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Drittes Buch.

Obgleich die ganze Lebensperiode bis zum Eintritt in das Jünglingsalter eine Zeit der Schwäche ist, so gibt es doch während der Dauer dieses ersten Lebensalters einen Zeitpunkt, wo deshalb, weil die Zunahme der Kräfte die der Bedürfnisse überstiegen hat, das heranwachsende Wesen trotz der absoluten Schwäche doch verhältnißmäßig stark ist. Da seine Bedürfnisse noch nicht alle entwickelt sind, so reichen die wirklich vorhandenen Kräfte des Kindes vollkommen aus, um diejenigen zu befriedigen, die es fühlt. Als Mann würde es sehr schwach sein, als Kind ist es sehr stark.

Woraus entspringt die Schwäche des Mannes? Aus der Ungleichheit, welche zwischen seiner Kraft und seinen Wünschen vorhanden ist. Unsere Leidenschaften sind es, die uns schwach machen, weil ihre Befriedigung mehr Kräfte erfordern würde, als uns die Natur verliehen hat. In der Verminderung unserer Wünsche würde also eine Erhöhung unserer Kräfte liegen; wer mehr vermag, als er verlangt, hat deren übrig und ist folglich ein sehr starkes Wesen. Dies zeigt sich besonders in der dritten Periode der Kindheit, welche ich jetzt zu behandeln habe. Ich bediene mich noch immer des Ausdrucks Kindheit, weil es keine eigene Bezeichnung für dieselbe gibt, denn obwol sich dieses Alter schon dem Jünglingsalter nähert, ist es doch noch nicht das der Mannbarkeit.

Im zwölften oder dreizehnten Jahre entwickeln sich die Kräfte des Kindes ungleich schneller als seine Bedürfnisse. Das heftigste, das schrecklichste Bedürfniß hat sich ihm noch nicht fühlbar gemacht. Selbst das Organ desselben hat noch nicht seine völlige Ausbildung erreicht und scheint, um aus seinem unvollkommenen Zustande hervorzutreten, nur darauf zu warten, daß der Wille es dazu zwingt. Wenig empfindlich gegen die Ungunst des Wetters und der Jahreszeiten, trotzt ihnen das Kind mit Leichtigkeit; seine zunehmende innere Wärme dient ihm als Kleid, sein Appetit als Würze. Jeder Nahrungsstoff ist seinem Alter dienlich. Ist es schläfrig, so legt es sich auf die Erde und schläft. Allenthalben sieht es sich von dem, was ihm nöthig ist, umgeben. Noch quält es kein eingebildetes Bedürfniß; noch richtet es sich nicht nach fremder Meinung. Seine Wünsche reichen nicht weiter als seine Arme. Es ist nicht nur im Stande sich selbst zu genügen, sondern besitzt sogar noch mehr Kräfte, als es bedarf. Dies ist aber auch die einzige Zeit seines Lebens, wo es der Fall sein wird.

Ich kann mir schon denken, welchen Einwurf man machen wird. Man wird zwar nicht behaupten, daß das Kind mehr Bedürfnisse habe, als ich ihm beilege, aber man wird läugnen, daß es die Kraft besitze, die ich ihm beimesse. Man wird unbeachtet lassen, daß ich eben von meinem Zöglinge rede und nicht von jenen umherwandelnden Puppen, die keinen größeren Marsch als von einem Zimmer in das andere kennen, die in Blumentöpfen Ackerbau treiben und papierne Lasten mit sich umherschleppen. Man wird mir einwenden, daß sich männliche Kraft auch nur im Mannesalter zeigen könne, daß nur die Lebensgeister, welche in den geeigneten Gefäßen bereitet sind und sich durch den ganzen Körper verbreiten, den Muskeln jene Festigkeit und Thätigkeit, jene Kraft und Elasticität mitzutheilen vermögen, welche die Quelle einer wahren Kraft sind. Das ist indeß nur die Sprache der Stubenphilosophie; ich meinerseits berufe mich auf die Erfahrung. Ich sehe auf euren Landgütern große Jungen das Land bestellen, hacken, pflügen, Weinfässer aufladen, den Wagen lenken, ganz wie ihre Väter. Verriethe sie der Ton ihrer Stimme nicht, so könnte man sie für Männer halten. Sogar in unseren Städten sind junge Arbeiter, wie Grob-, Zeug- und Hufschmiede fast eben so stark als ihre Meister, und würden kaum weniger geschickt sein, wenn man sie bei Zeiten geübt hätte. Wenn es einen Unterschied gibt, und ich räume ein, daß es einen solchen gibt, so ist derselbe, ich wiederhole es, doch weit geringer, als der zwischen den wilden Begierden eines Mannes und den beschränkten Wünschen eines Kindes. Uebrigens ist hier nicht etwa blos von den physischen Kräften die Rede, sondern ganz besonders von der Kraft und Fähigkeit des Geistes, die erstere ersetzt und leitet.

