich lesen das tiefe Mitleid des zarten Geschöpfes mit dem heimlichen Kummer seines Herrn.

Auch blieb diesem lieben Tierlein eine wichtige Rolle vorbehalten. Diese Kreatur Gottes begegnet einst im Wald, nicht weit von der Burg Argeneck einer schlanken Frau von außerordentlicher Schönheit mit goldenem Haargeflecht. Vor ihr ergriff das Reh zwar nicht die Flucht, doch kehrte es um und trat langsam seinen Rückzug an, und die schöne Frau, wie von einer magischen Gewalt gezogen, folgte ihm, folgte ihm bis zur Klause des heiligen Einsiedlers, der sogleich seine Geliebte erkannte, die schöne Gertrude vom Stein, und – kurz der Graf gab sich zu erkennen, und da der Ritter Kunzo bereits an die drei Monate sich in der Gruft seiner Ahnen von seinem wenig frommen Leben ausruhte, stand einer fröhlichen Hochzeit nichts im Wege, womit dann die Legende schließt.

Und das ist ja freilich ein schöner Schluß, und der ritterbürtige Jungherr von Süßholz – sein Geschlecht besteht und blüht noch heute – hat damit gewiß ein allerliebstes Mühmchen oder Bräutchen nicht wenig beglückt, was er wohl vor allem angestrebt hat.

Aber kann es zu rechtfertigen sein, daß man eines allerliebsten Bräutchens oder Mühmchens oder sonstiger Allerliebstheiten wegen von der Wahrheit abweicht?

Der ritterbürtige Jungherr von Süßholz hat eines nicht bedacht: daß, wer nicht ein ehrlicher Ritter sein kann vor dem Kaiser, es noch weniger sein kann vor der Dame seines Herzens, und er sich also eine Herrin suchen muß, die hocherhaben ist über den Kleinlichkeiten unserer gebrechlichen Welteinrichtung.

Aus diesem Grund – und niemand wird seine Richtigkeit bestreiten wollen – können wir nur dem älteren Schreiber Glauben schenken, ob wir gleich über seinen Namen und Stand nichts wissen.

Nach ihm aber hat Herr Leuthold dem Abt von Mariä Gnadental nicht nur seine Güter, sondern auch seine Person vermacht und anvertraut und hat in dem demütigen Gewand der Mönche seiner hohen himmlischen Herrin Ritterdienst getan all sein Leben lang.

Die schöne Gertrude vom Stein hat er dennoch wiedergesehen, aber erst in späteren Jahren. Da war er selber Abt geworden und mußte nun von Amtes wegen neben andern auch das Frauenkloster Maria Trost, in einem stillen Seitentälchen versteckt gelegen, manchmal besuchen. Hier fand er Gertrude vom Stein wieder. Sie war denselben Weg gegangen wie ihr einstiger Geliebter. Sie sahen sich nun oft, aber wie Heilige sich sehen und sprechen zur Erbauung und Stärkung ihrer Seelen. Und im Rufe der Heiligkeit sind auch beide in hohen Jahren aus dieser Welt geschieden und einer noch höheren Vereinigung entgegengegangen; das ist der Legende wahres und wahrhaftiges Ende.


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