Dieser Zeitraum, in welchem das Individuum mehr Kraft entwickelt, als seine Begierden erfordern, ist, wie ich schon gesagt habe, zwar nicht die Zeit seiner größten absoluten Kraft, aber doch die seiner größten relativen Kraft. Er bildet die kostbarste Zeit des Lebens, eine Zeit, die nur einmal erscheint; eine sehr kurze Zeit, und, wie man aus dem Folgenden sehen wird, um so kürzer, je mehr auf eine gute Anwendung derselben ankommt.

Was soll mein Emil nun mit diesem Überschusse an Fähigkeiten und Kräften anfangen, der jetzt seine Bedürfnisse übersteigt und ihm im späteren Alter fehlen wird? Er soll sich angelegen sein lassen, ihn zur Erwerbung alles dessen anzuwenden, was ihm dereinst im Augenblicke des Bedürfnisses nützlich sein kann. Er soll gleichsam den Ueberfluß seines gegenwärtigen Zustandes für die Zukunft aufheben. Das kräftige Kind soll Vorräthe für den schwachen Mann anlegen. Aber es soll dieselben nicht etwa Kasten anvertrauen, welche man ihm stehlen kann, noch sie in Scheuern aufspeichern, die ihm nicht gehören. Nein, um sich seinen Erwerb im wahren Sinne zu seinem Eigen zu machen, muß es ihn in seinen Armen, in seinem Kopfe, kurz in sich selbst ansammeln. Das ist demnach die Zeit der Arbeit, des Unterrichts, des Strebens; und lasset dabei nicht außer Acht, daß die Wahl derselben nicht von mir willkürlich getroffen ist, sondern daß die Natur selber sie uns als solche bezeichnet.

Die menschliche Fassungskraft hat ihre Grenzen; ein Mensch kann nicht allein nicht Alles wissen, er kann sich nicht einmal das Wenige, was die übrigen Menschen wissen, vollständig aneignen. Da der Gegensatz jeder falschen Behauptung eine Wahrheit ist, so ist die Zahl der Wahrheiten eben so unerschöpflich wie die der Irrthümer. Es kommt folglich darauf an, eben sowol in Bezug auf die Gegenstände, welche den Unterrichtsstoff bilden sollen, wie in Bezug auf die Zeit, welche zum Lernen derselben am geeignetsten ist, eine Wahl zu treffen. Unter den unserer Fassungskraft angemessenen Kenntnissen sind einige falsch, andere unnütz, und wieder andere dienen nur dazu, den Stolz dessen, der sie sich erworben hat, zu nähren. Die kleine Zahl derjenigen, welche in Wahrheit zu unserem Wohlsein beiträgt, verdient allein, daß ein weiser Mann nach ihnen strebt, und folglich muß auch nur zu ihrer Erwerbung ein Kind, welches man zu einem solchen machen will, angehalten werden. Es gilt nicht, Alles, was ist, zu kennen, sondern nur das, was nützlich ist.

Von dieser kleinen Anzahl muß man ferner noch diejenigen Wahrheiten in Abzug bringen, deren Verständnis schon einen völlig ausgebildeten Verstand erheischt, sowie diejenigen, welche die Kenntniß der Beziehungen der Menschen unter einander voraussetzen, die ein Kind noch nicht erlangen kann, und endlich diejenigen, welche, so wahr sie auch an und für sich sind, ein unerfahrenes Gemüth veranlassen können, sich über andere Gegenstände ein falsches Urtheil zu bilden.

Im Verhältniß zu den Dingen, die überhaupt existiren, sind wir dadurch auf einen sehr kleinen Kreis beschränkt; aber trotzdem bildet dieser Kreis noch immer ein unermeßliches Feld für die Fähigkeit des kindlichen Geistes. O du Finsterniß des menschlichen Verstandes, welche verwegene Hand wagte deinen Schleier zu berühren? Welche Abgründe sehe ich sich durch unser eiteles Wissen rings um diesen unglücklichen Knaben öffnen! O du, der du ihn auf diesen gefährlichen Pfaden leiten und den heiligen Vorhang der Natur vor seinen Augen hinwegziehen willst, erzittere! Versichere dich zuerst ernstlich seines Kopfes und des deinigen; bleibe in steter Besorgniß, daß er dem Einen oder dem Andern, oder vielleicht auch allen Beiden schwindeln werde. Fürchte den gleißnerischen Reiz der Lüge und die berauschenden Dünste des Stolzes. Sei immer, aber auch immer eingedenk, daß Unwissenheit noch niemals Schaden angerichtet hat, daß einzig und allein der Irrthum verderblich ist, und daß man nicht durch das in Irrthümer verfällt, was man nicht weiß, sondern durch das, was man zu wissen glaubt.

Die Fortschritte eures Zöglings in der Geometrie könnten euch als zuverlässiger Prüfstein und Maßstab für die Entwickelung seines Geistes dienen. Sobald er jedoch das Nützliche vom Unnützen zu unterscheiden vermag, so kommt es nun darauf an, ihn unter Aufgebot aller möglichen Behutsamkeit und Kunst in die speculativen Studien einzuführen. Verlangt ihr z.B. von ihm, daß er eine mittlere Proportionale zwischen zwei Linien suche, so stellet es so an, daß ihr ihn zuerst auf den Gedanken bringt, ein Quadrat zu construiren, welches einem gegebenen Rechtecke gleich ist. Wäre ihm die Aufgabe gestellt, zwei mittlere Proportionalen zu finden, so müßte man ihm zuerst die Aufgabe von der Verdoppelung des Kubus recht interessant machen, u.s.w. Beachtet, wie wir uns stufenweise den moralischen Begriffen nähern, welche uns Gutes und Böses unterscheiden lehren. Bis zu diesem Augenblicke haben wir nur das Gesetz der Notwendigkeit gekannt; jetzt wenden wir auch schon dem Nützlichen unsere Aufmerksamkeit zu und bald werden wir auch das Schickliche und Gute in den Kreis unserer Betrachtung ziehen.

Ein und derselbe Naturtrieb belebt die verschiedenen Fähigkeiten des Menschen. Der Thätigkeit des Körpers, welcher sich zu entwickeln bemüht ist, reiht sich jetzt die Thätigkeit des Geistes an, der sich zu unterrichten sucht. Anfangs sind die Kinder nur in fortwährender Bewegung, sodann werden sie neugierig, und diese Neugierde ist, sobald sie gut geleitet wird, die Triebfeder in dem Alter, bei welchem wir jetzt angelangt sind. Laßt uns nur stets die der Natur entspringenden Neigungen von denen, die in Vorurtheilen ihre Quelle haben, unterscheiden. Es gibt eine Wißbegierde, die sich nur auf den Wunsch gründet, für gelehrt zu gelten; es gibt indeß auch eine andere, die aus einer dem Menschen angebornen Neugierde entsteht und sich über Alles, was ihn nah oder fern interessiren kann, erstreckt. Die angeborne Sehnsucht nach Wohlsein und die Unmöglichkeit dieselbe völlig zu befriedigen, treiben den Menschen an, unaufhörlich neue Mittel zur Stillung derselben aufzusuchen. Dies ist das erste Princip der Wißbegierde, ein dem menschlichen Herzen natürliches Princip, dessen Entwickelung indeß mit der Entfaltung unserer Leidenschaften und unserer Einsichten stets gleichen Schritt hält. Stellt euch einen Philosophen vor, der mit seinen Instrumenten und Büchern auf eine wüste Insel verbannt ist und mit Sicherheit weiß, daß er daselbst den Rest seiner Tage einsam zubringen muß. Er wird sich schwerlich noch um das Weltsystem, um die Gesetze der Anziehungskraft oder um die Differenzialrechnung kümmern. Vielleicht wird er in seinem ganzen Leben kein einziges Buch wieder aufschlagen; aber nie wird er es unterlassen, seine Insel auch bis auf den letzten Winkel zu durchsuchen, wie groß sie auch immer sein möge. Laßt uns deshalb von unserm ersten Unterrichte solche Kenntnisse fern halten, an denen der Mensch von Natur kein Interesse findet, und uns auf diejenigen beschränken, deren Aneignung uns der Naturtrieb wünschenswerth macht.

Für das menschliche Geschlecht kann die Erde als eine solche Insel gelten. Der uns am meisten in die Augen fallende Gegenstand ist die Sonne. Sobald wir aufhören, uns ausschließlich mit uns selbst zu beschäftigen, werden sich unsere ersten Beobachtungen auf Beide richten müssen. In der That hat es auch die Philosophie fast aller wilden Völker lediglich mit imaginären Einteilungen der Erde und mit der Gottheit der Sonne zu thun.

Welch ein Sprung! wird man vielleicht sagen. So eben waren wir nur mit dem beschäftigt, was uns berührt, mit dem, was uns unmittelbar umgibt; und auf einmal durchfliegen wir den ganzen Erdkreis und durchmessen das Weltall bis zu seinen äußersten Enden! Dieser Sprung ist die Wirkung der Zunahme unserer Kräfte und der Neigung unseres Geistes. Im Zustande der Schwäche und Ohnmacht concentrirt uns die Sorge der Selbsterhaltung auf uns selbst; im Zustande der Macht und der Stärke drängt uns das Verlangen, uns auszudehnen, aus uns heraus und läßt uns so weit wie möglich davoneilen. Da uns jedoch die intellectuelle Welt noch unbekannt ist, so schweift unser Denken nicht weiter als unsere Augen reichen, und unser Verstand dehnt sich nur mit dem Raume aus, den er durchmißt.

Laßt uns unsere sinnlichen Wahrnehmungen in Begriffe verwandeln, laßt uns aber nicht plötzlich von sinnlichen Objecten auf übersinnliche überspringen. Vermittelst der ersteren müssen wir zu den letzteren gelangen. Bei den ersten Functionen des Geistes müssen die Sinne seine Führer sein. Kein anderes Buch als die Welt; kein anderer Unterricht als Thatsachen. Ein Kind, welches liest, denkt nicht, seine ganze Thätigkeit beschränkt sich auf das Lesen; es unterrichtet sich nicht, sondern lernt nur Worte.

Lenket die Aufmerksamkeit eures Zöglings auf die Erscheinungen in der Natur, dann werdet ihr ihn bald wißbegierig machen; um jedoch seine Wißbegierde zu nähren, dürft ihr euch nicht beeilen, sie zu befriedigen. Legt ihm seiner Fassungskraft angemessene Fragen vor und laßt ihn selbst die Antwort finden. Sein Wissen darf er nicht eurem Unterrichte zu verdanken haben, sondern es muß das Ergebniß seiner eigenen Beobachtung und Ueberlegung sein; er darf die Wissenschaft nicht lernen, sondern muß sie von Neuem auffinden. Wenn ihr je in seinem Geiste die Autorität an die Stelle der Vernunft setzt, so wird er nie mehr selbst überlegen; er wird sodann lediglich der Spielball fremder Ansichten sein.

Ihr beabsichtigt das Kind in der Geographie zu unterrichten und holt ihm zu dem Zwecke einen Globus, Karten des gestirnten Himmels und Atlanten herbei. Was für künstliche Apparate! Wozu denn alle diese bildlichen Darstellungen? Weshalb laßt ihr es nicht euer Erstes sein, ihm den Gegenstand selbst zu zeigen, damit es wenigstens begreife, wovon ihr mit ihm redet!

An einem schönen Abende macht man einen Spaziergang nach einem günstig gelegenen Orte, wo es uns der völlig freie Horizont möglich macht, den Untergang der Sonne genau zu beobachten, und merkt sich die Gegenstände, an welchen man den Ort ihres Untergangs wieder aufzufinden vermag. Am folgenden Morgen kehrt man, um sich in der erquickenden Morgenluft zu erfrischen, noch vor Aufgang der Sonne an den nämlichen Ort zurück. Feurige Pfeile, welche sie vor sich her schleudert, verkünden ihr Nahen. Röther und röther flammt der Himmel, der ganze Osten erscheint wie ein einziges Flammenmeer. Bei dieser Glut erwartet man das Tagesgestirn lange, bevor es sich zeigt. Jeden Augenblick glaubt man es auftauchen zu sehen; endlich bietet es sich den Blicken dar. Ein strahlender Punkt bricht blitzartig hervor und erfüllt alsbald den ganzen Raum; der Schleier der Finsterniß erbleicht und senkt sich. Der Mensch erkennt seine Heimat hienieden wieder und findet sie verschönert. Das Grün hat während der Nacht neue Frische erhalten; der anbrechende Tag, der es erhellt, die ersten Strahlen, welche es vergolden, zeigen es mit einem Netze funkelnden Thaues bedeckt, das Licht und Farben zurückstrahlt. Die Vögel versammeln sich in Chören und begrüßen gemeinschaftlich den Vater des Lebens mit ihren Jubelliedern. In diesem Augenblicke schweigt auch nicht ein einziger; ihr noch leises Gezwitscher ist süßer als im Laufe des Tages; die Sehnsucht eines friedlichen Erwachens klingt durch dasselbe hindurch. Diese mannigfaltigen Genüsse bringen auf die Sinne einen Eindruck von Frische hervor, der bis in die Seele zu dringen scheint. Die kurze halbe Stunde, welche das wunderbare Schauspiel währt, übt einen Zauber aus, dem Niemand zu widerstehen vermag: ein so großes, so schönes, so liebliches Schauspiel kann Niemanden kalt lassen.

Das Entzücken, welches der Lehrer empfindet, wünscht er nun auch in dem Kinde wach zu rufen; er glaubt, daß es ebenfalls ergriffen werden wird, wenn er es auf die Empfindungen aufmerksam macht, von welchen er selbst bewegt wird. Reine Thorheit! Im Herzen des erfahrenen Mannes liegt das Leben dieses Naturschauspiels; um es recht zu sehen, muß man es empfinden können. Das Kind gewahrt wol die Gegenstände, allein die Beziehungen, in welchen sie zu einander stehen, vermag es nicht aufzufinden, vermag die süße Harmonie ihres Zusammenwirkens nicht aufzufassen. Um den Gesammteindruck zu empfinden, der das Ergebniß aller diesen einzelnen Eindrücke ist, bedarf es einer Erfahrung, die das Kind sich noch nicht erworben, bedarf es Gefühle, die es noch nicht empfunden hat. Hat es noch keine dürre Ebene lange durchwandert, hat noch kein glühender Sand seine Füße verletzt, hat es noch nicht die erstickende Hitze der von den Felsenwänden zurückgeworfenen Sonnenstrahlen darnieder gedrückt: wie soll es dann die erquickende Frische eines schönen Morgens genießen können? Wie soll dann der Wohlgeruch der Blumen, der Zauber des frischen Grüns, der feuchte Duft des Thaues, der weiche und elastische Gang auf einem Rasenteppiche seine Sinne entzücken? Wie vermag der Gesang der Vögel ein Gefühl der Wollust in ihm zu erregen, wenn ihm die Töne der Liebe und der Lust noch unbekannt sind? Wie soll es den Anbruch eines so schönen Tages mit Entzücken willkommen heißen, wenn ihm seine Phantasie noch nicht die Freuden auszumalen vermag, mit denen man ihn ausfüllen kann? Und wie soll es sich endlich von der Schönheit eines Schauspiels der Natur ergriffen fühlen, wenn es die Hand nicht kennt, welche Sorge getragen hat, dieselbe so herrlich zu schmücken.

Haltet dem Kinde keine Reden, die ihm unverständlich sind. Fort mit allen Beschreibungen, mit aller äußeren Beredtsamkeit, mit bloßen Redefiguren und poetischem Schmucke! Jetzt handelt es sich noch nicht um Bildung des Gefühls und Geschmacks. Bleibet nach wie vor klar, einfach und kalt. Nur allzu früh wird die Zeit kommen, wo ihr eine andere Sprache führen müßt.

Erzogen im Geiste meiner Grundsätze, gewöhnt, alle seine Hilfsmittel in sich selbst zu finden und zu Anderen nicht eher seine Zuflucht zu nehmen, als bis er sein eigenes Unvermögen erkannt hat, wird Emil jeden neuen Gegenstand, den er erblickt, lange prüfen, ohne etwas zu sagen. Er ist an eigenes Denken gewöhnt und nicht geneigt, Anderen mit Fragen lästig zu fallen. Begnügt euch also damit, ihm die Gegenstände im rechten Augenblicke vorzuweisen; erst wenn ihr seine Wißbegierde ausreichend beschäftigt seht, sucht ihn durch irgend eine hingeworfene lakonische Frage auf den rechten Weg zu bringen, sie zu befriedigen.

Nachdem ihr nun bei jener Gelegenheit mit ihm den Aufgang der Sonne genau betrachtet, nachdem ihr ihn auf der Ostseite die Berge und die andern benachbarten Gegenstände habt anschauen und darüber ungestört plaudern lassen, so beobachtet, wie Jemand, der in tiefes Nachdenken versunken ist, einige Augenblicke Stillschweigen, und sagt dann zu ihm: »Ich überlege eben, daß gestern Abend die Sonne doch dort drüben untergegangen ist, während sie heute Morgen hier aufgeht. Wie ist das nur möglich?« Weiter fügt jedoch nichts hinzu. Legt er euch Fragen vor, so antwortet gar nicht darauf. Redet von andren Dingen. Ueberlaßt ihn sich selbst und seid versichert, daß er darüber nachdenken wird.

Damit ein Kind sich an Aufmerksamkeit gewöhne, und damit es von einer äußerlich wahrnehmbaren Wahrheit tief ergriffen werde, muß ihm letztere einige Tage lang Unruhe bereiten, bevor man es sie finden läßt. Wenn es dieselbe auf die angegebene Weise trotzdem nicht genügend begreift, so gibt es ein Mittel, sie ihm noch in die Augen fallender zu machen, und dieses Mittel besteht darin, die Frage umzukehren. Weiß es nicht, wie die Sonne von ihrem Untergangspunkte zu ihrem Aufgangspunkte gelangt, so weiß es wenigstens, wie sie den Weg von letzterem zu ersterem zurücklegt; schon seine Augen belehren es darüber. Sucht ihm also die erste Frage durch die zweite zu verdeutlichen. Ist euer Zögling nicht völlig schwachsinnig, so kann ihm die Analogie, die ja auf der Hand liegt, unmöglich entgehen. Dies ist seine erste Lection in der Weltkunde.

Da wir immer nur langsam von einem sinnlichen Begriffe zum andern fortschreiten und uns stets lange mit jedem einzelnen vertraut machen, bevor wir zu einem andern übergehen, und da wir endlich unsern Zögling nie zur Aufmerksamkeit zwingen, so vergeht von dieser ersten Lection bis zur Kenntniß des Laufes der Sonne und der Gestalt der Erde eine gar lange Zeit. Da aber alle scheinbaren Bewegungen der Himmelskörper von derselben Ursache herrühren, und da die erste Beobachtung zu allen übrigen führt, so ist weniger Anstrengung, obgleich möglicher Weise mehr Zeit erforderlich, um von der täglichen Umdrehung zur Berechnung der Finsternisse zu gelangen, als um die Entstehung von Tag und Nacht zu begreifen.

Da sich die Sonne um die Erde bewegt, so beschreibt sie einen Kreis, und jeder Kreis muß, wie wir bereits wissen, einen Mittelpunkt haben. Dieser Mittelpunkt ist freilich nicht sichtbar, weil er sich im Innern der Erde befindet, aber man kann auf der Oberfläche zwei einander entgegengesetzte Punkte bezeichnen, die ihm entsprechen. Ein Stab, der durch diese drei Punkte ginge und nach beiden Richtungen hin bis an den Himmel verlängert wäre, würde die Achse der Welt und der täglichen Bewegung der Sonne veranschaulichen. Ein sich auf seiner Spitze drehender runder Drehwürfel stellt den Himmel dar, wie er sich um seine Achse dreht; die beiden Spitzen des Drehwürfels bilden die Pole. Dem Kinde wird es jedenfalls eine große Freude machen, einen dieser Weltpole kennen zu lernen. Ich zeige ihm denselben im Schwanze des kleinen Bären. Von jetzt an fehlt es uns auch nicht an einem Zeitvertreibe für die Nacht. Nach und nach machen wir uns mit den Sternen vertraut, und hieraus bildet sich die erste Lust, die Planeten kennen zu lernen und die Sternbilder zu beobachten.

Wir haben den Sonnenaufgang am Johannistage betrachtet, wir wollen ihn auch zu Weihnachten oder an irgend einem anderen schönen Wintertage sehen, denn, wie bekannt, sind wir nicht träge und machen uns ein Spiel daraus, der Kälte zu trotzen. Ich sorge dafür, daß diese zweite Beobachtung an demselben Orte stattfindet, an welchem wir die erste angestellt haben, und bei nur einigem Geschick in Vorbereitung derselben kann es nicht ausbleiben, daß der Eine oder der Andere ausruft: »Ei, wie seltsam! Die Sonne geht nicht mehr an der nämlichen Stelle auf! Hier sind noch unsere alten Kennzeichen, und jetzt ist sie dort aufgegangen«, u.s.w. Der Ort des Sonnenaufgangs im Sommer ist also von dem im Winter verschieden, u.s.w. – Jetzt, mein junger Lehrer, bist du auf dem richtigen Wege. Diese Beispiele werden ausreichend sein, um dich auf die beste Methode aufmerksam zu machen, die Himmelskunde in richtiger Weise zu lehren, nämlich so, daß du die Kenntniß der Welt aus der Welt selbst und die Kenntniß der Sonne aus der Sonne selbst schöpfest.

Halte überhaupt den Grundsatz fest, nie das Zeichen an Stelle der Sache zu setzen, falls es nicht unmöglich ist, sie selbst vorzuweisen; denn das Zeichen beschäftigt die volle Aufmerksamkeit des Kindes und läßt es die durch dasselbe dargestellte Sache gänzlich vergessen.

Das Planetarium oder die Armillarsphäre scheint mir ein schlecht construirtes und in ungenauen Verhältnissen ausgeführtes Lehrmittel zu sein. Dieser Wirrwarr von Kreisen und die sonderbaren Figuren, welche man darauf anbringt, verleihen ihm das Ansehen eines Zauberkastens, der den Geist der Kinder abschrecken muß. Die Erde ist zu klein, die Kreise sind zu groß und zu zahlreich; einige derselben, wie die Jahreszeitenkreise, sind vollkommen unnütz. Jeder Kreis ist breiter als die Erde; die Dicke der Pappe gibt ihnen ein Ansehen des Körperlichen, was leicht die falsche Vorstellung hervorrufen kann, als ob sie wirklich vorhandene ringförmige Massen vorstellten; und sagt ihr dem Kinde, daß man sich diese Kreise nur denke, so fehlt ihm das Verständniß für das, was es sieht, und es begreift gar nichts mehr.

Wir verstehen nie, uns an die Stelle der Kinder zu versetzen; statt auf ihre Ideen einzugehen, leihen wir ihnen die unsrigen, und indem wir beständig unseren eigenen Schlüssen nachgehen, häufen wir mit all den Reihen von Wahrheiten nur verschrobene Ansichten und Irrthümer in ihrem Kopfe auf.

Man streitet sich über die Vorzüge der analytischen oder synthetischen Methode beim Studium der Wissenschaften. Nicht immer hat man aber nöthig, unter ihnen eine Wahl zu treffen. Bisweilen lassen sich bei einer und derselben Untersuchung beide Methoden mit einander verbinden, und man kann ein Kind unter Benutzung der lehrenden Methode anleiten, während es selbst nur zu analysiren meint. Wenn man auf diese Weise Beide gleichzeitig zur Anwendung brächte, würden sie sich gegenseitig als Beweis dienen. Ginge das Kind zu gleicher Zeit von zwei entgegengesetzten Punkten aus, ohne sich dessen bewußt zu sein, daß es denselben Weg zurücklegte, so würde es beim endlichen Zusammentreffen völlig überrascht werden, und diese Ueberraschung könnte nur sehr angenehm sein. In der Geographie würde ich z.B. von ihren beiden Endpunkten ausgehen und mit dem Studium der Bewegungen der Erdkugel die Lehre von dem Verhältnisse ihrer einzelnen Theile verbinden, wobei ich mit der Heimat den Anfang machte. Während das Kind die Himmelskunde studirt und sich auf diese Weise gleichsam bis in den Himmel versetzt, müßt ihr es auch wieder zur Erde und ihrer Einteilung zurückführen und es zunächst mit seinem Wohnorte bekannt machen.


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